Heimat heute 2021 - "Zum Wohl!" | Gasthöfe und Beizen im Umbruch - Urtenen-Schönbühl

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Heimat heute 2021 - "Zum Wohl!" | Gasthöfe und Beizen im Umbruch - Urtenen-Schönbühl
2021

heimat
heute

«Zum Wohl!» | Gasthöfe und Beizen im Umbruch

                                    BERNER HEIMATSCHUTZ
                                    REGION BERN MITTELLAND
                                    Postfach, 3001 Bern
                                    www.heimatschutz.be
                                    info@heimatschutz-bernmittelland.ch

                                                          heimat heute 2021 | 1
Heimat heute 2021 - "Zum Wohl!" | Gasthöfe und Beizen im Umbruch - Urtenen-Schönbühl
Impressum
Herausgeberin
Berner Heimatschutz
Region Bern Mittelland
Postfach, 3001 Bern
www.heimatschutz.be
info@heimatschutz-bernmittelland.ch

Idee
Jasmin Christ

Redaktion
Raphael Sollberger

Korrektorat
Margrit Zwicky

Satz und Gestaltung
www.dessign.ch

Titelbild
Der Landgasthof Schönbühl.
Zur Geschichte der Berner Landgasthöfe vgl. S. 8–15.

Druck
Länggass Druck AG
www.ldb.ch

Auflage
1’500 Exemplare

2 | heimat heute 2021
Heimat heute 2021 - "Zum Wohl!" | Gasthöfe und Beizen im Umbruch - Urtenen-Schönbühl
Inhalt

     Editorial
 4   «Zum Wohl!» Auf ein Jahr, das viel Freude machte – und viele Ressourcen kostete
     Raphael Sollberger

     Aus der Politik
 6   Meienegg: Widerstand gegen den Abbruch formiert sich neu
     Raphael Sollberger

     Aus der Politik
 7   Abfahrts-Anzeigetafeln im Weltkulturerbe: Rechtsstreit noch nicht entschieden
     Enrico Riva

     Aus der Forschung
8    Die Berner Landgasthöfe an der «Grande Route»
     Melanie Widmer

     Archivperlen I
16   Verschwundene und legendäre Beizen in und um Bern
     Rolf Hürlimann

     Archivperlen II
18   Wirtshausschilder und Leuchtreklamen
     Rolf Hürlimann

     Aus der Praxis
22   «Stadt – Land – Bern»: Die Stadtführungen 2021
     Sara Calzavara, Anne-Catherine Schröter

     Aus der Praxis
24   Gasthöfe im Umbruch: neue Herausforderungen für alle Beteiligten
     Thomas Stettler, Raphael Sollberger

     Aus der Politik
28   Etappensieg im Tscharnergut – Scheibenhaus noch nicht gerettet
     Luc Mentha, Raphael Sollberger

     Spaziergang durch die Region
30   Urtenen-Schönbühl
     André Hubacher

     In eigener Sache
38   Rücktritt vom Präsidium
     Stefan Rufer

38   Abbildungsverzeichnis

39   Adressen

                                                                                       heimat heute 2021 | 3
Heimat heute 2021 - "Zum Wohl!" | Gasthöfe und Beizen im Umbruch - Urtenen-Schönbühl
EDITORIAL

«Zum Wohl!»
Auf ein Jahr, das viel Freude machte –
und viele Ressourcen kostete
Raphael Sollberger

Liebe Leserinnen und Leser                                                       Thomas Stettler, Präsident der Bauberatung,
                                                                                 berichtet in seinem Artikel von den neuen
Es ist wohl müssig, darüber zu diskutieren, welche Branche                       ökonomischen und denkmalpflegerischen
am meisten unter den Massnahmen zur Bekämpfung                                   Herausforderungen, vor denen Gastwirtinnen
der Pandemie gelitten hat. Sportlerinnen und Sportler,                           und Gastwirte ebenso wie Architektinnen
                                                                                 und Architekten stehen, wenn es darum
Kulturschaffende, Studierende, Einzelwarenhändlerinnen
                                                                                 geht, für einen alten Gasthof ein zukunfts-
und -händler, sie alle mussten grosse Einschränkungen
                                                                                 gerichtetes Nutzungskonzept oder einen
und finanzielle Einbussen schultern. Wenn man aber                               substanzschonenden Umbau zu planen.
Konsumierende fragt, welches denn die Massnahme mit den
grössten Auswirkungen für sie persönlich gewesen sei, so ist                     Im Rahmen der traditionellen «Archivperlen»
oft eine der ersten Antworten, die kommt, die Schliessung                        nimmt uns unser Fotojournalist Rolf Hürli-
der Gastronomie. Die Möglichkeit, Restaurants, Bars und                          mann schliesslich mit auf eine Entdeckungs-
Beizen besuchen zu können oder in einem schönen Gasthof                          reise zu teils längst verschwundenen oder
                                                                                 aber längst kultgewordenen Restaurants
auf dem Land essen zu gehen, scheint der Bevölkerung
                                                                                 und Beizen in der und um die Stadt Bern.
ein wichtiges Gut zu sein.
                                                                                 Glücklicherweise haben, dank der grossen
                                Weshalb ist das so? Und wenn es so ist,          Solidarität der Gäste und dank verschiede-
                                weshalb kämpfen dann reihenweise Gast-           ner staatlicher Hilfsprogramme, die meisten
                                stätten – insbesondere auf dem Land und          Gastronomiebetriebe die Pandemie überlebt.
                                unabhängig von der Pandemie – ums Über-          «Zum Wohl!», würde ich deshalb sagen.
                                leben? In der diesjährigen Ausgabe von heimat
                                heute wollen wir dem auf den Grund gehen.        Der Heimatschutz im zweiten Pandemiejahr
                                                                                 Auch wir vom Heimatschutz profitieren von
      Q 1 Der Gasthof «Zum                                                       den im Sommer 2021 in Kraft getretenen
Wilden Mann» in Aarwangen,                                                       Lockerungen. Insbesondere unsere öffent-
  eine von vielen Gaststätten                                                    lichen Veranstaltungen wie die Stadt- und
entlang der «Grande Route».                                                      Landführungen, die «ArchitekTOURen» oder
                                                                                 die traditionellen Filmvorstellungen im Licht-
                                                                                 spiel können wieder durchgeführt werden und
                                                                                 stossen auch nach der langen Pause erfreuli-
                                                                                 cherweise auf nicht minder grosses Interesse.

                                                                                 Auf ein Jahr also, das bisher viel Freude
                                                                                 machte, uns aber auch enorm viele Ressourcen
                                                                                 kostete: Seit einiger Zeit bereits stellen wir –
                                Zum Inhalt dieses Hefts                          und vielleicht auch Sie, liebe Leserinnen und
                                Im Rahmen einer Reise entlang eines Ab-          Leser – eine Häufung der Rechtsfälle fest, in
                                schnitts der «Grande Route», der altberni-       welche der Heimatschutz involviert ist. In der
                                schen Hauptverbindungsstrasse zwischen           Stadt Bern zum Beispiel kämpfen wir momentan
                                den damaligen Untertanengebieten in der          im Rahmen von vier grösseren Bauprojekten
                                Waadt und im Aargau, erzählt uns die Archi-      dafür, dass Genossenschaften und Behörden (!)
                                tekturhistorikerin Melanie Widmer die            die geltende Gesetzgebung in Bezug auf das
                                spannende Geschichte der Berner Landgast-        kulturelle Erbe respektieren. In der Meienegg
                                höfe, unter welchen Umständen sie ent-           und im Tscharnergut sollen schützenswerte
                                standen sind und wie sie sich während der        Bauten und mit ihnen Hunderte günstiger
                                letzten rund 300 Jahre weiterentwickelt haben.   Wohnungen für sozial schwächer gestellte

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Heimat heute 2021 - "Zum Wohl!" | Gasthöfe und Beizen im Umbruch - Urtenen-Schönbühl
Menschen aus Renditegründen abgebrochen
und durch Neubauten ersetzt werden, am
Hirschengraben drohen bauliche Relikte aus
längst vergangenen Jahrhunderten zugunsten
einer kläglichen Fussgängerinnen- und Fuss-
gängerunterführung geopfert zu werden, und in
der unteren Altstadt, dem UNESCO-Welterbe-
perimeter der Stadt Bern, wurden von der Stadt
selbst an den Haltestellen der Buslinie 12 zum
Bärengraben hell leuchtende Abfahrts-Anzeige-
tafeln montiert, ohne dafür die entsprechenden
Bewilligungen einzuholen – und obwohl die
Stadt 2006 ein Gesetz zum Schutz des Stadt-
bilds erlassen hat, welches Leuchtschriften
in der unteren Altstadt explizit verbietet.

