AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - BILDUNG UND DIGITALISIERUNG - BPB
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69. Jahrgang, 27–28/2019, 1. Juli 2019 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Bildung und Digitalisierung Jöran Muuß-Merholz Harald Gapski DER GRO ẞ E VERSTÄRKER. MEHR ALS DIGITALKOMPETENZ. SPALTET DIE DIGITALISIERUNG BILDUNG UND BIG DATA DIE BILDUNGSWELT? Niels Brüggen Henrik Scheller BILDUNG DER JUGEND „DIGITALPAKT SCHULE“. FÜR DEN DIGITALEN WANDEL FÖDERALE KULTURHOHEIT Helen Knauf ZULASTEN DER POTENZIALE UND RISIKEN ZUKUNFTSFÄHIGKEIT VON DIGITALISIERUNG IN DES BILDUNGSWESENS? KINDERTAGESEINRICHTUNGEN Felicitas Macgilchrist Annabell Bils · Heike Brand · DIGITALE BILDUNGSMEDIEN Ada Pellert IM DISKURS HOCHSCHULE(N) IM DIGITALEN WANDEL ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Bildung und Digitalisierung APuZ 27–28/2019 JÖRAN MUU ẞ-MERHOLZ NIELS BRÜGGEN DER GRO ẞ E VERSTÄRKER. SPALTET DIE BILDUNG DER JUGEND FÜR DEN DIGITALEN DIGITALISIERUNG DIE BILDUNGSWELT? WANDEL Digitale Medien können ein Katalysator für Medienkompetenz ist besonders im lebensweltli- progressive Pädagogik sein oder ein traditionelles chen Umgang mit digitalen Medien gefordert. Für Bildungsverständnis verstärken. Für die Bildung die Bildungsarbeit ist nicht nur nach der Bedeu- des 21. Jahrhunderts braucht es aber neben einem tung digitaler Kommunikation, sondern auch nach mächtigen Verstärker vor allem eine Verständi- den Wechselwirkungen gesellschaftlicher und gung über die richtige Ausrichtung. technologischer Entwicklungen zu fragen. Seite 04–10 Seite 30–35 HENRIK SCHELLER HELEN KNAUF „DIGITALPAKT SCHULE“. POTENZIALE UND RISIKEN FÖDERALE KULTURHOHEIT ZULASTEN DER VON DIGITALIS IER UNG ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DES BILDUNGSWESENS? IN KINDERTAGESEINRICHTUNGEN Der Streit über den Digitalpakt verweist auf Digitalisierung hat das Potenzial, die pädagogische eine Schieflage in der Bildungsfinanzierung der Arbeit in Kindertageseinrichtungen grundlegend Bundesrepublik. Investitionsprogramme des Bun- zu verändern. Der digitale Wandel umfasst dabei des sind stets mit Eingriffen in die Kulturhoheit wesentlich mehr als die medienpädagogische der Länder verbunden, das eigentliche Problem Arbeit mit Kindern und bietet Potenziale und ist jedoch das Fehlen von Bildungspersonal. Risiken teils da, wo man sie nicht vermutet. Seite 11–17 Seite 36–41 FELICITAS MACGILCHRIST ANNABELL BILS · HEIKE BRAND · ADA PELLERT DIGITALE BILDUNGSMEDIEN IM DISKURS HOCHSCHULE(N) IM DIGITALEN WANDEL Zwei Wertesysteme ringen aktuell um die Frage, Die Digitalisierung hat an den Hochschulen bis- wie und von wem Bildung in der digital vernetz- lang kaum zu großen strategischen Änderungen in ten Welt strukturiert und gestaltet werden soll. der Bildung geführt. Um auch jenseits bestehender Der Diskurs bewegt sich zwischen den Lesarten, Lehr- und Lernformate agieren zu können, sind man könne auf die Digitalisierung nur reagieren, Experimentalräume und Forschungsinitiativen zur den digitalen Wandel dagegen gestalten. Gestaltung der Lehre essenziell. Seite 18–23 Seite 42–46 HARALD GAPSKI MEHR ALS DIGITALKOMPETENZ. BILDUNG UND BIG DATA Bildung in der digitalen Transformation sollte dem Menschen helfen, sich im reflektierten Verhältnis zu sich selbst und seinen mediatisierten und datafizierten Umwelten zu entfalten. Digitale Aufklärung erfordert die Neuverfugung mehrerer Bildungsbereiche. Seite 24–29
EDITORIAL Immer mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene lernen mit immer größerer Selbstverständlichkeit mit digitalen Medien. Was bedeutet die fortschreitende Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche für Lehrende und Lernende? Handelt es sich bei digitalen Medien um eine Weiterentwicklung von etwas, das bereits vorhanden war? Oder betreten wir auch hier immer wieder „Neuland“? Sollen neue Lehr- und Lernangebote entwickelt oder Bewährtes mit digitalen Mitteln optimiert werden? Lässt sich vielleicht beides miteinander verbinden? Wie bei allen technologischen Entwicklungen ist auch beim digitalen Wandel nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Maschine zu fragen, nach den Wech- selwirkungen zwischen Gesellschaft und Technik. Bildung als gesamtgesell- schaftlicher Aufgabe kommt dabei eine tragende Rolle zu. Fragen zur didakti- schen Einbettung digitaler Bildungsmedien und -formate und nicht zuletzt nach ihrer ethischen Gestaltung gewinnen an Relevanz. Mit der im Frühjahr 2019 vom Deutschen Bundestag und Bundesrat beschlossenen Grundgesetzänderung des Artikels 104 war der Weg frei für den sogenannten Digitalpakt, mit dem der Bund den Ländern von 2019 bis 2022 fünf Milliarden Euro zum Ausbau der digitalen kommunalen Bildungsinfrastruktur zur Verfügung stellen kann. Die bildungspolitischen Debatten, die rund um die Bund-Länder-Vereinbarung geführt wurden, gehen über die Konstitution des deutschen Bildungsföderalismus hinaus. Sie verdeutlichen, dass der Ausbau von Infrastruktur nur eine Teilantwort auf die Fragen sein kann, die sich durch die Digitalisierung ergeben. Frederik Schetter 03
APuZ 27–28/2019 ESSAY DER GRO ẞ E VERSTÄRKER Spaltet die Digitalisierung die Bildungswelt? Jöran Muuß-Merholz Was sind „digitale Medien“? Zeichnet man ein Kontakt? Wie weit erstreckt sich sein Aktionsradi- grundsätzliches, geradezu naives Medienbild, so us? Was fällt ihm leicht, was fällt ihm schwer? Vie- hilft ein Verständnis, das uns aus der Rede von le Unterschiede sind offensichtlich, wenn wir das Tieren vertraut ist. Wir nutzen es, wenn wir über grüne und das blaue Medium miteinander verglei- Tiere und ihren Lebensraum sprechen. Wir sagen chen. Wir Menschen lernen gerade digitale Medien beispielsweise: „Das Medium des Fisches ist das kennen, die in vielfacher Hinsicht neu und anders- Wasser.“ Oder auch: „Das Medium des Regen- artig sind. Es ist, als hätten wir bisher in einer grü- wurms ist die Erde.“ Bei einem Menschen, der in nen Medienwelt gelebt und sähen uns nun mit der einer bestimmten Umgebung gut zurechtkommt, neuen, der blauen Medienwelt konfrontiert. ist eine ähnliche Formulierung gebräuchlich: „Er Zum Kennenlernen einer Medienwelt gehört, ist ganz in seinem Element.