Heimat heute 2021 - "Zum Wohl!" | Gasthöfe und Beizen im Umbruch - Urtenen-Schönbühl
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
2021 heimat heute «Zum Wohl!» | Gasthöfe und Beizen im Umbruch BERNER HEIMATSCHUTZ REGION BERN MITTELLAND Postfach, 3001 Bern www.heimatschutz.be info@heimatschutz-bernmittelland.ch heimat heute 2021 | 1
Impressum Herausgeberin Berner Heimatschutz Region Bern Mittelland Postfach, 3001 Bern www.heimatschutz.be info@heimatschutz-bernmittelland.ch Idee Jasmin Christ Redaktion Raphael Sollberger Korrektorat Margrit Zwicky Satz und Gestaltung www.dessign.ch Titelbild Der Landgasthof Schönbühl. Zur Geschichte der Berner Landgasthöfe vgl. S. 8–15. Druck Länggass Druck AG www.ldb.ch Auflage 1’500 Exemplare 2 | heimat heute 2021
Inhalt Editorial 4 «Zum Wohl!» Auf ein Jahr, das viel Freude machte – und viele Ressourcen kostete Raphael Sollberger Aus der Politik 6 Meienegg: Widerstand gegen den Abbruch formiert sich neu Raphael Sollberger Aus der Politik 7 Abfahrts-Anzeigetafeln im Weltkulturerbe: Rechtsstreit noch nicht entschieden Enrico Riva Aus der Forschung 8 Die Berner Landgasthöfe an der «Grande Route» Melanie Widmer Archivperlen I 16 Verschwundene und legendäre Beizen in und um Bern Rolf Hürlimann Archivperlen II 18 Wirtshausschilder und Leuchtreklamen Rolf Hürlimann Aus der Praxis 22 «Stadt – Land – Bern»: Die Stadtführungen 2021 Sara Calzavara, Anne-Catherine Schröter Aus der Praxis 24 Gasthöfe im Umbruch: neue Herausforderungen für alle Beteiligten Thomas Stettler, Raphael Sollberger Aus der Politik 28 Etappensieg im Tscharnergut – Scheibenhaus noch nicht gerettet Luc Mentha, Raphael Sollberger Spaziergang durch die Region 30 Urtenen-Schönbühl André Hubacher In eigener Sache 38 Rücktritt vom Präsidium Stefan Rufer 38 Abbildungsverzeichnis 39 Adressen heimat heute 2021 | 3
EDITORIAL «Zum Wohl!» Auf ein Jahr, das viel Freude machte – und viele Ressourcen kostete Raphael Sollberger Liebe Leserinnen und Leser Thomas Stettler, Präsident der Bauberatung, berichtet in seinem Artikel von den neuen Es ist wohl müssig, darüber zu diskutieren, welche Branche ökonomischen und denkmalpflegerischen am meisten unter den Massnahmen zur Bekämpfung Herausforderungen, vor denen Gastwirtinnen der Pandemie gelitten hat. Sportlerinnen und Sportler, und Gastwirte ebenso wie Architektinnen und Architekten stehen, wenn es darum Kulturschaffende, Studierende, Einzelwarenhändlerinnen geht, für einen alten Gasthof ein zukunfts- und -händler, sie alle mussten grosse Einschränkungen gerichtetes Nutzungskonzept oder einen und finanzielle Einbussen schultern. Wenn man aber substanzschonenden Umbau zu planen. Konsumierende fragt, welches denn die Massnahme mit den grössten Auswirkungen für sie persönlich gewesen sei, so ist Im Rahmen der traditionellen «Archivperlen» oft eine der ersten Antworten, die kommt, die Schliessung nimmt uns unser Fotojournalist Rolf Hürli- der Gastronomie. Die Möglichkeit, Restaurants, Bars und mann schliesslich mit auf eine Entdeckungs- Beizen besuchen zu können oder in einem schönen Gasthof reise zu teils längst verschwundenen oder aber längst kultgewordenen Restaurants auf dem Land essen zu gehen, scheint der Bevölkerung und Beizen in der und um die Stadt Bern. ein wichtiges Gut zu sein. Glücklicherweise haben, dank der grossen Weshalb ist das so? Und wenn es so ist, Solidarität der Gäste und dank verschiede- weshalb kämpfen dann reihenweise Gast- ner staatlicher Hilfsprogramme, die meisten stätten – insbesondere auf dem Land und Gastronomiebetriebe die Pandemie überlebt. unabhängig von der Pandemie – ums Über- «Zum Wohl!», würde ich deshalb sagen. leben? In der diesjährigen Ausgabe von heimat heute wollen wir dem auf den Grund gehen. Der Heimatschutz im zweiten Pandemiejahr Auch wir vom Heimatschutz profitieren von Q 1 Der Gasthof «Zum den im Sommer 2021 in Kraft getretenen Wilden Mann» in Aarwangen, Lockerungen. Insbesondere unsere öffent- eine von vielen Gaststätten lichen Veranstaltungen wie die Stadt- und entlang der «Grande Route». Landführungen, die «ArchitekTOURen» oder die traditionellen Filmvorstellungen im Licht- spiel können wieder durchgeführt werden und stossen auch nach der langen Pause erfreuli- cherweise auf nicht minder grosses Interesse. Auf ein Jahr also, das bisher viel Freude machte, uns aber auch enorm viele Ressourcen kostete: Seit einiger Zeit bereits stellen wir – Zum Inhalt dieses Hefts und vielleicht auch Sie, liebe Leserinnen und Im Rahmen einer Reise entlang eines Ab- Leser – eine Häufung der Rechtsfälle fest, in schnitts der «Grande Route», der altberni- welche der Heimatschutz involviert ist. In der schen Hauptverbindungsstrasse zwischen Stadt Bern zum Beispiel kämpfen wir momentan den damaligen Untertanengebieten in der im Rahmen von vier grösseren Bauprojekten Waadt und im Aargau, erzählt uns die Archi- dafür, dass Genossenschaften und Behörden (!) tekturhistorikerin Melanie Widmer die die geltende Gesetzgebung in Bezug auf das spannende Geschichte der Berner Landgast- kulturelle Erbe respektieren. In der Meienegg höfe, unter welchen Umständen sie ent- und im Tscharnergut sollen schützenswerte standen sind und wie sie sich während der Bauten und mit ihnen Hunderte günstiger letzten rund 300 Jahre weiterentwickelt haben. Wohnungen für sozial schwächer gestellte 4 | heimat heute 2021
Menschen aus Renditegründen abgebrochen und durch Neubauten ersetzt werden, am Hirschengraben drohen bauliche Relikte aus längst vergangenen Jahrhunderten zugunsten einer kläglichen Fussgängerinnen- und Fuss- gängerunterführung geopfert zu werden, und in der unteren Altstadt, dem UNESCO-Welterbe- perimeter der Stadt Bern, wurden von der Stadt selbst an den Haltestellen der Buslinie 12 zum Bärengraben hell leuchtende Abfahrts-Anzeige- tafeln montiert, ohne dafür die entsprechenden Bewilligungen einzuholen – und obwohl die Stadt 2006 ein Gesetz zum Schutz des Stadt- bilds erlassen hat, welches Leuchtschriften in der unteren Altstadt explizit verbietet. Grosses Engagement mit beschränkten Mitteln All diese Rechtsgeschäfte zehren an unseren be- schränkten Ressourcen: Während die Stadt und die Genossenschaften auf der Gegenseite die finanziellen und personellen Mittel haben, sich auf Rechtsgeschäfte bis vor Bundesgericht ein- zulassen und allfällige Niederlagen vor Gericht in ihren Budgets einkalkuliert sind, operiert der Heimatschutz ausschliesslich mit Spenden und Mitgliederbeiträgen, die Mitglieder des Vorstands arbeiten in ihrer Freizeit und werden für ihren Aufwand nicht entschädigt. Ein Kampf mit ungleich langen Spiessen, der sich jedoch schon allein deswegen lohnt, weil – so zeigen es die wachsenden Mitgliederzahlen – immer mehr Menschen unsere Anliegen unterstützen und sich öffentlich für den sorgsamen Um- gang mit unserem Kulturerbe einsetzen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine inspirierende Lektüre – am besten bei einem Glas Wein in einer stylischen Bar, bei einem Bier in einer urchigen Gaststube oder bei einer gemütlichen Tasse Kaffee im Restaurant bei Ihnen um die Ecke! Q 2 Seine sorgfältig restaurierten Ründemalereien zeugen von der grossen Wertschätzung, die in den Dörfern unserer Region bis heute den Gasthöfen zugesprochen wird. heimat heute 2021 | 5