Grosses Engagement mit beschränkten Mitteln
All diese Rechtsgeschäfte zehren an unseren be-
schränkten Ressourcen: Während die Stadt und
die Genossenschaften auf der Gegenseite die
finanziellen und personellen Mittel haben, sich
auf Rechtsgeschäfte bis vor Bundesgericht ein-
zulassen und allfällige Niederlagen vor Gericht
in ihren Budgets einkalkuliert sind, operiert
der Heimatschutz ausschliesslich mit Spenden
und Mitgliederbeiträgen, die Mitglieder des
Vorstands arbeiten in ihrer Freizeit und werden
für ihren Aufwand nicht entschädigt. Ein Kampf
mit ungleich langen Spiessen, der sich jedoch
schon allein deswegen lohnt, weil – so zeigen
es die wachsenden Mitgliederzahlen – immer
mehr Menschen unsere Anliegen unterstützen
und sich öffentlich für den sorgsamen Um-
gang mit unserem Kulturerbe einsetzen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine
inspirierende Lektüre – am besten bei einem
Glas Wein in einer stylischen Bar, bei einem Bier
in einer urchigen Gaststube oder bei einer
gemütlichen Tasse Kaffee im Restaurant bei
Ihnen um die Ecke!

  Q 2 Seine sorgfältig restaurierten Ründemalereien zeugen
 von der grossen Wertschätzung, die in den Dörfern unserer
        Region bis heute den Gasthöfen zugesprochen wird.

                                                             heimat heute 2021 | 5
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AUS DER POLITIK

Meienegg: Widerstand gegen den Abbruch
formiert sich neu
Raphael Sollberger

Nach dem Willen der FAMBAU Genossenschaft und der Stadt Bern soll die Siedlung Meienegg,
Berns älteste genossenschaftliche Wohnsiedlung, abgebrochen werden. Mit dem geplanten Abriss
ginge nicht nur ein Baudenkmal von nationaler Bedeutung, sondern mit ihm auch über 200 günstige
Wohnungen verloren. Die IG Stöckacker Nord und der Berner Heimatschutz, Region Bern Mittelland,
setzten sich von Beginn an gemeinsam für die Sanierung der Siedlung ein – und erhalten nun
prominente Unterstützung.

                                                                                               nichts anderes zur Folge haben wird als
                                                                                               teurere und grössere Wohnungen und
                                                                                               mit ihnen eine weitere Gentrifizierung
                                                                                               des heute bereits äusserst dichten und
                                                                                               kulturell gut durchmischten Quartiers.
                                                                                               Die bisherige Mieterschaft wird sich
                                                                                               ausserhalb der Stadt eine neue Bleibe
                                                                                               suchen müssen. Ganz zu schweigen
                                                                                               vom absurden Ressourcenverbrauch,
                                                                                               eine ganze substanziell gut erhaltene
                                                                                               Wohnsiedlung aus den 1950er Jahren
                                                                                               zu entsorgen und neu zu errichten.

                                                                                               Um die Bedeutung der Meienegg ins
                                                                                               Bewusstsein der Bevölkerung zu rufen,
                                                                                               haben wir die Siedlung Meienegg be-
                                                                                               reits 2019 auf die Rote Liste bedrohter
                                                                                               Baudenkmäler des Schweizer Heimat-
                                                                                               schutzes (www.roteliste.ch) gesetzt.
                                                                                               Tragen also auch Sie sich jetzt als
                                                                                               Unterstützerin oder Unterstützer auf
S   1 Das Mehrfamilienhaus am Eingang zur Siedlung Meienegg im Berner Stöckackerquartier.      der Website www.meienegg.ch (unter
                                                                                               der Rubrik «Wer wir sind») ein! Wir
Im September 2020, im Anschluss an                 und neuzubauen, fand seither immer          freuen uns auf Ihre Unterstützung.
die Europäischen Tage des Denkmals,                breitere Unterstützung. Neben vielen
lancierten die beiden Organisationen               Privatpersonen aus den Bereichen
die neue Website www.meienegg.ch.                  Architektur, Denkmalpflege, aber auch
Auf ihr wurden bisher und werden                   interessierten Laien, die sich öffentlich
weiterhin alle wichtigen Zeitungs-                 als Unterstützerinnen und Unterstützer
artikel, Inventare und Gutachten zur               auf der neuen Website haben eintra-
Meienegg gesammelt und der Öffent-                 gen lassen, haben sich 2021 auch das
lichkeit zur Verfügung gestellt. Dies              Institut für Denkmalpflege und Baufor-
mit dem Ziel, dass sich die Bevölkerung            schung der ETH Zürich und die Zürcher
ebenso wie die Fachwelt – trotz des                Hochschule für Angewandte Wissen-
massiven Weibelns für den Abbruch                  schaften der Kampagne angeschlossen.
seitens der FAMBAU und der Stadt –
ein ausgewogenes Bild der Faktenlage               Derweil planen die FAMBAU und die           S 2 An den Europäischen Tagen des Denkmals
machen kann. Unser Anliegen, die zwölf             Stadt, ungeachtet des mittlerweile          im September 2020 stiessen die Führungen durch
Mehrfamilien- und Alterswohnhäuser                 grossen Widerstands, munter am Abriss       die Meienegg bei Besucherinnen und Besuchern
zu sanieren, statt sie abzubrechen                 und Neubau weiter, der im Endeffekt         aus der ganzen Schweiz auf grosses Interesse.

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Heimat heute 2021 - "Zum Wohl!" | Gasthöfe und Beizen im Umbruch - Urtenen-Schönbühl
AUS DER POLITIK

Abfahrts-Anzeigetafeln im Weltkulturerbe:
Rechtsstreit noch nicht entschieden
Enrico Riva

Auch fünf Jahre nach dem unrechtmässigen Anbringen der Abfahrts-Anzeigetafeln an den
Sandsteinfassaden im UNESCO-Welterbeperimeter von Bern bleibt die Situation unbereinigt.
Eine Einigung konnte nicht erzielt werden. Die Stadt Bern, BERNMOBIL und Inclusion Handicap weigern
sich, gemeinsam mit dem Heimatschutz eine bessere – denkmalverträgliche – Lösung zu finden.
Der Fall wird nun vom Bundesverwaltungsgericht zu entscheiden sein.

2016 sind in der unteren Altstadt von
Bern – im Kernbereich des UNESCO-
Weltkulturguts – an den Haltestellen
der Trolleybuslinie 12 selbstleuchten-
de Abfahrts-Anzeigetafeln installiert
worden. Dies geschah, ohne dass die
gesetzlich vorgeschriebene Bewilligung
eingeholt worden wäre. Der Berner
Heimatschutz, Region Bern Mittelland,
wehrte sich gegen dieses Vorgehen. Die
von BERNMOBIL installierten klobigen
Tafeln nehmen keine Rücksicht auf den
prächtigen Strassenzug der Kram- und
der Gerechtigkeitsgasse. Sie verlet-
zen zudem die Vorschriften, welche
die Stadt Bern selbst zum Schutz
der unteren Altstadt erlassen hat.1

Auf unsere Intervention hin leitete das
Bundesamt für Verkehr (BAV) nachträg-
lich ein Plangenehmigungsverfahren ein    S 1 ... Die Abfahrts-Anzeigetafeln stellen in der unteren Altstadt von Bern einen besonders empfind-
und gab uns recht. Mit Entscheid vom      lichen Eingriff ins Stadtbild dar. Gemäss der Bauordnung der Stadt Bern wären sie bewilligungspflichtig.
11. Februar 2020 verweigerte es die
Bewilligung und verpflichtete die Stadt   2020 erklärte die Tiefbaudirektion der                zeigetafeln infrage. Dieser Vorschlag
Bern und die Verkehrsbetriebe zur Wie-    Stadt, als Kompromiss komme allein                    wird dem Schutzbedürfnis der unteren
derherstellung des rechtmässigen Zu-      ein farbliches Umstreichen der An-                    Altstadt überhaupt nicht gerecht; es
stands. Die Stadt, BERNMOBIL und der                                                            war der Stadt Bern klar, dass sie damit
Dachverband der Behindertenorganisa-                                                            die Vergleichsverhandlungen einseitig
tionen Inclusion Handicap akzeptierten                                                          aufkündigte. Das Verfahren ist nun vor
dieses Nein jedoch nicht, sondern                                                               dem Bundesverwaltungsgericht hängig.
erhoben beim Bundesverwaltungs-                                                                 Ende Juni erklärte der Instruktions-
gericht Beschwerde. In heimat heute                                                             richter die Sache für «spruchreif».
2020 haben wir darüber informiert.                                                              Wir warten nun auf das Urteil; es wird
                                                                                                vermutlich im Jahr 2022 gefällt werden.
Unser Bericht endete mit dem Wunsch,
dass sich zwischen den Parteien eine
Verständigungslösung finden liesse.2                                                            Anmerkungen
                                                                                                1   Bauordnung der Stadt Bern (BO) vom
Diese Hoffnung ist enttäuscht worden.     S   2 Dabei gibt es schon heute an weniger
                                                                                                    28.12.2006.
Gespräche wurden zwar aufgenommen,        frequentierten Haltestellen auf dem BERN-             2   Vgl. Enrico Riva, Barrierefreiheit im Welt-
                                                                                                    kulturerbe: Abfahrtsanzeigetafeln in der
aber nach einer einzigen Sitzung nicht    MOBIL-Netz deutlich unauffälligere, nicht
                                                                                                    unteren Altstadt, in: heimat heute, 2020, S.
mehr weitergeführt. Im November           weniger behindertengerechte Monitore.                     22–25.