“ dass wir das Neue und Unbekannte mit dem Al- Auch in der Biochemie kennen wir ein solches ten und Bekannten vergleichen. Wir machen ge- Medienbild, wenn wir von einem „Nährmedium“ wissermaßen einen Medienvergleich. Das passiert, sprechen, in dem sich beispielsweise Mikroorga- wenn wir Eigenschaften der blauen Medienwelt in nismen entwickeln sollen. Alternativ wird für den Abgrenzung zur grünen Medienwelt beschreiben Begriff „Nährmedium“ auch „Nährboden“ oder und beispielsweise feststellen, dass man sich in „Substrat“ verwendet. Naturwissenschaftler*innen dem einen Medium schneller bewegen kann als im sprechen in diesem Zusammenhang auch von „Mi- anderen oder dass Raum und Zeit je nach Medium lieu“ oder „Kulturmedium“, was die Nähe zwi- eine unterschiedliche Bedeutung haben. schen naturwissenschaftlichen und sozialen Ver- Solche Vergleiche sind notwendig und unver- ständnissen von Medien deutlich werden lässt. meidlich, da unsere Maßstäbe durch die uns be- Den Begriffen ist gemeinsam, dass damit der Bo- reits bekannte Medienwelt geprägt sind und wir den oder eine Umgebung gemeint ist, auf dem und kaum andere haben. Schwierig wird es immer in der etwas geschieht. dann, wenn wir etwas nicht nur vergleichen, son- dern als besser oder schlechter einstufen wollen. DER PINGUIN KENNT Denn die Medienwelten können nicht immer mit ZWEI MEDIEN demselben Maßstab gemessen werden. Sie folgen unterschiedlichen Naturgesetzen. Das macht be- Beim Pinguin können wir nun ein interessan- sonders die Rede vom „Mehrwert digitaler Medi- tes Phänomen beobachten. Er führt sein Leben en“ problematisch, die gerade in pädagogischen in zwei Medienwelten. Das Medium des Pingu- Kreisen beliebt ist. ins ist das Wasser, und das Medium des Pingu- Eine zentrale Voraussetzung, um Medien- ins ist das Land. Seine Vorfahren hatten vor über welten nicht nur vergleichend beschreiben, son- 50 Millionen Jahren wohl sogar ein drittes Medi- dern einen Mehrwert bewerten zu können, ist die um: die Luft. Um den Medienbegriff von diesem Vergleichbarkeit der Bedingungen. Bei Laborex- Beispiel ausgehend zu abstrahieren, bezeichnen perimenten wird das ermöglicht, indem man die wir das Land als grünes und das Wasser als blau- Untersuchung auf eine bestimmte Eigenschaft es Medium.01 konzentriert und alle anderen Parameter stabil Wir können uns jetzt anschauen, wie der Pin- hält. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die zwei guin in seinen Medien unterwegs ist: Wie bewegt Medien des Pinguins so unterschiedlich sind, dass er sich? Wie steht er mit anderen Pinguinen in vergleichbare Bedingungen nicht beziehungswei- 04
Bildung und Digitalisierung APuZ se nur mit unsinnigen Grundannahmen herge- ma im Juni 2013 den Satz: „Das Internet ist für stellt werden können. Wollte man beispielsweise uns alle Neuland.“ Manche, die sich bereits län- die Geschwindigkeit des Pinguins untersuchen, ger mit digitalen Medien beschäftigen, belächeln so würde man zwecks gleicher Parameter vorge- diese Wortwahl und weisen darauf hin, dass zahl- ben, dass der Pinguin in beiden Medien – also so- reiche Formen digitaler Medien seit Jahrzehnten wohl im Wasser als auch auf dem Land – auf dem existieren und für viele, insbesondere junge Men- Boden laufen muss. schen, selbstverständlich seien. Die grüne Medienwelt und die blaue Medien- Ich halte Begriffe wie „neue Medien“ oder welt sind aber ganz unterschiedlich. Man könnte „Neuland“ dagegen für hilfreich. Sie machen sogar sagen, sie sorgen für unterschiedliche Na- nämlich deutlich, dass wir es nicht nur mit einer turgesetze als Basis und Umgebung unserer Le- Verstärkung oder mit einer Optimierung dessen ben. Hier steckt die fehlerhafte Grundannahme, zu tun haben, was schon da war, sondern tatsäch- auf der manche vereinfachende Thesen bauen.02 lich mit etwas Neuem, mit etwas grundlegend Sie gehen irrtümlich von einer statischen Welt Anderem als der alten Medienwelt. Das gilt umso aus, in der nur ein einzelner Baustein verändert mehr, wenn man in Betracht zieht, dass Digitali- wird, ohne dass diese Veränderung Wechselwir- sierung kein statischer Zustand ist. Die digitalen kungen zu anderen Bausteinen hätte. Medien verändern sich mit hohem Tempo und in Vor diesem Hintergrund kann man auch nicht unvorhersehbare Richtungen. Unser Thema ent- behaupten, dass digitale Medien nur ein Werkzeug wickelt sich weiter, noch während wir darüber für den Unterricht seien. Sie können die Funkti- nachdenken und sprechen. Die Rede von neuen on eines Werkzeugs übernehmen, allein ihre Exis- Medien ist also durchaus sinnvoll. tenz erweitert und verändert aber schon unseren Gehen wir einen Schritt zurück zu den Pingu- gedanklichen Spielraum. Digitale Medien sind für inen, die sowohl mit dem blauen als auch mit dem unser Leben und Lernen also nicht neutral, kein grünen Medium vertraut sind. Im historischen Übertragungskanal zum Ausdruck fertiger Ge- Maßstab haben wir Menschen, die bisher im grü- danken. Bereits Friedrich Nietzsche merkte in ei- nen Medium heimisch waren, das blaue Medium nem Brief an seinen Freund und Mitarbeiter Hein- gerade erst kennengelernt. Genauer gesagt: Wir rich Köselitz im Februar 1882, wie die Umstellung haben mit dem Kennenlernen eben erst begon- von Handschrift auf das Medium der Schreibma- nen. Einige stürzen sich gleich kopfüber hinein in schine seine Texte veränderte: „Sie haben Recht: das neue Medium, während andere zögernd am unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedan- Ufer stehen und es zaghaft mit dem großen Zeh ken. Wann werde ich es über meine Finger brin- austesten. gen, einen langen Satz zu drücken!“03 Wie können wir uns angesichts der großen Ungewissheiten verhalten, mit denen wir im di- KOPFÜBER INS gitalen Wandel den neuen Medien gegenüberste- BLAUE MEDIUM? hen? Eigentlich ist schon diese Frage falsch for- muliert. Denn wir stehen den digitalen Medien Wir sprechen in der Debatte über digitale Medien nicht gegenüber, sondern wir stehen mittendrin. auch von den „neuen Medien“. Bundeskanzlerin Wir versuchen herauszufinden, wie dieses neue Angela Merkel prägte bei einer Pressekonferenz Medium funktioniert und wie es sich anfühlt. mit dem damaligen US-Präsidenten Barack Oba- NEUE EINIGKEIT? 