AUS DER POLITIK Meienegg: Widerstand gegen den Abbruch formiert sich neu Raphael Sollberger Nach dem Willen der FAMBAU Genossenschaft und der Stadt Bern soll die Siedlung Meienegg, Berns älteste genossenschaftliche Wohnsiedlung, abgebrochen werden. Mit dem geplanten Abriss ginge nicht nur ein Baudenkmal von nationaler Bedeutung, sondern mit ihm auch über 200 günstige Wohnungen verloren. Die IG Stöckacker Nord und der Berner Heimatschutz, Region Bern Mittelland, setzten sich von Beginn an gemeinsam für die Sanierung der Siedlung ein – und erhalten nun prominente Unterstützung. nichts anderes zur Folge haben wird als teurere und grössere Wohnungen und mit ihnen eine weitere Gentrifizierung des heute bereits äusserst dichten und kulturell gut durchmischten Quartiers. Die bisherige Mieterschaft wird sich ausserhalb der Stadt eine neue Bleibe suchen müssen. Ganz zu schweigen vom absurden Ressourcenverbrauch, eine ganze substanziell gut erhaltene Wohnsiedlung aus den 1950er Jahren zu entsorgen und neu zu errichten. Um die Bedeutung der Meienegg ins Bewusstsein der Bevölkerung zu rufen, haben wir die Siedlung Meienegg be- reits 2019 auf die Rote Liste bedrohter Baudenkmäler des Schweizer Heimat- schutzes (www.roteliste.ch) gesetzt. Tragen also auch Sie sich jetzt als Unterstützerin oder Unterstützer auf S 1 Das Mehrfamilienhaus am Eingang zur Siedlung Meienegg im Berner Stöckackerquartier. der Website www.meienegg.ch (unter der Rubrik «Wer wir sind») ein! Wir Im September 2020, im Anschluss an und neuzubauen, fand seither immer freuen uns auf Ihre Unterstützung. die Europäischen Tage des Denkmals, breitere Unterstützung. Neben vielen lancierten die beiden Organisationen Privatpersonen aus den Bereichen die neue Website www.meienegg.ch. Architektur, Denkmalpflege, aber auch Auf ihr wurden bisher und werden interessierten Laien, die sich öffentlich weiterhin alle wichtigen Zeitungs- als Unterstützerinnen und Unterstützer artikel, Inventare und Gutachten zur auf der neuen Website haben eintra- Meienegg gesammelt und der Öffent- gen lassen, haben sich 2021 auch das lichkeit zur Verfügung gestellt. Dies Institut für Denkmalpflege und Baufor- mit dem Ziel, dass sich die Bevölkerung schung der ETH Zürich und die Zürcher ebenso wie die Fachwelt – trotz des Hochschule für Angewandte Wissen- massiven Weibelns für den Abbruch schaften der Kampagne angeschlossen. seitens der FAMBAU und der Stadt – ein ausgewogenes Bild der Faktenlage Derweil planen die FAMBAU und die S 2 An den Europäischen Tagen des Denkmals machen kann. Unser Anliegen, die zwölf Stadt, ungeachtet des mittlerweile im September 2020 stiessen die Führungen durch Mehrfamilien- und Alterswohnhäuser grossen Widerstands, munter am Abriss die Meienegg bei Besucherinnen und Besuchern zu sanieren, statt sie abzubrechen und Neubau weiter, der im Endeffekt aus der ganzen Schweiz auf grosses Interesse. 6 | heimat heute 2021
AUS DER POLITIK Abfahrts-Anzeigetafeln im Weltkulturerbe: Rechtsstreit noch nicht entschieden Enrico Riva Auch fünf Jahre nach dem unrechtmässigen Anbringen der Abfahrts-Anzeigetafeln an den Sandsteinfassaden im UNESCO-Welterbeperimeter von Bern bleibt die Situation unbereinigt. Eine Einigung konnte nicht erzielt werden. Die Stadt Bern, BERNMOBIL und Inclusion Handicap weigern sich, gemeinsam mit dem Heimatschutz eine bessere – denkmalverträgliche – Lösung zu finden. Der Fall wird nun vom Bundesverwaltungsgericht zu entscheiden sein. 2016 sind in der unteren Altstadt von Bern – im Kernbereich des UNESCO- Weltkulturguts – an den Haltestellen der Trolleybuslinie 12 selbstleuchten- de Abfahrts-Anzeigetafeln installiert worden. Dies geschah, ohne dass die gesetzlich vorgeschriebene Bewilligung eingeholt worden wäre. Der Berner Heimatschutz, Region Bern Mittelland, wehrte sich gegen dieses Vorgehen. Die von BERNMOBIL installierten klobigen Tafeln nehmen keine Rücksicht auf den prächtigen Strassenzug der Kram- und der Gerechtigkeitsgasse. Sie verlet- zen zudem die Vorschriften, welche die Stadt Bern selbst zum Schutz der unteren Altstadt erlassen hat.1 Auf unsere Intervention hin leitete das Bundesamt für Verkehr (BAV) nachträg- lich ein Plangenehmigungsverfahren ein S 1 ... Die Abfahrts-Anzeigetafeln stellen in der unteren Altstadt von Bern einen besonders empfind- und gab uns recht. Mit Entscheid vom lichen Eingriff ins Stadtbild dar. Gemäss der Bauordnung der Stadt Bern wären sie bewilligungspflichtig. 11. Februar 2020 verweigerte es die Bewilligung und verpflichtete die Stadt 2020 erklärte die Tiefbaudirektion der zeigetafeln infrage. Dieser Vorschlag Bern und die Verkehrsbetriebe zur Wie- Stadt, als Kompromiss komme allein wird dem Schutzbedürfnis der unteren derherstellung des rechtmässigen Zu- ein farbliches Umstreichen der An- Altstadt überhaupt nicht gerecht; es stands. Die Stadt, BERNMOBIL und der war der Stadt Bern klar, dass sie damit Dachverband der Behindertenorganisa- die Vergleichsverhandlungen einseitig tionen Inclusion Handicap akzeptierten aufkündigte. Das Verfahren ist nun vor dieses Nein jedoch nicht, sondern dem Bundesverwaltungsgericht hängig. erhoben beim Bundesverwaltungs- Ende Juni erklärte der Instruktions- gericht Beschwerde. In heimat heute richter die Sache für «spruchreif». 2020 haben wir darüber informiert. Wir warten nun auf das Urteil; es wird vermutlich im Jahr 2022 gefällt werden. Unser Bericht endete mit dem Wunsch, dass sich zwischen den Parteien eine Verständigungslösung finden liesse.2 Anmerkungen 1 Bauordnung der Stadt Bern (BO) vom Diese Hoffnung ist enttäuscht worden. S 2 Dabei gibt es schon heute an weniger 28.12.2006. Gespräche wurden zwar aufgenommen, frequentierten Haltestellen auf dem BERN- 2 Vgl. Enrico Riva, Barrierefreiheit im Welt- kulturerbe: Abfahrtsanzeigetafeln in der aber nach einer einzigen Sitzung nicht MOBIL-Netz deutlich unauffälligere, nicht unteren Altstadt, in: heimat heute, 2020, S. mehr weitergeführt. Im November weniger behindertengerechte Monitore. 22–25. heimat heute 2021 | 7