                                                                                                                         heimat heute 2021 | 7
Heimat heute 2021 - "Zum Wohl!" | Gasthöfe und Beizen im Umbruch - Urtenen-Schönbühl
AUS DER FORSCHUNG

Die Berner Landgasthöfe
an der «Grande Route»
Melanie Widmer

Im heutigen Pendelverkehr bewegen sich täglich Massen von Personen auf den grossen Schweizer
Transitrouten. Besonders viele von ihnen auf der Autobahn A1 zwischen Bern und Zürich. Benötigt man
während der Fahrt eine Pause, kann man bei einer der vielen Raststätten anhalten, ohne die Autobahn
verlassen zu müssen. Dabei ist kaum jemandem bewusst, welch lange Geschichte dieser Art des
Reisens zugrundeliegt. Das Alte Bern nahm beim Strassenbau nämlich eine Vorreiterrolle innerhalb der
Eidgenossenschaft ein. Die zahlreichen entlang der Strasse nach Zürich entstandenen Landgasthöfe
sind wichtige Zeugen dieser Entwicklung.

                                  Viele Wege führen durchs Mittelland             Mittelalter entstanden zwei weitere wichtige
                                  Vor dem Bau der Autobahnen und der zu-          Verkehrswege, welche die neuen Orte und
                                  nehmenden Motorisierung nach dem Zweiten        Städte miteinbezogen. Einer verlief über
                                  Weltkrieg gestaltete sich das Reisen von Bern   Murten, Aarberg und Solothurn, ein zweiter,
                                  nach Zürich noch weitaus schwieriger. Bern      die sogenannte «Kastenstrasse», führte von
                                  und viele andere Orte wurden im Zuge der        Fribourg über Bern und Burgdorf nach Olten.
                                                                                  Über diese beiden Strecken verlief im Mittel-
Q 1 Abseits der A1 führt auch                                                     alter ein Grossteil des Verkehrs zwischen dem
     heute noch ein Grossteil                                                     süddeutschen Raum, Frankreich (hauptsäch-
  der Strecke zwischen Bern                                                       lich Paris und Lyon) und Katalonien (Barce-
 und Murgenthal entlang der                                                       lona). Als Folge der zunehmenden Mobilität
ehemaligen Neuen Aargauer-                                                        ab dem 13. Jahrhundert wurden Gasthöfe zu
   strasse, hier z. B. an einer                                                   einem Teil der Grundausstattung der Städte
      Kreuzung in Koppigen.                                                       und Dörfer an den Transit- und Passstrassen.
                                                                                  Neben dem Bewirten der Handeltreibenden
                                                                                  und Reisenden dienten sie ebenso als Warenla-
                                                                                  ger für Handelsgüter und Pfänder, als Pflege-
                                                                                  stätte für Verwundete (soweit kein Hospiz o. ä.
                                                                                  in der Nähe war) und als Pferdestallungen. Ab
                                                                                  dem 17. Jahrhundert erhielten einige Gasthöfe
                                                                                  im Staat Bern eine weitere Funktion, dienten
                                                                                  sie doch auch als Poststelle für die frisch
                                                                                  gegründete Berner «Fischerpost», welche als
                                                                                  Ursprung des schweizweiten Postnetzes gilt.1

                                                                                  Aufschwung im Ancien Régime
                                                                                  Im 17. Jahrhundert erlebte die Eidgenossen-
                                                                                  schaft eine Zeit des Aufschwungs. Die Berner
                                                                                  Regierung nutzte diesen und verabschiede-
                                                                                  te diverse Mandate zur Verbesserung der
                                                                                  Strassen, um den Handel und den Verkehr
                                  grossen Stadtgründungswelle im 12. Jahrhun-     zusätzlich zu fördern. Damit nahm Bern eine
                                  dert erstmals als Handelszentren interessant.   Vorreiterrolle ein. Der Zuwachs an Reisenden
                                  Dementsprechend stammen auch die ersten         spornte den Strassenbau zusätzlich an, und so
                                  bekannten Strassenkarten der Region aus         begannen im 18. Jahrhundert schliesslich die
                                  dieser Zeit. Frühere wichtige Transitrouten,    grossen institutionalisierten Berner Strassen-
                                  wie etwa diejenigen der Römer, führten ent-     bauprojekte. Neu strömten auch Vertreterin-
                                  lang des Jurasüdfusses vom Südwesten in         nen und Vertreter der europäischen Elite, die
                                  den Nordosten der heutigen Schweiz. Erst im     im Zuge der Alpenbesteigungswelle das Land

8 | heimat heute 2021
Heimat heute 2021 - "Zum Wohl!" | Gasthöfe und Beizen im Umbruch - Urtenen-Schönbühl
bereisen wollten, in die Schweiz. All diese
Personen, die sich auf den Verkehrswegen
bewegten, waren auf Unterkunftsmöglichkei-
ten angewiesen; ihrem Status entsprechend
nannte man sie «Höfe» – «Gasthöfe» eben.

Auch in der Stadt Bern wurde zu dieser
Zeit ein Kunststrassennetz geplant, das
sternförmig aus der Stadt in die «Campag-
ne» hinausführen sollte. 1784 entstanden
erste Pläne zum Ausbau der Verbindungen
in die Untertanengebiete in der Waadt
und im Aargau unter dem Namen «Gran-
de Route»2. Die Strasse sollte zur neuen
Hauptverbindung zwischen der West- und
der Ostschweiz werden und den lukrativen
Transithandel durch die Hauptstadt führen.

Eines der ersten Teilstücke der Bern-Zürich-
Verbindung war die Neue Aargauerstrasse. Sie
wurde 1753–1764 erbaut und führte von Bern
nach Murgenthal. Die Strasse befindet sich
als Verkehrsweg von nationaler Bedeutung
im Inventar der historischen Verkehrswege der
Schweiz (IVS).3 Die neue Kunststrasse sollte
30 Schuh (ca. 9 m) breit und so dauerhaft wie
möglich sein. Nachdem die Strecke bis Hindel-
bank fertiggestellt worden war, entstand eine
grosse Diskussion darüber, ob sie im weiteren

                                                S 2 Ausschnitt aus der
                                                «Carte Topographique de la
                                                Grande Route de Berne» mit
                                                der Strassengabelung bei
                                                Hindelbank. Über Kirchberg
                                                verläuft die neue schnur-
                                                gerade «Grande Route»,
                                                während die ältere Kasten-
                                                strasse über Burgdorf führt.

                                                R 3 Die ehemalige «Sonne»
                                                in Koppigen, heute das
                                                Wohnheim «Oeschberg».

                                                   heimat heute 2021 | 9
Heimat heute 2021 - "Zum Wohl!" | Gasthöfe und Beizen im Umbruch - Urtenen-Schönbühl
entlang der Neuen Aargauerstrasse handelte
                                                                                 es sich um einen spätbarocken Massivbau
                                                                                 mit Gliederungselementen aus Sandstein
                                                                                 wie bspw. einer Eckquaderung, einem Gurt-
                                                                                 gesims sowie Fenster- und Türleibungen.

                                                                                 Aufgrund der vielen Aufgaben, die ein
                                                                                 Gasthof erfüllen musste, setzten sich die
                                                                                 meisten Orte der Gastlichkeit aus einem
                                                                                 ganzen Gebäude-Ensemble zusammen. So
                                                                                 gehörten auch zum «Bären» ein Wohnstock,
                                                                                 eine Pferde- und Kutschenremise sowie ein
                                                                                 Speicher. Der Gastbetrieb bestand bis 1921,
                                                                                 danach wurde der «Bären» zu einer Kna-
                                                                                 benerziehungsanstalt umgebaut, wobei das
                                                                                 grosse Mansarddach mit Lukarnen ausgebaut
                                                                                 wurde, um Schlafkammern unterzubringen.

                                                                                 Um den neu entstandenen Ansprüchen der
                                                                                 Reisenden zu genügen und somit konkurrenz-
                                                                                 fähig zu bleiben, entwickelte sich in einigen
                                                                                 Ortschaften entlang der Neuen Aargauer-
                                                                                 strasse eine Art repräsentativer Bauzwang.
                                                                                 Dabei kam es oftmals vor, dass sich die
                                                                                 Gasthöfe architektonisch aneinander orien-
   S 4 Seeberg, am unteren      Verlauf entlang der älteren Kastenstrasse über
 Rand des Ausschnitts, ist an   Burgdorf oder neu über Kirchberg führen
 beiden Transitrouten einge-    sollte. Nach einer Gegenüberstellung ent-
  zeichnet – das Kirchdorf im   schied man sich schliesslich für den Verlauf
Westen, der Ortsteil Riedtwil   über Kirchberg, was in der Folge einen nicht
  im Osten. Die meisten See-    unbeträchtlichen Einfluss auf die wirtschaft-
   berger Gasthöfe befanden     liche Entwicklung der an der Route liegenden
sich vor dem Bau der Neuen      Ortschaften hatte. So entstanden entlang
 Aargauerstrasse in Riedtwil    der Neuen Aargauerstrasse innerhalb eines
       an der Kastenstrasse.    kurzen Zeitfensters zahlreiche neue Gasthöfe,
                                von denen viele noch heute in Betrieb sind.

