AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - BILDUNG UND DIGITALISIERUNG - BPB

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69. Jahrgang, 27–28/2019, 1. Juli 2019

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
    Bildung und
   Digitalisierung
      Jöran Muuß-Merholz                                Harald Gapski
   DER GRO ẞ E VERSTÄRKER.                 MEHR ALS DIGITALKOMPETENZ.
 SPALTET DIE DIGITALISIERUNG                 BILDUNG UND BIG DATA
     DIE BILDUNGSWELT?
                                                        Niels Brüggen
         Henrik Scheller                       BILDUNG DER JUGEND
    „DIGITALPAKT SCHULE“.                   FÜR DEN DIGITALEN WANDEL
  FÖDERALE KULTURHOHEIT
                                                         Helen Knauf
        ZULASTEN DER
                                             POTENZIALE UND RISIKEN
     ZUKUNFTSFÄHIGKEIT
                                             VON DIGITALISIERUNG IN
   DES BILDUNGSWESENS?
                                           KINDERTAGESEINRICHTUNGEN
       Felicitas Macgilchrist
                                                Annabell Bils · Heike Brand ·
 DIGITALE BILDUNGSMEDIEN                                Ada Pellert
        IM DISKURS                                 HOCHSCHULE(N)
                                                IM DIGITALEN WANDEL

                      ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                           FÜR POLITISCHE BILDUNG
                 Beilage zur Wochenzeitung
Bildung und Digitalisierung
                             APuZ 27–28/2019
JÖRAN MUU ẞ-MERHOLZ                                  NIELS BRÜGGEN
DER GRO ẞ E VERSTÄRKER. SPALTET DIE                  BILDUNG DER JUGEND FÜR DEN DIGITALEN
DIGITALISIERUNG DIE BILDUNGSWELT?                    WANDEL
Digitale Medien können ein Katalysator für           Medienkompetenz ist besonders im lebensweltli-
progressive Pädagogik sein oder ein traditionelles   chen Umgang mit digitalen Medien gefordert. Für
Bildungsverständnis verstärken. Für die Bildung      die Bildungsarbeit ist nicht nur nach der Bedeu-
des 21. Jahrhunderts braucht es aber neben einem     tung digitaler Kommunikation, sondern auch nach
mächtigen Verstärker vor allem eine Verständi-       den Wechselwirkungen gesellschaftlicher und
gung über die richtige Ausrichtung.                  technologischer Entwicklungen zu fragen.
Seite 04–10                                          Seite 30–35

HENRIK SCHELLER                                      HELEN KNAUF
„DIGITALPAKT SCHULE“.                                POTENZIALE UND RISIKEN
FÖDERALE KULTURHOHEIT ZULASTEN DER                   VON DIGITALI­S IE­R UNG
ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DES BILDUNGSWESENS?                IN KINDERTAGESEINRICHTUNGEN
Der Streit über den Digitalpakt verweist auf         Digitalisierung hat das Potenzial, die pädagogische
eine Schieflage in der Bildungsfinanzierung der      Arbeit in Kindertageseinrichtungen grundlegend
Bundesrepublik. Investitionsprogramme des Bun-       zu verändern. Der digitale Wandel umfasst dabei
des sind stets mit Eingriffen in die Kulturhoheit    wesentlich mehr als die medienpädagogische
der Länder verbunden, das eigentliche Problem        Arbeit mit Kindern und bietet Potenziale und
ist jedoch das Fehlen von Bildungspersonal.          Risiken teils da, wo man sie nicht vermutet.
Seite 11–17                                          Seite 36–41

FELICITAS MACGILCHRIST                               ANNABELL BILS · HEIKE BRAND · ADA PELLERT
DIGITALE BILDUNGSMEDIEN IM DISKURS                   HOCHSCHULE(N) IM DIGITALEN WANDEL
Zwei Wertesysteme ringen aktuell um die Frage,       Die Digitalisierung hat an den Hochschulen bis-
wie und von wem Bildung in der digital vernetz-      lang kaum zu großen strategischen Änderungen in
ten Welt strukturiert und gestaltet werden soll.     der Bildung geführt. Um auch jenseits bestehender
Der Diskurs bewegt sich zwischen den Lesarten,       Lehr- und Lernformate agieren zu können, sind
man könne auf die Digitalisierung nur reagieren,     Experimentalräume und Forschungsinitiativen zur
den digitalen Wandel dagegen gestalten.              Gestaltung der Lehre essenziell.
Seite 18–23                                          Seite 42–46

HARALD GAPSKI
MEHR ALS DIGITALKOMPETENZ.
BILDUNG UND BIG DATA
Bildung in der digitalen Transformation sollte dem
Menschen helfen, sich im reflektierten Verhältnis
zu sich selbst und seinen mediatisierten und
datafizierten Umwelten zu entfalten. Digitale
Aufklärung erfordert die Neuverfugung mehrerer
Bildungsbereiche.
Seite 24–29
EDITORIAL
Immer mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene lernen mit immer größerer
Selbstverständlichkeit mit digitalen Medien. Was bedeutet die fortschreitende
Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche für Lehrende und Lernende? Handelt
es sich bei digitalen Medien um eine Weiterentwicklung von etwas, das bereits
vorhanden war? Oder betreten wir auch hier immer wieder „Neuland“? Sollen
neue Lehr- und Lernangebote entwickelt oder Bewährtes mit digitalen Mitteln
optimiert werden? Lässt sich vielleicht beides miteinander verbinden?
   Wie bei allen technologischen Entwicklungen ist auch beim digitalen Wandel
nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Maschine zu fragen, nach den Wech-
selwirkungen zwischen Gesellschaft und Technik. Bildung als gesamtgesell-
schaftlicher Aufgabe kommt dabei eine tragende Rolle zu. Fragen zur didakti-
schen Einbettung digitaler Bildungsmedien und -formate und nicht zuletzt nach
ihrer ethischen Gestaltung gewinnen an Relevanz.
   Mit der im Frühjahr 2019 vom Deutschen Bundestag und Bundesrat
beschlossenen Grundgesetzänderung des Artikels 104 war der Weg frei für den
sogenannten Digitalpakt, mit dem der Bund den Ländern von 2019 bis 2022 fünf
Milliarden Euro zum Ausbau der digitalen kommunalen Bildungsinfrastruktur
zur Verfügung stellen kann. Die bildungspolitischen Debatten, die rund um die
Bund-Länder-Vereinbarung geführt wurden, gehen über die Konstitution des
deutschen Bildungsföderalismus hinaus. Sie verdeutlichen, dass der Ausbau von
Infrastruktur nur eine Teilantwort auf die Fragen sein kann, die sich durch die
Digitalisierung ergeben.

                                                   Frederik Schetter

                                                                             03
APuZ 27–28/2019

                                               ESSAY

                     DER GRO ẞ E VERSTÄRKER
                  Spaltet die Digitalisierung die Bildungswelt?
                                     Jöran Muuß-Merholz