01 Vgl. Jöran Muuß-Merholz, Die Pinguin-Medienmetapher: Jöran Fragen zur Digitalisierung in der Bildung wurden erklärt den Leitmedienwechsel und die Mär vom digitalen Mehrwert, 10. 9. 2018, www.joeran.de/die-pinguin-medienmetapher. in Deutschland lange nur am Rande oder gar nicht 02 Vgl. Manfred Spitzer, Digitale Demenz. Wie wir uns und un- behandelt. Mittlerweile hat sich das geändert. Wir sere Kinder um den Verstand bringen, München 2012. Siehe dazu sehen aktuell nicht einen Hype, sondern gerade- auch Christian Stöcker, Die Methode Spitzer, 11. 3. 2018, www. zu eine Hysterie. Die Forderung, Bildung müsse spiegel.de/wissenschaft/mensch/-a-1197453.html. digitaler werden, ist allgegenwärtig. In begrenz- 03 Friedrich Nietzsche, zit. nach Axel Krommer, Wie ein Com- mon-Sense-Medienbegriff zu pädagogischen Fehlschlüssen führt, ter Hinsicht mag die Digitalisierungseuphorie be- 27. 8. 2018, axelkrommer.com/2018/08/27/wie-ein-common- gründet sein. Mit bunten Apps mag das Lernen sense-medienbegriff-zu-paedagogischen-fehlschluessen-fuehrt. von Vokabeln, das Üben von Matheaufgaben oder 05
APuZ 27–28/2019 das Aneignen von Regeln der neuen Datenschutz- digitalen Medien an, die in den etablierten Settings grundverordnung leichter, schneller und günsti- die Schwächeren sind: die Lernenden. Mit dem ger sein, ja möglicherweise sogar Spaß machen. Smartphone auf beziehungsweise unter dem Tisch Mit Erklärvideos lassen sich frontale Belehrun- konnten sie viele Strukturen, Routinen und Kon- gen mehrmals wiederholen, wahlweise im halben trollen umgehen oder sich zunutze machen. oder doppelten Tempo. Die Tafel kann durch Po- Wer heute über eine Bildungsmesse läuft, sieht werpoint-Präsentationen mit Animationen und die Gegenreaktion überall auf den Werbeban- Videos ersetzt werden. Und mit Lernplattformen nern. Das Versprechen lautet: Die Bildungsinsti- lassen sich Materialien und Kommunikationspro- tution kann die Kontrolle zurückgewinnen. Im zesse cloudbasiert vervielfältigen und beschleu- ersten Schritt sollten die alten Verhältnisse wie- nigen. Bei Politik und Wirtschaft, Lehrer*innen derhergestellt werden, indem die digitalen Gerä- und Schüler*innen, Journalist*innen und Stiftun- te verboten und weggesperrt werden. Mittlerwei- gen scheint eine Konsensstimmung zu herrschen, le steht bereits eine zweite Stufe der Reaktion auf dass es einem unheimlich werden kann. Das Un- den digitalen Kontrollverlust an. Bei dieser geht es behagen ist begründet, denn hinter der oberfläch- um den gegenteiligen Ansatz: Bildungsinstitutio- lichen Digitalisierungseuphorie steckt die Vor- nen gewinnen die Kontrolle nicht trotz, sondern stellung, unser traditionelles Verständnis von durch digitale Medien zurück. Wenn Hardware Lehren und Lernen mit digitalen Mitteln zu op- und Software in der Hand der Institution oder timieren, ohne die Grundannahmen der Bildung der Lehrperson liegen, dann lasse sich darüber das anzutasten. Anders formuliert: Wir gießen den al- Verhalten der Lernenden beobachten und steu- ten Wein in Hightech-Schläuche. ern – und zwar potenziell um Größenordnungen Der Umbruch ist aber von grundsätzlicher besser als ohne digitale Medien. Diese „Kontrol- Natur. Das lässt sich daran erkennen, dass die gro- le 2.0“ ist das neue große Versprechen der Digita- ßen Fragen sich über Altersstufen und Bildungs- lisierungsindustrie. Die Frage allerdings bleibt, ob bereiche hinweg gleichen. Im Bankenhochhaus in dies im Dienste des Lernens geschieht und nicht Frankfurt am Main, in der nächstgelegenen Schu- um der Kontrolle selbst willen. le sowie in Hoch- und Volkshochschulen stehen Die Progressiveren unter den Verantwortli- die Verantwortlichen vor ähnlichen Fragen in Be- chen fragen sich: Wie können wir erreichen, dass zug auf ihre Mitarbeiter*innen, Studierenden, die Lernenden angesichts der neuen digitalen Kursteilnehmer*innen oder Schüler*innen. Was Möglichkeiten in der Lern- und Arbeitswelt mit machen wir, wenn diese Lernenden privat eine mehr Selbststeuerung agieren, dass sie stärker auf bessere technische Ausstattung haben, als wir Zusammenarbeit und Kreativität setzen, in einer ihnen in den Bildungsinstitutionen bieten kön- unübersichtlichen Welt kritischer und souveräner nen? Wie gehen wir damit um, dass sie lieber über denken und handeln? Und was tun wir, wenn wir Whatsapp kommunizieren als mit den von uns den Lernenden mehr Freiheit und Selbstständig- bereitgestellten Mitteln? Wissen wir überhaupt, keit zugestehen, diese aber gar nicht so frei und welche Infrastruktur im Moment bei ihnen be- selbstständig sein wollen, wie wir es vorgesehen liebt ist – und was sagt der oder die Datenschutz- hatten? Ist das alles nur eine Frage der richtigen beauftragte dazu? Was tun wir, wenn im Internet Haltung? Oder haben wir mit unseren Bildungs- tausend andere Quellen neben das von uns ange- organisationen den Lernenden jahrzehntelang botene Material treten? Freiheit und Selbstständigkeit ausgetrieben? Viel- Digitale Medien erscheinen als eine Form von leicht fehlt den Lernenden das richtige Rüstzeug Kontrollverlust für alle diejenigen, die im traditi- für das digitale Zeitalter? Aber fehlt dieses den onellen System an den Hebeln saßen.04 Plötzlich Verantwortlichen selbst nicht auch? Und ist das verfügen die Lernenden über technische Möglich- Ganze nur eine Frage der richtigen Medien und keiten, die die Autorität von Institution und Lehr- der entsprechenden Methoden? Oder braucht personen zu untergraben drohen. In den vergan- es angesichts des großen Umbruchs nicht eine genen Jahren eigneten sich zunächst diejenigen die grundsätzliche Debatte über die Inhalte und Ziele von Bildung im 21. Jahrhundert? 04 Vgl. Jöran Muuß-Merholz, Schule in der Digitalen Gesell- Bei einem genauen Blick in die Praxis ist der schaft: Warum wir neu lernen müssen, in: Log In. Informatische Konsens über die Versprechungen der Digitali- Bildung und Computer in der Schule 180/2015, S. 36–42. sierung also doch nicht flächendeckend. An vie- 06