                                Wo keine neuen Gasthöfe errichtet wurden,
     W Q5,   6 Der ehemalige    hat man bestehende Gebäude meist erweitert
       «Bären» in Koppigen.     und ausgebaut, teilweise gar durch Neu-
Heute handelt es sich um das    bauten ersetzt. Ein Beispiel dafür stellt der
Kinderwohnheim «Friedau».       geschichtsträchtige «Bären» in Koppigen dar.
                                Lange Zeit stand an seiner Stelle eine Taver-
                                ne mit dem Namen «Bären», welche noch
                                die alten Konzessionsrechte besass. 1824
                                wurde der gesamte Gasthof unter demselben
                                Namen neu errichtet. Wie bei den meisten
                                der neu entstandenen Gastwirtschaftsbauten

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AUS DER FORSCHUNG

tierten. Ein Beispiel hierfür findet sich in
Herzogenbuchsee. Lange lag das Kirchdorf
abseits der wichtigen Verkehrswege. Erst
die Neue Aargauerstrasse führte durch die
Ortschaft und schloss sie an die Transitroute
an. Der höhere Stellenwert des Orts zeichnet
sich hier vor allem an den Gasthofbauten ab,
welche Ende des 18. Jahrhunderts entstanden
sind. Ein sehr schönes Beispiel dafür stellt
das «Kreuz» dar: Seine Fassadengestaltung
mit Solothurner Sandstein macht es zu einem
der prächtigsten Gebäude des Ortsbilds
mit starkem Repräsentationsanspruch. Das
«Kreuz» ist aber nicht der einzige Gasthof,
welcher zu dieser Zeit in Herzogenbuchsee
entstand: Ein weiteres namhaftes Beispiel ist
die «Sonne». Seine Hauptfassade ist dabei
zum heute «Sonnenplatz» genannten Dorfplatz
ausgerichtet. Dadurch stellt sie für Reisende
von Bern her einen beeindruckenden Blick-
fang dar – und zusammen mit dem «Kreuz»
verleiht sie dem Dorfzentrum einen schon
fast herrschaftlich-städtischen Charakter.

Die Not zur Tugend machen
Anders war die Lage in Ortschaften, die durch
den Bau der neuen Transitroute plötzlich
nicht mehr direkt an den wichtigen Handels-
wegen lagen. Obwohl das Dorfzentrum von
Seeberg näher an der Neuen Aargauerstras-
se liegt, orientierten sich alle bestehenden
Gastwirtschaftsbauten der Gemeinde zur
alten Kastenstrasse. Ein Beispiel dafür ist
der ehemalige «Löwen». Dieser befand
sich an einer Verbindungsstrasse zwischen
der Kastenstrasse und der späteren Neuen
                                                Aargauerstrasse. Obwohl der Bau heute nicht      SS 7, S 8 Das «Kreuz»
                                                mehr existiert, ist immer noch ein Ortsteil      (oben) und die «Sonne»
                                                nach ihm benannt (im Volksmund «Lööli»).         stehen in direkter Nachbar-
                                                Als die Neue Aargauerstrasse in Seeberg          schaft in Herzogenbuch-
                                                entstand, lag dieser Gasthof im Abseits und      see. Die beiden Gasthöfe
                                                rückte in den Schatten der «Grande Route».       dominieren den Sonnenplatz.

                                                Ein Bauernhausbesitzer im westlichen Orts-       R 9 Auch das Innere
                                                teil hingegen reagierte geschickt auf die neue   des «Kreuzes», hier der
                                                Sachlage und baute sein Bauernhaus, welches      Speisesaal mit historischem
                                                direkt an der Neuen Aargauerstrasse lag,         Täfer, wurde nicht minder
                                                kurzerhand in einen Gasthof, den «Schwa-         repräsentativ gestaltet.

                                                                                                   heimat heute 2021 | 11
AUS DER FORSCHUNG

                               nen», um. Einerseits weil der Bau direkt am     Räumlichkeiten mit verhältnismässig ein-
                               südwestlichen Eingang des Dorfs lag, ander-     fachen hölzernen oder blechernen Wannen.
                               seits aufgrund seines grossen Bauvolumens       Gegen ein Entgelt konnten sich die Gäste
                               war er für Reisende aus Bern bereits früh       hier der Körperpflege unterziehen, bevor sie
                               gut ersichtlich. Da er zudem direkt an der      nach der Badeprozedur Hunger verspürten.
                               Abzweigung zur Kastenstrasse lag, war der       Um nach dem Baden möglichst bequem zum
                               «Schwanen» auch für Reisende von oder           Gasthof zu gelangen, führte früher ein gedeck-
                               nach Wynigen oder Hermiswil attraktiv.          ter Steg direkt vom Badehaus in den Saal der
                                                                               Wirtschaft. Dieser Übergang wurde später ent-
    Q 10 Noch heute ist klar                                                   fernt. Das Badehaus wurde sowohl im 18. als
  erkennbar, dass der grosse                                                   auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
     Ständerbau als Bauern-                                                    rege besucht. In der heutigen Erscheinung
   haus konzipiert wurde, …                                                    handelt es sich beim Hauptbau im Kern um
                                                                               einen repräsentativen Putzbau mit Sand-
                                                                               steingliederung und geknicktem Walmdach
                                                                               im Stil der bernisch-barocken Landhäuser. In
                                                                               der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde
                                                                               der Kernbau nordostseitig um einen zurück-
                                                                               springenden Anbau von zwei Fensterachsen
                                                                               erweitert. Der Haupteingang wird durch eine
                                                                               beeindruckende, zentrale Portalachse mit
                                                                               einer bauzeitlich erhaltenen Freitreppe betont.
                                                                               Oberhalb des Eingangs befindet sich ein voll-
                                                                               plastisches Wirtshausschild aus dem 19. Jahr-
                                                                               hundert. Es zeigt, passend zum Namen des
                                                                               Gasthofs, einen springenden Hirschen. Beim
                                                                               Haus westlich des Gastwirtschaftsbetriebs
                                                                               handelt es sich um das ehemalige Badehaus –
                                                                               auch es wurde im 19. Jahrhundert umgebaut.

                                                                               Anders als in Herzogenbuchsee befand sich
                                                                               Langenthal bereits vor dem Bau der Neuen
                                                                               Aargauerstrasse an einem Hauptverkehrsweg.
                                                                               Später stellte der Ort die Schnittstelle dar,
                                                                               an der die Neue Aargauerstrasse wieder mit
                                                                               dem Verlauf der ehemaligen Handelsroute
                                                                               zusammentraf. Daher ist es nicht verwunder-
                                                                               lich, dass der Bau des «Hirschenbads» vor
       S 11 … doch erst bei    Den Reisenden mehr bieten                       der Neuen Aargauerstrasse datiert und der
    genauerem Hinsehen ist     Andere Gasthöfe zeichneten sich durch eine      Betrieb zu dieser Zeit bereits florierte.4
    die alte Aufschrift «Zum   Erweiterung ihres Angebots aus. Häufig
  Schwanen» über dem Ein-      anzutreffen war die Kombination von Gast-       Die Landgasthöfe an der «Grande Route»:
  gang zum Windfang unter      wirtschaftsbetrieb und Badehaus. Ein Beispiel   ein typologischer Sonderfall?
    dem weit auskragenden      dafür ist das Gebäude-Ensemble «Hirschen-       Aufgrund der grossen Zahl repräsentativer
Halbwalmdach zu erkennen.      bad» in Langenthal. Errichtet wurde sein im     Bauten, die innert einer verhältnismässig
                               19. Jahrhundert erweiterter Hauptbau 1728.      kurzen Zeitspanne entlang ein- und desselben
                               Beim Badehaus handelte es sich um eine          Verkehrswegs entstanden, liegt die Vermutung
                               öffentliche Badegelegenheit in eher kleinen     nahe, dass es sich dabei um einen eigen-

12 | heimat heute 2021
AUS DER FORSCHUNG

ständigen Bautyp handeln könnte. Wenn,          Imbiss, Restaurant, Gasthof oder Hotel?
dann handelt es sich bei ihnen jedoch höchs-    Das Gastgewerbe im Wandel                       T 12 Der Hauptbau des
tens aufgrund ihrer Anzahl um einen archi-      Ab 1800 begann ein rascher sozialökonomi-       «Hirschenbands» in Lang-
tekturgeschichtlichen Sonderfall. Bautypo-      scher Wandel mit starkem Einfluss auf den       enthal. Links ist die Erwei-
logisch finden sich zur gleichen Zeit in der    Verkehr und den Tourismus. Mit ihm spaltete     terung um zwei Fenster-
ganzen Region, auch an anderen Verkehrs-        sich das Gastgewerbe in zwei verschiedene       achsen aus dem 19. Jahr-
wegen, ähnliche Gasthöfe. Beispielsweise der    Hauptbranchen auf: Zum einen das Gastge-        hundert erkennbar.
«Brunnen» in Fraubrunnen, welcher Mitte des
18. Jahrhunderts erbaut wurde. Auch bei ihm
handelt es sich um einen barocken Putzbau
mit Walmdach und Kalksteinsockel, und auch
hier finden sich weitere Gebäude, in diesem
Fall die Brunnenscheune, die zur Baugruppe
zu zählen sind. Neben dem Schloss handelt