Was sind „digitale Medien“? Zeichnet man ein        Kontakt? Wie weit erstreckt sich sein Aktionsradi-
grundsätzliches, geradezu naives Medienbild, so     us? Was fällt ihm leicht, was fällt ihm schwer? Vie-
hilft ein Verständnis, das uns aus der Rede von     le Unterschiede sind offensichtlich, wenn wir das
Tieren vertraut ist. Wir nutzen es, wenn wir über   grüne und das blaue Medium miteinander verglei-
Tiere und ihren Lebensraum sprechen. Wir sagen      chen. Wir Menschen lernen gerade digitale Medien
beispielsweise: „Das Medium des Fisches ist das     kennen, die in vielfacher Hinsicht neu und anders-
Wasser.“ Oder auch: „Das Medium des Regen-          artig sind. Es ist, als hätten wir bisher in einer grü-
wurms ist die Erde.“ Bei einem Menschen, der in     nen Medienwelt gelebt und sähen uns nun mit der
einer bestimmten Umgebung gut zurechtkommt,         neuen, der blauen Medienwelt konfrontiert.
ist eine ähnliche Formulierung gebräuchlich: „Er        Zum Kennenlernen einer Medienwelt gehört,
ist ganz in seinem Element.“                        dass wir das Neue und Unbekannte mit dem Al-
    Auch in der Biochemie kennen wir ein solches    ten und Bekannten vergleichen. Wir machen ge-
Medienbild, wenn wir von einem „Nährmedium“         wissermaßen einen Medienvergleich. Das passiert,
sprechen, in dem sich beispielsweise Mikroorga-     wenn wir Eigenschaften der blauen Medienwelt in
nismen entwickeln sollen. Alternativ wird für den   Abgrenzung zur grünen Medienwelt beschreiben
Begriff „Nährmedium“ auch „Nährboden“ oder          und beispielsweise feststellen, dass man sich in
„Substrat“ verwendet. Naturwissenschaftler*innen    dem einen Medium schneller bewegen kann als im
sprechen in diesem Zusammenhang auch von „Mi-       anderen oder dass Raum und Zeit je nach Medium
lieu“ oder „Kulturmedium“, was die Nähe zwi-        eine unterschiedliche Bedeutung haben.
schen naturwissenschaftlichen und sozialen Ver-         Solche Vergleiche sind notwendig und unver-
ständnissen von Medien deutlich werden lässt.       meidlich, da unsere Maßstäbe durch die uns be-
Den Begriffen ist gemeinsam, dass damit der Bo-     reits bekannte Medienwelt geprägt sind und wir
den oder eine Umgebung gemeint ist, auf dem und     kaum andere haben. Schwierig wird es immer
in der etwas geschieht.                             dann, wenn wir etwas nicht nur vergleichen, son-
                                                    dern als besser oder schlechter einstufen wollen.
             DER PINGUIN KENNT                      Denn die Medienwelten können nicht immer mit
                ZWEI MEDIEN                         demselben Maßstab gemessen werden. Sie folgen
                                                    unterschiedlichen Naturgesetzen. Das macht be-
Beim Pinguin können wir nun ein interessan-         sonders die Rede vom „Mehrwert digitaler Medi-
tes Phänomen beobachten. Er führt sein Leben        en“ problematisch, die gerade in pädagogischen
in zwei Medienwelten. Das Medium des Pingu-         Kreisen beliebt ist.
ins ist das Wasser, und das Medium des Pingu-           Eine zentrale Voraussetzung, um Medien-
ins ist das Land. Seine Vorfahren hatten vor über   welten nicht nur vergleichend beschreiben, son-
50 Millionen Jahren wohl sogar ein drittes Medi-    dern einen Mehrwert bewerten zu können, ist die
um: die Luft. Um den Medienbegriff von diesem       Vergleichbarkeit der Bedingungen. Bei Laborex-
Beispiel ausgehend zu abstrahieren, bezeichnen      perimenten wird das ermöglicht, indem man die
wir das Land als grünes und das Wasser als blau-    Untersuchung auf eine bestimmte Eigenschaft
es Medium.01                                        konzentriert und alle anderen Parameter stabil
    Wir können uns jetzt anschauen, wie der Pin-    hält. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die zwei
guin in seinen Medien unterwegs ist: Wie bewegt     Medien des Pinguins so unterschiedlich sind, dass
er sich? Wie steht er mit anderen Pinguinen in      vergleichbare Bedingungen nicht beziehungswei-

04
Bildung und Digitalisierung APuZ

se nur mit unsinnigen Grundannahmen herge-                          ma im Juni 2013 den Satz: „Das Internet ist für
stellt werden können. Wollte man beispielsweise                     uns alle Neuland.“ Manche, die sich bereits län-
die Geschwindigkeit des Pinguins untersuchen,                       ger mit digitalen Medien beschäftigen, belächeln
so würde man zwecks gleicher Parameter vorge-                       diese Wortwahl und weisen darauf hin, dass zahl-
ben, dass der Pinguin in beiden Medien – also so-                   reiche Formen digitaler Medien seit Jahrzehnten
wohl im Wasser als auch auf dem Land – auf dem                      existieren und für viele, insbesondere junge Men-
Boden laufen muss.                                                  schen, selbstverständlich seien.
    Die grüne Medienwelt und die blaue Medien-                          Ich halte Begriffe wie „neue Medien“ oder
welt sind aber ganz unterschiedlich. Man könnte                     „Neuland“ dagegen für hilfreich. Sie machen
sogar sagen, sie sorgen für unterschiedliche Na-                    nämlich deutlich, dass wir es nicht nur mit einer
turgesetze als Basis und Umgebung unserer Le-                       Verstärkung oder mit einer Optimierung dessen
ben. Hier steckt die fehlerhafte Grundannahme,                      zu tun haben, was schon da war, sondern tatsäch-
auf der manche vereinfachende Thesen bauen.02                       lich mit etwas Neuem, mit etwas grundlegend
Sie gehen irrtümlich von einer statischen Welt                      Anderem als der alten Medienwelt. Das gilt umso
aus, in der nur ein einzelner Baustein verändert                    mehr, wenn man in Betracht zieht, dass Digitali-
wird, ohne dass diese Veränderung Wechselwir-                       sierung kein statischer Zustand ist. Die digitalen
kungen zu anderen Bausteinen hätte.                                 Medien verändern sich mit hohem Tempo und in
    Vor diesem Hintergrund kann man auch nicht                      unvorhersehbare Richtungen. Unser Thema ent-
behaupten, dass digitale Medien nur ein Werkzeug                    wickelt sich weiter, noch während wir darüber
für den Unterricht seien. Sie können die Funkti-                    nachdenken und sprechen. Die Rede von neuen
on eines Werkzeugs übernehmen, allein ihre Exis-                    Medien ist also durchaus sinnvoll.
tenz erweitert und verändert aber schon unseren                         Gehen wir einen Schritt zurück zu den Pingu-
gedanklichen Spielraum. Digitale Medien sind für                    inen, die sowohl mit dem blauen als auch mit dem
unser Leben und Lernen also nicht neutral, kein                     grünen Medium vertraut sind. Im historischen
Übertragungskanal zum Ausdruck fertiger Ge-                         Maßstab haben wir Menschen, die bisher im grü-
danken. Bereits Friedrich Nietzsche merkte in ei-                   nen Medium heimisch waren, das blaue Medium
nem Brief an seinen Freund und Mitarbeiter Hein-                    gerade erst kennengelernt. Genauer gesagt: Wir
rich Köselitz im Februar 1882, wie die Umstellung                   haben mit dem Kennenlernen eben erst begon-
von Handschrift auf das Medium der Schreibma-                       nen. Einige stürzen sich gleich kopfüber hinein in
schine seine Texte veränderte: „Sie haben Recht:                    das neue Medium, während andere zögernd am
unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedan-                    Ufer stehen und es zaghaft mit dem großen Zeh
ken. Wann werde ich es über meine Finger brin-                      austesten.
gen, einen langen Satz zu drücken!“03                                   Wie können wir uns angesichts der großen
                                                                    Ungewissheiten verhalten, mit denen wir im di-
                     KOPFÜBER INS                                   gitalen Wandel den neuen Medien gegenüberste-
                    BLAUE MEDIUM?                                   hen? Eigentlich ist schon diese Frage falsch for-
                                                                    muliert. Denn wir stehen den digitalen Medien
Wir sprechen in der Debatte über digitale Medien                    nicht gegenüber, sondern wir stehen mittendrin.
auch von den „neuen Medien“. Bundeskanzlerin                        Wir versuchen herauszufinden, wie dieses neue
Angela Merkel prägte bei einer Pressekonferenz                      Medium funktioniert und wie es sich anfühlt.
mit dem damaligen US-Präsidenten Barack Oba-
                                                                                   NEUE EINIGKEIT?

01 Vgl. Jöran Muuß-Merholz, Die Pinguin-Medienmetapher: Jöran
                                                                    Fragen zur Digitalisierung in der Bildung wurden
erklärt den Leitmedienwechsel und die Mär vom digitalen Mehrwert,
10. 9. 2018, www.joeran.de/die-pinguin-medienmetapher.
                                                                    in Deutschland lange nur am Rande oder gar nicht
02 Vgl. Manfred Spitzer, Digitale Demenz. Wie wir uns und un-       behandelt. Mittlerweile hat sich das geändert. Wir
sere Kinder um den Verstand bringen, München 2012. Siehe dazu       sehen aktuell nicht einen Hype, sondern gerade-
auch Christian Stöcker, Die Methode Spitzer, 11. 3. 2018, www.      zu eine Hysterie. Die Forderung, Bildung müsse
spiegel.de/wissenschaft/mensch/-a-1197453.html.
                                                                    digitaler werden, ist allgegenwärtig. In begrenz-
03 Friedrich Nietzsche, zit. nach Axel Krommer, Wie ein Com-
mon-Sense-Medienbegriff zu pädagogischen Fehlschlüssen führt,
                                                                    ter Hinsicht mag die Digitalisierungseuphorie be-
27. 8. 2018, axelkrommer.com/2018/08/27/wie-ein-common-             gründet sein. Mit bunten Apps mag das Lernen
sense-medienbegriff-zu-paedagogischen-fehlschluessen-fuehrt.        von Vokabeln, das Üben von Matheaufgaben oder