Bildung und Digitalisierung APuZ len Bildungsorten gibt es eine Spaltung. Vielleicht den? Einiges spricht dafür. Schon jetzt sehen wir war sie schon vorher da. Je lauter die Digitalisie- große Unterschiede in den Leitbildern der Bil- rungsdebatte aber wird, desto sichtbarer und tie- dungseinrichtungen, im pädagogischen Selbst- fer wird sie. Gegenüber den Befürworter*innen verständnis, in den Grundformen von Lehren der digitalen Erneuerung haben sich die und Lernen. Es ist denkbar und wahrscheinlich, Skeptiker*innen formiert. Sie warnen vor einem dass Digitalisierung diese Richtungsunterschiede Verlust von jahrhundertealten Kulturtechniken noch verstärken wird. und Werten, vor Technisierung und Kommerzi- alisierung, einem Verlust an Menschlichkeit und DIGITALISIERUNG einer Abhängigkeit gegenüber den Maschinen. ALS VERSTÄRKER Nun könnte aus der Auseinandersetzung zwischen Freund*innen und Skeptiker*innen Der Bildungsbereich ist in Sachen Digitalisierung der Digitalisierung eine denkbar fruchtbare De- spät dran. Andere gesellschaftliche Bereiche wa- batte entstehen. Aber sie ist stattdessen denkbar ren da schneller – was für die Bildungsinstituti- furchtbar. Die Positionen polarisieren sich, die onen ein Vorteil sein kann. Sie können von dem Gräben weiten sich, die Vereinfacher*innen und profitieren, was wir in den vergangenen Jahren in Zuspitzer*innen treten auf den Plan. Am deut- anderen Bereichen über digitale Medien gelernt lichsten wird das dort, wo diejenigen betroffen haben. Vor zu konkreten Übertragungen muss sind, über die man am einfachsten entscheiden man sich hüten, aber wir können grundsätzlich kann: Kinder und Jugendliche. Vielen Schulen festhalten: Digitale Medien fungieren als extrem ist ein hoher Stellenwert digitaler Medien zu- mächtige Verstärker für Vorhandenes: Wer in der nehmend wichtig. Die Industrie sucht sogar „die prädigitalen Zeit gerne auf dem Sofa herumhing, digitalste Schule“ – von Düsseldorf, von Ham- kann mit digitalen Medien noch besser auf dem burg oder gleich von ganz Deutschland.05 An- Sofa herumhängen. Wer gerne raus in die Welt dere Schulen definieren sich stolz darüber, eine geht, sich mit anderen Menschen vernetzt und Art digitalen Schonraum zu bieten. Zahlreiche Neues erkundet, kann dies mit digitalen Medi- Expert*innen bringen sich mit vorzugsweise ex- en noch besser tun. Wer anfällig für Manipulation tremen Positionen in Stellung, wollen beispiels- und Bevormundung ist, kann mit digitalen Me- weise das Smartphone für Kinder und Jugendli- dien noch besser manipuliert und bevormundet che verbieten, wahlweise bis zum Alter von 14, werden. Wer die Welt kritisch hinterfragen und 16 oder 18 Jahren.06 gestalten möchte, kann die Welt mit digitalen Me- Die Polarisierung verläuft nicht nur zwischen dien noch besser kritisch hinterfragen und gestal- den Schulen und anderen Bildungsorten, sondern ten. Wer gerne mit starker Struktur und enger häufig mitten durch Kollegien und Teams. Es ist Kontrolle unterrichtet, kann mit digitalen Me- unklar, wohin diese Spaltung uns in den nächsten dien noch besser mit starker Struktur und enger Jahren führen wird. Steht uns eine stärkere Pola- Kontrolle unterrichten. Wer gerne Unterricht ge- risierung bevor, mit starken Kontrasten zwischen meinsam mit Kolleg*innen neu entwickelt und einzelnen Schulen oder sogar einzelnen Lehren- sich ständig fortbildet, findet in digitalen Medien hilfreiche Verstärkung. 05 Vgl. Sandro Abbate, GigaSchule: Vodafone sucht die digi- Was auf individueller Ebene gilt, lässt sich talste Schule Düsseldorfs, 6. 6. 2018, www.vodafone.de/featured/ auch auf Ebene der Bildungsinstitutionen an- inside-vodafone/gigaschule-vodafone-sucht-die-digitalste-schule- wenden: Eine traditionelle Bildungsinstitution, duesseldorfs; Hamburg’s beste Schule im digitalen Wandel die auf Lehrerzentrierung und Belehrung, isolier- gesucht, Januar 2019, www.hk24.de/produktmarken/ausbil- tes Lernen und feststehende Ergebnisse hin ori- dung-weiterbildung/digitaler-schulpreis/4277468; Adobe sucht Deutschlands Digitalste Schule, 19. 3. 2018, www.cobra-shop.de/ entiert ist, kann diese Ausrichtung mit digitalen 1181-Adobe. Medien verstärken und optimieren. Eine progres- 06 Vgl. Christian Rothenberg/Dietmar Neuerer, Internetex- sive Bildungsinstitution, die die Lernenden stär- pertin der Bundesregierung will Smartphone-Verbot für Kinder ken, forschendes und problemorientiertes Lernen unter 14 Jahren, 15. 2. 2019, www.handelsblatt.com/23991302. unterstützen, Perspektive und Kontext berück- html; Jessica Balleer, Hirnforscher empfiehlt Smartphones erst ab 16 Jahren, 24. 5. 2016, rp-online.de/_aid-18103427; Rheinische sichtigen und Informationen sinnhaft verknüpfen Post Digital, Forscher für Smartphone-Nutzung erst ab 18 Jahren, will, kann ihre Ziele ebenfalls mit digitalen Medi- 21. 10. 2018, rp-online.de/_aid-33952593. en besser erreichen. 07
APuZ 27–28/2019 Digitale Medien verstärken also nicht per se alik und Bernie Trilling an und zeigen, dass die Di- eine Richtung, sondern auch diejenigen Voraus- mension des Wissens bedeutend bleibt, zugleich setzungen, Interessen und Tendenzen, die uns gar aber noch drei weitere Dimensionen wichtig nicht bewusst sind. Was wir jetzt säen, kann durch sind, nämlich skills (kritisches Denken, Kreativi- sie einen Turbodünger erhalten – selbst wenn wir tät, Kommunikation, Kollaboration), Charakter uns der Art unserer Saat nicht ganz im Klaren (Fragen der Persönlichkeit wie etwa Achtsamkeit sind. Umso wichtiger ist es, dass wir Grundsatz- und Neugier) und Meta-Lernen (Lernen über das debatten führen. Optimieren wir nur das Ler- Lernen).07 nen des 19. und 20. Jahrhunderts? Verhindert die Es ist offensichtlich, dass in den traditionel- Rede von digitaler Bildung sogar einen notwendi- len Lernkontexten bisher vorwiegend auf die Di- gen Paradigmenwandel? Welche Bildung wollen mension des Wissens und hier, einem traditionel- wir für das 21. Jahrhundert? Verstärken und opti- len Verständnis folgend, vor allem auf Bereiche mieren wir das, was wir schon kennen? Oder ent- wie