                                                werbe mit Fokus auf die Hotellerie und zum      R 13 Die beeindruckende
                                                anderen jenes mit Fokus auf der Verpflegung     Portalachse des Gasthofs
                                                von Tages- bzw. Essensgästen. Dabei wandel-     und das Wirtshausschild aus
                                                ten sich einige Gasthöfe zu Nobel-, Roman-      dem 19. Jahrhundert mit
                                                tik- und später auch Grandhotels, während       einem springenden Hirsch.
                                                andere, vorwiegend abseits derjenigen Orte,
                                                die sich zu regionalen Zentren entwickelten,    T 14 Im Vordergrund das
                                                als Wirtschaften ohne Übernachtungsmöglich-     ehemalige Badehaus mit
                                                keiten erhalten blieben. Im 19. und 20. Jahr-   zwei unterschiedlich alten
                                                hundert wandelte sich das Gastgewerbe mit       Kutscheneinfahrten.

es sich beim «Brunnen» um den repräsen-
tativsten Bau im Dorf. Als eines der ältesten
erhaltenen Gasthäuser der Region ist der
Bau von zusätzlicher historischer Bedeutung,
nicht zuletzt auch, weil Napoleon Bonaparte
1797 auf der Durchreise hier übernachtete.

                                                                                                  heimat heute 2021 | 13
AUS DER FORSCHUNG

                               der Erfindung der Eisenbahn und dem zu-        nach Jegenstorf und Solothurn, errichtet.
                               nehmenden Verkehr erneut. Neu entstanden       Der stattliche Hausteinbau unter einem
                               Gastwirtschaftsbetriebe in Bahnhöfen, welche   Walmdach mit Lukarnen ist im Biedermeier-
                               ab 1900 oftmals allgemein als «Bahnhofs-       stil gehalten. Die Fassaden des Gasthauses
                               buffets» bezeichnet wurden. Die Speisewagen
       Q 15 Auch der Land-     und Bistros in den Zügen selbst kamen ab
   gasthof Schönbühl erhielt   den 1950er Jahren auf. Von der zunehmenden
   im 19. Jahrhundert einen    individuellen Motorisierung nach dem Zweiten
   Anbau zu Unterhaltungs-     Weltkrieg profitierten schliesslich auch die
   zwecken. Der Saal ist bis   Gasthöfe fernab der Hauptverkehrsachsen;
         heute in Gebrauch.    sie wurden nicht selten zu beliebten Aus-
                               flugsrestaurants. Ein Beispiel aus der Mitte
                               des 19. Jahrhunderts stellt der Landgasthof
 T 16, TT17 Der Saal um        Schönbühl dar. Er wurde zwischen 1844 und
     1920 (oben) und heute.    1846, kurz vor dem Bau der Bahnstrecke         sind durch Eckpilaster, Brüstungsgesims im
                                                                              1. OG sowie Kranzgesims gegliedert. An der
                                                                              Westfassade schliesst ein Saalbau an den
                                                                              Gasthof an. Dieser Saal wurde oftmals für
                                                                              Feiern und Tanzanlässe verwendet und unter-
                                                                              streicht damit den Erlebnisfaktor, welchen
                                                                              Landgasthäuser teilweise innehatten. Nach
                                                                              aussen hin wirkt der Gebäudekomplex aus
                                                                              Gasthof und Saalbau äusserst repräsentativ.

                                                                              Im 20. Jahrhundert verblasste das Bild des
                                                                              Gasthofs mit seinen verschiedensten Aufga-
                                                                              benbereichen zunehmend. Vielmehr begann
                                                                              eine Spezialisierung innerhalb des Gastgewer-
                                                                              bes. Es entstanden Spezialitätenrestaurants,
                                                                              Fast-Food-Verpflegungsketten, Party-Services
                                                                              und Take-Aways. Eine besondere Abspaltung
                                                                              des Gastgewerbes hat ihren Ursprung bereits
                                                                              Anfang des 20. Jahrhunderts. Als Produkt
                                                                              eines gemeinsamen Kampfs von Frauen-
                                                                              organisationen und Abstinenzbewegungen
                                                                              gegen den verbreiteten Alkoholismus ent-
                                                                              standen erste Kantinen, Wohlfahrtshäuser
                                                                              und vegetarische Gaststätten, in welchen
                                                                              kein Alkohol ausgeschüttet wurde.5 Dieses
                                                                              schweizerische Konzept war zu dieser Zeit in
                                                                              Europa einmalig und feierte in den 1930er
                                                                              Jahren einen europaweiten Erfolg. Unter
                                                                              einem ähnlichen Konzept zur Volksgesundheit
                                                                              entstanden auch die sogenannten «Soldaten-
                                                                              stuben» des Schweizer Verbands Volksdienst
                                                                              (SV-Service), welche bis in die 1990er Jahre
                                                                              fortbestanden. Unabhängig von den ge-
                                                                              nannten Organisationen entstanden ab den

14 | heimat heute 2021
AUS DER FORSCHUNG

1980er Jahren in der Schweiz zudem zahl-
reiche alkoholfreie Restaurants. Mit dem Bau
der Nationalstrasse 1 (heute Autobahn A1)
in den 1960er Jahren wurde der Grossteil
des Strassenverkehrs durch das Schweizer
Mittelland kanalisiert. Mit den Autobahnen
entstanden Raststätten mit Schnellimbissen

                                                              und Selbstbedienungsrestaurants. Und so         S 18 Da der Landgasthof
                                                              kann man heute, wenn man auf der A1 unter-      Schönbühl kurz vor dem Bau
                                                              wegs ist, seinen Blick nur noch flüchtig über   der Bahnlinie entstand, ist er
                                                              die Ortschaften schweifen lassen, durch die     mit seiner Schaufront heute
                                                              die früheren Transitrouten führten und wo       zur Strasse und nicht zum
                                                              die prächtigen repräsentativen Vorgänger der    Bahnhof hin ausgerichtet.
                                                              Raststätten noch heute Gäste empfangen.
                                                                                                              U 19, R 20 Wertvolle
                                                                                                              Wirtshausschilder wie
                                                                 HISTORISCHE VERKEHRSWEGE                     dasjenige des ehemaligen
                                                                                                              «Löwen» in Hindelbank,
                                                                 Weiterführende Informationen zu histo-       der heute ein mehrfach um-
                                                                 rischen Verkehrswegen und ihrem Ver-         gebautes Mehrfamilienhaus
                                                                 lauf finden sich im Bundesinventar der       mit verschiedenen Anbauten
                                                                 historischen Verkehrswege der Schweiz        ist, zeugen überall in der
                                                                 (IVS), online unter www.ivs.admin.ch. Die    Region von weiteren, längst
Anmerkungen                                                      einzelnen Strecken-Inventarblätter des       aufgegebenen Gasthöfen.
1   Vgl. Annelies Hüssy, Die Geschichte der Fischerpost
    1798–1838, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und         IVS beinhalten neben einem Strecken-
    Heimatkunde, 1996, Nr. 58, S. 107–232.                       beschrieb jeweils auch Beschreibungen
2   Den Namen «Grande Route» erhielt die Strasse durch
    ihre kartografischen Darstellungen von Pierre Bel:           und Fotos bedeutender Objekte entlang
    «Carte Topographique de la Grande Route». Er stellte         des Wegs sowie hilfreiche Karten.
    sowohl die «Grande Route» zwischen Bern und Genf
    als auch die Strecke zwischen Bern und Zürich dar.
    Letztere in zwei verschiedenen Phasen, zum einen den         BERNS MÄCHTIGE ZEIT
    Teilabschnitt zwischen Hindelbank und Kaltenherber-
    gen 1784 und drei Jahre später die «Grande Route»
    von Bern bis Zürich und Zurzach. Für diese Karte             Weiterführende Informationen zu Berner
    diente die Darstellung von 1784 als Vorlage.
3   Bundesinventar der historischen Verkehrswege der             Gasthöfen finden sich in den Büchern
    Schweiz (IVS), online unter www.ivs.admin.ch,                Berns mächtige Zeit. Das 16. und 17.
    Objekt Nr. BE 2.
4   Vgl. Beat Kümin, Wirtshäuser und Bäder, in: Berns            Jahrhundert neu entdeckt sowie Berns
    mächtige Zeit. Das 16. und 17. Jahrhundert neu ent-
                                                                 goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu
    deckt, hg. von Verein Berner Zeiten, Bern 2006,
    S. 544–550.                                                  entdeckt, beide hg. von Verein Berner
5   Alkoholfreie Lokale existierten bereits im 18. Jahrhun-
                                                                 Zeiten, Bern 2006 bzw. 2008.
    dert. Allerdings beschränkten diese sich auf soge-
    nannte Milch-, Kaffee- und Teehäuser.

