HEIMAT WESTFALEN - ORTE DES ERINNERNS: KONZEPTE HISTORISCH-POLITISCHER BILDUNG HEUTE - WESTFÄLISCHER HEIMATBUND

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HEIMAT WESTFALEN - ORTE DES ERINNERNS: KONZEPTE HISTORISCH-POLITISCHER BILDUNG HEUTE - WESTFÄLISCHER HEIMATBUND
HEIMAT WESTFALEN

                                   Ausgabe 1 / 2021

orTE dES ErINNErNS: koNZEpTE
HISTorIScH-poLITIScHEr bILduNg HEuTE
HEIMAT WESTFALEN - ORTE DES ERINNERNS: KONZEPTE HISTORISCH-POLITISCHER BILDUNG HEUTE - WESTFÄLISCHER HEIMATBUND
I N H A LT

 3 Editorial                                                                              NEuE MITgLIEdEr IM WHb
     orTE dES ErINNErNS: koNZEpTE HISTorIScH-poLITIScHEr                               46 Heimat- und Vereinsgemeinschaft Schwaney e. V.
     bILduNg HEuTE
                                                                                          WHb-proJEkTE
4 STEFAN MÜHLHoFEr, NorbErT rEIcHLINg uNd                                              47 Neue WHB-Publikation Westfälische Kunststätten –
     uLrIkE ScHrAdEr                                                                           Pfarrkirche St. Heinrich und Kunigunde in Schloß Neuhaus
     Wissen – Irritation – Haltung. Was vermitteln Gedenk-                             48 Machen Sie mit! „Rolle vorwärts – der Preis
     stätten und Erinnerungsorte?                                                              des Westfälischen Heimatbundes für frische Ideen“ 2021
12 IM INTErVIEW: MATTHIAS Löb                                                          50 WHB-Handreichungen zu neuen Zielgruppen
     „Erinnerungsarbeit ist ein Beitrag zur Demokratisierung“
                                                                                          WHb-SEMINArE
14 ArbEITSkrEIS dEr NS-gEdENkSTäTTEN uNd                                               52 Digitale Westfalen-Akademie von Westfälischem Heimatbund e. V.,
     -ErINNEruNgSorTE IN NrW E. V.                                                             Stiftung Westfalen-Initiative und lagfa NRW e. V.
     Netzwerke stärken                                                                 53 Workshop-Angebote des Westfälischen Heimatbundes e. V. mit
                                                                                               der FreiwilligenAkademie 2021
15 FrAukE HoFFScHuLTE uNd ALExANdEr LANg
     Blick in die Region: 12 Beispiele westfälischer                                      WHb-ForEN
     Gedenkstätten und Erinnerungsorte                                                 54 WHB-Forum „Natur und Umwelt“: Packen wir’s an! Eintreten
                                                                                               für den Erhalt von Biodiversität und Artenvielfalt
24 HAukE-HENdrIk kuTScHEr, bArbArA rÜScHoFF-
     pArZINgEr uNd MALTE THIEßEN                                                          prEISE uNd AuSScHrEIbuNgEN
     Licht in den Erinnerungsschatten bringen: Vergangenheit,                          55 Die Wolfgang Suwelack-Stiftung: Für Frieden und Toleranz!
     Gegenwart und Zukunft der Gedenkstätte „STALAG 326“
                                                                                          ENgAgIErT Vor orT
   MEINE HEIMAT WESTFALEN                                                              56 Heimatmacher-Praxisbeispiele aus Ihrer Arbeit
31 Monika Guist
                                                                                               dANk uNd ANErkENNuNg
     AuS gEScHäFTSSTELLE uNd grEMIEN                                                   60      Georg Ketteler
32 WHB baut Mitglieder-Service im Versicherungsbereich aus:                            61      Wilhelm Elling
     Vereins-Rechtsschutzversicherung ab sofort verfügbar
                                                                                       62      Heinz Heidbrink
34 WHB-Mitgliederversammlung am 2. Dezember 2020 in
                                                                                       63      Peter Kaenders
     Münster
                                                                                          NEuErScHEINuNgEN
     SErVIcEbÜro WHb
                                                                                       64 Zersplitterte Sterne. Erinnerungen an jüdische Familien
36 WHB-Handreichung für Mitgliedsvereine in Zeiten
                                                                                               in Billerbeck und ihre Zeit
     der Corona-Krise
                                                                                       64 Mein Schulweg – Bilder und Anekdoten
36   Mitgliederversammlung und Vorstandswahlen von Vereinen
     in 2021                                                                           65 „Wer spart, hilft Adolf Hitler“. Nationalsozialismus und
                                                                                               Sparkassen
40   Politische Mitsprache gemeinnütziger Organisationen
     stärken                                                                           65 Brilon mit Ortsteilen und Dörfern: Chronik 2020
41   WHB-Mitgliederinformation zum Jahressteuergesetz 2020                                bucHbESprEcHuNgEN
44   Tipps für historisch-politische Bildungsarbeit                                    66 Schutzjuden – Bürger – Verfolgte – Vergessene. Die Geschichte
                                                                                               der jüdischen Minderheit in Herdecke seit dem 17. Jahrhundert

HEIMAT WESTFALEN ISSN 2569-2178 / 34. Jahrgang, Ausgabe 1/2021
Herausgeber: Westfälischer Heimatbund e. V. · Kaiser-Wilhelm-Ring 3 · 48145 Münster.
Vorstand im Sinne des § 26 BGB: Matthias Löb (Vorsitzender),
Birgit Haberhauer-Kuschel (stellvertr. Vorsitzende)
Vereinsregister des Amtsgerichts Münster, Nr. 1540 · Steuer-Nr.: 337/5988/0798
Telefon: 0251 203810 - 0 · Fax: 0251 203810 - 29                                                        Gefördert von:
E-Mail: whb@whb.nrw · Internet: www.whb.nrw
Verantwortlich im Sinne des presserechts: Dr. Silke Eilers
Schrift- und Anzeigenleitung: Dr. Silke Eilers
redaktion: Dr. Silke Eilers, Dörthe Gruttmann, Frauke Hoffschulte, Sarah Pfeil, Astrid Weber
Layout: Gaby Bonn, Münster
druck: Druck & Verlag Kettler GmbH · Robert-Bosch-Straße 14 · 59199 Bönen
Für namentlich gezeichnete Beiträge sind die Verfasser persönlich verantwortlich.
Diese Zeitschrift erscheint im Februar, April, Juni, August, Oktober, Dezember.
Titelbild: Der ehemalige „Obergruppenführersaal“ im Nordturm der Wewelsburg.
Die orangefarbenen Sitzkissen dienen dazu, dem Ort alles „Mystische“ zu nehmen.
Foto/ Lina Loos_8617 © Kreismuseum Wewelsburg
HEIMAT WESTFALEN - ORTE DES ERINNERNS: KONZEPTE HISTORISCH-POLITISCHER BILDUNG HEUTE - WESTFÄLISCHER HEIMATBUND
e d it o r ial

2021
                       wird ein bundesweites Themen-
                       jahr zu 1.700 Jahre jüdischem Le-
                       ben in Deutschland begangen. Ziel
ist es, die Vielfalt jüdischen Lebens in Geschichte und
Gegenwart sichtbar und erlebbar zu machen. Damit
soll auch ein Zeichen gegen Rassismus und Antisemi-
tismus gesetzt werden. Das Festjahr bietet Anlass zum
Feiern und zum Erinnern, aber auch dafür, einen Blick
                                                                                                         Foto/ Greta Schüttemeyer
auf die Erinnerungskultur im Allgemeinen zu richten.
     Mit jeder Generation verändert sich der Blick auf die Geschichte – durch den zeitlichen Abstand und andere Zugän-
ge. Dies hat auch Auswirkungen auf die Vermittlungsformen. Die Erinnerungs- und Gedenkkultur steht heute mit dem
Verschwinden der Zeitzeugen und der zunehmenden Digitalisierung vor neuen Herausforderungen. Wie kann eine zu-
kunftsorientierte erinnerungskulturelle Praxis aussehen? Auf welche Weise kann eine aktive Auseinandersetzung mit den
Geschehnissen ermöglicht werden? Wie können demokratisches Bewusstsein und eigenes Engagement befördert werden?
     In Westfalen hat sich eine lebendige Erinnerungslandschaft etabliert, die ohne den persönlichen Einsatz vieler
bürgerschaftlich Engagierter nicht denkbar wäre. Vereine, Initiativen und Einzelne machen für uns in Gedenkstätten
und Erinnerungsorten Vergangenes greifbar und halten das Bewusstsein dafür wach. Mittlerweile gibt es in NRW eine
ausgesprochen vielfältige, dezentrale Gedenkstättenstruktur, wie sie in kaum einem anderen Bundesland zu finden
ist.
In der ersten Ausgabe der Heimat Westfalen in diesem Jahr, in dem der WHB wie auch in 2020 den Fokus auf die ländlichen
Räume richtet, stellen wir Ihnen Orte des Erinnerns und Konzepte historisch-politischer Bildung in der Region vor. Dr. Ste-
fan Mühlhofer, Dr. Norbert Reichling und Dr. Ulrike Schrader vom Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten und -Erinnerungsorte
NRW e. V. gehen der Frage nach, was Gedenkstätten und Erinnerungsorte vermitteln. In einem Interview hebt WHB-Vor-
sitzender und LWL-Direktor Matthias Löb die Bedeutung der Erinnerungsarbeit als Beitrag zur Demokratisierung hervor.
Frauke Hoffschulte und Alexander Lang (beide WHB) präsentieren Ihnen exemplarisch 12 westfälische Erinnerungsorte
und Gedenkstätten. LWL-Kulturdezernentin Dr. Barabara Rüschoff-Parzinger, Dr. Hauke Hendrik Kutscher (LWL-Museums-
amt für Westfalen) und Prof. Dr. Malte Thießen (LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte) beleuchten Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft der Gedenkstätte „Stalag 326“.
     Unser Servicepart gibt Tipps zur Vereinsarbeit in Corona-Zeiten und zum Jahressteuergesetz 2020. Überdies freuen wir
uns, Ihnen die neuen WHB-Handreichungen zu den Themen junges Engagement sowie Integration vorstellen zu dürfen.
     Nicht zuletzt möchten wir Sie einladen, sich um „Rolle vorwärts – der Preis des Westfälischen Heimatbundes für
frische Ideen“ zu bewerben, den wir mittlerweile zum vierten Male ausschreiben. Wir freuen uns auf Ihre Einsendungen!