Mathematik, Sprachen oder Kunst gesetzt wickeln wir mit digitaler Verstärkung neue For- wird und die anderen Dimensionen eher rand- men, die wir teils noch nicht gut kennen? ständig sind. Wenn man 2019 die Diskussion um digitale Medien in der Bildung auf die Bildungs- BILDUNGSZIELE ziele hin abklopft, findet man das Thema nur an UND LERNFORMEN den Stellen dieses Gesamtbildes verortet, die dem traditionellen Status entsprechen. Der Fachunter- Ein beliebtes Konzept ist ein Kurs im Um- richt soll verbessert, die Medienkompetenz un- gang mit digitalen Medien, an dessen Ende ein terstützt und der Fachkräftenachwuchs gefördert „Freischwimmer“-Zertifikat steht. Für den An- werden – das alles möglichst digital und effizien- fang mag das hilfreich sein. Aber die großen Fra- ter als vorher. Von den erweiterten Bildungszie- gen des digitalen Wandels werden wir nicht über len ist auch oder vielleicht gerade im Kontext der Anleitungen und Nachmachen beantworten kön- Digitalisierung selten die Rede. nen. Es geht vielmehr um Experimentieren und Mit Blick auf die Lernformen zeigt die Leh- Herausfinden, um Erkundungen und Erpro- rerin und Fortbildnerin Lisa Rosa auf Basis der bungen in der neuen Medienwelt. Das braucht sich ändernden gesellschaftlichen Anforderun- es auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene, wenn gen, dass sich unsere Anforderungen an Schu- wir Verständnis und Gestaltung der neuen Me- le und Lernen im digitalen Zeitalter grundlegend dien nicht Geheimdiensten und Großunterneh- von dem unterscheiden, was wir im vom Buch- men überlassen wollen. Und das gilt auf der per- druck geprägten Zeitalter praktiziert haben.08 sönlichen Ebene, auf der wir am besten nicht nur Was hier für das Themenfeld „Schule“ beschrie- auf uns allein gestellt, sondern in kleinen Lernge- ben wird, lässt sich auf andere Bildungsbereiche meinschaften arbeiten. Unsere Bildungseinrich- übertragen, von der Ausbildung über das Studi- tungen können gute Orte dafür sein. um bis zum berufsbegleitenden Lernen (Tabelle). Ein Gegenbild zur bloßen Optimierung der Die in der Mitte der Gegenüberstellung von traditionellen Bildung setzt dabei ein neues Ver- mir hinzugefügten wechselseitigen Pfeile weisen ständnis von Bildungszielen und Lernformen vo- darauf hin, dass es nicht darum geht, die Elemen- raus. Erstere müssen auf ein umfassenderes Bil- te der linken Seite abzuschaffen oder zu ersetzen. dungsverständnis zielen. Bei Letzteren muss dem Die neuen Perspektiven auf der rechten Seite ge- Empowerment der Lernenden eine besondere winnen an Gewicht, ergänzen und verändern un- Bedeutung zukommen. Bildungsziele und Lern- ser Verständnis von Lehren und Lernen. formen stehen in direkter Wechselwirkung zuein- Modelle für ein solches Lernen gibt es bereits. ander, sind miteinander verflochten und nur ana- Die rechte Seite der Gegenüberstellung spiegelt lytisch trennbar. sich heute im Selbstverständnis einiger progressi- Schauen wir zuerst auf die Bildungsziele. Im Kontext des digitalen Wandels wird häufig die 07 Vgl. Charles Fadel/Maya Bialik/Bernie Trilling, Die vier Dimen- These vertreten, dass Fachwissen zugunsten sionen der Bildung. Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhun- von anderen Fähigkeiten in den Hintergrund dert lernen müssen, Hamburg 2017. trete. Den Gegenbeweis treten die Lern- und 08 Vgl. Lisa Rosa, Lernen im digitalen Zeitalter, 28. 11. 2017, shifting Bildungsforscher*innen Charles Fadel, Maya Bi- school.wordpress.com/2017/11/28/lernen-im-digitalen-zeitalter. 08
Bildung und Digitalisierung APuZ Tabelle: Lehr- und Lernverständnis in unterschiedlichen Epochen SCHULE UND LERNEN SCHULE UND LERNEN ↔ IM BUCHDRUCKZEITALTER IM DIGITALEN ZEITALTER lehrerzentriert ↔ lernerzentriert belehrend ↔ erforschend systematisch ↔ problemorientiert objektivistisch ↔ perspektivisch dekontextualisiert ↔ kontextualisiert allein ↔ im Austausch festliegendes Ergebnis ↔ ergebnisoffen vorgegebene Bedeutung ↔ persönlicher Sinn Denkmodell: Büffeln ↔ Denkmodell: Rauskriegen Quelle: Lisa Rosa, Lernen im digitalen Zeitalter, 28. 11. 2017, shiftingschool.wordpress.com/2017/11/28/lernen-im-digitalen-zeitalter, geänderte Darstellung. ver Bildungseinrichtungen, auch wenn ihre Wur- gitalisierung zum Ausgangspunkt eines pädago- zeln teilweise auf hundert Jahre alte Konzepte gischen Wandels wurde, der so nicht vorgesehen zurückgehen. Das gilt, obwohl sie häufig nicht be- war. Wo Pädagog*innen zeigen, dass Lernen in sonders „digital“ im technologischen Sinne sind. Projekten und an Produkten anders und besser Gleichzeitig sehen wir zahlreiche Digitalisie- als in prädigitalen Zeiten funktioniert. Wo Un- rungsbemühungen, die auf eine Stärkung der rech- terricht durch digitale Medien stärker auf Selbst- ten Seite der Gegenüberstellung zielen. Es ist nicht bestimmung und Zusammenarbeit aufbaut.09 so, dass mit zunehmender Digitalisierung automa- Gleichzeitig erleben wir die Entstehung digi- tisch mehr progressive Pädagogik Einzug in die tal optimierter Kontrollsettings, in denen jeder Bildung hält. Im Moment sieht es eher nach dem Schritt überwacht und überprüft werden kann. Gegenteil aus: Mit neuen Medien werden alte Pä- Die Gräben zwischen den Befürworter*innen dagogiken optimiert. Mehr Input, mehr Übung im und den Skeptiker*innen der Digitalisierung in traditionellen Sinne. Mehr Dekontextualisierung, der Bildung ist nicht identisch mit dem Verständ- mehr Lernen allein, mit festliegendem Ergebnis, nis von Bildung für das 21. Jahrhundert, die die mit vorgegebener Bedeutung. Wir optimieren und Akteure haben. Die Fronten laufen quer dazu. stärken das, was Lehren und Lernen im Buch- Es gibt also zwei Spaltungen, entsprechend las- druckzeitalter ausgemacht hat. sen sich vier Positionen kategorisieren: Erstens die Befürworter*innen der Digitalisierung, die POLARISIERUNG ODER das Lernen einem traditionellen Bildungsver- VERSÖHNUNG? ständnis entsprechend optimieren wollen. Zwei- tens die Befürworter*innen der Digitalisierung, Digitale Medien können ein Katalysator für pro- die ein neues Bildungsverständnis unterstützen gressive Pädagogik und Empowerment, erwei- und teils erst entwickeln wollen. Drittens die terte Bildungsziele und neue Lernformen sein. Gegner*innen der Digitalisierung, die darin eine Sie können als omnipotente Kontrollmaschine(n) Bedrohung der traditionellen Bildung sehen und aber ebenso ein traditionelles Verständnis von viertens die Gegner*innen der Digitalisierung, Lernen und Bildung verstärken. Schaut man auf die ein neues Bildungsverständnis unterstützen die aktuelle Praxis, so finden sich Belege für beide und teils erst entwickeln wollen. Richtungen: Es gibt Praxisgeschichten von Lern- orten, an denen digitale Medien als Katalysator 09 Vgl. Jöran Muuß-Merholz, Digitale Schule. Was heute schon dienten. Wo Schulleiter*innen berichten, dass Di- im Unterricht geht, Hamburg 2019. 09