                                                                                                                heimat heute 2021 | 15
ARCHIVPERLEN I

Verschwundene und legendäre
Beizen in und um Bern
Rolf Hürlimann

Nicht nur auf dem Land spielte sich stets ein grosser Teil
des gesellschaftlichen Lebens in Gasthöfen ab, auch in der
Stadt und ihrer Umgebung sind Restaurants, Beizen und Bars
nicht nur Orte der Verpflegung, sondern auch Treffpunkte für
Geschäftstüchtige und Freizeitliebende. Viele Beizen prägten
das Bild ihrer jeweiligen Quartiere über Jahrzehnte hinweg
wesentlich mit. Und sie wecken Erinnerungen ...

                                                                                               S 1 Seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gab es
                                                                                               an der Reichenbachstrasse 2 im Norden Berns ein Gast-
                                                                                               haus «Äussere Enge». Im Hinblick auf die Schweizerische
                                                                                               Landesausstellung 1914 auf dem Neu- und dem Viererfeld
                                                                                               entstand 1911 ein Neubau in Reformarchitektur, ähnlich
                                                                                               jenem des zur selben Zeit umgestalteten, stadtnäheren
                                                                                               «Bierhübeli». Zuletzt «Les Amis» genannt, nutzte man das
                                                                                               Restaurant ab 2005 noch für Gemeinschaftsverpflegung,
                                                                                               ehe die Brauerei Felsenau die Liegenschaft 2013 verkaufte

S   2 An der «Beizen-Linie»: Wie die «Äussere Enge» verfügte auch das Restaurant «Felsen-      und die gastronomische Nutzung endete. Dez. 1983.
au» an der Fährstrasse 2 direkt vor seinen Pforten über eine Haltestelle des Bremgarten-Bus.
Damit war es in guter Gesellschaft, lässt doch die Linie 21 bis heute noch Fahrgäste bei Lo-
kalen wie dem «Bierhübeli» und der «Inneren Enge» ein- und aussteigen. Das «Pintli» war
1881 die erste Ausschankstelle der eben gegründeten nahen Brauerei. Sein schmuckes Haus
im Schweizer Holzstil, zu dem ein Biergarten gehörte, geht auf das Jahr 1865 zurück. Seit
einem Brand 2014 wird es nur noch zu Wohnzwecken genutzt. Jan. 1995.

Q 3 Der «Bären», gegenüber
    dem Bahnhof Ostermundi-
 gen, bestand seit 1912 und
     wurde als «Landgasthof,
     der dem Bundeshaus am
    nächsten liegt» beworben.
     2019 verschwand er von                                                                    S 4 Beim «Hallergarten» an der Gesellschaftsstrasse 24,
       der Bildfläche. Aktuell                                                                 der 1984 mit benachbarten Schindelhäusern am Maga-
       sieht der 100,6 m hohe                                                                  zin- und am Sodweg als Überbleibsel zweier längerer
 «BäreTower» langsam aber                                                                      Arbeiterhäuserzeilen abgebrochen wurde, handelte es sich
     sicher seiner Vollendung                                                                  um eine beliebte, 1872 eröffnete Quartierbeiz mit einem
        entgegen. April 2013.                                                                  Aussenbereich unter Kastanienbäumen. Febr. 1978.

16 | heimat heute 2021
S 7 Das Café «Tramway» an der Militärstrasse 64 nahe des Breitenrainplatzes wurde
                                                            1899 erbaut und bestand somit bereits zwei Jahre vor der Eröffnung der Strassen-
                                                            bahn ins Nordquartier. Das Tram ist nicht nur in seinem Namen, sondern mit Bildern,
                                                            Streckenplänen, an alte Sitzbänke erinnerndem Mobiliar und einer Tramskulptur
                                                            auch im Innern des Lokals präsent. Obwohl nicht historisch, sei es hier vorgestellt,
                                                            da es an seinem Standort immer mal wieder zu Begegnungen mit dem nostalgi-
                                                            schen «Wagon-Restaurant» von BERNMOBIL historique kommt. März 1994.

S   5 Wo heute die Polizeiwache Bern West steht, thronte
an der Bernstrasse 104 bis Anfang 2000 der altehrwür-
dige Gasthof «Löwen», der während langer Zeit auch
Hotelzimmer anbot und über eine lauschige Gartenwirt-
schaft verfügte. Erbaut im 19. Jahrhundert, gehörte er
gemeinsam mit dem nahen «Sternen» zu den prägenden
Bauten des alten Bümplizer Dorfzentrums. Dez. 1999.

S 6 Unweit des ehemaligen «Löwen» wird demnächst auch
das «Schützenhaus» an der Bottigenstrasse 10 dichtmachen.   S 8 Das «Kreuz» an der Muhlernstrasse 244 in Schliern
Die «Schüdere», in deren Umfeld früher Kutschen und         bei Köniz war bis zu seinem Abbruch im Sommer 1981 ein
Pferde, zuletzt aber eher Motorräder standen, war 1868      ortsbildprägendes, von lokalen Vereinen rege genutztes
beim Bachmätteli errichtet worden und soll nun einem        Wirtshaus. Im frühen 19. Jahrhundert erbaut und zuletzt von
Neubau für Wohnungen und Gewerbe weichen. Jan. 1990.        Einheimischen liebevoll «Morsche Gondel» genannt, geriet
                                                            es ab den 1960er Jahren – wie das gesamte Schliern – unter
                                                            grossen Baudruck und wurde abgerissen, obwohl das Haus
                                                            als erhaltenswert galt. An seiner Stelle entstand ein sieben-
                                                            geschossiges Mehrfamilienhaus. Juni 1981.

                                                            R 9 Diese Verlautbarung im Zusammenhang mit der weit he-
                                                            rum bedauerten Schliessung des «Kreuzes» dürfte sich wohl
                                                            eher auf das spekulative Ersatzneubauprojekt als auf die          S 10 Das alte «Schwel-
                                                            wirtschaftliche Situation der Gastwirtschaft bezogen haben.       lenmättlei» im Haus des
                                                            Für diejenigen, die der Bauherrschaft vor dem Abriss noch         Schwellenmeisters wurde
                                                            eine letzte Mitteilung hinterlassen wollten, legte der letzte     1909 erbaut und blieb bis
                                                            Pächter freundlicherweise ein Stück Kreide bereit. Juli 1981.     2003 erhalten. Mai 1996.

                                                                                                                                heimat heute 2021 | 17
ARCHIVPERLEN II

Wirtshausschilder und
Leuchtreklamen
Rolf Hürlimann

Wirtshausschilder – und seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch Leuchtreklamen – sind ein
wichtiges Erkennungsmerkmal für Beizen und Restaurants. Sie versprühen Modernität oder aber
Traditionsbewusstsein. Aufgrund ihrer Typografie lässt sich oft auch schon der Stil bzw. die Art der
Küche eines Restaurants erahnen.

      Q 1 Passend: Das BLS-
     Verwaltungsgebäude an
      der Aarbergergasse 60
 beherbergte jahrzehntelang
das an den Unternehmensna-
 men angelehnte Restaurant
  «Simplon», das später zum
    «Churrasco Steakhouse»
    wurde. Bei Renovations-
  arbeiten kam 1989 auf der
 Seite Genfergasse eine alte
 Anschrift mit goldenen Let-
  tern auf schwarzem Grund
 zum Vorschein. März 1990.

    S 2 Vielfältig waren die
  Etablissements des Buffets
    des Bahnhofneubaus der
        1970er Jahre. Neben
   Bankettsälen und Imbiss-
    ständen gab es da unter      S 4 Das «Old Train» an der Ecke Schänzlihalde/Viktoria-
  anderem eine Taverne und       rain war einst bekannt für sein Interieur mit zahlreichen
   eine Brasserie. Jan. 1990.    Eisenbahnrelikten. Jan. 1990.

Q 3 In einem Anbau der Wei-
 hergasse 17 befand sich bis
 1994 das «Marzili», dessen
  Schriftzug eine Biermarke
erahnen liess, die es in Wirk-
 lichkeit nie gab. Aug. 1982.

18 | heimat heute 2021
ARCHIVPERLEN II

S 5 Bei Bernerinnen und Bernern sehr beliebt war die
holzgetäferte Raclette-Stube der «Taverne Valaisanne»
im ersten Stock des Hotels «Hirschen». Dessen Eckhaus                                                                     U 11, S 12 An den ehe-
Genfergasse/Neuengasse gehört heute zum Warenhaus-                                                                        maligen «Sternen» an der
komplex «Ryfflihof». Okt. 1989.                                                                                           Aarbergergasse 30 erinnern
                                                                                                                          heute noch das schmiede-
                                                                                                                          eiserne Wirtshausschild mit
                                                                                                                          dem Stern und das nach
                                                                                                                          ihm benannte Sternengäss-
                                                                                                                          chen. Vom Betrieb auf zwei

                                                             S   9 Das Restaurant «Hong Kong» an der Genfergasse 12       Etagen blieb letztlich das
                                                             war eines der ersten China-Restaurants in Bern. Aug. 1992.   «Stärne-Pintli» im EG
                                                                                                                          übrig, das später symbol-

                                                             T   10 Vom «Braunen Mutz» an der Genfergasse 3 zeugt         trächtig «Quo Vadis»
                                                             seit der Umnutzung zum Coop-Warenhaus 2005 nur noch          hiess und schliesslich zur
                                                             der Schriftzug; der imposante Bär und der schwungvolle       «Propeller-Bar» wurde.
                                                             Hinweis auf Felsenau-Bier sind verschwunden. Jan. 1995.      Jan. 1990 / Okt. 2002.