AUS DER FORSCHUNG Die Berner Landgasthöfe an der «Grande Route» Melanie Widmer Im heutigen Pendelverkehr bewegen sich täglich Massen von Personen auf den grossen Schweizer Transitrouten. Besonders viele von ihnen auf der Autobahn A1 zwischen Bern und Zürich. Benötigt man während der Fahrt eine Pause, kann man bei einer der vielen Raststätten anhalten, ohne die Autobahn verlassen zu müssen. Dabei ist kaum jemandem bewusst, welch lange Geschichte dieser Art des Reisens zugrundeliegt. Das Alte Bern nahm beim Strassenbau nämlich eine Vorreiterrolle innerhalb der Eidgenossenschaft ein. Die zahlreichen entlang der Strasse nach Zürich entstandenen Landgasthöfe sind wichtige Zeugen dieser Entwicklung. Viele Wege führen durchs Mittelland Mittelalter entstanden zwei weitere wichtige Vor dem Bau der Autobahnen und der zu- Verkehrswege, welche die neuen Orte und nehmenden Motorisierung nach dem Zweiten Städte miteinbezogen. Einer verlief über Weltkrieg gestaltete sich das Reisen von Bern Murten, Aarberg und Solothurn, ein zweiter, nach Zürich noch weitaus schwieriger. Bern die sogenannte «Kastenstrasse», führte von und viele andere Orte wurden im Zuge der Fribourg über Bern und Burgdorf nach Olten. Über diese beiden Strecken verlief im Mittel- Q 1 Abseits der A1 führt auch alter ein Grossteil des Verkehrs zwischen dem heute noch ein Grossteil süddeutschen Raum, Frankreich (hauptsäch- der Strecke zwischen Bern lich Paris und Lyon) und Katalonien (Barce- und Murgenthal entlang der lona). Als Folge der zunehmenden Mobilität ehemaligen Neuen Aargauer- ab dem 13. Jahrhundert wurden Gasthöfe zu strasse, hier z. B. an einer einem Teil der Grundausstattung der Städte Kreuzung in Koppigen. und Dörfer an den Transit- und Passstrassen. Neben dem Bewirten der Handeltreibenden und Reisenden dienten sie ebenso als Warenla- ger für Handelsgüter und Pfänder, als Pflege- stätte für Verwundete (soweit kein Hospiz o. ä. in der Nähe war) und als Pferdestallungen. Ab dem 17. Jahrhundert erhielten einige Gasthöfe im Staat Bern eine weitere Funktion, dienten sie doch auch als Poststelle für die frisch gegründete Berner «Fischerpost», welche als Ursprung des schweizweiten Postnetzes gilt.1 Aufschwung im Ancien Régime Im 17. Jahrhundert erlebte die Eidgenossen- schaft eine Zeit des Aufschwungs. Die Berner Regierung nutzte diesen und verabschiede- te diverse Mandate zur Verbesserung der Strassen, um den Handel und den Verkehr grossen Stadtgründungswelle im 12. Jahrhun- zusätzlich zu fördern. Damit nahm Bern eine dert erstmals als Handelszentren interessant. Vorreiterrolle ein. Der Zuwachs an Reisenden Dementsprechend stammen auch die ersten spornte den Strassenbau zusätzlich an, und so bekannten Strassenkarten der Region aus begannen im 18. Jahrhundert schliesslich die dieser Zeit. Frühere wichtige Transitrouten, grossen institutionalisierten Berner Strassen- wie etwa diejenigen der Römer, führten ent- bauprojekte. Neu strömten auch Vertreterin- lang des Jurasüdfusses vom Südwesten in nen und Vertreter der europäischen Elite, die den Nordosten der heutigen Schweiz. Erst im im Zuge der Alpenbesteigungswelle das Land 8 | heimat heute 2021
bereisen wollten, in die Schweiz. All diese Personen, die sich auf den Verkehrswegen bewegten, waren auf Unterkunftsmöglichkei- ten angewiesen; ihrem Status entsprechend nannte man sie «Höfe» – «Gasthöfe» eben. Auch in der Stadt Bern wurde zu dieser Zeit ein Kunststrassennetz geplant, das sternförmig aus der Stadt in die «Campag- ne» hinausführen sollte. 1784 entstanden erste Pläne zum Ausbau der Verbindungen in die Untertanengebiete in der Waadt und im Aargau unter dem Namen «Gran- de Route»2. Die Strasse sollte zur neuen Hauptverbindung zwischen der West- und der Ostschweiz werden und den lukrativen Transithandel durch die Hauptstadt führen. Eines der ersten Teilstücke der Bern-Zürich- Verbindung war die Neue Aargauerstrasse. Sie wurde 1753–1764 erbaut und führte von Bern nach Murgenthal. Die Strasse befindet sich als Verkehrsweg von nationaler Bedeutung im Inventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS).3 Die neue Kunststrasse sollte 30 Schuh (ca. 9 m) breit und so dauerhaft wie möglich sein. Nachdem die Strecke bis Hindel- bank fertiggestellt worden war, entstand eine grosse Diskussion darüber, ob sie im weiteren S 2 Ausschnitt aus der «Carte Topographique de la Grande Route de Berne» mit der Strassengabelung bei Hindelbank. Über Kirchberg verläuft die neue schnur- gerade «Grande Route», während die ältere Kasten- strasse über Burgdorf führt. R 3 Die ehemalige «Sonne» in Koppigen, heute das Wohnheim «Oeschberg». heimat heute 2021 | 9
entlang der Neuen Aargauerstrasse handelte es sich um einen spätbarocken Massivbau mit Gliederungselementen aus Sandstein wie bspw. einer Eckquaderung, einem Gurt- gesims sowie Fenster- und Türleibungen. Aufgrund der vielen Aufgaben, die ein Gasthof erfüllen musste, setzten sich die meisten Orte der Gastlichkeit aus einem ganzen Gebäude-Ensemble zusammen. So gehörten auch zum «Bären» ein Wohnstock, eine Pferde- und Kutschenremise sowie ein Speicher. Der Gastbetrieb bestand bis 1921, danach wurde der «Bären» zu einer Kna- benerziehungsanstalt umgebaut, wobei das grosse Mansarddach mit Lukarnen ausgebaut wurde, um Schlafkammern unterzubringen. Um den neu entstandenen Ansprüchen der Reisenden zu genügen und somit konkurrenz- fähig zu bleiben, entwickelte sich in einigen Ortschaften entlang der Neuen Aargauer- strasse eine Art repräsentativer Bauzwang. Dabei kam es oftmals vor, dass sich die Gasthöfe architektonisch aneinander orien- S 4 Seeberg, am unteren Verlauf entlang der älteren Kastenstrasse über Rand des Ausschnitts, ist an Burgdorf oder neu über Kirchberg führen beiden Transitrouten einge- sollte. Nach einer Gegenüberstellung ent- zeichnet – das Kirchdorf im schied man sich schliesslich für den Verlauf Westen, der Ortsteil Riedtwil über Kirchberg, was in der Folge einen nicht im Osten. Die meisten See- unbeträchtlichen Einfluss auf die wirtschaft- berger Gasthöfe befanden liche Entwicklung der an der Route liegenden sich vor dem Bau der Neuen Ortschaften hatte. So entstanden entlang Aargauerstrasse in Riedtwil der Neuen Aargauerstrasse innerhalb eines an der Kastenstrasse. kurzen Zeitfensters zahlreiche neue Gasthöfe, von denen viele noch heute in Betrieb sind. Wo keine neuen Gasthöfe errichtet wurden, W Q5, 6 Der ehemalige hat man bestehende Gebäude meist erweitert «Bären» in Koppigen. und ausgebaut, teilweise gar durch Neu- Heute handelt es sich um das bauten ersetzt. Ein Beispiel dafür stellt der Kinderwohnheim «Friedau». geschichtsträchtige «Bären» in Koppigen dar. Lange Zeit stand an seiner Stelle eine Taver- ne mit dem Namen «Bären», welche noch die alten Konzessionsrechte besass. 1824 wurde der gesamte Gasthof unter demselben Namen neu errichtet. Wie bei den meisten der neu entstandenen Gastwirtschaftsbauten 10 | heimat heute 2021