                                                                                                                       05
APuZ 27–28/2019

das Aneignen von Regeln der neuen Datenschutz-                   digitalen Medien an, die in den etablierten Settings
grundverordnung leichter, schneller und günsti-                  die Schwächeren sind: die Lernenden. Mit dem
ger sein, ja möglicherweise sogar Spaß machen.                   Smartphone auf beziehungsweise unter dem Tisch
Mit Erklärvideos lassen sich frontale Belehrun-                  konnten sie viele Strukturen, Routinen und Kon-
gen mehrmals wiederholen, wahlweise im halben                    trollen umgehen oder sich zunutze machen.
oder doppelten Tempo. Die Tafel kann durch Po-                        Wer heute über eine Bildungsmesse läuft, sieht
werpoint-Präsentationen mit Animationen und                      die Gegenreaktion überall auf den Werbeban-
Videos ersetzt werden. Und mit Lernplattformen                   nern. Das Versprechen lautet: Die Bildungsinsti-
lassen sich Materialien und Kommunikationspro-                   tution kann die Kontrolle zurückgewinnen. Im
zesse cloudbasiert vervielfältigen und beschleu-                 ersten Schritt sollten die alten Verhältnisse wie-
nigen. Bei Politik und Wirtschaft, Lehrer*innen                  derhergestellt werden, indem die digitalen Gerä-
und Schüler*innen, Journalist*innen und Stiftun-                 te verboten und weggesperrt werden. Mittlerwei-
gen scheint eine Konsensstimmung zu herrschen,                   le steht bereits eine zweite Stufe der Reaktion auf
dass es einem unheimlich werden kann. Das Un-                    den digitalen Kontrollverlust an. Bei dieser geht es
behagen ist begründet, denn hinter der oberfläch-                um den gegenteiligen Ansatz: Bildungsinstitutio-
lichen Digitalisierungseuphorie steckt die Vor-                  nen gewinnen die Kontrolle nicht trotz, sondern
stellung, unser traditionelles Verständnis von                   durch digitale Medien zurück. Wenn Hardware
Lehren und Lernen mit digitalen Mitteln zu op-                   und Software in der Hand der Institution oder
timieren, ohne die Grundannahmen der Bildung                     der Lehrperson liegen, dann lasse sich darüber das
anzutasten. Anders formuliert: Wir gießen den al-                Verhalten der Lernenden beobachten und steu-
ten Wein in Hightech-Schläuche.                                  ern – und zwar potenziell um Größenordnungen
    Der Umbruch ist aber von grundsätzlicher                     besser als ohne digitale Medien. Diese „Kontrol-
Natur. Das lässt sich daran erkennen, dass die gro-              le 2.0“ ist das neue große Versprechen der Digita-
ßen Fragen sich über Altersstufen und Bildungs-                  lisierungsindustrie. Die Frage allerdings bleibt, ob
bereiche hinweg gleichen. Im Bankenhochhaus in                   dies im Dienste des Lernens geschieht und nicht
Frankfurt am Main, in der nächstgelegenen Schu-                  um der Kontrolle selbst willen.
le sowie in Hoch- und Volkshochschulen stehen                         Die Progressiveren unter den Verantwortli-
die Verantwortlichen vor ähnlichen Fragen in Be-                 chen fragen sich: Wie können wir erreichen, dass
zug auf ihre Mitarbeiter*innen, Studierenden,                    die Lernenden angesichts der neuen digitalen
Kursteilnehmer*innen oder Schüler*innen. Was                     Möglichkeiten in der Lern- und Arbeitswelt mit
machen wir, wenn diese Lernenden privat eine                     mehr Selbststeuerung agieren, dass sie stärker auf
bessere technische Ausstattung haben, als wir                    Zusammenarbeit und Kreativität setzen, in einer
ihnen in den Bildungsinstitutionen bieten kön-                   unübersichtlichen Welt kritischer und souveräner
nen? Wie gehen wir damit um, dass sie lieber über                denken und handeln? Und was tun wir, wenn wir
Whatsapp kommunizieren als mit den von uns                       den Lernenden mehr Freiheit und Selbstständig-
bereitgestellten Mitteln? Wissen wir überhaupt,                  keit zugestehen, diese aber gar nicht so frei und
welche Infrastruktur im Moment bei ihnen be-                     selbstständig sein wollen, wie wir es vorgesehen
liebt ist – und was sagt der oder die Datenschutz-               hatten? Ist das alles nur eine Frage der richtigen
beauftragte dazu? Was tun wir, wenn im Internet                  Haltung? Oder haben wir mit unseren Bildungs-
tausend andere Quellen neben das von uns ange-                   organisationen den Lernenden jahrzehntelang
botene Material treten?                                          Freiheit und Selbstständigkeit ausgetrieben? Viel-
    Digitale Medien erscheinen als eine Form von                 leicht fehlt den Lernenden das richtige Rüstzeug
Kontrollverlust für alle diejenigen, die im traditi-             für das digitale Zeitalter? Aber fehlt dieses den
onellen System an den Hebeln saßen.04 Plötzlich                  Verantwortlichen selbst nicht auch? Und ist das
verfügen die Lernenden über technische Möglich-                  Ganze nur eine Frage der richtigen Medien und
keiten, die die Autorität von Institution und Lehr-              der entsprechenden Methoden? Oder braucht
personen zu untergraben drohen. In den vergan-                   es angesichts des großen Umbruchs nicht eine
genen Jahren eigneten sich zunächst diejenigen die               grundsätzliche Debatte über die Inhalte und Ziele
                                                                 von Bildung im 21. Jahrhundert?
04 Vgl. Jöran Muuß-Merholz, Schule in der Digitalen Gesell-
                                                                      Bei einem genauen Blick in die Praxis ist der
schaft: Warum wir neu lernen müssen, in: Log In. Informatische   Konsens über die Versprechungen der Digitali-
Bildung und Computer in der Schule 180/2015, S. 36–42.           sierung also doch nicht flächendeckend. An vie-

06
Bildung und Digitalisierung APuZ

len Bildungsorten gibt es eine Spaltung. Vielleicht                 den? Einiges spricht dafür. Schon jetzt sehen wir
war sie schon vorher da. Je lauter die Digitalisie-                 große Unterschiede in den Leitbildern der Bil-
rungsdebatte aber wird, desto sichtbarer und tie-                   dungseinrichtungen, im pädagogischen Selbst-
fer wird sie. Gegenüber den Befürworter*innen                       verständnis, in den Grundformen von Lehren
der digitalen Erneuerung haben sich die                             und Lernen. Es ist denkbar und wahrscheinlich,
Skeptiker*innen formiert. Sie warnen vor einem                      dass Digitalisierung diese Richtungsunterschiede
Verlust von jahrhundertealten Kulturtechniken                       noch verstärken wird.
und Werten, vor Technisierung und Kommerzi-
alisierung, einem Verlust an Menschlichkeit und                                    DIGITALISIERUNG
einer Abhängigkeit gegenüber den Maschinen.                                        ALS VERSTÄRKER
    Nun könnte aus der Auseinandersetzung
zwischen Freund*innen und Skeptiker*innen                           Der Bildungsbereich ist in Sachen Digitalisierung
der Digitalisierung eine denkbar fruchtbare De-                     spät dran. Andere gesellschaftliche Bereiche wa-
batte entstehen. Aber sie ist stattdessen denkbar                   ren da schneller – was für die Bildungsinstituti-
furchtbar. Die Positionen polarisieren sich, die                    onen ein Vorteil sein kann. Sie können von dem
Gräben weiten sich, die Vereinfacher*innen und                      profitieren, was wir in den vergangenen Jahren in
Zuspitzer*innen treten auf den Plan. Am deut-                       anderen Bereichen über digitale Medien gelernt
lichsten wird das dort, wo diejenigen betroffen                     haben. Vor zu konkreten Übertragungen muss
sind, über die man am einfachsten entscheiden                       man sich hüten, aber wir können grundsätzlich
kann: Kinder und Jugendliche. Vielen Schulen                        festhalten: Digitale Medien fungieren als extrem
ist ein hoher Stellenwert digitaler Medien zu-                      mächtige Verstärker für Vorhandenes: Wer in der
nehmend wichtig. Die Industrie sucht sogar „die                     prädigitalen Zeit gerne auf dem Sofa herumhing,
digitalste Schule“ – von Düsseldorf, von Ham-                       kann mit digitalen Medien noch besser auf dem
burg oder gleich von ganz Deutschland.05 An-                        Sofa herumhängen. Wer gerne raus in die Welt
dere Schulen definieren sich stolz darüber, eine                    geht, sich mit anderen Menschen vernetzt und
Art digitalen Schonraum zu bieten. Zahlreiche                       Neues erkundet, kann dies mit digitalen Medi-
Expert*innen bringen sich mit vorzugsweise ex-                      en noch besser tun. Wer anfällig für Manipulation
tremen Positionen in Stellung, wollen beispiels-                    und Bevormundung ist, kann mit digitalen Me-
weise das Smartphone für Kinder und Jugendli-                       dien noch besser manipuliert und bevormundet
che verbieten, wahlweise bis zum Alter von 14,                      werden. Wer die Welt kritisch hinterfragen und
16 oder 18 Jahren.06                                                gestalten möchte, kann die Welt mit digitalen Me-
    Die Polarisierung verläuft nicht nur zwischen                   dien noch besser kritisch hinterfragen und gestal-
den Schulen und anderen Bildungsorten, sondern                      ten. Wer gerne mit starker Struktur und enger
häufig mitten durch Kollegien und Teams. Es ist                     Kontrolle unterrichtet, kann mit digitalen Me-
unklar, wohin diese Spaltung uns in den nächsten                    dien noch besser mit starker Struktur und enger
Jahren führen wird. Steht uns eine stärkere Pola-                   Kontrolle unterrichten. Wer gerne Unterricht ge-
risierung bevor, mit starken Kontrasten zwischen                    meinsam mit Kolleg*innen neu entwickelt und
einzelnen Schulen oder sogar einzelnen Lehren-                      sich ständig fortbildet, findet in digitalen Medien
                                                                    hilfreiche Verstärkung.
05 Vgl. Sandro Abbate, GigaSchule: Vodafone sucht die digi-
                                                                        Was auf individueller Ebene gilt, lässt sich
talste Schule Düsseldorfs, 6. 6. 2018, www.vodafone.de/featured/    auch auf Ebene der Bildungsinstitutionen an-
inside-vodafone/gigaschule-vodafone-sucht-die-digitalste-​schule-   wenden: Eine traditionelle Bildungsinstitution,
duesseldorfs; Hamburg’s beste Schule im digitalen Wandel            die auf Lehrerzentrierung und Belehrung, isolier-
gesucht, Januar 2019, www.hk24.de/produktmarken/ausbil-
                                                                    tes Lernen und feststehende Ergebnisse hin ori-
dung-​weiterbildung/digitaler-schulpreis/4277468; Adobe sucht
Deutschlands Digitalste Schule, 19. 3. 2018, www.cobra-shop.de/​
                                                                    entiert ist, kann diese Ausrichtung mit digitalen
1181-Adobe.                                                         Medien verstärken und optimieren. Eine progres-
06 Vgl. Christian Rothenberg/Dietmar Neuerer, Internetex-           sive Bildungsinstitution, die die Lernenden stär-
pertin der Bundesregierung will Smartphone-Verbot für Kinder        ken, forschendes und problemorientiertes Lernen
unter 14 Jahren, 15. 2. 2019, www.handelsblatt.com/23991302.
                                                                    unterstützen, Perspektive und Kontext berück-
html; Jessica Balleer, Hirnforscher empfiehlt Smartphones erst ab
16 Jahren, 24. 5. 2016, rp-online.de/_aid-18103427; Rheinische
                                                                    sichtigen und Informationen sinnhaft verknüpfen
Post Digital, Forscher für Smartphone-Nutzung erst ab 18 Jahren,    will, kann ihre Ziele ebenfalls mit digitalen Medi-
21. 10. 2018, rp-online.de/_aid-33952593.                           en besser erreichen.