Herzliche Grüße

Ihre Dr. Silke Eilers
Geschäftsführerin des WHB

                                                                                                         HEIMAT WESTFALEN – 1/2021 /   3
HEIMAT WESTFALEN - ORTE DES ERINNERNS: KONZEPTE HISTORISCH-POLITISCHER BILDUNG HEUTE - WESTFÄLISCHER HEIMATBUND
orTE dES ErINNErNS

WISSEN – IrrITATIoN – HALTuNg
  WAS VErMITTELN gEdENkSTäTTEN uNd ErINNEruNgSorTE?
                       VoN STEFAN MÜHLHoFEr, NorbErT rEIcHLINg uNd uLrIkE ScHrAdEr

2018 wurde im Jüdischen Museum Westfalen die dauerausstellung neukonzipiert und unter dem Titel „L`chaim! –
Auf das Leben! Jüdisch in Westfalen“ eröffnet.
Foto/ NRW-Stiftung/ Werner Stapelfeldt

4 / HEIMAT WESTFALEN – 1/2021
HEIMAT WESTFALEN - ORTE DES ERINNERNS: KONZEPTE HISTORISCH-POLITISCHER BILDUNG HEUTE - WESTFÄLISCHER HEIMATBUND
HISTorIScH-poLITIScHE bILduNg

N
         icht nur ihre geografische Nähe und gute Er-         Dass sich die NS-Geschichte weder nur im fernen Berlin
         reichbarkeit sind die Vorzüge der lokalen Ge-        als Regierungssitz, ihre Verbrechen nicht nur im heute
         denkstätten in Nordrhein-Westfalen und in                              ´ ¸
                                                              polnischen Ort Oswiecim     (deutsch: Auschwitz) abge-
anderen Bundesländern. Auch ihre spezifischen Leistun-        spielt haben, dass NS-Geschichte nicht nur ein Kapitel
gen liegen neben dem Praktischen ebenso auf anderen           im Schulgeschichtsbuch ist, das man weit von sich hal-
Ebenen:                                                       ten oder einfach zuklappen kann, machen die lokalen
· Lokale Gedenkstätten erzählen (ihre) Geschichte in          Gedenkstätten für ihre Besucherinnen und Besucher
  vertrauter Umgebung.                                        begreifbar.
· Lokale Gedenkstätten leisten durch ihre Grund-
  lagenforschung einen unerlässlichen Beitrag zur
  Zeitgeschichtsschreibung.
                                                              örTLIcHE NäHE – ZEITLIcHE FErNE
· Lokale Gedenkstätten sind persönliche familienge-
  schichtliche Erinnerungsorte für Nachfahren in              In der eigenen Stadt, an vertrautem Ort, im Alltag und
  aller Welt.                                                 quasi nebenan stehen die Gedenkstätten wie Zeugen und
· Lokale Gedenkstätten schaffen Zeit und Raum für             Beweise in der städtischen Bebauung. Die meisten von ih-
  persönliche Begegnungen, die Diskussion unter-              nen sind historische Stätten – sie befinden sich an einem
  schiedlicher Meinungen und die aktive Aneignung.            Ort, an dem sich tatsächlich Geschichte in der Zeit des
                                                              Nationalsozialismus ereignet hat. Die Bestürzung über
                                                              die Tatsache, dass in unmittelbarer Nachbarschaft zur
STärkEN dEr gEdENkSTäTTEN-                                    eigenen Adresse, genau an dieser bezeichneten Stelle,
LANdScHAFT IN NrW                                             Verbrechen organisiert, in Gang gesetzt und/oder kon-
                                                              kret begangen wurden, scheint die wachsende zeitliche
„Das kulturelle Gedächtnis […] ruht nicht nur in Bibliothe-   Distanz zu überbrücken. Erforderlich dafür ist selbstver-
ken, Museen und Archiven, es ist auch in Orten verankert      ständlich eine Erklärung, um die baulichen Relikte in
[…], man muss reisen, um diese Qualität des Gedächtnis-       ihren historischen Kontext einzuordnen und ihre Bedeu-
ses – im Wortsinne – zu erfahren.“ (Aleida Assmann)           tung nachvollziehbar zu machen.

                                                                                                 HEIMAT WESTFALEN – 1/2021 /   5
HEIMAT WESTFALEN - ORTE DES ERINNERNS: KONZEPTE HISTORISCH-POLITISCHER BILDUNG HEUTE - WESTFÄLISCHER HEIMATBUND
Orte des Erinnerns

Stelen zur Erinnerung an die Opfer der Wehrmachtsjustiz in Wuppertal-Ronsdorf, nach einem Entwurf von Schülern 2019 als Kontrast zum
klassischen Ehrenmal platziert
Foto/ Illigen Wolf Partner, Wuppertal

Wissenschaftliche Redlichkeit und                                  Licht beförderten ungekannten und ungeahnten De-
                                                                   tails, die die pädagogische Arbeit in den Ausstellungen
der Eigenwert historisch-politischen
                                                                   so anschaulich und nachvollziehbar machen. Darüber
Lernens                                                            hinaus bilden diese mittlerweile einen Quellenfundus
                                                                   und eine reiche Datenbasis zur Alltagsgeschichte im Na-
Es muss als eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzt              tionalsozialismus; auf beidem baut die Zeitgeschichts-
werden, dass die Authentizität des Ortes als Gedenkstät-           forschung verlässlich auf.
te geprüft und mit Quellen belegt ist. Sollten die Recher-
cheergebnisse mager oder gar ungenügend ausfallen,                 Zwar wird der Stellenwert von „Faktenwissen“ schon
muss auch das transparent werden, ebenso dann, wenn                lange in Zweifel gezogen. Dennoch bilden die weit-
ein „authentischer Ort“ für die Gedenkstätte gar nicht             gehend unumstrittenen historischen Sachverhalte
erst gefunden werden kann.                                         weiterhin ein wichtiges Grundgerüst dessen, woraus
    Wissenschaftliche Genauigkeit ist die Basis jeder Ge-          sich Geschichtsbilder oder Geschichtsbewusstsein ent-
denkstättenarbeit. Die Grundlagenforschung auf lokaler             wickeln. Orientierungs- und Zusammenhangswissen
Ebene drückt sich in Mikrostudien und konkreten klei-              sowie Erschließungskompetenzen sind unabdingbare
nen Geschichten aus: über Gebäude, Familien, Firmen,               Voraussetzungen für das, was mit „Erinnern“ und „Ge-
Institutionen, vergangene soziale Alltagspraxis. Es sind           denken“ gemeint ist, aber vor allem für die Anerken-
die Tiefenbohrungen an einem bestimmten Ort, die ans               nung von Leidtragenden historischer Geschehnisse.

6 / HEIMAT WESTFALEN – 1/2021
HEIMAT WESTFALEN - ORTE DES ERINNERNS: KONZEPTE HISTORISCH-POLITISCHER BILDUNG HEUTE - WESTFÄLISCHER HEIMATBUND
historisch-politische Bildung

Die Moderation einer Auseinandersetzung mit den
Verbrechen und ihren Opfern steht in der ständigen
Spannung, die Opfer zu würdigen, ohne in Betroffen-
heitsrituale zu verfallen oder nur ein „erwünschtes Spre-
chen“ zu produzieren. Selbst in der Konfrontation mit
extremen Leidgeschichten sollte, soweit dies möglich ist,
eine Distanz gewahrt bleiben, die für eine respektvolle
und zugleich autonome Haltung notwendig ist.