AUS DER FORSCHUNG tierten. Ein Beispiel hierfür findet sich in Herzogenbuchsee. Lange lag das Kirchdorf abseits der wichtigen Verkehrswege. Erst die Neue Aargauerstrasse führte durch die Ortschaft und schloss sie an die Transitroute an. Der höhere Stellenwert des Orts zeichnet sich hier vor allem an den Gasthofbauten ab, welche Ende des 18. Jahrhunderts entstanden sind. Ein sehr schönes Beispiel dafür stellt das «Kreuz» dar: Seine Fassadengestaltung mit Solothurner Sandstein macht es zu einem der prächtigsten Gebäude des Ortsbilds mit starkem Repräsentationsanspruch. Das «Kreuz» ist aber nicht der einzige Gasthof, welcher zu dieser Zeit in Herzogenbuchsee entstand: Ein weiteres namhaftes Beispiel ist die «Sonne». Seine Hauptfassade ist dabei zum heute «Sonnenplatz» genannten Dorfplatz ausgerichtet. Dadurch stellt sie für Reisende von Bern her einen beeindruckenden Blick- fang dar – und zusammen mit dem «Kreuz» verleiht sie dem Dorfzentrum einen schon fast herrschaftlich-städtischen Charakter. Die Not zur Tugend machen Anders war die Lage in Ortschaften, die durch den Bau der neuen Transitroute plötzlich nicht mehr direkt an den wichtigen Handels- wegen lagen. Obwohl das Dorfzentrum von Seeberg näher an der Neuen Aargauerstras- se liegt, orientierten sich alle bestehenden Gastwirtschaftsbauten der Gemeinde zur alten Kastenstrasse. Ein Beispiel dafür ist der ehemalige «Löwen». Dieser befand sich an einer Verbindungsstrasse zwischen der Kastenstrasse und der späteren Neuen Aargauerstrasse. Obwohl der Bau heute nicht SS 7, S 8 Das «Kreuz» mehr existiert, ist immer noch ein Ortsteil (oben) und die «Sonne» nach ihm benannt (im Volksmund «Lööli»). stehen in direkter Nachbar- Als die Neue Aargauerstrasse in Seeberg schaft in Herzogenbuch- entstand, lag dieser Gasthof im Abseits und see. Die beiden Gasthöfe rückte in den Schatten der «Grande Route». dominieren den Sonnenplatz. Ein Bauernhausbesitzer im westlichen Orts- R 9 Auch das Innere teil hingegen reagierte geschickt auf die neue des «Kreuzes», hier der Sachlage und baute sein Bauernhaus, welches Speisesaal mit historischem direkt an der Neuen Aargauerstrasse lag, Täfer, wurde nicht minder kurzerhand in einen Gasthof, den «Schwa- repräsentativ gestaltet. heimat heute 2021 | 11
AUS DER FORSCHUNG nen», um. Einerseits weil der Bau direkt am Räumlichkeiten mit verhältnismässig ein- südwestlichen Eingang des Dorfs lag, ander- fachen hölzernen oder blechernen Wannen. seits aufgrund seines grossen Bauvolumens Gegen ein Entgelt konnten sich die Gäste war er für Reisende aus Bern bereits früh hier der Körperpflege unterziehen, bevor sie gut ersichtlich. Da er zudem direkt an der nach der Badeprozedur Hunger verspürten. Abzweigung zur Kastenstrasse lag, war der Um nach dem Baden möglichst bequem zum «Schwanen» auch für Reisende von oder Gasthof zu gelangen, führte früher ein gedeck- nach Wynigen oder Hermiswil attraktiv. ter Steg direkt vom Badehaus in den Saal der Wirtschaft. Dieser Übergang wurde später ent- Q 10 Noch heute ist klar fernt. Das Badehaus wurde sowohl im 18. als erkennbar, dass der grosse auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ständerbau als Bauern- rege besucht. In der heutigen Erscheinung haus konzipiert wurde, … handelt es sich beim Hauptbau im Kern um einen repräsentativen Putzbau mit Sand- steingliederung und geknicktem Walmdach im Stil der bernisch-barocken Landhäuser. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Kernbau nordostseitig um einen zurück- springenden Anbau von zwei Fensterachsen erweitert. Der Haupteingang wird durch eine beeindruckende, zentrale Portalachse mit einer bauzeitlich erhaltenen Freitreppe betont. Oberhalb des Eingangs befindet sich ein voll- plastisches Wirtshausschild aus dem 19. Jahr- hundert. Es zeigt, passend zum Namen des Gasthofs, einen springenden Hirschen. Beim Haus westlich des Gastwirtschaftsbetriebs handelt es sich um das ehemalige Badehaus – auch es wurde im 19. Jahrhundert umgebaut. Anders als in Herzogenbuchsee befand sich Langenthal bereits vor dem Bau der Neuen Aargauerstrasse an einem Hauptverkehrsweg. Später stellte der Ort die Schnittstelle dar, an der die Neue Aargauerstrasse wieder mit dem Verlauf der ehemaligen Handelsroute zusammentraf. Daher ist es nicht verwunder- lich, dass der Bau des «Hirschenbads» vor S 11 … doch erst bei Den Reisenden mehr bieten der Neuen Aargauerstrasse datiert und der genauerem Hinsehen ist Andere Gasthöfe zeichneten sich durch eine Betrieb zu dieser Zeit bereits florierte.4 die alte Aufschrift «Zum Erweiterung ihres Angebots aus. Häufig Schwanen» über dem Ein- anzutreffen war die Kombination von Gast- Die Landgasthöfe an der «Grande Route»: gang zum Windfang unter wirtschaftsbetrieb und Badehaus. Ein Beispiel ein typologischer Sonderfall? dem weit auskragenden dafür ist das Gebäude-Ensemble «Hirschen- Aufgrund der grossen Zahl repräsentativer Halbwalmdach zu erkennen. bad» in Langenthal. Errichtet wurde sein im Bauten, die innert einer verhältnismässig 19. Jahrhundert erweiterter Hauptbau 1728. kurzen Zeitspanne entlang ein- und desselben Beim Badehaus handelte es sich um eine Verkehrswegs entstanden, liegt die Vermutung öffentliche Badegelegenheit in eher kleinen nahe, dass es sich dabei um einen eigen- 12 | heimat heute 2021