                                                                                                                        07
APuZ 27–28/2019

    Digitale Medien verstärken also nicht per se      alik und Bernie Trilling an und zeigen, dass die Di-
eine Richtung, sondern auch diejenigen Voraus-        mension des Wissens bedeutend bleibt, zugleich
setzungen, Interessen und Tendenzen, die uns gar      aber noch drei weitere Dimensionen wichtig
nicht bewusst sind. Was wir jetzt säen, kann durch    sind, nämlich skills (kritisches Denken, Kreativi-
sie einen Turbodünger erhalten – selbst wenn wir      tät, Kommunikation, Kollaboration), Charakter
uns der Art unserer Saat nicht ganz im Klaren         (Fragen der Persönlichkeit wie etwa Achtsamkeit
sind. Umso wichtiger ist es, dass wir Grundsatz-      und Neugier) und Meta-Lernen (Lernen über das
debatten führen. Optimieren wir nur das Ler-          Lernen).07
nen des 19. und 20. Jahrhunderts? Verhindert die          Es ist offensichtlich, dass in den traditionel-
Rede von digitaler Bildung sogar einen notwendi-      len Lernkontexten bisher vorwiegend auf die Di-
gen Paradigmenwandel? Welche Bildung wollen           mension des Wissens und hier, einem traditionel-
wir für das 21. Jahrhundert? Verstärken und opti-     len Verständnis folgend, vor allem auf Bereiche
mieren wir das, was wir schon kennen? Oder ent-       wie Mathematik, Sprachen oder Kunst gesetzt
wickeln wir mit digitaler Verstärkung neue For-       wird und die anderen Dimensionen eher rand-
men, die wir teils noch nicht gut kennen?             ständig sind. Wenn man 2019 die Diskussion um
                                                      digitale Medien in der Bildung auf die Bildungs-
               BILDUNGSZIELE                          ziele hin abklopft, findet man das Thema nur an
              UND LERNFORMEN                          den Stellen dieses Gesamtbildes verortet, die dem
                                                      traditionellen Status entsprechen. Der Fachunter-
Ein beliebtes Konzept ist ein Kurs im Um-             richt soll verbessert, die Medienkompetenz un-
gang mit digitalen Medien, an dessen Ende ein         terstützt und der Fachkräftenachwuchs gefördert
„Freischwimmer“-Zertifikat steht. Für den An-         werden – das alles möglichst digital und effizien-
fang mag das hilfreich sein. Aber die großen Fra-     ter als vorher. Von den erweiterten Bildungszie-
gen des digitalen Wandels werden wir nicht über       len ist auch oder vielleicht gerade im Kontext der
Anleitungen und Nachmachen beantworten kön-           Digitalisierung selten die Rede.
nen. Es geht vielmehr um Experimentieren und              Mit Blick auf die Lernformen zeigt die Leh-
Herausfinden, um Erkundungen und Erpro-               rerin und Fortbildnerin Lisa Rosa auf Basis der
bungen in der neuen Medienwelt. Das braucht           sich ändernden gesellschaftlichen Anforderun-
es auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene, wenn       gen, dass sich unsere Anforderungen an Schu-
wir Verständnis und Gestaltung der neuen Me-          le und Lernen im digitalen Zeitalter grundlegend
dien nicht Geheimdiensten und Großunterneh-           von dem unterscheiden, was wir im vom Buch-
men überlassen wollen. Und das gilt auf der per-      druck geprägten Zeitalter praktiziert haben.08
sönlichen Ebene, auf der wir am besten nicht nur      Was hier für das Themenfeld „Schule“ beschrie-
auf uns allein gestellt, sondern in kleinen Lernge-   ben wird, lässt sich auf andere Bildungsbereiche
meinschaften arbeiten. Unsere Bildungseinrich-        übertragen, von der Ausbildung über das Studi-
tungen können gute Orte dafür sein.                   um bis zum berufsbegleitenden Lernen (Tabelle).
    Ein Gegenbild zur bloßen Optimierung der              Die in der Mitte der Gegenüberstellung von
traditionellen Bildung setzt dabei ein neues Ver-     mir hinzugefügten wechselseitigen Pfeile weisen
ständnis von Bildungszielen und Lernformen vo-        darauf hin, dass es nicht darum geht, die Elemen-
raus. Erstere müssen auf ein umfassenderes Bil-       te der linken Seite abzuschaffen oder zu ersetzen.
dungsverständnis zielen. Bei Letzteren muss dem       Die neuen Perspektiven auf der rechten Seite ge-
Empowerment der Lernenden eine besondere              winnen an Gewicht, ergänzen und verändern un-
Bedeutung zukommen. Bildungsziele und Lern-           ser Verständnis von Lehren und Lernen.
formen stehen in direkter Wechselwirkung zuein-           Modelle für ein solches Lernen gibt es bereits.
ander, sind miteinander verflochten und nur ana-      Die rechte Seite der Gegenüberstellung spiegelt
lytisch trennbar.                                     sich heute im Selbstverständnis einiger progressi-
    Schauen wir zuerst auf die Bildungsziele. Im
Kontext des digitalen Wandels wird häufig die
                                                      07 Vgl. Charles Fadel/Maya Bialik/Bernie Trilling, Die vier Dimen-
These vertreten, dass Fachwissen zugunsten
                                                      sionen der Bildung. Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhun-
von anderen Fähigkeiten in den Hintergrund            dert lernen müssen, Hamburg 2017.
trete. Den Gegenbeweis treten die Lern- und           08 Vgl. Lisa Rosa, Lernen im digitalen Zeitalter, 28. 11. 2017, shifting​
Bildungsforscher*innen Charles Fadel, Maya Bi-        school.wordpress.com/2017/11/28/lernen-im-digitalen-zeitalter.