Gesprächskultur statt Überwältigung

Generell erlauben die Gedenkstätten vor Ort, und hier
gerade die kleineren, ungewöhnlichen Formate der Ge-
schichtsvermittlung. Vor allem herrscht Redefreiheit
auch für abweichende (und irrige) Meinungen. Es gibt
dort keine „Grenzen des Sagbaren“, sondern offene Dis-
kussionen, nicht Mainstream, sondern Meinungsaus-
tausch. Man darf und soll hier auch mitreden, wenn man
nicht die letzte argumentative Finesse des wissenschaftli-
chen oder feuilletonistischen Diskurses beherrscht.
Das wird in hoher Qualität und mit nachhaltiger Wir-
kung dann möglich, wenn die Begegnung auf dem Fun-
dament einer gesicherten Faktenlage beruht und die
Mitarbeitenden sich souverän und reflektiert darauf Mahnmal für ehemalige Zwangsarbeiter auf der Kulturinsel
bewegen. Längst haben sich die Institutionen, bei aller am Phoenix-See in Dortmund
Verschiedenheit, darauf verständigt, die moralisch in- Foto/ Arnd Lülfing/ Stadtarchiv Dortmund
tendierte, emotionalisierte Überzeugungshaltung zu-
gunsten einer zugewandten, offenen und Widersprüche Bestandteil einer Berufsethik, für die „Überwältigung“
zulassenden Präsentation von Biografien, Ereignissen keine Option ist.
und Situationen aufzugeben.
    Mehr und mehr erproben die in der Vermittlung
Tätigen Erzählformate, die Leerstellen und Unauflös-
                                                           Pädagogik und Sachlichkeit …
barkeiten tolerieren. Es geht nicht mehr darum – wie
noch zu Beginn der 1980er-Jahre vielfach zu beobachten Die Erwartungen an Gedenkstättenbesuche sind regelmä-
– Schrecklichstes durch Dramatisierung und Kommen- ßig sehr hoch. Selten wird der Versuchung widerstanden,
tierung zu doppeln, um einen zweifelhaften Mehrwert der Auseinandersetzung mit Diktaturen, Staatsverbre-
in der „Demokratie- und Menschenrechtsbildung“ zu er- chen und Opferschicksalen auch einen aktuellen poli-
zielen, sondern darum, Fragen aufzurufen, auf die auch tischen Nutzen zuzuschreiben. Historisch-politisches
die Mitarbeitenden nicht
zwingend immer eine „Mahn- und Gedenkstätten freunden sich mit den Prinzipien offener Kom-
Antwort haben. Eine sol-
                              munikation an und kritisieren schlichte top-down-Belehrungskonzepte.“
che tastende Gesprächs-
führung bedeutet nicht
Orientierungslosigkeit, sondern im Gegenteil: Vertrauen Lernen soll (und zwar in kürzester Zeit) gegen Vieles im-
in die Autonomie eigenständigen Denkens der Besuche- munisieren, zum Beispiel gegen autoritäre Versuchun-
rinnen und Besucher. Und sie ist selbstverständlicher gen, Extremismus oder politische Gleichgültigkeit.

                                                                                           HEIMAT WESTFALEN – 1/2021 /   7
HEIMAT WESTFALEN - ORTE DES ERINNERNS: KONZEPTE HISTORISCH-POLITISCHER BILDUNG HEUTE - WESTFÄLISCHER HEIMATBUND
Orte des Erinnerns

Friedensgruß an die sowjetischen Opfer der deutschen Überfälle   Synagogen in Westfalen: hier die ehemalige Synagoge und
auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg – eine Initiative des   Erinnerungsstätte zur Geschichte der Juden in Marsberg, die ein-
Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. am Deutschen     zige ihrer Art in Fachwerkbauweise. Ortsheimatpfleger N. Becker
Evangelischen Kirchentag 2019 in Dortmund                        vermittelt Wissen über die jüdische Gemeinschaft in Führungen.
Foto/ Sören Pinsdorf © LWL-Medienzentrum für Westfalen           Foto/ Olaf Mahlstedt © LWL-Medienzentrum für Westfalen

Zeithistorische Museen und Gedenkstätten – der Unter-            kann nicht eindimensional motivieren und in Bewegung
schied ist stark geschrumpft – sind jedoch seit circa zwei       setzen – sie hat immer ein irritierendes Moment.
Jahrzehnten dabei, sich der Pathosformeln zu entledigen,
die ihre Gründung noch begleiteten. Ungeachtet man-
cher Ungleichzeitigkeiten lässt sich feststellen, dass die
                                                                 … statt Pathos und Sinnstiftung
linearen Botschaften, Erzählungen und Wirksamkeits-
versprechen unterschiedlicher Herkunft („Nie wieder!“,   Dass es legitim sein könnte, via Geschichtspolitik kultu-
Schutzimpfung gegen Rechtsextremismus, Versöhnung        relle Sinnstiftung zu betreiben, ist eine Vorstellung, die
mit den Überlebenden, „geistig-moralische Wende“) weit-  sich ungeachtet der eher gegenläufigen professionellen
gehend nüchterner Programmatik weichen.                  Debatten nicht nur in Deutschland verbreitet hat. Mit
                                                         der Integration des „Holocaust-Gedenkens“ und der „ho-
Die Ausstellungen verstehen sich inzwischen als Mög- locaust education“ in den Wertekanon internationaler
lichkeitsräume für individuelle Lerninteressen, für das Gemeinschaften haben sich zwar sinnvolle Vernetzung
„Anschlusslernen“ verschiedenster Gruppen von zwangs- und staatliche Unterstützungsaktivitäten eingestellt
rekrutierten Schülerinnen und Schülern über diverse beziehungsweise verstärkt. Indes ist darin die Gefahr
Berufsgruppen bis hin zu Touristinnen und Touristen. enthalten, mit einem weltweit artikulierten Geltungs-
Heiner Treinens Befund, dass in Museen „kulturelles win- anspruch diese Lehren nicht nur normativ aufzuwer-
dow shopping“ geschehe – 1983 noch als herbe profes- ten, sondern zugleich inhaltlich zu entleeren: Denn
                                                                                  – abgesehen von den höchst
„Angehörige aus den Familien der Zeitzeugen können uns durchaus unterschiedlichen Lektionen,
                                                                                  die daraus zu gewinnen wären:
einen neuen Zugang zur Geschichte geben. Ihre Berichte über den
                                                                                  wie viel historische Konkretion
Umgang mit den Verfolgungsgeschichten in den Familien machen von Taten, Täterhandeln, Wi-
das oft auch innerfamiliär schwere Erbe deutlich.“                                derstand, Kontextanalyse und
                                                                                  so fort verträgt ein weltweit
sionelle Kränkung aufgenommen – wird heute weithin gültiger Versuch, aus der Gesamtsumme von Staatsver-
als Realität akzeptiert. Auch Mahn- und Gedenkstätten brechen zu lernen? Welche neuen Opferkonkurrenzen
freunden sich mit den Prinzipien offener Kommunika- und Hierarchisierungskonflikte drängen sich dann auf?
tion an und kritisieren schlichte top-down-Belehrungs- In der Regel wird das Motiv der Werteerziehung
konzepte. Ihre historische Quellen- und Deutungsarbeit durch Gedenkstätten so ausbuchstabiert, dass an der

8 / HEIMAT WESTFALEN – 1/2021
HEIMAT WESTFALEN - ORTE DES ERINNERNS: KONZEPTE HISTORISCH-POLITISCHER BILDUNG HEUTE - WESTFÄLISCHER HEIMATBUND
historisch-politische Bildung

Geschichte des NS-Regimes und seiner Verbrechen die
schrecklichen Folgen gesellschaftlicher Diskriminie-
rung und Ausgrenzung sowie des Fehlens beziehungs-
weise der Missachtung von Grundrechten ablesbar
seien. An den Verbrechensorten sei zu sehen, wie die
Radikalisierung der Täterinnen und Täter und des Ter-
rors funktionierte, manchmal auch: wie die Verhaltens-
möglichkeiten der Opfer schrumpften und wo dennoch
gelegentlich Widerstand möglich wurde.

Doch solche ortsbezogenen Blicke zeigen schnell, dass
eine schematische Betrachtung unangemessen ist: Die
Themen, die Ausstellungen und die pädagogischen An-
gebote der Gedenkstätten und Geschichtsorte sind so
verschieden, dass die Zielsetzungen ebenfalls ausdiffe-
renziert werden sollten – und sich an den Wissensbe-
ständen orientieren, die dort zur Verfügung stehen.