AUS DER FORSCHUNG ständigen Bautyp handeln könnte. Wenn, Imbiss, Restaurant, Gasthof oder Hotel? dann handelt es sich bei ihnen jedoch höchs- Das Gastgewerbe im Wandel T 12 Der Hauptbau des tens aufgrund ihrer Anzahl um einen archi- Ab 1800 begann ein rascher sozialökonomi- «Hirschenbands» in Lang- tekturgeschichtlichen Sonderfall. Bautypo- scher Wandel mit starkem Einfluss auf den enthal. Links ist die Erwei- logisch finden sich zur gleichen Zeit in der Verkehr und den Tourismus. Mit ihm spaltete terung um zwei Fenster- ganzen Region, auch an anderen Verkehrs- sich das Gastgewerbe in zwei verschiedene achsen aus dem 19. Jahr- wegen, ähnliche Gasthöfe. Beispielsweise der Hauptbranchen auf: Zum einen das Gastge- hundert erkennbar. «Brunnen» in Fraubrunnen, welcher Mitte des 18. Jahrhunderts erbaut wurde. Auch bei ihm handelt es sich um einen barocken Putzbau mit Walmdach und Kalksteinsockel, und auch hier finden sich weitere Gebäude, in diesem Fall die Brunnenscheune, die zur Baugruppe zu zählen sind. Neben dem Schloss handelt werbe mit Fokus auf die Hotellerie und zum R 13 Die beeindruckende anderen jenes mit Fokus auf der Verpflegung Portalachse des Gasthofs von Tages- bzw. Essensgästen. Dabei wandel- und das Wirtshausschild aus ten sich einige Gasthöfe zu Nobel-, Roman- dem 19. Jahrhundert mit tik- und später auch Grandhotels, während einem springenden Hirsch. andere, vorwiegend abseits derjenigen Orte, die sich zu regionalen Zentren entwickelten, T 14 Im Vordergrund das als Wirtschaften ohne Übernachtungsmöglich- ehemalige Badehaus mit keiten erhalten blieben. Im 19. und 20. Jahr- zwei unterschiedlich alten hundert wandelte sich das Gastgewerbe mit Kutscheneinfahrten. es sich beim «Brunnen» um den repräsen- tativsten Bau im Dorf. Als eines der ältesten erhaltenen Gasthäuser der Region ist der Bau von zusätzlicher historischer Bedeutung, nicht zuletzt auch, weil Napoleon Bonaparte 1797 auf der Durchreise hier übernachtete. heimat heute 2021 | 13
AUS DER FORSCHUNG der Erfindung der Eisenbahn und dem zu- nach Jegenstorf und Solothurn, errichtet. nehmenden Verkehr erneut. Neu entstanden Der stattliche Hausteinbau unter einem Gastwirtschaftsbetriebe in Bahnhöfen, welche Walmdach mit Lukarnen ist im Biedermeier- ab 1900 oftmals allgemein als «Bahnhofs- stil gehalten. Die Fassaden des Gasthauses buffets» bezeichnet wurden. Die Speisewagen Q 15 Auch der Land- und Bistros in den Zügen selbst kamen ab gasthof Schönbühl erhielt den 1950er Jahren auf. Von der zunehmenden im 19. Jahrhundert einen individuellen Motorisierung nach dem Zweiten Anbau zu Unterhaltungs- Weltkrieg profitierten schliesslich auch die zwecken. Der Saal ist bis Gasthöfe fernab der Hauptverkehrsachsen; heute in Gebrauch. sie wurden nicht selten zu beliebten Aus- flugsrestaurants. Ein Beispiel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stellt der Landgasthof T 16, TT17 Der Saal um Schönbühl dar. Er wurde zwischen 1844 und 1920 (oben) und heute. 1846, kurz vor dem Bau der Bahnstrecke sind durch Eckpilaster, Brüstungsgesims im 1. OG sowie Kranzgesims gegliedert. An der Westfassade schliesst ein Saalbau an den Gasthof an. Dieser Saal wurde oftmals für Feiern und Tanzanlässe verwendet und unter- streicht damit den Erlebnisfaktor, welchen Landgasthäuser teilweise innehatten. Nach aussen hin wirkt der Gebäudekomplex aus Gasthof und Saalbau äusserst repräsentativ. Im 20. Jahrhundert verblasste das Bild des Gasthofs mit seinen verschiedensten Aufga- benbereichen zunehmend. Vielmehr begann eine Spezialisierung innerhalb des Gastgewer- bes. Es entstanden Spezialitätenrestaurants, Fast-Food-Verpflegungsketten, Party-Services und Take-Aways. Eine besondere Abspaltung des Gastgewerbes hat ihren Ursprung bereits Anfang des 20. Jahrhunderts. Als Produkt eines gemeinsamen Kampfs von Frauen- organisationen und Abstinenzbewegungen gegen den verbreiteten Alkoholismus ent- standen erste Kantinen, Wohlfahrtshäuser und vegetarische Gaststätten, in welchen kein Alkohol ausgeschüttet wurde.5 Dieses schweizerische Konzept war zu dieser Zeit in Europa einmalig und feierte in den 1930er Jahren einen europaweiten Erfolg. Unter einem ähnlichen Konzept zur Volksgesundheit entstanden auch die sogenannten «Soldaten- stuben» des Schweizer Verbands Volksdienst (SV-Service), welche bis in die 1990er Jahre fortbestanden. Unabhängig von den ge- nannten Organisationen entstanden ab den 14 | heimat heute 2021
AUS DER FORSCHUNG 1980er Jahren in der Schweiz zudem zahl- reiche alkoholfreie Restaurants. Mit dem Bau der Nationalstrasse 1 (heute Autobahn A1) in den 1960er Jahren wurde der Grossteil des Strassenverkehrs durch das Schweizer Mittelland kanalisiert. Mit den Autobahnen entstanden Raststätten mit Schnellimbissen und Selbstbedienungsrestaurants. Und so S 18 Da der Landgasthof kann man heute, wenn man auf der A1 unter- Schönbühl kurz vor dem Bau wegs ist, seinen Blick nur noch flüchtig über der Bahnlinie entstand, ist er die Ortschaften schweifen lassen, durch die mit seiner Schaufront heute die früheren Transitrouten führten und wo zur Strasse und nicht zum die prächtigen repräsentativen Vorgänger der Bahnhof hin ausgerichtet. Raststätten noch heute Gäste empfangen. U 19, R 20 Wertvolle Wirtshausschilder wie HISTORISCHE VERKEHRSWEGE dasjenige des ehemaligen «Löwen» in Hindelbank, Weiterführende Informationen zu histo- der heute ein mehrfach um- rischen Verkehrswegen und ihrem Ver- gebautes Mehrfamilienhaus lauf finden sich im Bundesinventar der mit verschiedenen Anbauten historischen Verkehrswege der Schweiz ist, zeugen überall in der (IVS), online unter www.ivs.admin.ch. Die Region von weiteren, längst Anmerkungen einzelnen Strecken-Inventarblätter des aufgegebenen Gasthöfen. 1 Vgl. Annelies Hüssy, Die Geschichte der Fischerpost 1798–1838, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und IVS beinhalten neben einem Strecken- Heimatkunde, 1996, Nr. 58, S. 107–232. beschrieb jeweils auch Beschreibungen 2 Den Namen «Grande Route» erhielt die Strasse durch ihre kartografischen Darstellungen von Pierre Bel: und Fotos bedeutender Objekte entlang «Carte Topographique de la Grande Route». Er stellte des Wegs sowie hilfreiche Karten. sowohl die «Grande Route» zwischen Bern und Genf als auch die Strecke zwischen Bern und Zürich dar. Letztere in zwei verschiedenen Phasen, zum einen den BERNS MÄCHTIGE ZEIT Teilabschnitt zwischen Hindelbank und Kaltenherber- gen 1784 und drei Jahre später die «Grande Route» von Bern bis Zürich und Zurzach. Für diese Karte Weiterführende Informationen zu Berner diente die Darstellung von 1784 als Vorlage. 3 Bundesinventar der historischen Verkehrswege der Gasthöfen finden sich in den Büchern Schweiz (IVS), online unter www.ivs.admin.ch, Berns mächtige Zeit. Das 16. und 17. Objekt Nr. BE 2. 4 Vgl. Beat Kümin, Wirtshäuser und Bäder, in: Berns Jahrhundert neu entdeckt sowie Berns mächtige Zeit. Das 16. und 17. Jahrhundert neu ent- goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu deckt, hg. von Verein Berner Zeiten, Bern 2006, S. 544–550. entdeckt, beide hg. von Verein Berner 5 Alkoholfreie Lokale existierten bereits im 18. Jahrhun- Zeiten, Bern 2006 bzw. 2008. dert. Allerdings beschränkten diese sich auf soge- nannte Milch-, Kaffee- und Teehäuser. heimat heute 2021 | 15