08
Bildung und Digitalisierung APuZ

Tabelle: Lehr- und Lernverständnis in unterschiedlichen Epochen

                               SCHULE UND LERNEN    SCHULE UND LERNEN
                                                  ↔
                            IM BUCHDRUCKZEITALTER   IM DIGITALEN ZEITALTER
                                               lehrerzentriert ↔ lernerzentriert
                                                    belehrend ↔ erforschend
                                                 systematisch ↔ problemorientiert
                                                objektivistisch ↔ perspektivisch
                                           dekontextualisiert ↔ kontextualisiert
                                                          allein ↔ im Austausch
                                     festliegendes Ergebnis ↔ ergebnisoffen
                                 vorgegebene Bedeutung ↔ persönlicher Sinn
                                      Denkmodell: Büffeln ↔ Denkmodell: Rauskriegen

Quelle: Lisa Rosa, Lernen im digitalen Zeitalter, 28. 11. 2017, shiftingschool.wordpress.com/2017/11/28/lernen-im-digitalen-zeitalter,
geänderte Darstellung.

ver Bildungseinrichtungen, auch wenn ihre Wur-                          gitalisierung zum Ausgangspunkt eines pädago-
zeln teilweise auf hundert Jahre alte Konzepte                          gischen Wandels wurde, der so nicht vorgesehen
zurückgehen. Das gilt, obwohl sie häufig nicht be-                      war. Wo Pädagog*innen zeigen, dass Lernen in
sonders „digital“ im technologischen Sinne sind.                        Projekten und an Produkten anders und besser
    Gleichzeitig sehen wir zahlreiche Digitalisie-                      als in prädigitalen Zeiten funktioniert. Wo Un-
rungsbemühungen, die auf eine Stärkung der rech-                        terricht durch digitale Medien stärker auf Selbst-
ten Seite der Gegenüberstellung zielen. Es ist nicht                    bestimmung und Zusammenarbeit aufbaut.09
so, dass mit zunehmender Digitalisierung automa-                        Gleichzeitig erleben wir die Entstehung digi-
tisch mehr progressive Pädagogik Einzug in die                          tal optimierter Kontrollsettings, in denen jeder
Bildung hält. Im Moment sieht es eher nach dem                          Schritt überwacht und überprüft werden kann.
Gegenteil aus: Mit neuen Medien werden alte Pä-                             Die Gräben zwischen den Befürworter*innen
dagogiken optimiert. Mehr Input, mehr Übung im                          und den Skeptiker*innen der Digitalisierung in
traditionellen Sinne. Mehr Dekontextualisierung,                        der Bildung ist nicht identisch mit dem Verständ-
mehr Lernen allein, mit festliegendem Ergebnis,                         nis von Bildung für das 21. Jahrhundert, die die
mit vorgegebener Bedeutung. Wir optimieren und                          Akteure haben. Die Fronten laufen quer dazu.
stärken das, was Lehren und Lernen im Buch-                             Es gibt also zwei Spaltungen, entsprechend las-
druckzeitalter ausgemacht hat.                                          sen sich vier Positionen kategorisieren: Erstens
                                                                        die Befürworter*innen der Digitalisierung, die
                POLARISIERUNG ODER                                      das Lernen einem traditionellen Bildungsver-
                  VERSÖHNUNG?                                           ständnis entsprechend optimieren wollen. Zwei-
                                                                        tens die Befürworter*innen der Digitalisierung,
Digitale Medien können ein Katalysator für pro-                         die ein neues Bildungsverständnis unterstützen
gressive Pädagogik und Empowerment, erwei-                              und teils erst entwickeln wollen. Drittens die
terte Bildungsziele und neue Lernformen sein.                           Gegner*innen der Digitalisierung, die darin eine
Sie können als omnipotente Kontrollmaschine(n)                          Bedrohung der traditionellen Bildung sehen und
aber ebenso ein traditionelles Verständnis von                          viertens die Gegner*innen der Digitalisierung,
Lernen und Bildung verstärken. Schaut man auf                           die ein neues Bildungsverständnis unterstützen
die aktuelle Praxis, so finden sich Belege für beide                    und teils erst entwickeln wollen.
Richtungen: Es gibt Praxisgeschichten von Lern-
orten, an denen digitale Medien als Katalysator                         09 Vgl. Jöran Muuß-Merholz, Digitale Schule. Was heute schon
dienten. Wo Schulleiter*innen berichten, dass Di-                       im Unterricht geht, Hamburg 2019.

                                                                                                                                         09
APuZ 27–28/2019

    Selbstverständlich ist das zu dichotomisch, zu      Effizienzdividende aus dem optimierten Lehren.
sehr in „Entweder oder“-Mustern gedacht, um der         Lernende und Lehrende haben begrenzte Res-
komplexen Wirklichkeit gerecht zu werden. Sicher        sourcen. Es ist hilfreich, wenn sie weniger da-
gibt es auch „Sowohl als auch“-Antworten, in de-        von darauf verwenden müssen, etwas zu üben
nen die Möglichkeiten der digitalen Medien zur Op-      oder Geübtes zu kontrollieren. Die größere He-
timierung des Lehrens eingesetzt und zugleich neue      rausforderung besteht darin, dass wir progressive
Formen erprobt und ausgedehnt werden. Vielleicht        Formen für die erweiterten Lehr- und Lernzie-
lassen sich beide Perspektiven miteinander versöh-      le entwickeln müssen, während wir gleichzeitig
nen. Möglicherweise ist dieses „Sowohl als auch“        eine neue Medienwelt zu erkunden haben. Da-
stärker als eine Versöhnung, und es braucht bei-        für braucht es nicht nur einen großen Verstärker,
des zusammen, um die Bildungsziele des 21. Jahr-        sondern auch die richtige Ausrichtung. Ein Zu-
hunderts angehen zu können. Denn diese sind so          sammenspiel aus verschiedenen Richtungen bei
umfassend und anspruchsvoll, dass weder der eine        gleichzeitiger Verstärkung ist nicht einfach, aber
noch der andere Ansatz allein ausreichen wird. Mit      wichtig.
optimierten Lehrangeboten lassen sich vielleicht
die traditionellen Bereiche schneller und effizienter   JÖRAN MUU ẞ -MERHOLZ
bearbeiten, aber sicher keine skills wie Kreativität    ist Diplom-Pädagoge und Gründer der Agentur
oder kritisches Denken und keine Charaktereigen-        J&K – Jöran und Konsorten. Er arbeitet an den
schaft wie Neugier fördern. Dafür braucht es die        Schnittstellen zwischen Bildung und Lernen und
neuen pädagogischen Formen.                             publiziert schwerpunktmäßig zum Lernen in der
    Wenn wir die Bildungsziele des 21. Jahrhun-         digitalen Welt.
derts ernst nehmen, brauchen wir eine digitale          buero@joeran.de

        Politisch, aktuell
        und digital
         APuZ – auch im ePub-Format
         für Ihren E-Reader. Kostenfrei auf
         www.bpb.de/apuz

10
Bildung und Digitalisierung APuZ

                       „DIGITALPAKT SCHULE“
       Föderale Kulturhoheit zulasten der Zukunftsfähigkeit
                      des Bildungswesens?
                                         Henrik Scheller

Im März 2019 verabschiedeten Bundestag und           Selbst wenn Möglichkeiten und Anwendungs-
Bundesrat eine Grundgesetzreform, mit der der        felder dieser Technologien in ihrer transformati-
Weg für den „Digitalpakt Schule“ freigemacht         ven Wirkung nach wie vor kaum zu überblicken
wurde. Der Bund stellt damit den Ländern von         sind und durchaus wachsenden gesellschaftlichen
2019 bis 2022 fünf Milliarden Euro für „gesamt-      Vorbehalten begegnen, wird die politische Kom-
staatlich bedeutsame Investitionen zur Steigerung    munikation zum Thema Digitalisierung durch das
der Leistungsfähigkeit der digitalen kommuna-        Narrativ einer unaufhaltsamen Entwicklungsdy-
len Bildungsinfrastruktur“ zur Verfügung.01 Die      namik dominiert. Auch deshalb sahen viele Kriti-
mediale Berichterstattung über den Bund-Län-         ker in der Auseinandersetzung um die vom Bund
der-Streit zu dieser Vereinbarung bildete einen      in Aussicht gestellten Digitalpakt-Mittel einen
weiteren Höhepunkt in einer seit Langem hoch         weiteren Beleg für die Technologiefeindlichkeit
aufgeladenen Debatte über reale und vermeint-        und mangelnde Innovations- und Reformfähig-
liche Defizite des deutschen Bildungssystems.        keit des deutschen Föderalismus. Diese Kritik hat
Große Aufmerksamkeit ist solchen bildungspoli-       eine lange Tradition: Ursachen für unzulängliche
tischen Kontroversen stets gewiss, da sie – selbst   politische Kompromisse und selbst vermeintliche
wenn es sich im Kern um technische oder haus-        Wachstumsschwächen werden immer wieder in
halterische Fragen handelt – häufig mit Verweisen    der bundesstaatlichen Ordnung ausgemacht. Ins-
auf eine Verbesserung individueller Teilhabe- und    besondere der Bildungsföderalismus hat in öffent-
Chancengerechtigkeit verknüpft werden. Zu den        lichen Umfragen einen schlechten Leumund, da
hinlänglich bekannten Schwächen des deutschen        sich regelmäßig klare Mehrheiten der Bevölkerung
Bildungssystems zählt dabei der Konnex zwi-          gegen die Kulturhoheit und entsprechende Kom-
schen sozialer Herkunft und individuellem Bil-       petenzen der Länder aussprechen.02
dungserfolg. Hinzu kommen Personalengpässe               Ohne nicht auch gewisse Defizite in der fö-
und erhebliche Investitionsrückstände der Kom-       deralen Struktur der Bundesrepublik herauszu-
munen im Bereich der Schulgebäude und Kinder-        arbeiten, soll im Folgenden mit zwei analyse-
betreuungseinrichtungen.                             leitenden Thesen eine etwas andere Perspektive
     Diese Mischung aus Bildungsinnovation, in-      entwickelt werden: Die Digitalisierung der Ge-
dividuellen Betroffenheiten, Investitionsdefiziten   sellschaft im Allgemeinen und des Bildungswe-
der Vergangenheit und politischem Verhandlungs-      sens im Besonderen gestaltet sich erstens nicht
verlauf lieferte Medien und Verbänden eine gerade-   aufgrund von föderalen Strukturen, sondern auf-
zu ideale Vorlage. Denn gemeinhin gilt die Digita-   grund ihrer transformativen Dimension und ih-
lisierung als zukunftsweisendes Fortschrittsthema,   rer nur schwer vorhersehbaren gesellschaftlichen
bei dem sich die Bundesrepublik im globalen          Auswirkungen als erratischer Suchprozess von
Wettbewerb positionieren müsse. Künstlicher In-      Politik und Verwaltungen. Dieser Prozess gestal-
telligenz und Robotik, autonomen Fahrzeug-           tet sich umso schwieriger, da es an rechtlichen,
technologien sowie Virtual-Reality-Anwendun-         institutionellen und personellen Strukturen zur
gen wird ein Marktpotenzial zugeschrieben, das       gesellschafts- und ebenenübergreifenden Ausein-
in Zukunft einen wichtigen Beitrag zur Sicherung     andersetzung mit technischen Innovationen die-
von Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätzen und in-      ser Art fehlt. Ein Abbau bestehender Defizite im
ternationaler Konkurrenzfähigkeit leisten wird.      deutschen Bildungssystem kann zweitens nicht al-