Ziele mittlerer Reichweite                                  Außenansicht des Geschichtsortes Villa ten Hompel in Münster,
                                                            eine Gedenkstätte für Verbrechen von Polizei und Verwaltung
                                                            in der Zeit des Nationalsozialismus
Es liegt also nahe, bescheidenere Ziele als die zitierten
                                                            Foto/ Maren Kuiter
zu formulieren: Gelegenheit, Räume und „Anschlüsse“
zu schaffen, sich überhaupt in eine Beziehung zu den
historischen Geschehnissen am jeweiligen Ort zu set-        Zeitzeugen
zen, verlangt viel pädagogische Freiheit und Flexibili-
tät. Sich von schulischen Lernformen abzuheben, dürfte      Wissenschaftsorientierung und Verlässlichkeit bilden
aber die größte Chance der Gedenkstättenpädagogik           die vertrauensbildenden Säulen für das Dach, unter
sein. Zur professionellen Ethik gehört es, unterschiedli-   dem sich die Nachfahren der Menschen treffen, die
che Zugänge zu eröffnen, die Klischees dekonstruieren       Opfer der Nationalsozialisten geworden sind: Jüdische
können und multiperspektivische Sichtweisen (über ver-      Familien kommen regelmäßig, um die Heimatstädte
einfachende Opfer-Täter-Zuschauer-Typologien hinaus)        ihrer Eltern und Großeltern zu erkunden, Nachfahren
zu unterstützen. Die Bereitschaft, solche Wege mitzuge-     von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern suchen
hen und sich in weitere Diskussionen der „unangeneh-        möglicherweise nach dem Grab ihrer Angehörigen, Kin-
men Themen“ zu verstricken, wächst sicherlich dort, wo      der und Enkelkinder von Häftlingen recherchieren in
man Freiräume forschenden und lebensgeschichtlich           den Gedenkstätten die Umstände und Gründe des Un-
relevanten Lernens aufzeigen kann (und Zeitbudgets          rechts, das ihren Verwandten geschehen ist.
dafür verfügbar gemacht werden).
                                                            Diese Begegnungen bleiben nicht immer auf das Ge-
                                                            spräch zwischen Besucherinnen und Besuchern und
Herausforderungen und Probleme                              den Mitarbeitenden in den Gedenkstätten beschränkt.
                                                            Zuweilen ergeben sich daraus beeindruckende und be-
Die vorzeigbaren fachlichen und sonstigen Entwicklun-       rührende Kontakte zwischen Jugendlichen aus Schulen
gen der nordrhein-westfälischen Gedenkstätten seit den      und den Gästen, manchmal erklären sich diese sogar
1990er-Jahren dürfen nicht den Blick darauf verstellen,     bereit, vor einem größeren Publikum zu sprechen. Das
dass es heikle Themenkomplexe gibt, die besonderer Auf-     sind dann stets individuell und sorgsam vorbereitete Si-
merksamkeit bedürfen.                                       tuationen, außergewöhnlich und nie Routine.

                                                                                                   HEIMAT WESTFALEN – 1/2021 /   9
HEIMAT WESTFALEN - ORTE DES ERINNERNS: KONZEPTE HISTORISCH-POLITISCHER BILDUNG HEUTE - WESTFÄLISCHER HEIMATBUND
orTE dES ErINNErNS

                                                              Rahmen ihrer Exkursionen in NS-Gedenkstätten, und
                                                              zwar selbst dann, wenn dort aus inhaltlichen Gründen
                                                              die Judenverfolgung überhaupt keine Rolle spielt.
                                                                  Wegen immer wieder auch bei Erwachsenen zu be-
Schwarz-weiß Fotografien in einer Ausstellung des Jüdischen   obachtendem Zusammendenkens der beiden Kompo-
Museums Westfalen zeigten jüdische Hochzeiten und Szenen      nenten „Nationalsozialismus“ und „Juden“ muss jede
jüdischen Lebens.                                             Gedenkstätte damit rechnen, entsprechend befragt zu
Foto/ Jüdisches Museum Westfalen                              werden, und das nicht immer nur sachlich. Im Kern lässt
                                                              sich das in folgender, gar nicht seltener Formulierung
Angehörige aus den Familien der Zeitzeugen können             fassen: „Was war denn nun mit den Juden, dass Hitler
uns durchaus einen neuen Zugang zur Geschichte ge-            sie so gehasst hat?“ Hier mischt sich eine Neugier für
ben. Ihre Berichte über den Umgang mit den Verfol-            jüdische Geschichte mit dem Wunsch, für den Holocaust
gungsgeschichten in den Familien machen das oft auch          eine Erklärung zu erhalten. Dass diese Gesprächssitua-
innerfamiliär schwere Erbe deutlich.                          tion auf mehreren Ebenen – die verquere Logik und
                                                              Kausalität in der Frage, das Interesse am spezifisch Jü-
                                                              dischen und die Suche nach einer erlösenden Antwort –
FrAgEN AuS dEr EINWANdEruNgS-                                 analysiert, aber mit dem Fragenden in fairer Weise gelöst
gESELLScHAFT                                                  werden muss, überfordert viele Mitarbeitende schon aus
                                                              fachlichen Gründen, viel mehr aber noch aus psycholo-
Die reale Vielfalt der Familien-Erinnerungen in der Ein-      gischen.
wanderungsgesellschaft, die widerstreitenden Narrative
über Nationen, Fluchten und Grenzen sind oftmals ge-
eignet, klare Botschaften zu zertrümmern, aber mit ih-
                                                              dEMokrATIE IN gEFAHr?
nen kommen neue Fragen auf den Tisch: Wie wichtig ist
die Geschichte der NS-Taten für Menschen, deren Fami-         In der öffentlichen Debatte wird häufig der Vergleich
lie aus Belarus, Afghanistan oder Bosnien stammt? Sie         mit den sogenannten Weimarer Verhältnissen gezogen.
wird nicht einfach irrelevant, es kann aber auch nicht        Trotz aller Sorgen, die sich Demokratinnen und Demo-
eine schlichte Übernahme einfacher Lernziele erwar-           kraten derzeit zu Recht beim Blick auf viele schon oben
tet werden. Vielmehr müssen sich die Gedenkorte für           genannte unerfreuliche Entwicklungen über unsere Ge-
Debatten öffnen, in denen die Groß- und Staatsverbre-         sellschaft machen, sollte man nicht in einen dauerhaf-
chen des 20. und 21. Jahrhunderts sachlich abgewogen          ten Alarmismus abgleiten. Die Unterschiede zwischen
werden, ohne dass sofort ein „Geschichtsrevisionismus“-       den späten 1920er-Jahren und heute sind so gravierend,
Verdacht erhoben wird. Der „Abgleich verschiedener            dass ein kurzer und nüchterner Blick auf die Fakten
Gedächtnisse“ (Dan Diner) mag wenig kalkulierbar und          Wachsamkeit befördern, panische Reaktionen aber zu-
somit eine pädagogische Herausforderung sein, doch ist        gleich verhindern sollte.
er mit Sicherheit fruchtbarer als die Aufrechterhaltung
der „moralischen Hochdruckkammern“ (Philipp Ruch),            Dr. phil. Stefan Mühlhofer ist geschäftsführender
die Gedenkstätten und Erinnerungsorte einmal waren.           Direktor der Kulturbetriebe der Stadt Dortmund und
                                                              Direktor des Stadtarchivs Dortmund. Zuvor leitete er
                                                              die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache in Dortmund.
uMgANg MIT ANTISEMITISMuS                                     Er ist unter anderem Vorsitzender einer regionalen
                                                              Arbeitsgemeinschaft im Gegen das Vergessen – Für
Zu den schwierigeren Aufgaben der Gedenkstätten               Demokratie e. V., stellvertretender Vorsitzender des
gehört das Thema Antisemitismus. Als prominenteste            Kreisverbandes Dortmund des Volksbunds Deutsche
Opfergruppe des Nationalsozialismus formen die Besu-          Kriegsgräberfürsorge e. V. und seit 2020 Vorsitzender
cherinnen und Besucher aus „den Juden“ quasi reflex-          des Arbeitskreises der NS-Gedenkstätten und -Erinne-
haft den zentralen und beherrschenden gedanklichen            rungsorte NRW e. V.

10 / HEIMAT WESTFALEN – 1/2021
HISTorIScH-poLITIScHE bILduNg

die neue Synagoge in gelsenkirchen, hier der Innenhof mit gedenktafel zu Ehren der im Nationalsozialismus deportierten
gelsenkirchener Juden
Foto/ Nantke Naumann © LWL-Medienzentrum für Westfalen

Dr. phil. Norbert Reichling leitete von 2006 bis 2020              Dr. phil. Ulrike Schrader leitet seit 1994 die Begeg-
in ehrenamtlicher Funktion das Jüdische Museum                     nungsstätte „Alte Synagoge“ in Wuppertal. Die Litera-
Westfalen in Dorsten und ist der 1. Vorsitzende dessen             turwissenschaftlerin erhielt für ihr Engagement und
Trägervereins, dem Verein für jüdische Geschichte und              ihre Forschungen zu jüdischem Leben und zu jüdi-
Religion e. V. Bis 2018 war er als pädagogischer Mitar-            scher Kultur in Wuppertal und im Bergischen Land
beiter im Leitungsteam des Bildungswerks der Huma-                 verschiedene Auszeichnungen. Sie ist darüber hinaus
nistischen Union NRW tätig. Er hat mehrere Bücher                  Lehrbeauftragte für Geschichte und ihre Didaktik an
und Beiträge zur Erwachsenenbildung, zur politischen               der Bergischen Universität. Bis 2016 gehörte sie dem
Bildung und zur Erinnerungskultur veröffentlicht. Seit             Vorstand des Arbeitskreises der NS-Gedenkstätten und
2014 ist er Vorstandsmitglied im Arbeitskreis der NS-              -Erinnerungsorte in NRW e. V. an.
Gedenkstätten und -Erinnerungsorte in NRW e. V.