ARCHIVPERLEN I Verschwundene und legendäre Beizen in und um Bern Rolf Hürlimann Nicht nur auf dem Land spielte sich stets ein grosser Teil des gesellschaftlichen Lebens in Gasthöfen ab, auch in der Stadt und ihrer Umgebung sind Restaurants, Beizen und Bars nicht nur Orte der Verpflegung, sondern auch Treffpunkte für Geschäftstüchtige und Freizeitliebende. Viele Beizen prägten das Bild ihrer jeweiligen Quartiere über Jahrzehnte hinweg wesentlich mit. Und sie wecken Erinnerungen ... S 1 Seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gab es an der Reichenbachstrasse 2 im Norden Berns ein Gast- haus «Äussere Enge». Im Hinblick auf die Schweizerische Landesausstellung 1914 auf dem Neu- und dem Viererfeld entstand 1911 ein Neubau in Reformarchitektur, ähnlich jenem des zur selben Zeit umgestalteten, stadtnäheren «Bierhübeli». Zuletzt «Les Amis» genannt, nutzte man das Restaurant ab 2005 noch für Gemeinschaftsverpflegung, ehe die Brauerei Felsenau die Liegenschaft 2013 verkaufte S 2 An der «Beizen-Linie»: Wie die «Äussere Enge» verfügte auch das Restaurant «Felsen- und die gastronomische Nutzung endete. Dez. 1983. au» an der Fährstrasse 2 direkt vor seinen Pforten über eine Haltestelle des Bremgarten-Bus. Damit war es in guter Gesellschaft, lässt doch die Linie 21 bis heute noch Fahrgäste bei Lo- kalen wie dem «Bierhübeli» und der «Inneren Enge» ein- und aussteigen. Das «Pintli» war 1881 die erste Ausschankstelle der eben gegründeten nahen Brauerei. Sein schmuckes Haus im Schweizer Holzstil, zu dem ein Biergarten gehörte, geht auf das Jahr 1865 zurück. Seit einem Brand 2014 wird es nur noch zu Wohnzwecken genutzt. Jan. 1995. Q 3 Der «Bären», gegenüber dem Bahnhof Ostermundi- gen, bestand seit 1912 und wurde als «Landgasthof, der dem Bundeshaus am nächsten liegt» beworben. 2019 verschwand er von S 4 Beim «Hallergarten» an der Gesellschaftsstrasse 24, der Bildfläche. Aktuell der 1984 mit benachbarten Schindelhäusern am Maga- sieht der 100,6 m hohe zin- und am Sodweg als Überbleibsel zweier längerer «BäreTower» langsam aber Arbeiterhäuserzeilen abgebrochen wurde, handelte es sich sicher seiner Vollendung um eine beliebte, 1872 eröffnete Quartierbeiz mit einem entgegen. April 2013. Aussenbereich unter Kastanienbäumen. Febr. 1978. 16 | heimat heute 2021
S 7 Das Café «Tramway» an der Militärstrasse 64 nahe des Breitenrainplatzes wurde 1899 erbaut und bestand somit bereits zwei Jahre vor der Eröffnung der Strassen- bahn ins Nordquartier. Das Tram ist nicht nur in seinem Namen, sondern mit Bildern, Streckenplänen, an alte Sitzbänke erinnerndem Mobiliar und einer Tramskulptur auch im Innern des Lokals präsent. Obwohl nicht historisch, sei es hier vorgestellt, da es an seinem Standort immer mal wieder zu Begegnungen mit dem nostalgi- schen «Wagon-Restaurant» von BERNMOBIL historique kommt. März 1994. S 5 Wo heute die Polizeiwache Bern West steht, thronte an der Bernstrasse 104 bis Anfang 2000 der altehrwür- dige Gasthof «Löwen», der während langer Zeit auch Hotelzimmer anbot und über eine lauschige Gartenwirt- schaft verfügte. Erbaut im 19. Jahrhundert, gehörte er gemeinsam mit dem nahen «Sternen» zu den prägenden Bauten des alten Bümplizer Dorfzentrums. Dez. 1999. S 6 Unweit des ehemaligen «Löwen» wird demnächst auch das «Schützenhaus» an der Bottigenstrasse 10 dichtmachen. S 8 Das «Kreuz» an der Muhlernstrasse 244 in Schliern Die «Schüdere», in deren Umfeld früher Kutschen und bei Köniz war bis zu seinem Abbruch im Sommer 1981 ein Pferde, zuletzt aber eher Motorräder standen, war 1868 ortsbildprägendes, von lokalen Vereinen rege genutztes beim Bachmätteli errichtet worden und soll nun einem Wirtshaus. Im frühen 19. Jahrhundert erbaut und zuletzt von Neubau für Wohnungen und Gewerbe weichen. Jan. 1990. Einheimischen liebevoll «Morsche Gondel» genannt, geriet es ab den 1960er Jahren – wie das gesamte Schliern – unter grossen Baudruck und wurde abgerissen, obwohl das Haus als erhaltenswert galt. An seiner Stelle entstand ein sieben- geschossiges Mehrfamilienhaus. Juni 1981. R 9 Diese Verlautbarung im Zusammenhang mit der weit he- rum bedauerten Schliessung des «Kreuzes» dürfte sich wohl eher auf das spekulative Ersatzneubauprojekt als auf die S 10 Das alte «Schwel- wirtschaftliche Situation der Gastwirtschaft bezogen haben. lenmättlei» im Haus des Für diejenigen, die der Bauherrschaft vor dem Abriss noch Schwellenmeisters wurde eine letzte Mitteilung hinterlassen wollten, legte der letzte 1909 erbaut und blieb bis Pächter freundlicherweise ein Stück Kreide bereit. Juli 1981. 2003 erhalten. Mai 1996. heimat heute 2021 | 17
ARCHIVPERLEN II Wirtshausschilder und Leuchtreklamen Rolf Hürlimann Wirtshausschilder – und seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch Leuchtreklamen – sind ein wichtiges Erkennungsmerkmal für Beizen und Restaurants. Sie versprühen Modernität oder aber Traditionsbewusstsein. Aufgrund ihrer Typografie lässt sich oft auch schon der Stil bzw. die Art der Küche eines Restaurants erahnen. Q 1 Passend: Das BLS- Verwaltungsgebäude an der Aarbergergasse 60 beherbergte jahrzehntelang das an den Unternehmensna- men angelehnte Restaurant «Simplon», das später zum «Churrasco Steakhouse» wurde. Bei Renovations- arbeiten kam 1989 auf der Seite Genfergasse eine alte Anschrift mit goldenen Let- tern auf schwarzem Grund zum Vorschein. März 1990. S 2 Vielfältig waren die Etablissements des Buffets des Bahnhofneubaus der 1970er Jahre. Neben Bankettsälen und Imbiss- ständen gab es da unter S 4 Das «Old Train» an der Ecke Schänzlihalde/Viktoria- anderem eine Taverne und rain war einst bekannt für sein Interieur mit zahlreichen eine Brasserie. Jan. 1990. Eisenbahnrelikten. Jan. 1990. Q 3 In einem Anbau der Wei- hergasse 17 befand sich bis 1994 das «Marzili», dessen Schriftzug eine Biermarke erahnen liess, die es in Wirk- lichkeit nie gab. Aug. 1982. 18 | heimat heute 2021
ARCHIVPERLEN II S 5 Bei Bernerinnen und Bernern sehr beliebt war die holzgetäferte Raclette-Stube der «Taverne Valaisanne» im ersten Stock des Hotels «Hirschen». Dessen Eckhaus U 11, S 12 An den ehe- Genfergasse/Neuengasse gehört heute zum Warenhaus- maligen «Sternen» an der komplex «Ryfflihof». Okt. 1989. Aarbergergasse 30 erinnern heute noch das schmiede- eiserne Wirtshausschild mit dem Stern und das nach ihm benannte Sternengäss- chen. Vom Betrieb auf zwei S 9 Das Restaurant «Hong Kong» an der Genfergasse 12 Etagen blieb letztlich das war eines der ersten China-Restaurants in Bern. Aug. 1992. «Stärne-Pintli» im EG übrig, das später symbol- T 10 Vom «Braunen Mutz» an der Genfergasse 3 zeugt trächtig «Quo Vadis» seit der Umnutzung zum Coop-Warenhaus 2005 nur noch hiess und schliesslich zur der Schriftzug; der imposante Bär und der schwungvolle «Propeller-Bar» wurde. Hinweis auf Felsenau-Bier sind verschwunden. Jan. 1995. Jan. 1990 / Okt. 2002. S 6 Als klassische Brauereiwirtschaft bestand die «Traube» im Winkel Genfergasse/Aarbergergas- se von den 1860er Jahren bis Ende 2005. Aus ihr wurde dann für kurze Zeit das «Sassafraz» und zu- letzt das «Sushi & Grill Oishii». März 2005. U 7 Aufs traditionsreiche «Old Inn» an der Effingerstras- se 4 folgte 2000 das indische Restaurant «Maharaja Palace», welches später stadtauswärts in die «Viktoria- hall» des Hauses Nr. 51 umzog. Juli 2000. R 8 Das Café «Bollwerk» in der Ecke Aarbergergasse/Boll- werk bestand seit Ende des 19. Jahrhunderts und war lange Zeit bekannt für «über 30 Biere aus aller Welt». Seine An- schrift behielt es auch, als es nacheinander «Boccalino», «Gondola» und «Aragosta» hiess, ehe seine Räume für den Betrieb einer KiTa umgenutzt wurden. Dez. 1994. heimat heute 2021 | 19