                                                                                                        11
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lein durch eine (technische) Modernisierung von                     abgesehen von wenigen Ausnahmen im Hoch-
Infrastrukturen, sondern nur in Gestalt von inte-                   schulbereich, keine expliziten Hinweise auf die
grativen Policy-Ansätzen aus Konzepten, Perso-                      Kultur- und Bildungspolitik finden, zählen beide
nal und Infrastrukturen gelingen. Erst die Kultur-                  Politikfelder zur ausschließlichen Regelungsmate-
hoheit der Länder – verstanden als ganzheitliche                    rie der Länder. Zum Schutz dieser ländereigenen
und umfassende Kompetenz für das Bildungswe-                        Kulturhoheit wurde mit der Föderalismusreform I
sen – ermöglicht die Entwicklung solcher Ansätze                    von 2006 das sogenannte Kooperationsverbot im
und deren notwendigen Zuschnitt auf die spezifi-                    Grundgesetz verankert. So kann der Bund nach
schen Bedarfe der lokalen beziehungsweise regio-                    Art. 104b GG „den Ländern Finanzhilfen für be-
nalen Bildungslandschaften. Um die eigentlichen                     sonders bedeutsame Investitionen der Länder und
Schwächen von Finanzprogrammen wie dem Di-                          der Gemeinden (Gemeindeverbände)“ nur ge-
gitalpakt in Zukunft zu umgehen, muss allerdings                    währen, „soweit dieses Grundgesetz ihm Gesetz­
die Kulturhoheit durch eine adäquate Finanzaus-                     gebungsbefugnisse verleiht“. Ein finanzielles En-
stattung unterlegt und gestärkt werden.                             gagement des Bundes in Politikfeldern, die im
                                                                    ausschließlichen Kompetenzbereich der Länder
               KULTURHOHEIT                                         liegen, sollte so ausgeschlossen werden.
        UND KOOPERATIONSVERBOT                                          Das Kooperationsverbot geriet bereits kurz
      VERSUS FISKALISCHE DISPARITÄTEN                               nach seiner Einführung in die Kritik, da die fiska-
                                                                    lischen Disparitäten zwischen den Ländern einer-
In der hitzigen Debatte über den Digitalpakt ge-                    seits und den Kommunen andererseits seit Jah-
riet einmal mehr die Kulturhoheit der Länder ins                    ren zu groß sind. So ist beispielsweise Hamburgs
Kreuzfeuer der Kritik. Schon der frühere Staats-                    originäre Finanzkraft pro Kopf – ohne jeden Fi-
minister für Kultur und Medien beim Bundes-                         nanzausgleich zwischen Bund und Ländern – fast
kanzler, Michael Naumann (SPD), hatte diese einst                   dreimal so hoch wie die der ostdeutschen Bun-
spöttisch als „Verfassungsfolklore“ bezeichnet                      desländer. Auch Bayern, Baden-Württemberg
und mit dieser Abwertung mehr Zentralismus im                       und Hessen liegen deutlich über dem Durch-
Bundesstaat gerechtfertigt.03 Tatsächlich handelt                   schnitt aller anderen Bundesländer. Nicht um-
es sich bei der Kulturhoheit der Länder, die de-                    sonst haben sich in den vergangenen Jahren die
ren Zuständigkeit für die Bildung begründet, um                     Auseinandersetzungen über den Bund-Länder-
ein verfassungstheoretisches Abstraktum. Denn                       Finanzausgleich massiv verschärft. Da sich die
im Grundgesetz selbst findet sich der Terminus                      finanzstärkeren Länder zunehmend gegen ho-
nicht. Vielmehr ergibt sich die Hoheitsfunktion                     rizontale Ausgleichszuweisungen an die finanz-
aus der grundlegenden Zuständigkeitsvermutung                       schwächeren Länder wehren, muss verstärkt der
des Grundgesetzes, wonach den Ländern gemäß                         Bund einspringen. Auch von der jüngsten Fi-
Art. 30 GG „die Ausübung der staatlichen Befug-                     nanzausgleichsreform von 2017 werden deshalb
nisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben“                   perspektivisch Vertikalisierungswirkungen für
zukommt, „soweit dieses Grundgesetz keine an-                       den deutschen Föderalismus erwartet. Denn vie-
dere Regelung trifft oder zulässt“. Da sich in den                  le ausgleichswirksame Finanzströme werden in-
Katalogen zur ausschließlichen und konkurrieren-                    zwischen außerhalb des Bund-Länder-Finanz-
den Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 ff. GG),                       ausgleichs in Investitionsprogrammen wie dem
                                                                    Digitalpakt abgewickelt. Ein Schwerpunkt die-
                                                                    ser Programme liegt dabei erkennbar im Bil-
01 Verwaltungsvereinbarung „DigitalPakt Schule 2019 bis             dungsbereich. Dazu zählen das Sondervermö-
2024“, Entwurf vom 11. 3. 2019, www.bmbf.de/files/2019-03-15_​
                                                                    gen Kinderbetreuungsausbau mit 4,4 Milliarden,
018%20Anlage%20Verwaltungsvereinbarung%20Start%20Digital​
Pakt.pdf, S. 1.
                                                                    das Kommunalinvestitionsförderungsgesetz mit
02 Vgl. stellvertretend Yougov, Umfrage Bildungskonzept SPD,        7 Milliarden, das Kita-Qualitäts- und Teilhabever-
1. 9. 2017, yougov.de/ergebnisse/bildungskonzept; Bertelsmann       besserungsgesetz mit 5,5 Milliarden, der Rechts-
Stiftung, Bürger und Föderalismus. Eine Umfrage zur Rolle der       anspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschul-
Bundesländer, Gütersloh 2008; Institut für Demoskopie Allens-
                                                                    alter mit 2 Milliarden und die Hochschulpakte
bach, Aktuelle Fragen der Schulpolitik und das Bild der Lehrer in
Deutschland, Allensbach 2010.
                                                                    mit insgesamt rund 20,2 Milliarden Euro.
03 Michael Naumann, Zentralismus schadet nicht, 2. 11. 2000,            Fiskalische Disparitäten bestehen aber auch
www.zeit.de/2000/45/Zentralismus_schadet_nicht/komplettansicht.     zwischen den Kommunen. So war die Gesamtheit