                                                                                                            HEIMAT WESTFALEN – 1/2021 /   11
Interview

   WHB-Vorsitzender und LWL-Direktor
       Matthias Löb im Interview

     „Erinnerungsarbeit ist ein Beitrag
           zur Demokratisierung“

m
           it dem Fortschreiten der Zeit und dem Ver-       einer Schuld geht, die frühere Generationen auf sich
           lust der Zeitzeugen droht die Erinnerung         geladen haben. Wir müssen an diesen Orten verstehen,
           an die Verbrechen der Nationalsozialisten        was damals geschehen ist und warum es damals gesche-
zu verblassen. Wie können Gedenkstätten und Erin-           hen ist. Warum Ausgrenzung und hasserfüllte Worte
nerungsorte heute sich verändernden gesellschaftli-         dann zu hasserfüllten Taten führten. Und wir müssen
chen Herausforderungen gerecht werden und gerade            an diesen Orten erkennen, dass schon das Bedienen
auch junge Menschen ansprechen?                             von ethnischen Stereotypen oder der ausländerfeind-
Ich betrachte Erinnerungskultur als einen wesentlichen      liche Witz in einer Whats-App-Gruppe den Boden für
Teil der Demokratieerziehung. Gedenkstätten können          Ausgrenzung und Hass bereitet.
informieren und sensibilisieren. Im besten Fall bleibt
es nicht bei der Betroffenheit, sondern Besucher werden     Wer verstehen will, welcher Auftrag unserer Gesell-
zum Nachdenken darüber gebracht, was das mit ihrem          schaft aus dem „damals“ erwächst, dem empfehle ich
Alltag zu tun hat. Besonders herausfordernd, aber auch      die berührende Rede von Marina Weisband, die sie am
lohnend ist dabei die Vermittlung in der Migrationsge-      27. Januar 2021 im Bundestag gehalten hat.
sellschaft und die Arbeit mit jungen Menschen. Es gibt
viele Ansätze: So können etwa mit der Darstellung von       Beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) be-
individuellen Lebensläufen Identifikationsmöglichkei-       fassen sich unterschiedliche Kultureinrichtungen mit
ten eröffnet werden. Bei Gedenkstätten und Erinne-          Erinnerungskultur. Als LWL-Direktor engagieren Sie
rungsorten wird über den authentischen Ort Geschichte       sich sehr stark für die Thematik. Was macht der LWL
unmittelbar erfahrbar. Das gilt übrigens auch für Schul-    konkret und mit welcher Zielsetzung?
projekte, die sich mit der eigenen Gemeinde während         Das Spektrum unserer Forschungen, Publikationen,
der NS-Zeit befassen. Dort wo Zeitzeugen fehlen, können     Ausstellungs- und Bildungsprojekte reicht von archäo-
künftig digitale Formate helfen, die Erinnerung leben-      logischen Ausgrabungen eines Kriegsverbrechens bis
dig zu halten.                                              zur Auseinandersetzung mit belasteten Straßennamen,
                                                            über die Zwangsarbeit im Ruhrbergbau bis hin zum
Auch heute erleben wir wieder Rassismus, Antise-            schulischen Filmprojekt über deportierte jüdische Kin-
mitismus und Fremdenfeindlichkeit. Wie können               der in Dorsten, über die „Euthanasie“ in den Psychia-
Gedenkstätten einer möglichen Erosion von Werten            trien des Provinzialverbandes bis hin zu literarischen
vorbeugen?                                                  Projekten auf der Burg Hülshoff.
Wenn man Gedenkstätten als Lernorte einer demokrati-
schen Gesellschaft begreift, dann ist klar, dass es nicht   Beim LWL arbeiten also ganz unterschiedliche Diszipli-
um ein ritualisiertes Erinnern oder um das Aufbürden        nen insbesondere auch an der Zeit von 1933 bis 1945,

12 / HEIMAT WESTFALEN – 1/2021
Interview

die Ziele sind aber sehr ähnlich: Wir wollen durch For-   unterstützen. Zusätzlich werden bis 2024 Bau- und
schung gesichertes Wissen für die Gegenwart bereitstel-   Einrichtungsmaßnahmen mit jährlich 150.000 Euro
len. Und wir wollen für unterschiedliche Altersgruppen    gefördert.
und Bildungsmilieus Zugänge schaffen.
                                                          Gemeinsam mit dem Land NRW erhalten wir so eine de-
Erwähnen möchte ich auch unseren Mobilitätsfonds,         zentrale Gedenkstättenstruktur mit einer Vielfalt, wie
mit dem wir Schulklassen Fahrten zu Erinnerungsor-        sie in kaum einem anderen Bundesland zu finden ist.
ten und Gedenkstätten er-
möglichen. Und schließlich:                                                          Der Westfälische Heimat-
Der LWL spielt eine maßgebli-                                                        bund, dessen Vorsitzender
che Rolle beim Aufbau einer                                                          Sie sind, übernimmt Dach-
neuen, national bedeuten-                                                            verbandsfunktion für die
den Erinnerungsstätte. Im                                                            Heimataktiven in der Regi-
Stalag 326 bei Schloß Holte-                                                         on. Welche Beiträge kann
Stukenbrock wird es um sow-                                                          der Verband für die im Be-
jetische Kriegsgefangene und                                                         reich der Erinnerungskul-
Zwangsarbeit gehen.                                                                  tur Engagierten leisten?
                                                                                     Als Dienstleister beraten wir
Welche Rolle spielt aus Ih-                                                          unsere Mitglieder in allen
rer Sicht bürgerschaftliches                                                         vereinsbezogenen Fragestel-
Engagement in der Erinne-                                                            lungen, beispielsweise auch
rungskultur?                                                                         zu Fördermöglichkeiten. Wir
Viele Gedenkstätten in West-                                                         können ferner dazu beitra-
falen sind aus nachhaltigem                                                          gen, dass gelungene Projekte
bürgerschaftlichem Enga-                                                             zur Erinnerungsarbeit be-
gement erwachsen – mit-                                                              kannt gemacht werden, wie
unter gegen Widerstände                                                              wir das zum Beispiel mit un-
vor Ort und ohne staatliche                                                          serem Heimatmachernews-
Unterstützung. Von einigen                                                           letter auch schon getan ha-
wenigen Ausnahmen abge-                                                              ben. Und schließlich vernet-
sehen, ist die Gedenkstät-                                                           zen wir Akteurinnen und
tenlandschaft in Westfalen                                                           Akteure und bringen Hand-
dezentral und überwiegend                                                            reichungen oder Pilotprojek-
ehrenamtlich geführt. Oder                                                           te auf den Weg.
anders ausgedrückt: Ohne
geschichtsbewusste, enga- Foto/ LWL/ Stephan Wieland                                  Mir ist es sehr wichtig, auch
gierte Bürgerinnen und Bür-                                                           auf unsere jüngsten Aktivi-
ger wären vielerorts auch die letzten Spuren jüdischen    täten aufmerksam zu machen: Unsere bundesweite Re-
Lebens verschwunden, die Erinnerung an Ausgren-           solution gegen Geschichtsvergessenheit und gegen die
zung, Deportation und Kriegsverbrechen verblasst,         Besetzung des Heimatbegriffes durch „Ewiggestrige“.
manches bauliche Zeugnis einem Neubau zum Opfer           Und wenn ich in diesem Zusammenhang auch die Argu-
gefallen.                                                 mentationshilfe „gegen rechts“ sowie unseren Leitfaden
                                                          „Heimat für alle“ erwähne, dann deswegen, um noch
Weil wir um die herausragende Bedeutung des Ehren-        einmal an den Beginn unseres Gespräches anzuknüp-
amtes auf diesem Feld wissen, hat der LWL im letzten      fen: Erinnerungsarbeit ist ein Beitrag zur Demokratisie-
Jahr beschlossen, die westfälischen NS-Gedenkstätten      rung, ebenso wie der Einsatz vieler Heimatmacher für
und Erinnerungsorte mit 250.000 Euro pro Jahr zu          Integration und für eine offene, vielfältige Gesellschaft.