S 6 Als klassische Brauereiwirtschaft bestand die
«Traube» im Winkel Genfergasse/Aarbergergas-
se von den 1860er Jahren bis Ende 2005. Aus ihr
wurde dann für kurze Zeit das «Sassafraz» und zu-
letzt das «Sushi & Grill Oishii». März 2005.

U 7 Aufs traditionsreiche «Old Inn» an der Effingerstras-
se 4 folgte 2000 das indische Restaurant «Maharaja
Palace», welches später stadtauswärts in die «Viktoria-
hall» des Hauses Nr. 51 umzog. Juli 2000.

R 8 Das Café «Bollwerk» in der Ecke Aarbergergasse/Boll-
werk bestand seit Ende des 19. Jahrhunderts und war lange
Zeit bekannt für «über 30 Biere aus aller Welt». Seine An-
schrift behielt es auch, als es nacheinander «Boccalino»,
«Gondola» und «Aragosta» hiess, ehe seine Räume
für den Betrieb einer KiTa umgenutzt wurden. Dez. 1994.

                                                                                                                            heimat heute 2021 | 19
20 | heimat heute 2021
S 1 Auch der 1760 erbaute «Schlüssel» in Seeberg lag
an der «Grande Route», der Neuen Aargauerstrasse.

                                                       heimat heute 2021 | 21
AUS DER PRAXIS

«Stadt – Land – Bern»
Vielseitige Ausflüge in die Region
im Rahmen der Stadtführungen 2021
Sara Calzavara, Anne-Catherine Schröter

Mit der diesjährigen Themenwahl für die Stadtführungen wollten wir mit der Tradition der Spaziergänge
durch die Stadt Bern brechen und stattdessen «aufs Land» ziehen, um den Besucherinnen und Besuchern
die Baukultur im gesamten Tätigkeitsgebiet unserer Regionalgruppe vorzustellen. Gleichzeitig wollten
wir die Gelegenheit nutzen, anhand bestimmter Objekte die Arbeit unserer Bauberaterinnen und
Bauberater, die im Auftrag des Kantons Bern Renovationen von erhaltenswerten Gebäuden fachlich
begleiten, sichtbar zu machen.

Ein Stück Verkehrsgeschichte:             nicht nur die Einpassung des Neu-                  des Heimatschutzes, Matthias Zuck-
Der Saaneviadukt in Gümmenen              baus in das bestehende Ortsbild eine               schwerdt, und die Inventarisatorin
Den Auftakt der Reihe bildete im Früh-    wichtige Rolle, auch die technischen               des Inventars der schützenswerten
sommer die Führung zum Saaneviadukt       Anforderungen an den Bau (wie z. B.                Ortsbilder der Schweiz (ISOS), Giu-
in Gümmenen. Der 1901 für die Bern-       Grössenvorgaben im Zusammenhang                    liana Merlo, dem komplexen Thema
Neuenburg-Bahn (BN) erbaute Natur-        mit dem Tierschutz), die Gestaltung                Ortsbildschutz annahmen. Den inter-
steinviadukt mit Stahlfachwerkbrücke      der Umgebung (mitsamt einem Wende-                 essierten Teilnehmerinnen und Teil-
prägt seit 120 Jahren die Landschaft      platz für Schwertransporter zur Abfuhr             nehmern wurde erläutert, aufgrund
des Saanetals wesentlich mit. Als         des Geflügels) sowie ökonomische                   welcher Qualitäten ein Ortsbild ins
wichtiger industrie- und verkehrsge-      und ökologische Aspekte (Erreichbar-               ISOS aufgenommen wird. Die beiden
schichtlicher Zeuge des ausgehenden       keit des Hofs) wurden diskutiert.                  Referierenden zeigten auch auf, worauf
19. Jahrhunderts ist er im kantonalen     Passend zum Thema Ortsbilder folgte                bei Um- und Neubauten innerhalb
Bauinventar als schützenswertes Objekt    eine Woche später ein Spaziergang                  eines schützenswerten Ortsbilds zu
verzeichnet. Im Rahmen der kürzlich       durch ein weiteres Ortsbild von natio-             achten ist, wie ortsbauliche Strukturen
abgeschlossenen Sanierung wurde der       naler Bedeutung in Büren zum Hof,                  erhalten und eine «Ausfransung» des
Viadukt an die heutigen Anforderun-       wo sich der zuständige Bauberater                  Ortsrands verhindert werden kann.
gen des Schienenverkehrs angepasst
und auf Doppelspur ausgebaut, wobei
seine ästhetischen Qualitäten und ein
Grossteil der bauzeitlichen Substanz
des Viadukts erhalten werden konnten.
Hannes Kobel, Leitender Ingenieur bei
der BLS Netz AG, hat den Start der
Führungsreihe dank seines grossen
Know-hows mit Bravour gemeistert.

Kontroverse in der Landschaft
Die Führung mit dem Titel «Oberbot-
tigen: Kontroverse in der Landschaft»
wurde von der Landschaftsarchitektin
des Heimatschutzes, Pascale Akkerman,
und dem engagierten Landwirt Stefan
Baumann begleitet, der eine Geflügel-
mastanlage im Perimeter des national
bedeutenden Ortsbilds bauen möchte.
Die beiden Referierenden erläuterten,
wie in einem intensiven und nicht
immer einfachen Dialog schliesslich
eine gute Lösung für alle Beteiligten     S 1 Beim Saaneviadukt in Gümmenen erhielten die Besucherinnen und Besucher spannende Einblicke
gefunden werden konnte. Dabei spielte     in die Geschichte des Bauwerks und die ingenieurtechnisch anspruchsvollen Sanierungsarbeiten.

22 | heimat heute 2021
AUS DER PRAXIS

                                                                                                    Pandemie musste die ursprünglich für
                                                                                                    2020 geplante «Landführungsreihe»
                                                                                                    komplett in dieses Jahr verschoben
                                                                                                    werden. Dank einem Schutzkonzept,
                                                                                                    erstmaligen Anmeldelisten und einer
                                                                                                    beschränkten Teilnehmendenzahl
                                                                                                    konnte «Stadt – Land – Bern»
                                                                                                    schliesslich stattfinden.

S 2 Die Sanierung des «Roten Schulhauses» in Worb mit seinen
bauzeitlich erhaltenen Wandmalereien steht kurz bevor.

Worb: Sanierung eines Schulhauses                   gion einzusetzen und mit seinem Know-
der Nachkriegszeit                                  how denkmalgerechte Sanierungen von
Die abschliessende Führung fand in                  erhaltenswerten Objekten zu fördern.
Worb beim «Roten Schulhaus» statt,                  Bei dieser Arbeit sind Interessenskon-
das demnächst unter Begleitung                      flikte manchmal nicht zu vermeiden.             S 4 Tierische Gäste bei der Führung zur
des Heimatschutz-Bauberaters Nick                   Die Stadtführungen 2021 zeigten je-             Neuüberbauung des Vidmar-Areals in Köniz.
Ruef saniert wird. Das 1973–1975                    doch, wie mit gegenseitigem Verständ-
erbaute Schulhaus weist noch heute                  nis, mit grosser und interdisziplinärer         An dieser Stelle bedanken wir uns
die zeittypischen Fassaden aus roten                Fachkompetenz substanzschonende und             herzlich bei allen Teilnehmenden, die
Stahlblechelementen auf. Auch die                   gleichzeitig zukunftsweisende Lösungen          sich ausnahmslos an alle Regeln ge-
bauzeitlich erhaltenen Wandmalereien                gefunden werden können. Aufgrund der            halten und damit diese etwas andere
im Inneren versprühen den Geist der                                                                 Stadtführungsreihe ermöglicht haben.
1970er Jahre. Architekt Rolf Nöthinger,                                                             Wir hoffen, Sie im nächsten Jahr
der bereits zur Bauzeit die Bauleitung                                                              wieder spontan und uneingeschränkt
innehatte, stellte die Baugeschichte                                                                begrüssen zu dürfen. Bereits heute
des Schulhauses und die geplanten                                                                   arbeiten wir am neuen Thema. Dank
Sanierungsarbeiten mit viel Locker-                                                                 der vielen positiven Rückmeldungen
heit, Witz und Fachwissen vor.                                                                      auf die Ausweitung des Führungsge-
                                                                                                    biets werden wir im neuen Jahr daran
Stadtführungen: Das Engagement                                                                      festhalten. Sie dürfen gespannt sein!
des Heimatschutzes sichtbar machen
Der Berner Heimatschutz, Region Bern                                                                Weitere Informationen zu den Stadtfüh-
Mittelland, hat die Aufgabe, sich für den           S    3 Von aussen präsentiert sich das Schul-   rungen und anderen Veranstaltungen:
Erhalt des kulturellen Erbes in der Re-             haus in seiner ursprünglichen Gestalt.          www.heimatschutz.be

                                                                                                                          heimat heute 2021 | 23
AUS DER PRAXIS

Gasthöfe im Umbruch:
neue Herausforderungen für alle
Beteiligten
Thomas Stettler, Raphael Sollberger

Bedingt durch den gesellschaftlichen Wandel und durch die Pandemie verstärkt, ist die Zukunft von
vielen geschichtsträchtigen Gasthäusern unsicher. Gerade wenig frequentierte Landgasthöfe in
Ortschaften abseits der wichtigen Verkehrsachsen stehen vor einem Umbruch oder befinden sich
mittendrin. Für Eigentümerinnen und Eigentümer, aber auch für die Bauberatung des Heimatschutzes
stellt sich die Frage: Mit welchen Rezepten kann darauf reagiert werden?