12
Bildung und Digitalisierung APuZ

aller Kommunen Ende 2017 mit knapp 270 Milli-                   Jahre angelegtes Investitionsprogramm des Bun-
arden Euro beim nicht-öffentlichen Bereich ver-                 des skizziert, mit dem Schulen und Schulträger bei
schuldet, obwohl die Einnahmen aller drei ge-                   der Finanzierung der notwendigen Infrastruktu-
bietskörperschaftlichen Ebenen einschließlich                   ren unterstützt werden könnten.07
der Kommunen im Aggregat in den vergangenen                         Schon vorher wurde die Debatte zu den gesell-
Jahren beständig gestiegen sind und sogar Über-                 schaftlichen Implikationen des Internets immer
schüsse in Höhe von 10,7 Milliarden Euro erziel-                wieder auf Bundesebene vorangetrieben. Aller-
ten.04 Allerdings bestehen zwischen den aggre-                  dings wurde die bildungspolitische Relevanz der
gierten Schuldenständen der Kommunen sowie                      Digitalisierung als einem der einflussreichsten ge-
der Nettokreditaufnahme in den 13 Flächenlän-                   sellschaftlichen Entwicklungstrends in der Bun-
dern nach wie vor große Differenzen. So bewegte                 desrepublik erst rund 20 Jahre nach Öffnung des
sich die Spanne bei den durchschnittlichen Kre-                 Internets zur allgemeinen kommerziellen Nutzung
ditmarktschulden pro Kopf der kommunalen                        Anfang der 1990er Jahre aktiv von der Politik pro-
Kernhaushalte Ende 2017 zwischen 17 753 Euro                    blematisiert. So erfolgte mit der Enquete-Kom-
bei den saarländischen und 1142 Euro bei den                    mission des Deutschen Bundestages „Internet und
sächsischen Landkreisen, Städten und Gemein-                    digitale Gesellschaft“ von 2010 bis 2013 nicht nur
den. Der wahrgenommene Investitionsrück-                        eine intensive parlamentarische Auseinanderset-
stand der Kommunen betrug deutschlandweit                       zung mit dem Thema. Letztlich wurde durch die
allein 2017 rund 159 Milliarden Euro – davon                    Kommissionsarbeit auch erst die Herausbildung
etwa 47 Milliarden Euro im Bildungsbereich so-                  des neuen Politikfeldes „Netzpolitik“ in der Bun-
wie mehr als 15 Milliarden Euro in den bildungs-                desrepublik forciert.08 Im März 2015 forderten die
relevanten Bereichen „Kinderbetreuung“ sowie                    Fraktionen der Großen Koalition die Bundesre-
„Sportstätten und Bäder“.05 Dieses Ausmaß gibt                  gierung auf, „bei der gemeinsamen Entwicklung
nicht nur Hinweise auf die vielerorts überalter-                und Umsetzung der Strategie ‚Digitales Lernen‘
ten Infrastrukturen, sondern auch auf die Haus-                 in Zusammenarbeit mit den Ländern und Akteu-
haltsengpässe vieler Kommunen.                                  ren aus allen Bildungsbereichen“ eine Reihe expli-
                                                                zit genannter Schwerpunkte zu setzen. Außerdem
               VORGESCHICHTE DES                                sollte sich der Bund „bei den Bundesländern und
                  DIGITALPAKTS                                  der Kultusministerkonferenz“ dafür einsetzen,
                                                                dass diese untereinander einen Ziel- und Maßnah-
Anfang Oktober 2016 kündigte die damalige Bun-                  menkatalog „verbindlich, beispielsweise in einem
desbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) die                   Länderstaatsvertrag, vereinbaren“.09
Bereitschaft des Bundes zu einer milliardenschwe-                   Nachdem der Bund im Oktober 2016 seine
ren Investitionsoffensive in die digitalen Bildungs-            Strategie „Bildungsoffensive für die digitale Wis-
infrastrukturen von Ländern und Kommunen an.                    sensgesellschaft“ präsentiert hatte, folgte zwei Mo-
Im Gegenzug sollten die Länder die Entwicklung                  nate später die Kultusministerkonferenz (KMK)
von pädagogischen Konzepten sowie die Finan-                    mit ihrer Strategie „Bildung in der digitalen Welt“.
zierung entsprechender Aus- und Fortbildungs-                   Hatten gesellschaftliche und schulische Implika-
programme für die Lehrkräfte übernehmen.06 Den                  tionen der Digitalisierung in Beschlüssen der
Hintergrund dafür bildete die Strategie „Bildungs­              KMK in den Jahren zuvor nur punktuelle Erwäh-
offensive für die digitale Wissensgesellschaft“ des             nung gefunden,10 definierten die Kultusminister
Bundesministeriums für Bildung und Forschung                    nun auf Grundlage einer Bestandsaufnahme von
(BMBF). Unter der Überschrift „DigitalPakt#D“                   sechs Handlungsfeldern (Bildungspläne und Un-
wurde darin ausführlich ein mögliches, auf fünf                 terrichtsentwicklung, curriculare Entwicklungen;

04 Vgl. Statistisches Bundesamt, Kommunale Pro-Kopf-Verschul-   07 Vgl. BMBF, Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesell-
dung 2017 zeigt große Unterschiede, Pressemitteilung Nr. 462,   schaft, Berlin 2016.
28. 11. 2018.                                                   08 Vgl. Julia Krüger, Das digitale Phänomen, Berlin 2016, S. 17;
05 Vgl. Elisabeth Krone/Henrik Scheller, KfW-Kommunalpanel      Joachim Betz/Hans-Dieter Kübler, Internet Governance, Wiesba-
2018, Frank­furt/M. 2018, S. 12.                                den 2013, S. 54.
06 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF),     09 BT-Drucksache (BT-Drs.) 18/4422, 24. 3. 2015.
Wanka: Deutschlands Schulen fit machen für die digitale Welt,   10 Vgl. Kultusministerkonferenz (KMK), Medienbildung in der
Pressemitteilung, 10. 10. 2016.                                 Schule, Berlin 2012.

                                                                                                                              13
APuZ 27–28/2019

Aus-, Fort- und Weiterbildung von Erziehenden                         Gesetzgebungsverfahren eine breite Kontrover-
und Lehrenden; Infrastruktur und Ausstattung;                         se. Denn faktisch wurde mit dem neuen Art. 104c
Bildungsmedien, Content; E-Government, Schul-                         GG das mit der Föderalismusreform I geschaffe-
verwaltungsprogramme, Bildungs- und Campus-                           ne Kooperationsverbot zwischen Bund und Län-
managementsysteme; rechtliche und funktionale                         dern wieder ausgehebelt. Mit Blick auf den vom
Rahmenbedingungen) zentrale „Kompetenzen in                           Bund formulierten Anspruch, mit dem Digitalpakt
der digitalen Welt“.11 Dem Empfehlungscharakter                       Schulen und Schulträger flächendeckend im Digi-
von KMK-Beschlüssen folgend, die grundsätzlich                        talisierungsprozess mit Infrastrukturinvestitionen
im Konsens zwischen den Ländern erzielt wer-                          unterstützen zu wollen, erwies sich allerdings die
den müssen, ohne eine rechtsverbindliche Um-                          Fokussierung des Artikels auf ausschließlich „fi-
setzungspflicht zu begründen, blieb die Strategie                     nanzschwache Kommunen“ als nicht kompatibel.
mit Blick auf konkrete Umsetzungsmaßnahmen,                           Denn so wäre der Adressatenkreis entsprechender
den Finanzierungsrahmen sowie Verpflichtungen                         Zuweisungen von vornherein sehr begrenzt und
der einzelnen Länder jedoch vergleichsweise of-                       regional konzentriert worden.
fen.12 Am weitreichendsten war für die Länder                              Keine zwei Jahre nach Einführung des
noch das Ziel formuliert, „dass alle Schülerinnen                     Art. 104c GG schlug der Bund daher im Novem-
und Schüler, die zum Schuljahr 2018/2019 in die                       ber 2018 vor, den Terminus wieder aus der Verfas-
Grundschule eingeschult werden oder in die Se-                        sung zu streichen. Dieses Ansinnen rief den Wi-
kundarstufe I eintreten, bis zum Ende der Pflicht-                    derstand der Länder auf den Plan, die der Reform
schulzeit“ die mit der KMK-Strategie „formu-                          2017 nur zähneknirschend zugestimmt hatten –
lierten Kompetenzen“ erwerben können.13 Diese                         zumal der Haushaltsausschuss des Bundestages
Selbstverpflichtung soll bis 2026 umgesetzt wer-                      die Regierungsvorlage zur Grundgesetzreform
den. Mit Rücksicht auf die Kultur-, Verwaltungs-                      zuvor deutlich zulasten der Länder verschärft
und Organisationshoheit der Länder enthält sich                       hatte. Denn nahezu fraktionsübergreifend hat-
die KMK-Strategie allerdings vergleichbarer Vor-                      ten sich die Haushaltspolitiker darauf verständigt,
gaben zu finanzwirksamen Fragen des digitalen                         dass im Gegenzug zu einer Streichung des Tatbe-
Personal- und Infrastrukturausbaus. Gleichwohl                        standes der „Finanzschwäche“ die Investitionshil-
finden sich Überlegungen zu einer „Finanzierung                       fen des Bundes nur unter Anwendung des „Zu-
über ein Investitionsprogramm des Bundes“.14                          sätzlichkeitsprinzips“ gewährt werden dürften
    Die Digitalpakt-Verhandlungen selbst gerieten                     und daher die „Mittel des Bundes (…) in jeweils
infolge des Bundestagswahlkampfes 2017 und der                        mindestens gleicher Höhe durch Landesmittel
langwierigen Regierungsneubildung ins Stocken.                        für den entsprechenden Investitionsbereich zu
Dennoch verabschiedeten Bund und Länder eine                          ergänzen“ wären.15 Diese Maßgabe hätte wiede-
Finanzausgleichsreform. Dazu zählte eine Ergän-                       rum all die Länder und Kommunen benachteiligt,
zung des Kommunalinvestitionsförderungsgeset-                         die nicht über hinreichende Eigenmittel für eine
zes um ein gänzlich neues Kapitel, das zusätzliche                    gleichwertige Gegenfinanzierung verfügt hätten.
3,5 Milliarden Euro für Finanzhilfen zur Verbes-                      Vor diesem Hintergrund stimmten die Bundes-
serung der Schulinfrastruktur finanzschwacher                         länder im Dezember 2018 geschlossen gegen die
Kommunen nach Art. 104c GG vorsieht. Damit                            Vorlage des Bundestages und riefen den Vermitt-
fand der Tatbestand der „Finanzschwäche“ Ein-                         lungsausschuss an. Wohl nicht zuletzt aufgrund
gang in das Grundgesetz. Nicht nur über diesen                        des öffentlichen Drucks kam dieser nach nur zwei
neuen Verteilungsmaßstab, sondern vor allem auch                      Sitzungen im Februar 2019 zu einer Einigung. Das
über den weitreichenden Eingriff des Bundes in die                    Zusätzlichkeitskriterium wurde dabei durch fol-
Kulturhoheit der Länder, entspann sich bereits im                     gende Formulierung für Art. 104b Abs. 2 GG ent-
                                                                      schärft: „Die Mittel des Bundes werden zusätzlich
11 KMK, Bildung in der digitalen Welt, Berlin 2016, S. 9, S. 16–19.   zu eigenen Mitteln der Länder bereitgestellt.“16
12 Ebd., S. 15. Vgl. auch Henrik Scheller, Der deutsche Bildungs-          Auf dieser Basis konnten Bund und Län-
föderalismus im Spannungsfeld zwischen föderalem Kompetenz-           der den bereits zuvor vollständig ausgehandel-
streit und europäischer Harmonisierung, in: Klaus Detterbeck/
                                                                      ten Digitalpakt mit leichten Modifizierungen un-
Wolfgang Renzsch/Stefan Schieren (Hrsg.), Föderalismus in
Deutschland, München 2010, S. 230.
13 KMK (Anm. 11), S. 18.                                              15 BT-Drs. 19/6144, 28. 11. 2018.
14 Ebd., S. 41.                                                       16 BT-Drs. 19/7940, 20. 2. 2019.