                                                                                              HEIMAT WESTFALEN – 1/2021 /   13
orTE dES ErINNErNS

NETZWErkE STärkEN: ArbEITSkrEIS dEr NS-gEdENk-
   STäTTEN uNd -ErINNEruNgSorTE IN NrW E. V.

die „Französische kapelle“ im dachgeschoss eines kasernenblocks in Soest ist ein eindrucksvolles Zeitdokument.
Foto/ Geschichtswerkstatt Französische Kapelle e. V.

A
         n vielen Orten Nordrhein-Westfalens engagie-             eine historische Ausstellung und führen Veranstaltun-
         ren sich in ganz unterschiedlichen Einrich-              gen oder Sonderausstellungen durch. Sie folgen neuen
         tungen neben-, haupt- und ehrenamtliche                  Wegen in der Forschung und gehen eigene Wege in der
Mitarbeitende in der Auseinandersetzung mit der Ge-               Vermittlung ihrer Themen. Sie sind ein wichtiges Merk-
schichte des Nationalsozialismus.                                 mal der politischen Kultur des bevölkerungsreichsten
    Die Gedenkstätten, Dokumentationszentren, Begeg-              Landes der Bundesrepublik Deutschland geworden.
nungsstätten und Lernorte finden Spuren, fragen nach
dem Schicksal von Verfolgten und erforschen kritisch
das Handeln der Täter vor Ort. Dabei spielt sowohl die
                                                                  AkTIVES NETZWErk SEIT 1995
lokale als auch die regionale Ebene eine Rolle.
    Vor diesem historischen Hintergrund leisten die               1995 gründete sich der Arbeitskreis der Gedenkstätten
Gedenkstätten heute nicht nur einen Beitrag zur For-              für die Opfer des Nationalsozialismus in NRW e. V. Als
schung, sondern auch zur Bildung und Begegnung von                Netzwerk bündelt er heute die Aktivitäten der Einrich-
Menschen unterschiedlicher Herkunft, Generationen                 tungen und schafft Öffentlichkeit – beispielsweise für
und Nationen. Ihr nachdrückliches Nein zu Diskriminie-            die Belange von Verfolgten oder Angehörigen von Op-
rung und Gewalt in der Gegenwart hat Auswirkungen                 fern der Terror- und Gewaltherrschaft.
auf die tägliche Arbeit. Demokratieförderung, faire Kon-
fliktlösungen, die Akzeptanz von Menschenrechten und              Mitglied im Arbeitskreis kann jeder werden, der an
ein toleranteres gesellschaftliches Klima in der Gegen-           einer Mahn- und Gedenkstätte, an einem Lern- und
wart sind Ziele gerade auch der pädagogischen Ansätze.            Begegnungsort oder Dokumentationszentrum tätig
                                                                  ist, soweit sich diese Einrichtung der Erforschung und
                                                                  Vermittlung des Nationalsozialismus widmet.
uNTErScHIEdLIcHE STrukTurEN

Alle Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen sind von
                                                                                      koNTAkT
Menschen aus verschiedenen Gruppen und jeden Al-                       Arbeitskreis der NS-gedenkstätten und
ters mit ins Leben gerufen worden. Sie haben in mehr                   -Erinnerungsorte in NrW e. V.
oder weniger langwierigen Prozessen ihre Institutiona-                 c/o Geschichtsort Villa ten Hompel
lisierung durchsetzen können – in der Regel an einem                   Vorsitzender Dr. Stefan Mühlhofer
für die Geschichte des Nationalsozialismus bedeutsa-                   Kaiser-Wilhelm-Ring 28 · 48145 Münster
men Ort. Manche Häuser sind von Vereinen getragen,                     0251 492-7048
andere von der öffentlichen Hand, viele verfügen über                  redaktion@ns-gedenkstaetten.de

14 / HEIMAT WESTFALEN – 1/2021
                        5/2020
HISTorIScH-poLITIScHE bILduNg

bLIck IN dIE rEgIoN: 12 bEISpIELE WESTFäLIScHEr
gEdENkSTäTTEN uNd ErINNEruNgSorTE

VoN FrAukE HoFFScHuLTE uNd ALExANdEr LANg
Die Redaktion hat einige westfälische Gedenkstätten und      nen Täter- und Opfergruppen und verbinden diese Ver-
Erinnerungsorte ausgewählt, um den Leserinnen und Le-        mittlungsarbeit mit der lokalen Geschichte ihrer Dörfer
sern die Bandbreite der Einrichtungen und deren Entste-      und Städte.
hungsgeschichte in Kurzportraits darzustellen.                  Auch kommen regelmäßig neue Einrichtungen hin-
   Auch die kleineren und zumeist ehrenamtlich getra-        zu, da vielerorts der Wunsch besteht, gerade die lokalen
genen Gedenkstätten und Erinnerungsorte beschäftigen         Geschehnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus zu er-
sich sachkundig und zukunftsgewandt mit verschiede-          forschen und für die Bevölkerung aufzuarbeiten.

gEScHIcHTSWErkSTATT FrANZöSIScHE kApELLE SoEST
gEScHIcHTSWErkSTATT FrANZöSIScHE kApELLE E. V.,              Die 1997 gegründete Geschichtswerkstatt Französische
krEIS SoEST                                                  Kapelle e. V. hat es sich zum Ziel gesetzt, die Geschichte
Während des Zweiten Weltkrieges war die Adam-Kaserne         des ehemaligen Gefangenenlagers aufzuarbeiten. Die
in Soest fünf Jahre lang Gefangenenlager für französische    Geschichtswerkstatt erforscht Hintergründe, knüpft
Offiziere. Um die Monotonie des Lageralltags erträglicher    Kontakte zu ehemaligen Kriegsgefangenen und setzt
zu machen, organisierten die Gefangenen ein reges Kul-       sich für eine Erhaltung der Anlage als Ort der Erinne-
turprogramm. Im Kriegsgefangenenlager waren bis zu           rung, der Begegnung und der Kultur auf einem authen-
5.000 Offiziere im Jahr 1945 untergebracht. Das Muse-        tischen Areal der Lokalgeschichte ein.
um Französische Kapelle hält die Erinnerung an die Zeit          Ende 2020 gab der LWL bekannt, eine Neukonzepti-
des Gefangenenlagers wach. Benannt ist es nach einem         on der Gedenkstätte mit 100.000 Euro ergänzend zu för-
original erhaltenen Andachtsraum auf dem Kasernenge-         dern. Das Land NRW mit dem „Heimatzeugnis“ und die
lände, den Gefangene in den Farben Frankreichs ausge-        NRW-Stiftung sind weitere Fördergeber der Gedenkstät-
malt hatten. Der Kapellenraum war im Lager nicht nur         te. Die Ausstellung der Gedenkstätte soll neu konzipiert
religiöser Ort, sondern vielmehr Kristallisationspunkt für   und auf insgesamt 500 qm neben der Französischen Ka-
die persönliche und nationale Identität der Gefangenen.      pelle in einem größeren Gebäude untergebracht wer-
    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gelände erst        den. Künftig sollen weitere Täter- und Opfergruppen
von „Displaced Persons“, dann bis 1951 als Vertriebenen-     behandelt und die Hierarchisierung von Häftlingen er-
lager genutzt und diente im Anschluss bis 1994 als Ka-       fahrbar gemacht werden.
serne für belgische Truppen.                                 www.franzkapellesoest.de

                                                                                                 HEIMAT WESTFALEN – 1/2021 /   15
Orte des Erinnerns

                                                                        Ehemalige Synagoge
                                                                        Drensteinfurt
                                          Außenansicht der              ein Bürgerkreis für dessen Rettung ausgesprochen hat-
                                          ehemaligen Synagoge           te. Bis dahin wurde das Gebäude als Lagerraum verwen-
                                          in Drensteinfurt im           det. 1990 gründeten Mitglieder des Bürgerkreises den
                                          Jahr 2000                     Förderverein Alte Synagoge Drensteinfurt, welcher es
                                          Foto/ Olaf Mahlstedt © LWL-   sich zur Aufgabe gemacht hatte, ein Nutzungskonzept
                                          Medienzentrum für Westfalen
                                                                        zu entwerfen und die Kommune bei der Umsetzung
                                                                        des Vorhabens zu unterstützen. Die Synagoge wurde
                                                                        schließlich 1992 wiedereröffnet.
                                                                            Heute finden in der ehemaligen Synagoge kulturelle
                                                                        Veranstaltungen wie Lesungen, Vorträge, Ausstellungen
                                                                        und Führungen statt, welche oftmals Verfolgung und
                                                                        Ausgrenzung zum Thema haben. Das Gebäude soll die
                                                                        jüdische Kultur in Westfalen sichtbar und erfahrbar
                                                                        machen. Neben Fotos sind in der ehemaligen Synagoge
                                                                        auch die Portraits von Drensteinfurter Jüdinnen und
                                                                        Juden ausgestellt, wie beispielsweise das der zwölfjäh-
Förderverein Alte Synagoge Drensteinfurt e. V.,
                                                                        rigen Schülerin Fanny Irma Salomon, die 1941 depor-
Kreis Warendorf
                                                                        tiert und alle, bis auf die Holocaust-Überlebende Herta
Die Synagoge in Drensteinfurt wurde 1872 eingeweiht.                    Herschcowitsch, ermordet wurden.
Die Mitglieder der dortigen jüdischen Gemeinde wurden                       Die Synagoge ist ein informatives Ziel für Schulklas-
während der Reichspogromnacht in die Synagoge getrie-                   sen, deren Besuche vom Förderverein didaktisch unter-
ben und misshandelt, die Synagoge im Anschluss verwü-                   stützt werden. Die ehemalige Synagoge versteht sich als
stet und ausgeraubt, religiöse Gegenstände geschändet.                  Ort der Begegnung mit der jüdischen Religion und mit
    Im Jahr 1988 kaufte die Stadt Drensteinfurt das 1985                Menschen jüdischen Glaubens.
zum Denkmal erklärte Gebäude, um es als Veranstal-                      www.ns-gedenkstaetten.de/nrw/drensteinfurt/besucher-
tungs- und Ausstellungsraum zu nutzen, nachdem sich                     informationen.html