APuZ 27–28/2019 Selbstverständlich ist das zu dichotomisch, zu Effizienzdividende aus dem optimierten Lehren. sehr in „Entweder oder“-Mustern gedacht, um der Lernende und Lehrende haben begrenzte Res- komplexen Wirklichkeit gerecht zu werden. Sicher sourcen. Es ist hilfreich, wenn sie weniger da- gibt es auch „Sowohl als auch“-Antworten, in de- von darauf verwenden müssen, etwas zu üben nen die Möglichkeiten der digitalen Medien zur Op- oder Geübtes zu kontrollieren. Die größere He- timierung des Lehrens eingesetzt und zugleich neue rausforderung besteht darin, dass wir progressive Formen erprobt und ausgedehnt werden. Vielleicht Formen für die erweiterten Lehr- und Lernzie- lassen sich beide Perspektiven miteinander versöh- le entwickeln müssen, während wir gleichzeitig nen. Möglicherweise ist dieses „Sowohl als auch“ eine neue Medienwelt zu erkunden haben. Da- stärker als eine Versöhnung, und es braucht bei- für braucht es nicht nur einen großen Verstärker, des zusammen, um die Bildungsziele des 21. Jahr- sondern auch die richtige Ausrichtung. Ein Zu- hunderts angehen zu können. Denn diese sind so sammenspiel aus verschiedenen Richtungen bei umfassend und anspruchsvoll, dass weder der eine gleichzeitiger Verstärkung ist nicht einfach, aber noch der andere Ansatz allein ausreichen wird. Mit wichtig. optimierten Lehrangeboten lassen sich vielleicht die traditionellen Bereiche schneller und effizienter JÖRAN MUU ẞ -MERHOLZ bearbeiten, aber sicher keine skills wie Kreativität ist Diplom-Pädagoge und Gründer der Agentur oder kritisches Denken und keine Charaktereigen- J&K – Jöran und Konsorten. Er arbeitet an den schaft wie Neugier fördern. Dafür braucht es die Schnittstellen zwischen Bildung und Lernen und neuen pädagogischen Formen. publiziert schwerpunktmäßig zum Lernen in der Wenn wir die Bildungsziele des 21. Jahrhun- digitalen Welt. derts ernst nehmen, brauchen wir eine digitale buero@joeran.de Politisch, aktuell und digital APuZ – auch im ePub-Format für Ihren E-Reader. Kostenfrei auf www.bpb.de/apuz 10
Bildung und Digitalisierung APuZ „DIGITALPAKT SCHULE“ Föderale Kulturhoheit zulasten der Zukunftsfähigkeit des Bildungswesens? Henrik Scheller Im März 2019 verabschiedeten Bundestag und Selbst wenn Möglichkeiten und Anwendungs- Bundesrat eine Grundgesetzreform, mit der der felder dieser Technologien in ihrer transformati- Weg für den „Digitalpakt Schule“ freigemacht ven Wirkung nach wie vor kaum zu überblicken wurde. Der Bund stellt damit den Ländern von sind und durchaus wachsenden gesellschaftlichen 2019 bis 2022 fünf Milliarden Euro für „gesamt- Vorbehalten begegnen, wird die politische Kom- staatlich bedeutsame Investitionen zur Steigerung munikation zum Thema Digitalisierung durch das der Leistungsfähigkeit der digitalen kommuna- Narrativ einer unaufhaltsamen Entwicklungsdy- len Bildungsinfrastruktur“ zur Verfügung.01 Die namik dominiert. Auch deshalb sahen viele Kriti- mediale Berichterstattung über den Bund-Län- ker in der Auseinandersetzung um die vom Bund der-Streit zu dieser Vereinbarung bildete einen in Aussicht gestellten Digitalpakt-Mittel einen weiteren Höhepunkt in einer seit Langem hoch weiteren Beleg für die Technologiefeindlichkeit aufgeladenen Debatte über reale und vermeint- und mangelnde Innovations- und Reformfähig- liche Defizite des deutschen Bildungssystems. keit des deutschen Föderalismus. Diese Kritik hat Große Aufmerksamkeit ist solchen bildungspoli- eine lange Tradition: Ursachen für unzulängliche tischen Kontroversen stets gewiss, da sie – selbst politische Kompromisse und selbst vermeintliche wenn es sich im Kern um technische oder haus- Wachstumsschwächen werden immer wieder in halterische Fragen handelt – häufig mit Verweisen der bundesstaatlichen Ordnung ausgemacht. Ins- auf eine Verbesserung individueller Teilhabe- und besondere der Bildungsföderalismus hat in öffent- Chancengerechtigkeit verknüpft werden. Zu den lichen Umfragen einen schlechten Leumund, da hinlänglich bekannten Schwächen des deutschen sich regelmäßig klare Mehrheiten der Bevölkerung Bildungssystems zählt dabei der Konnex zwi- gegen die Kulturhoheit und entsprechende Kom- schen sozialer Herkunft und individuellem Bil- petenzen der Länder aussprechen.02 dungserfolg. Hinzu kommen Personalengpässe Ohne nicht auch gewisse Defizite in der fö- und erhebliche Investitionsrückstände der Kom- deralen Struktur der Bundesrepublik herauszu- munen im Bereich der Schulgebäude und Kinder- arbeiten, soll im Folgenden mit zwei analyse- betreuungseinrichtungen. leitenden Thesen eine etwas andere Perspektive Diese Mischung aus Bildungsinnovation, in- entwickelt werden: Die Digitalisierung der Ge- dividuellen Betroffenheiten, Investitionsdefiziten sellschaft im Allgemeinen und des Bildungswe- der Vergangenheit und politischem Verhandlungs- sens im Besonderen gestaltet sich erstens nicht verlauf lieferte Medien und Verbänden eine gerade- aufgrund von föderalen Strukturen, sondern auf- zu ideale Vorlage. Denn gemeinhin gilt die Digita- grund ihrer transformativen Dimension und ih- lisierung als zukunftsweisendes Fortschrittsthema, rer nur schwer vorhersehbaren gesellschaftlichen bei dem sich die Bundesrepublik im globalen Auswirkungen als erratischer Suchprozess von Wettbewerb positionieren müsse. Künstlicher In- Politik und Verwaltungen. Dieser Prozess gestal- telligenz und Robotik, autonomen Fahrzeug- tet sich umso schwieriger, da es an rechtlichen, technologien sowie Virtual-Reality-Anwendun- institutionellen und personellen Strukturen zur gen wird ein Marktpotenzial zugeschrieben, das gesellschafts- und ebenenübergreifenden Ausein- in Zukunft einen wichtigen Beitrag zur Sicherung andersetzung mit technischen Innovationen die- von Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätzen und in- ser Art fehlt. Ein Abbau bestehender Defizite im ternationaler Konkurrenzfähigkeit leisten wird. deutschen Bildungssystem kann zweitens nicht al- 11