14
Bildung und Digitalisierung APuZ

terzeichnen. Die Verwaltungsvereinbarung (VV)                     Drittel nach der Bevölkerungszahl richtet, er-
sieht im Wesentlichen sechs Fördergegenstände                     folgt die Weiterleitung an die jeweiligen Kommu-
vor. Diese umfassen den Aufbau oder die Verbes-                   nen und Schulträger in einem wettbewerblichen
serung digitaler Infrastrukturen und Vernetzung                   Antragsverfahren. Hierzu müssen zunächst Län-
in Schulgebäuden und auf dem Schulgelände,                        derprogramme mit Kriterien und Verfahren zur
den Aufbau und die Weiterentwicklung digitaler                    Bewertung und Begutachtung von Anträgen der
Lehr- und Lerninfrastrukturen sowie Investitio-                   Schulträger aufgesetzt werden (§ 5 Abs. 1 VV).
nen in digitale Anzeige-, Interaktions-, Arbeits-                     Dabei sollen die Mittel aus dem Digitalpakt
und Endgeräte.17 Darüber hinaus sind Investiti-                   nur für die digitale Infrastruktur und Vernet-
onen in regionale und landesweite Einrichtungen                   zung in den Schulen selbst Verwendung finden.
der Lehrausbildung sowie länderübergreifende                      Eine mögliche Breitbandanbindung der Schul­
Projektvorhaben möglich – wenn sie einen un-                      stand­orte an das Glasfasernetz soll demgegen-
mittelbaren Nutzen für die Schulträger erfüllen                   über weiterhin aus Mitteln des Breitbandausbau-
und zum Erreichen der Ziele der KMK- oder der                     programms des Bundesministeriums für Verkehr
BMBF-Strategie geeignet scheinen.                                 und digitale Infrastruktur erfolgen. Dieses läuft
                                                                  seit 2017 und ist mit vier Milliarden Euro ausge-
              DIGITALPAKT-DILEMMATA                               stattet. Bereits diese Doppelstruktur begründet
                                                                  einen administrativen Mehraufwand für Kom-
Die politische und öffentliche Kontroverse über                   munen und Schulträger – zumal die Förderung
den Digitalpakt lässt sich nur umfassend würdi-                   auf Basis unterschiedlicher Rechtsgrundlagen
gen, wenn sie in den vorstehend skizzierten Kon-                  und Zuweisungsformen erfolgt. Ein grundsätzli-
text gestellt wird. Denn mit Finanzprogrammen                     ches Dilemma besteht dabei nicht nur in den ver-
wie dem Digitalpakt werden neben konkreten                        teilten Zuständigkeiten zwischen verschiedenen
investitionspolitischen Zwecksetzungen immer                      Fachministerien und den föderalen Ebenen. Viel-
auch finanzföderale Ausgleichs- und Kompensa-                     mehr fehlt dem Bund eine verlässliche Übersicht
tionsziele verfolgt.18 Die Finanzkraft-Disparitä-                 über die detaillierten Bedarfe von Ländern und
ten zwischen Ländern und Kommunen einerseits                      Kommunen, sodass er letztlich nur Programm-
und das Finanzvolumen des Digitalpakts anderer-                   pauschalen zur Verfügung stellen kann.19
seits offenbaren dabei bereits eine grundlegende                      Dilemmata ergeben sich nicht nur aus der Dis-
Diskrepanz: Vielen Kommunen fehlen seit Lan-                      krepanz zwischen realen Investitionsbedarfen
gem die Ressourcen für notwendige Schulsanie-                     und zur Verfügung gestellten Ressourcen. Weil
rungen und -erweiterungen. Ein fünf Milliarden                    der Bund mit Programmen wie dem Digitalpakt
Euro umfassendes Investitionsprogramm über                        grundsätzlich nur investive Maßnahmen von Län-
fünf Jahre für eine Technologie mit extrem kur-                   dern und deren Kommunen fördern darf, ist die
zen Innovationszyklen, hohen Folgekosten und                      Übernahme von etwaigen Personalkosten eigent-
komplexen technischen und datenschutzrecht-                       lich nicht zulässig. Da die mit dem Digitalpakt in-
lichen Anforderungen kann daher letztlich im-                     tendierte Digitalisierung des Bildungswesens ange-
mer nur eine Anschubfinanzierung bleiben. Aus-                    sichts der sozialen und technologischen Tragweite
gehend von den rund 40 000 allgemeinbildenden                     einer umfassenden pädagogisch-konzeptionellen
Schulen in Deutschland bleiben für jede Schule                    Einbettung in den schulischen Fächerkanon bedarf,
nur rund 137 000 Euro. Die Zuweisung der Mittel                   ergibt sich hieraus ein weiteres Dilemma: Für das
erfolgt dabei allerdings nicht gleichmäßig auf alle               kostenintensive Personal, das erforderlich ist, um
Schulen. Während die Verteilung der Gesamt-                       dem „Primat des Pädagogischen“ zu seiner Bedeu-
summe auf die Länder nach dem Königsteiner                        tung zu verhelfen, müssen Länder und Kommu-
Schlüssel berechnet wurde, der sich zu zwei Drit-                 nen aufkommen, die in ihrer Haushaltswirtschaft
teln nach dem Steueraufkommen und zu einem                        – nicht zuletzt im Vorgriff auf die ab 2020 vollstän-
                                                                  dig wirksam werdende Schuldenbremse – deutlich
                                                                  eingeschränkter sind und in den vergangenen Jah-
17 Vgl. Verwaltungsvereinbarung „DigitalPakt Schule 2019 bis
                                                                  ren eher vorsichtig bei Personaleinstellungen agie-
2024“ (Anm. 1), S. 3 ff.
18 So heißt es selbst in § 8 Abs. 4 der Verwaltungsvereinbarung
                                                                  ren mussten. Die Folgen erweisen sich inzwischen
„DigitalPakt Schule 2019 bis 2024“ (Anm. 1.), S. 8: „Die Länder
ermöglichen die Teilnahme finanzschwacher Kommunen“.              19 Vgl. BT-Drs. 19/2372, 29. 5. 2018, S. 2.

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