20 | heimat heute 2021
S 1 Auch der 1760 erbaute «Schlüssel» in Seeberg lag an der «Grande Route», der Neuen Aargauerstrasse. heimat heute 2021 | 21
AUS DER PRAXIS «Stadt – Land – Bern» Vielseitige Ausflüge in die Region im Rahmen der Stadtführungen 2021 Sara Calzavara, Anne-Catherine Schröter Mit der diesjährigen Themenwahl für die Stadtführungen wollten wir mit der Tradition der Spaziergänge durch die Stadt Bern brechen und stattdessen «aufs Land» ziehen, um den Besucherinnen und Besuchern die Baukultur im gesamten Tätigkeitsgebiet unserer Regionalgruppe vorzustellen. Gleichzeitig wollten wir die Gelegenheit nutzen, anhand bestimmter Objekte die Arbeit unserer Bauberaterinnen und Bauberater, die im Auftrag des Kantons Bern Renovationen von erhaltenswerten Gebäuden fachlich begleiten, sichtbar zu machen. Ein Stück Verkehrsgeschichte: nicht nur die Einpassung des Neu- des Heimatschutzes, Matthias Zuck- Der Saaneviadukt in Gümmenen baus in das bestehende Ortsbild eine schwerdt, und die Inventarisatorin Den Auftakt der Reihe bildete im Früh- wichtige Rolle, auch die technischen des Inventars der schützenswerten sommer die Führung zum Saaneviadukt Anforderungen an den Bau (wie z. B. Ortsbilder der Schweiz (ISOS), Giu- in Gümmenen. Der 1901 für die Bern- Grössenvorgaben im Zusammenhang liana Merlo, dem komplexen Thema Neuenburg-Bahn (BN) erbaute Natur- mit dem Tierschutz), die Gestaltung Ortsbildschutz annahmen. Den inter- steinviadukt mit Stahlfachwerkbrücke der Umgebung (mitsamt einem Wende- essierten Teilnehmerinnen und Teil- prägt seit 120 Jahren die Landschaft platz für Schwertransporter zur Abfuhr nehmern wurde erläutert, aufgrund des Saanetals wesentlich mit. Als des Geflügels) sowie ökonomische welcher Qualitäten ein Ortsbild ins wichtiger industrie- und verkehrsge- und ökologische Aspekte (Erreichbar- ISOS aufgenommen wird. Die beiden schichtlicher Zeuge des ausgehenden keit des Hofs) wurden diskutiert. Referierenden zeigten auch auf, worauf 19. Jahrhunderts ist er im kantonalen Passend zum Thema Ortsbilder folgte bei Um- und Neubauten innerhalb Bauinventar als schützenswertes Objekt eine Woche später ein Spaziergang eines schützenswerten Ortsbilds zu verzeichnet. Im Rahmen der kürzlich durch ein weiteres Ortsbild von natio- achten ist, wie ortsbauliche Strukturen abgeschlossenen Sanierung wurde der naler Bedeutung in Büren zum Hof, erhalten und eine «Ausfransung» des Viadukt an die heutigen Anforderun- wo sich der zuständige Bauberater Ortsrands verhindert werden kann. gen des Schienenverkehrs angepasst und auf Doppelspur ausgebaut, wobei seine ästhetischen Qualitäten und ein Grossteil der bauzeitlichen Substanz des Viadukts erhalten werden konnten. Hannes Kobel, Leitender Ingenieur bei der BLS Netz AG, hat den Start der Führungsreihe dank seines grossen Know-hows mit Bravour gemeistert. Kontroverse in der Landschaft Die Führung mit dem Titel «Oberbot- tigen: Kontroverse in der Landschaft» wurde von der Landschaftsarchitektin des Heimatschutzes, Pascale Akkerman, und dem engagierten Landwirt Stefan Baumann begleitet, der eine Geflügel- mastanlage im Perimeter des national bedeutenden Ortsbilds bauen möchte. Die beiden Referierenden erläuterten, wie in einem intensiven und nicht immer einfachen Dialog schliesslich eine gute Lösung für alle Beteiligten S 1 Beim Saaneviadukt in Gümmenen erhielten die Besucherinnen und Besucher spannende Einblicke gefunden werden konnte. Dabei spielte in die Geschichte des Bauwerks und die ingenieurtechnisch anspruchsvollen Sanierungsarbeiten. 22 | heimat heute 2021
AUS DER PRAXIS Pandemie musste die ursprünglich für 2020 geplante «Landführungsreihe» komplett in dieses Jahr verschoben werden. Dank einem Schutzkonzept, erstmaligen Anmeldelisten und einer beschränkten Teilnehmendenzahl konnte «Stadt – Land – Bern» schliesslich stattfinden. S 2 Die Sanierung des «Roten Schulhauses» in Worb mit seinen bauzeitlich erhaltenen Wandmalereien steht kurz bevor. Worb: Sanierung eines Schulhauses gion einzusetzen und mit seinem Know- der Nachkriegszeit how denkmalgerechte Sanierungen von Die abschliessende Führung fand in erhaltenswerten Objekten zu fördern. Worb beim «Roten Schulhaus» statt, Bei dieser Arbeit sind Interessenskon- das demnächst unter Begleitung flikte manchmal nicht zu vermeiden. S 4 Tierische Gäste bei der Führung zur des Heimatschutz-Bauberaters Nick Die Stadtführungen 2021 zeigten je- Neuüberbauung des Vidmar-Areals in Köniz. Ruef saniert wird. Das 1973–1975 doch, wie mit gegenseitigem Verständ- erbaute Schulhaus weist noch heute nis, mit grosser und interdisziplinärer An dieser Stelle bedanken wir uns die zeittypischen Fassaden aus roten Fachkompetenz substanzschonende und herzlich bei allen Teilnehmenden, die Stahlblechelementen auf. Auch die gleichzeitig zukunftsweisende Lösungen sich ausnahmslos an alle Regeln ge- bauzeitlich erhaltenen Wandmalereien gefunden werden können. Aufgrund der halten und damit diese etwas andere im Inneren versprühen den Geist der Stadtführungsreihe ermöglicht haben. 1970er Jahre. Architekt Rolf Nöthinger, Wir hoffen, Sie im nächsten Jahr der bereits zur Bauzeit die Bauleitung wieder spontan und uneingeschränkt innehatte, stellte die Baugeschichte begrüssen zu dürfen. Bereits heute des Schulhauses und die geplanten arbeiten wir am neuen Thema. Dank Sanierungsarbeiten mit viel Locker- der vielen positiven Rückmeldungen heit, Witz und Fachwissen vor. auf die Ausweitung des Führungsge- biets werden wir im neuen Jahr daran Stadtführungen: Das Engagement festhalten. Sie dürfen gespannt sein! des Heimatschutzes sichtbar machen Der Berner Heimatschutz, Region Bern Weitere Informationen zu den Stadtfüh- Mittelland, hat die Aufgabe, sich für den S 3 Von aussen präsentiert sich das Schul- rungen und anderen Veranstaltungen: Erhalt des kulturellen Erbes in der Re- haus in seiner ursprünglichen Gestalt. www.heimatschutz.be heimat heute 2021 | 23