APuZ 27–28/2019 lein durch eine (technische) Modernisierung von abgesehen von wenigen Ausnahmen im Hoch- Infrastrukturen, sondern nur in Gestalt von inte- schulbereich, keine expliziten Hinweise auf die grativen Policy-Ansätzen aus Konzepten, Perso- Kultur- und Bildungspolitik finden, zählen beide nal und Infrastrukturen gelingen. Erst die Kultur- Politikfelder zur ausschließlichen Regelungsmate- hoheit der Länder – verstanden als ganzheitliche rie der Länder. Zum Schutz dieser ländereigenen und umfassende Kompetenz für das Bildungswe- Kulturhoheit wurde mit der Föderalismusreform I sen – ermöglicht die Entwicklung solcher Ansätze von 2006 das sogenannte Kooperationsverbot im und deren notwendigen Zuschnitt auf die spezifi- Grundgesetz verankert. So kann der Bund nach schen Bedarfe der lokalen beziehungsweise regio- Art. 104b GG „den Ländern Finanzhilfen für be- nalen Bildungslandschaften. Um die eigentlichen sonders bedeutsame Investitionen der Länder und Schwächen von Finanzprogrammen wie dem Di- der Gemeinden (Gemeindeverbände)“ nur ge- gitalpakt in Zukunft zu umgehen, muss allerdings währen, „soweit dieses Grundgesetz ihm Gesetz die Kulturhoheit durch eine adäquate Finanzaus- gebungsbefugnisse verleiht“. Ein finanzielles En- stattung unterlegt und gestärkt werden. gagement des Bundes in Politikfeldern, die im ausschließlichen Kompetenzbereich der Länder KULTURHOHEIT liegen, sollte so ausgeschlossen werden. UND KOOPERATIONSVERBOT Das Kooperationsverbot geriet bereits kurz VERSUS FISKALISCHE DISPARITÄTEN nach seiner Einführung in die Kritik, da die fiska- lischen Disparitäten zwischen den Ländern einer- In der hitzigen Debatte über den Digitalpakt ge- seits und den Kommunen andererseits seit Jah- riet einmal mehr die Kulturhoheit der Länder ins ren zu groß sind. So ist beispielsweise Hamburgs Kreuzfeuer der Kritik. Schon der frühere Staats- originäre Finanzkraft pro Kopf – ohne jeden Fi- minister für Kultur und Medien beim Bundes- nanzausgleich zwischen Bund und Ländern – fast kanzler, Michael Naumann (SPD), hatte diese einst dreimal so hoch wie die der ostdeutschen Bun- spöttisch als „Verfassungsfolklore“ bezeichnet desländer. Auch Bayern, Baden-Württemberg und mit dieser Abwertung mehr Zentralismus im und Hessen liegen deutlich über dem Durch- Bundesstaat gerechtfertigt.03 Tatsächlich handelt schnitt aller anderen Bundesländer. Nicht um- es sich bei der Kulturhoheit der Länder, die de- sonst haben sich in den vergangenen Jahren die ren Zuständigkeit für die Bildung begründet, um Auseinandersetzungen über den Bund-Länder- ein verfassungstheoretisches Abstraktum. Denn Finanzausgleich massiv verschärft. Da sich die im Grundgesetz selbst findet sich der Terminus finanzstärkeren Länder zunehmend gegen ho- nicht. Vielmehr ergibt sich die Hoheitsfunktion rizontale Ausgleichszuweisungen an die finanz- aus der grundlegenden Zuständigkeitsvermutung schwächeren Länder wehren, muss verstärkt der des Grundgesetzes, wonach den Ländern gemäß Bund einspringen. Auch von der jüngsten Fi- Art. 30 GG „die Ausübung der staatlichen Befug- nanzausgleichsreform von 2017 werden deshalb nisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben“ perspektivisch Vertikalisierungswirkungen für zukommt, „soweit dieses Grundgesetz keine an- den deutschen Föderalismus erwartet. Denn vie- dere Regelung trifft oder zulässt“. Da sich in den le ausgleichswirksame Finanzströme werden in- Katalogen zur ausschließlichen und konkurrieren- zwischen außerhalb des Bund-Länder-Finanz- den Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 ff. GG), ausgleichs in Investitionsprogrammen wie dem Digitalpakt abgewickelt. Ein Schwerpunkt die- ser Programme liegt dabei erkennbar im Bil- 01 Verwaltungsvereinbarung „DigitalPakt Schule 2019 bis dungsbereich. Dazu zählen das Sondervermö- 2024“, Entwurf vom 11. 3. 2019, www.bmbf.de/files/2019-03-15_ gen Kinderbetreuungsausbau mit 4,4 Milliarden, 018%20Anlage%20Verwaltungsvereinbarung%20Start%20Digital Pakt.pdf, S. 1. das Kommunalinvestitionsförderungsgesetz mit 02 Vgl. stellvertretend Yougov, Umfrage Bildungskonzept SPD, 7 Milliarden, das Kita-Qualitäts- und Teilhabever- 1. 9. 2017, yougov.de/ergebnisse/bildungskonzept; Bertelsmann besserungsgesetz mit 5,5 Milliarden, der Rechts- Stiftung, Bürger und Föderalismus. Eine Umfrage zur Rolle der anspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschul- Bundesländer, Gütersloh 2008; Institut für Demoskopie Allens- alter mit 2 Milliarden und die Hochschulpakte bach, Aktuelle Fragen der Schulpolitik und das Bild der Lehrer in Deutschland, Allensbach 2010. mit insgesamt rund 20,2 Milliarden Euro. 03 Michael Naumann, Zentralismus schadet nicht, 2. 11. 2000, Fiskalische Disparitäten bestehen aber auch www.zeit.de/2000/45/Zentralismus_schadet_nicht/komplettansicht. zwischen den Kommunen. So war die Gesamtheit 12