                                                                        Informations- und Gedenkstätte
                                                                        Verein für Hemeraner Zeitgeschichte e. V.,
                                                                        Stadtarchiv Hemer, Märkischer Kreis
                                                                        Im Spätherbst 1939 wurde auf dem Gelände einer
                                                                        im Bau befindlichen Kaserne das Kriegsgefangenen-
                                                                        Mannschaftstammlager VI A in Hemer, kurz Stalag VI
                                                                        A, eingerichtet. Das Lager im Norden des Sauerlandes
Der damalige Vorsitzende des Vereins für Hemeraner Zeit-                wurde am 14. April 1945 von amerikanischen Truppen
geschichte e. V., Hans-Hermann Stopsack, 2012 bei einer                 befreit. Ab 1956 nutzte die Bundeswehr das Gelände
Gedenkstättenführung für den damaligen Verteidigungsminister            als Garnison und blieb dort bis zu ihrem Abzug 2007.
Thomas de Maizière                                                      Die Beschäftigung mit der Erinnerung an das Kriegs-
Foto/ Thomas Eberhard                                                   gefangenenlager geht auf die Bürgerinitiative für Frie-

16 / HEIMAT WESTFALEN – 1/2021
historisch-politische Bildung

    Gedenkstätte Zellentrakt
    im Herforder Rathaus
    Kuratorium Erinnern Forschen Gedenken e. V.,                 Gedenkort für Terror
    Stadtarchiv Herford                                          und Verfolgung in Her-
                                                                 ford engagiert hatte.
    Das bis 1917 errichtete neue Rathaus in Herford beher-       Der Auftrag des Erinne-
    bergte im Erdgeschoss bis 1964 auch die Herforder Poli-      rungsortes besteht in
    zeiwache inklusive eines Polizeigefängnisses. Zwischen       der Aufarbeitung, Do-
    1933 und 1945 war hier eine Außenstelle der Gehei-           kumentation und akti-
    men Staatspolizei („Gestapo“) ansässig. In dieser Zeit       ven Gedenkarbeit zur
    wurden im Herforder Rathaus ohne juristische Grund-          Geschichte und Gegen-
    lage Angehörige von Minderheiten wie Juden und Zeu-          wart verfolgter Min-
    gen Jehovas festgehalten. Sowohl Mitglieder von KPD,         derheiten in der Stadt
    SPD und Gewerkschaften, Angehörige sozialer Rand-            und im Kreis Herford. Blick in eine der Zellen
    gruppen, Arme und Obdachlose, als auch religiöse Min-        Das Kuratorium wid- Foto/ J. Escher/ Gedenkstätte Zellentrakt
    derheiten sowie Sinti und Roma fielen der Verfolgung         met sich der Geschich-
    zum Opfer. Nach der Reichspogromnacht wurden auch            te aller verfolgten Herforderinnen und Herforder in der
    Jüdinnen und Juden inhaftiert, um anschließend in            Zeit des Nationalsozialismus. Dazu gibt es in der Gedenk-
    das KZ Buchenwald transportiert zu werden. Im Zwei-          stätte neben einer kleinen Dauerausstellung wechselnde
    ten Weltkrieg waren auch Zwangsarbeiterinnen und             Ausstellungen, die unterschiedliche Opfergruppen in den
    Zwangsarbeiter inhaftiert.                                   Blick nehmen. Für diese stellt das Kuratorium online unter
                                                                 www.zellentrakt.de zahlreiche pädagogische Ausstel-
    Im Herbst 2004 übergab die Stadt den Zellentrakt als         lungsmaterialien zur Verfügung. Im Herforder Elsbach-
    Außenstelle an das Stadtarchiv Herford. Die Räumlich-        Haus an der Goebenstraße befindet sich eine Außenstelle
    keiten werden seit 2005 als Gedenkstätte genutzt. Um         der Gedenkstätte mit der geretteten Bibliothek der jüdi-
    den Betrieb kümmert sich zusammen mit dem Stadtar-           schen Unternehmerfamilie Elsbach-Maass und einer Do-
    chiv das 1997 gegründete Kuratorium Erinnern Forschen        kumentation der Familien- und Firmengeschichte.
    Gedenken e. V., welches sich bereits seit langem für einen   www.zellentrakt.de

zum Kriegsgefangenenlager Stalag VI A
    den und Abrüstung Hemer zurück, welche ab 1982               Gedenkstätte Stalag VI A am originalen Ort des Lagers.
    mit Gedenkveranstaltungen und Dokumentations-                Die Ausstellung enthält neben zahlreichen Fotos, Do-
    schriften auf eine kritische Aufarbeitung hinwirkte.         kumenten und Exponaten ein Modell des Lagers und
    1992 wurde schließlich ein Mahnmal zum Gedenken              ein Diorama mit einem Schnitt durch einen Kaser-
    an die Opfer des Gefangenenlagers an der Kaserne             nenblock mit maßstabgetreuen Nachbildungen der
    aufgestellt. Der im Jahr 2005 gegründete Verein für          Innenräume. Der Verein und das Stadtarchiv bieten
    Hemeraner Zeitgeschichte e. V. widmet sich der Be-           Führungen durch die Gedenkstätte, über das Gelände
    treuung und konzeptionellen Weiterentwicklung ei-            und zu den beiden Friedhöfen des Lagers (heute Kriegs-
    ner Dauerausstellung.                                        gräberstätten) an.
    Heute befindet sich auf dem Gelände der Sauerland-           sauerlandpark-hemer.de/park/fuer-wissenshungrige/
    park mit der 2010 neu eröffneten Informations- und           stalag-gedenkraum/

                                                                                                      HEIMAT WESTFALEN – 1/2021 /   17
Orte des Erinnerns

                                                                  Blick in eine der drei ehemaligen Haftzellen
                                                                  mit Informationstafeln
                                                                  Foto/ Dirk Vogel

Ge-Denk-Zellen Altes Rathaus Lüdenscheid
Ge-Denk-Zellen Altes Rathaus Lüdenscheid e. V.,            14 biografischen Tafeln und drei Audio- und Videosta-
Märkischer Kreis                                           tionen Schicksale von circa 700 politisch und rassisch
                                                           Verfolgten der NS-Zeit in Lüdenscheid dargestellt. Der
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden in         Verein hat sechs Wanderausstellungen zu den lokalen
der Polizeiwache im Lüdenscheider Rathaus politische,      Themen Euthanasie, Verführer und Verführte, Gesich-
soziale und religiöse Minderheiten und Gegner des Re-      ter und Geschichten von Zeitzeugen, Kindereuthanasie,
gimes inhaftiert und teilweise in Konzentrations- und      Frauen im Widerstand und Zwangsarbeit (im Rahmen
Vernichtungslager deportiert.                              der Städtepartnerschaft Lüdenscheid – Taganrog) er-
   Dank des Engagements eines kleinen Arbeitskreises       stellt. Der Verein hat für die Zukunft noch weitere am-
gründete sich im Jahr 2010 schließlich der Verein Ge-      bitionierte Projekte zur politischen Bildung. So sind
Denk-Zellen Altes Rathaus Lüdenscheid e. V., der sich      beispielsweise Unterrichtsmaterialien und ein Buch
der Konzeption, Realisierung und Betreuung einer           über jüdische Nachbarn im Märkischen Kreis geplant,
Mahn-, Dokumentations- und Gedenkstätte verschrie-         aber auch passende digitale Formate.
ben hat. Im Jahr 2012 wurden die „Ge-Denk-Zellen“ im
Rathaus eröffnet. Hierfür stellt die Stadt Lüdenscheid     Der Verein engagiert sich darüber hinaus auch für an-
die Kellerräume, in denen sich die Zellen befinden,        dere Gedenkorte in und um Lüdenscheid. Er zeichnet
zur Verfügung.                                             für das Verlegen neuer „Stolpersteine“ verantwortlich
   Die Stätte steht unter dem Leitmotiv „Forschen – Ler-   und betreut das Mahnmal des ehemaligen Arbeitserzie-
nen – Gedenken für unsere Zukunft“. In drei der ehe-       hungslagers Hunswinkel.
maligen Gefängniszellen der Ortspolizei werden auf         www.ge-denk-zellen-altes-rathaus.de