                                                                                 sozial-, wirtschafts und architekturgeschicht-
                                                                                 lichen Bedeutung Teil des Bauinventars ihrer
                                                                                 Gemeinden. Die Folge davon ist, dass bei
                                                                                 unausweichlich gewordenen Umnutzungen
                                                                                 oder Umbauten verschiedene öffentliche und
                                                                                 private Interessen aufeinandertreffen; bei der
                                                                                 Wahl der richtigen baulichen Massnahmen
                                                                                 stehen demnach meist nicht nur wirtschaft-
                                                                                 liche, sondern auch ortsbauliche und denk-
                                                                                 malpflegerische Fragen im Vordergrund.

                                                                                 Vom Aufschwung zur Neuorientierung
                                                                                 Die Errichtung eines Gasthofs, insbesondere
                                                                                 eines Landgasthofs, gründete auf der Absicht,
                                                                                 Reisenden die Möglichkeit zur Verpflegung,
                                                                                 zur Nächtigung und zur Unterhaltung zu
                                                                                 bieten. Entstanden entlang der Chausseen und
                                                                                 der Kunststrassen des Ancien Régime1, boten
                                                                                 Sie in den Ortschaften am Weg neben der
         S1 Der «Bären» in       Vielfältige Herausforderungen –                 Möglichkeit zur Rast auch eine Gelegenheit
    Ostermundigen wahrend        hohe Schutzwürdigkeit                           zum Handeln. Nicht nur für die Reisenden,
     des Abrisses 2019. Weil     Für einige Betriebe gestaltet es sich zuneh-    sondern auch für die Bewohnerinnen und
Gasthöfe meist an zentrums-      mend schwer, die ökonomischen und gesetzli-     Bewohner eines Orts waren die Gasthöfe, von
 naher Lage stehen und sich      chen Anforderungen ohne grosse Investitionen    der einfachen Gaststube bis hin zum repräsen-
  deshalb mit einer höheren      erfüllen zu können. Hinzu kommen, ge-           tativen Gebäudeensemble mit grossem Saal,
    Ausnutzung ihrer Areale      fördert durch vermehrtes Home-Office            Bühne und Kegelbahn, Orte des Genusses. Die
höhere Renditen erwirtschaf-     und die gesellschaftlich besser verankerte      Nachfrage war zu Beginn gross, je grösser
 ten lassen, wird nicht selten   Teilzeitarbeit, neue Lebens- und Essgewohn-     und je wichtiger ein Ort, umso mehr Gast-
     ein Abbruch angestrebt.     heiten, die traditionelle Gastronomiebetriebe
                                 vor neue Herausforderungen stellen. Und
         Q 2 Schon im frühen     nicht zuletzt geraten viele der Liegenschaf-
  20. Jahrhundert bewarben       ten aufgrund ihrer oft zentralen Lage im
die Gastwirtschaftsbetriebe,     Ort in den Fokus des Immobilienhandels,
 hier der «Sternen» in Worb,     scheinen andere Arealnutzungen doch aus
  ihre verschiedenen Unter-      rein wirtschaftlicher Sicht meist vielver-
haltungsangebote, hier etwa      sprechender. So geschehen beim «Bären»
    in Form einer Kegelbahn      in Ostermundigen, der 2019 zugunsten
      und eines Hirschparks.     des Wohn-, Hotel- und Geschäftskomplexes
                                 «BäreTower» abgerissen wurde. Auf der
                                 anderen Seite sind viele der in diesem Heft
                                 vorgestellten Landgasthöfe aufgrund ihrer

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höfe entstanden, und die Konkurrenz wuchs.
Bereits im frühen 20. Jahrhundert mussten die
Gastwirte – Gastwirtinnen gab es wohl nur sel-
ten – erkennen, dass sich der wirtschaftliche
Erfolg nicht von selbst einstellte. Einfallsreich-
tum von sich ergänzenden Nutzungsaktivi-             nicht, ist der Sündenbock meist schnell gefun-   S 3 Zu seiner Blütezeit –
täten war gefragt, und so wurde selbst eine          den: der historische Bau, welcher nicht ohne     hier eine Aufnahme von
«freundliche Terrasse» als Alleinstellungs-          Weiteres auf zweckmässige Art und Weise den      1943 – stiegen nationale
merkmal eines Gasthofs hervorgehoben. Un-            neuen Anforderungen unterjocht werden kann.      Politiker und der Armee-
schwer ist erkennbar, dass diese Zeiten nicht                                                         general Guisan im «Weissen
mehr aktuell sind und die heutige Gesellschaft       Der Umgang mit den Liegenschaften stellt die     Rössli» in Zäziwil ab, …
nicht mehr ein «Fuhrwerk und Telephon im             Eigentümerinnen und Eigentümer, die Päch-
Hause» benötigt. Wege und Distanzen wurden           terinnen und Pächter und auch die Behörden
kürzer, Kommunikation einfacher, Bowling             vor grosse Herausforderungen. Gilt es doch,
löste Kegeln ab, das Erlebnis «Hirschpark» ist       die in der Regel gegen 200-jährigen Bauten
kein Vergleich mehr zu einer echten Safari.
Der «feine Waadtländerwein» wird sowieso                                                              R 4 … 2018 brannte der
per Post zur Degustation nach Hause geliefert.                                                        Gasthof nach langem Leer-
                                                                                                      stand und Verwahrlosung
Sich der Herausforderung stellen                                                                      komplett aus. 21 Personen
Dass all diese gesellschaftlichen Verände-                                                            mussten evakuiert werden.
rungen grosse Auswirkungen auf Gastge-
werbebetriebe hatten, ist offensichtlich. Um
wirtschaftlich überleben zu können, mussten
und müssen sie sich neu orientieren. Sei es,
indem sie sich spezialisieren (und sich damit
im Angebot beschränken) oder indem sie
ihr Angebot ausbauen, die Anpassung eines            klug in die neue Zeit zu transformieren: eine
Gasthofs an sich wandelnde gesellschaftliche         Gratwanderung zwischen zu wenig (wenn
Gegebenheiten ist stets mit viel finanziellem        das Angebot gar nicht erst als verändert
Engagement verbunden und erfordert viel              wahrgenommen wird) und zu viel Risiko
Durchhaltevermögen. Betriebskonzepte und             (wenn das Angebot im Ort als unpassend
juristische Vorgaben sind die Richter einer Be-      empfunden wird). Unsorgfältige Entscheide
urteilung, ob und unter welchen Bedingungen          führen – neben dem wirtschaftlichen Scha-
ein Betrieb weitergeführt werden kann. Wenn          den – nicht selten zum Verlust von schützens-
                                                     werter Bausubstanz bis hin zu Totalschäden.
                                                                                                      R 5 Der 1836 erbaute
                                                     Glück und Unglück liegen oft nahe beieinander    «Sternen» in Worb befindet
                                                     Entlang der 1837 als «Haupttransversale ers-     sich seit 1899 ununter-
                                                     ter Klasse» festgelegten Hauptstrasse Bern–      brochen in den Händen der
                                                     Worb–Langnau ist diese Problematik mit all       Familie Schneiter. Dass der
                                                     ihren Facetten in «freier Wildbahn» erlebbar.    Betrieb bis heute besteht,
                                                     So etwa beim Gasthof «Zum Weissen Rössli»        verdankt der «Sternen»
                                                     in Zäziwil. Während des Zweiten Weltkrieges      nicht nur den engagierten
                                                     stieg hier die Armeespitze ab, später auch       Eigentümerinnen und Eigen-
                                                     Bundesräte, die sich in der «Generalsstube»,     tümern, sondern vor allem
                                                     von Henri Guisan (1874–1960) persönlich ein-     auch der guten Anbindung
                                                     geweiht, mit Porträts verewigten. Das «Weisse    Worbs an die Stadt Bern.

                                                                                                        heimat heute 2021 | 25
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