AUS DER PRAXIS Gasthöfe im Umbruch: neue Herausforderungen für alle Beteiligten Thomas Stettler, Raphael Sollberger Bedingt durch den gesellschaftlichen Wandel und durch die Pandemie verstärkt, ist die Zukunft von vielen geschichtsträchtigen Gasthäusern unsicher. Gerade wenig frequentierte Landgasthöfe in Ortschaften abseits der wichtigen Verkehrsachsen stehen vor einem Umbruch oder befinden sich mittendrin. Für Eigentümerinnen und Eigentümer, aber auch für die Bauberatung des Heimatschutzes stellt sich die Frage: Mit welchen Rezepten kann darauf reagiert werden? sozial-, wirtschafts und architekturgeschicht- lichen Bedeutung Teil des Bauinventars ihrer Gemeinden. Die Folge davon ist, dass bei unausweichlich gewordenen Umnutzungen oder Umbauten verschiedene öffentliche und private Interessen aufeinandertreffen; bei der Wahl der richtigen baulichen Massnahmen stehen demnach meist nicht nur wirtschaft- liche, sondern auch ortsbauliche und denk- malpflegerische Fragen im Vordergrund. Vom Aufschwung zur Neuorientierung Die Errichtung eines Gasthofs, insbesondere eines Landgasthofs, gründete auf der Absicht, Reisenden die Möglichkeit zur Verpflegung, zur Nächtigung und zur Unterhaltung zu bieten. Entstanden entlang der Chausseen und der Kunststrassen des Ancien Régime1, boten Sie in den Ortschaften am Weg neben der S1 Der «Bären» in Vielfältige Herausforderungen – Möglichkeit zur Rast auch eine Gelegenheit Ostermundigen wahrend hohe Schutzwürdigkeit zum Handeln. Nicht nur für die Reisenden, des Abrisses 2019. Weil Für einige Betriebe gestaltet es sich zuneh- sondern auch für die Bewohnerinnen und Gasthöfe meist an zentrums- mend schwer, die ökonomischen und gesetzli- Bewohner eines Orts waren die Gasthöfe, von naher Lage stehen und sich chen Anforderungen ohne grosse Investitionen der einfachen Gaststube bis hin zum repräsen- deshalb mit einer höheren erfüllen zu können. Hinzu kommen, ge- tativen Gebäudeensemble mit grossem Saal, Ausnutzung ihrer Areale fördert durch vermehrtes Home-Office Bühne und Kegelbahn, Orte des Genusses. Die höhere Renditen erwirtschaf- und die gesellschaftlich besser verankerte Nachfrage war zu Beginn gross, je grösser ten lassen, wird nicht selten Teilzeitarbeit, neue Lebens- und Essgewohn- und je wichtiger ein Ort, umso mehr Gast- ein Abbruch angestrebt. heiten, die traditionelle Gastronomiebetriebe vor neue Herausforderungen stellen. Und Q 2 Schon im frühen nicht zuletzt geraten viele der Liegenschaf- 20. Jahrhundert bewarben ten aufgrund ihrer oft zentralen Lage im die Gastwirtschaftsbetriebe, Ort in den Fokus des Immobilienhandels, hier der «Sternen» in Worb, scheinen andere Arealnutzungen doch aus ihre verschiedenen Unter- rein wirtschaftlicher Sicht meist vielver- haltungsangebote, hier etwa sprechender. So geschehen beim «Bären» in Form einer Kegelbahn in Ostermundigen, der 2019 zugunsten und eines Hirschparks. des Wohn-, Hotel- und Geschäftskomplexes «BäreTower» abgerissen wurde. Auf der anderen Seite sind viele der in diesem Heft vorgestellten Landgasthöfe aufgrund ihrer 24 | heimat heute 2021
höfe entstanden, und die Konkurrenz wuchs. Bereits im frühen 20. Jahrhundert mussten die Gastwirte – Gastwirtinnen gab es wohl nur sel- ten – erkennen, dass sich der wirtschaftliche Erfolg nicht von selbst einstellte. Einfallsreich- tum von sich ergänzenden Nutzungsaktivi- nicht, ist der Sündenbock meist schnell gefun- S 3 Zu seiner Blütezeit – täten war gefragt, und so wurde selbst eine den: der historische Bau, welcher nicht ohne hier eine Aufnahme von «freundliche Terrasse» als Alleinstellungs- Weiteres auf zweckmässige Art und Weise den 1943 – stiegen nationale merkmal eines Gasthofs hervorgehoben. Un- neuen Anforderungen unterjocht werden kann. Politiker und der Armee- schwer ist erkennbar, dass diese Zeiten nicht general Guisan im «Weissen mehr aktuell sind und die heutige Gesellschaft Der Umgang mit den Liegenschaften stellt die Rössli» in Zäziwil ab, … nicht mehr ein «Fuhrwerk und Telephon im Eigentümerinnen und Eigentümer, die Päch- Hause» benötigt. Wege und Distanzen wurden terinnen und Pächter und auch die Behörden kürzer, Kommunikation einfacher, Bowling vor grosse Herausforderungen. Gilt es doch, löste Kegeln ab, das Erlebnis «Hirschpark» ist die in der Regel gegen 200-jährigen Bauten kein Vergleich mehr zu einer echten Safari. Der «feine Waadtländerwein» wird sowieso R 4 … 2018 brannte der per Post zur Degustation nach Hause geliefert. Gasthof nach langem Leer- stand und Verwahrlosung Sich der Herausforderung stellen komplett aus. 21 Personen Dass all diese gesellschaftlichen Verände- mussten evakuiert werden. rungen grosse Auswirkungen auf Gastge- werbebetriebe hatten, ist offensichtlich. Um wirtschaftlich überleben zu können, mussten und müssen sie sich neu orientieren. Sei es, indem sie sich spezialisieren (und sich damit im Angebot beschränken) oder indem sie ihr Angebot ausbauen, die Anpassung eines klug in die neue Zeit zu transformieren: eine Gasthofs an sich wandelnde gesellschaftliche Gratwanderung zwischen zu wenig (wenn Gegebenheiten ist stets mit viel finanziellem das Angebot gar nicht erst als verändert Engagement verbunden und erfordert viel wahrgenommen wird) und zu viel Risiko Durchhaltevermögen. Betriebskonzepte und (wenn das Angebot im Ort als unpassend juristische Vorgaben sind die Richter einer Be- empfunden wird). Unsorgfältige Entscheide urteilung, ob und unter welchen Bedingungen führen – neben dem wirtschaftlichen Scha- ein Betrieb weitergeführt werden kann. Wenn den – nicht selten zum Verlust von schützens- werter Bausubstanz bis hin zu Totalschäden. R 5 Der 1836 erbaute Glück und Unglück liegen oft nahe beieinander «Sternen» in Worb befindet Entlang der 1837 als «Haupttransversale ers- sich seit 1899 ununter- ter Klasse» festgelegten Hauptstrasse Bern– brochen in den Händen der Worb–Langnau ist diese Problematik mit all Familie Schneiter. Dass der ihren Facetten in «freier Wildbahn» erlebbar. Betrieb bis heute besteht, So etwa beim Gasthof «Zum Weissen Rössli» verdankt der «Sternen» in Zäziwil. Während des Zweiten Weltkrieges nicht nur den engagierten stieg hier die Armeespitze ab, später auch Eigentümerinnen und Eigen- Bundesräte, die sich in der «Generalsstube», tümern, sondern vor allem von Henri Guisan (1874–1960) persönlich ein- auch der guten Anbindung geweiht, mit Porträts verewigten. Das «Weisse Worbs an die Stadt Bern. heimat heute 2021 | 25
Sie können auch lesen