Gedenk- und Informationsstätte Alte Synagoge Petershagen
Fassadenansicht der Synagoge mit ikonischen                Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge
bunten Bleiglasfenstern                                    Petershagen e. V., Kreis Minden-Lübbecke
Foto/ NRW-Stiftung/ Stefan Ziese

                                                           In der Stadt Petershagen möchte der ehrenamtliche
                                                           Bürgerverein Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Peters-
                                                           hagen e. V. an die ehemalige jüdische Gemeinde im Ort
                                                           erinnern. Der Verein, der zunächst lose bestand, wurde
                                                           1999 gegründet und betreibt mit Unterstützung von an-
                                                           deren Institutionen, der Stadt und dem Kreis die Gedenk-
                                                           stätte. Das Gebäude wurde 1998 von der Stadt Petershagen
                                                           gekauft und mit Hilfe der NRW-Stiftung saniert.

18 / HEIMAT WESTFALEN – 1/2021
historisch-politische Bildung

   Jüdisches Museum
   Westfalen

   Verein für jüdische Geschichte und Religion e. V.,
   Dorsten, Kreis Recklinghausen
   Das Jüdische Museum Westfalen geht auf eine Bürgerini-
   tiative und deren Forschungsgruppe „Dorsten unterm         Offene Führung im Jüdischen Museum Westfalen durch
   Hakenkreuz“ zurück, welche 1987 den Aufbau eines           die Ausstellung „L` Chaim! Auf das Leben!“
   Dokumentationszentrums anging. Der dabei gegrün-           Foto/ NRW-Stiftung/ Werner Stapelfeldt
   dete Verein für jüdische Geschichte und Religion e. V.
   betreibt das Museum bis heute und konnte es 1992 mit       die vielfältige Geschichte, Tradition und Gegenwart von
   der Unterstützung vieler Partner in NRW in einem klei-     Juden und Jüdinnen im Allgemeinen und besonders in
   nen Altbau einrichten. Seit 2020 wird das Museum jähr-     Westfalen zu entdecken. Das Museum will damit zum
   lich mit 100.000 Euro vom LWL gefördert. Bereits in der    Verstehen des Judentums beitragen und dadurch für
   Vergangenheit unterstützte der Landschaftsverband das      Menschenrechte und demokratische Teilhabe eintreten.
   Museum mit insgesamt 1,1 Mio. Euro.                        Für Kinder und Jugendliche hat das Museum ein vielfäl-
       Das Gebäude hat im Lauf der Geschichte unter-          tiges Repertoire an pädagogischen Angeboten. Die Dau-
   schiedliche Nutzungszwecke erfahren, so diente es in       erausstellung lädt Mädchen und Jungen zu besonderen
   den 1930er-Jahren als Stätte für die nationalsozialisti-   Mitmach-Stationen ein und zeigt einzigartige Exponate,
   sche Wohlfahrt und Ausbildung. Während des Zweiten         wie beispielsweise einen Teddybären, den ein Mädchen
   Weltkrieges wurden in dem Gebäude Soldaten unter-          aus Minden bei ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten
   gebracht. 2001 wurde mit Hilfe des Landes NRW, des         zurückließ. Das Museum bietet Anknüpfpunkte für alle
   LWL und der Stadt Dorsten ein Anbau errichtet. 2018        Altersklassen, den Besuch zu vertiefen und hält auch
   wurde die dort untergebrachte Dauerausstellung reno-       Workshops und Projekttage für Schulklassen bereit.
   viert und unter dem Titel „L`Chaim! – Auf das Leben!       Mit seinen Lesungen, Konzerten, Bastelnachmittagen,
   Jüdisch in Westfalen“ eröffnet. Die Dauerausstellung des   Film- und Theatervorführungen spricht das Museum ein
   Museums und die regelmäßigen Sonderausstellungen           breites Publikum an.
   sollen den Besucherinnen und Besuchern ermöglichen,        www.jmw-dorsten.de

Tatort – Gedenkort – Lernort

   Die ehemalige Synagoge ist seit 2003 ein Informati-        Die jüdische Schule wurde Mitte 2012 renoviert und soll zu
   ons- und Dokumentationszentrum für jüdische Orts-          einem (auch) digitalen Lernort gemacht werden. Besonders
   und Regionalgeschichte, die den Besucherinnen und          Schulklassen werden angesprochen und können eigens für
   Besuchern mittels einer Dauerausstellung, Wechsel-         diese Zielgruppe entwickelte Vorträge abrufen und Füh-
   ausstellungen und kultureller Veranstaltungen näher-       rungen wahrnehmen. Das Themenspektrum reicht von der
   gebracht wird. Damit ist sie zugleich auch Gedenkstätte    Geschichte der Juden in Petershagen, dem jüdischen Alltag
   und mahnende Erinnerung an den Terror des Hitlerre-        mit Schule und Synagoge bis zu den verlegten Stolperstei-
   gimes. Das Ensemble, das neben der Synagoge, der jüdi-     nen. Eine Bibliothek inklusive Arbeitsplätzen befindet sich
   schen Schule, der Mikwe und dem Friedhof ehemalige         im Aufbau. So kann die Alte Synagoge Petershagen auch zu
   jüdische Wohnhäuser umfasst, ist in Norddeutschland        einem Ort der Forschung werden.
   einzigartig.                                               www.synagoge-petershagen.de

                                                                                                       HEIMAT WESTFALEN – 1/2021 /   19
Orte des Erinnerns

                                                        Die Publikation „Gedenkort Nordbahnhof“ enthält einen ersten
                                                        Vorschlag für eine künftige Ausstellung in dem ehemaligen Bahn-
                                                        hofsgebäude.
                                                        Foto/ Bernd Faulenbach

                                                        Die Initiative Nordbahnhof e. V. setzt sich dafür ein,
                                                        eine Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus
                                                        zu realisieren. Die Initiative entstand 2013 als Zusam-
                                                        menschluss von Historikerinnen und Historikern und
                                                        wurde 2016 in einen gemeinnützigen Verein transfor-
                                                        miert. Maßgeblich getragen wird die Initiative sowohl
                                                        von engagierten Bürgerinnen und Bürgern als auch von
                                                        Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, wie dem

Gedenkort Nordbahnhof                                   emeritierten Bochumer Professor Dr. Bernd Faulenbach,
                                                        Vorsitzender des Vereins und jahrelang Mitglied im Bei-
Bochum                                                  rat der Berliner Stiftung „Denkmal für die ermordeten
                                                        Juden Europas“ und in anderen Gremien der Erinne-
                                                        rungskultur.
Initiative Nordbahnhof e. V., Bochum
Der Bahnhof wurde in den 1870er-Jahren als „Rheini-     Das Projekt hat in der Bevölkerung vielfältig positive
scher Bahnhof“ errichtet und ist ein wirtschafts- und   Resonanz gefunden und soll schrittweise realisiert wer-
verkehrsgeschichtlich bedeutendes Gebäude Bochums.      den. Der Nordbahnhof ist ein authentischer Ort und
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden         wäre die erste Gedenkstätte ihrer Art in Bochum, die
von hier aus Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma         Ausstellungs- und Seminarräume beinhalten soll. Das
und weitere Verfolgte des NS-Regimes in Richtung        inzwischen unter Denkmalschutz gestellte Gebäude soll
Osten deportiert und in Vernichtungslager gebracht.     zu einem Haftpunkt der kollektiven Erinnerung in Bo-
Der Bahnhof ist besonders in die jüdische Erinnerung    chum werden.
eingeprägt.                                             www.initiative-nordbahnhof-bochum.de

                                                        Alte Synagoge Selm-Bork
                                                        Stadt Selm, Kreis Unna

                                                        Die Synagoge im Selmer Ortsteil Bork gehört zu den
                                                        wenigen noch existierenden Landsynagogen im Müns-
                                                        terland. Über mehr als 100 Jahre diente das Gebäude
                                                        als Zentrum für die etwa elf Familien beziehungsweise
                                                        rund 60 Mitglieder umfassende jüdische Gemeinde in
                                                        Bork und Selm.
                                                            In der Nacht des 9. November 1938 wurde auch die Bor-
                                                        ker Synagoge geplündert und ihre Inneneinrichtung zer-

                                                        Blick auf die Synagoge in Selm
                                                        Foto/ André Kieslich/ Stadt Selm

20 / HEIMAT WESTFALEN – 1/2021
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