Bildung und Digitalisierung APuZ aller Kommunen Ende 2017 mit knapp 270 Milli- Jahre angelegtes Investitionsprogramm des Bun- arden Euro beim nicht-öffentlichen Bereich ver- des skizziert, mit dem Schulen und Schulträger bei schuldet, obwohl die Einnahmen aller drei ge- der Finanzierung der notwendigen Infrastruktu- bietskörperschaftlichen Ebenen einschließlich ren unterstützt werden könnten.07 der Kommunen im Aggregat in den vergangenen Schon vorher wurde die Debatte zu den gesell- Jahren beständig gestiegen sind und sogar Über- schaftlichen Implikationen des Internets immer schüsse in Höhe von 10,7 Milliarden Euro erziel- wieder auf Bundesebene vorangetrieben. Aller- ten.04 Allerdings bestehen zwischen den aggre- dings wurde die bildungspolitische Relevanz der gierten Schuldenständen der Kommunen sowie Digitalisierung als einem der einflussreichsten ge- der Nettokreditaufnahme in den 13 Flächenlän- sellschaftlichen Entwicklungstrends in der Bun- dern nach wie vor große Differenzen. So bewegte desrepublik erst rund 20 Jahre nach Öffnung des sich die Spanne bei den durchschnittlichen Kre- Internets zur allgemeinen kommerziellen Nutzung ditmarktschulden pro Kopf der kommunalen Anfang der 1990er Jahre aktiv von der Politik pro- Kernhaushalte Ende 2017 zwischen 17 753 Euro blematisiert. So erfolgte mit der Enquete-Kom- bei den saarländischen und 1142 Euro bei den mission des Deutschen Bundestages „Internet und sächsischen Landkreisen, Städten und Gemein- digitale Gesellschaft“ von 2010 bis 2013 nicht nur den. Der wahrgenommene Investitionsrück- eine intensive parlamentarische Auseinanderset- stand der Kommunen betrug deutschlandweit zung mit dem Thema. Letztlich wurde durch die allein 2017 rund 159 Milliarden Euro – davon Kommissionsarbeit auch erst die Herausbildung etwa 47 Milliarden Euro im Bildungsbereich so- des neuen Politikfeldes „Netzpolitik“ in der Bun- wie mehr als 15 Milliarden Euro in den bildungs- desrepublik forciert.08 Im März 2015 forderten die relevanten Bereichen „Kinderbetreuung“ sowie Fraktionen der Großen Koalition die Bundesre- „Sportstätten und Bäder“.05 Dieses Ausmaß gibt gierung auf, „bei der gemeinsamen Entwicklung nicht nur Hinweise auf die vielerorts überalter- und Umsetzung der Strategie ‚Digitales Lernen‘ ten Infrastrukturen, sondern auch auf die Haus- in Zusammenarbeit mit den Ländern und Akteu- haltsengpässe vieler Kommunen. ren aus allen Bildungsbereichen“ eine Reihe expli- zit genannter Schwerpunkte zu setzen. Außerdem VORGESCHICHTE DES sollte sich der Bund „bei den Bundesländern und DIGITALPAKTS der Kultusministerkonferenz“ dafür einsetzen, dass diese untereinander einen Ziel- und Maßnah- Anfang Oktober 2016 kündigte die damalige Bun- menkatalog „verbindlich, beispielsweise in einem desbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) die Länderstaatsvertrag, vereinbaren“.09 Bereitschaft des Bundes zu einer milliardenschwe- Nachdem der Bund im Oktober 2016 seine ren Investitionsoffensive in die digitalen Bildungs- Strategie „Bildungsoffensive für die digitale Wis- infrastrukturen von Ländern und Kommunen an. sensgesellschaft“ präsentiert hatte, folgte zwei Mo- Im Gegenzug sollten die Länder die Entwicklung nate später die Kultusministerkonferenz (KMK) von pädagogischen Konzepten sowie die Finan- mit ihrer Strategie „Bildung in der digitalen Welt“. zierung entsprechender Aus- und Fortbildungs- Hatten gesellschaftliche und schulische Implika- programme für die Lehrkräfte übernehmen.06 Den tionen der Digitalisierung in Beschlüssen der Hintergrund dafür bildete die Strategie „Bildungs KMK in den Jahren zuvor nur punktuelle Erwäh- offensive für die digitale Wissensgesellschaft“ des nung gefunden,10 definierten die Kultusminister Bundesministeriums für Bildung und Forschung nun auf Grundlage einer Bestandsaufnahme von (BMBF). Unter der Überschrift „DigitalPakt#D“ sechs Handlungsfeldern (Bildungspläne und Un- wurde darin ausführlich ein mögliches, auf fünf terrichtsentwicklung, curriculare Entwicklungen; 04 Vgl. Statistisches Bundesamt, Kommunale Pro-Kopf-Verschul- 07 Vgl. BMBF, Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesell- dung 2017 zeigt große Unterschiede, Pressemitteilung Nr. 462, schaft, Berlin 2016. 28. 11. 2018. 08 Vgl. Julia Krüger, Das digitale Phänomen, Berlin 2016, S. 17; 05 Vgl. Elisabeth Krone/Henrik Scheller, KfW-Kommunalpanel Joachim Betz/Hans-Dieter Kübler, Internet Governance, Wiesba- 2018, Frankfurt/M. 2018, S. 12. den 2013, S. 54. 06 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 09 BT-Drucksache (BT-Drs.) 18/4422, 24. 3. 2015. Wanka: Deutschlands Schulen fit machen für die digitale Welt, 10 Vgl. Kultusministerkonferenz (KMK), Medienbildung in der Pressemitteilung, 10. 10. 2016. Schule, Berlin 2012. 13
APuZ 27–28/2019 Aus-, Fort- und Weiterbildung von Erziehenden Gesetzgebungsverfahren eine breite Kontrover- und Lehrenden; Infrastruktur und Ausstattung; se. Denn faktisch wurde mit dem neuen Art. 104c Bildungsmedien, Content; E-Government, Schul- GG das mit der Föderalismusreform I geschaffe- verwaltungsprogramme, Bildungs- und Campus- ne Kooperationsverbot zwischen Bund und Län- managementsysteme; rechtliche und funktionale dern wieder ausgehebelt. Mit Blick auf den vom Rahmenbedingungen) zentrale „Kompetenzen in Bund formulierten Anspruch, mit dem Digitalpakt der digitalen Welt“.11 Dem Empfehlungscharakter Schulen und Schulträger flächendeckend im Digi- von KMK-Beschlüssen folgend, die grundsätzlich talisierungsprozess mit Infrastrukturinvestitionen im Konsens zwischen den Ländern erzielt wer- unterstützen zu wollen, erwies sich allerdings die den müssen, ohne eine rechtsverbindliche Um- Fokussierung des Artikels auf ausschließlich „fi- setzungspflicht zu begründen, blieb die Strategie nanzschwache Kommunen“ als nicht kompatibel. mit Blick auf konkrete Umsetzungsmaßnahmen, Denn so wäre der Adressatenkreis entsprechender den Finanzierungsrahmen sowie Verpflichtungen Zuweisungen von vornherein sehr begrenzt und der einzelnen Länder jedoch vergleichsweise of- regional konzentriert worden. fen.12 Am weitreichendsten war für die Länder Keine zwei Jahre nach Einführung des noch das Ziel formuliert, „dass alle Schülerinnen Art. 104c GG schlug der Bund daher im Novem- und Schüler, die zum Schuljahr 2018/2019 in die ber 2018 vor, den Terminus wieder aus der Verfas- Grundschule eingeschult werden oder in die Se- sung zu streichen. Dieses Ansinnen rief den Wi- kundarstufe I eintreten, bis zum Ende der Pflicht- derstand der Länder auf den Plan, die der Reform schulzeit“ die mit der KMK-Strategie „formu- 2017 nur zähneknirschend zugestimmt hatten – lierten Kompetenzen“ erwerben können.13 Diese zumal der Haushaltsausschuss des Bundestages Selbstverpflichtung soll bis 2026 umgesetzt wer- die Regierungsvorlage zur Grundgesetzreform den. Mit Rücksicht auf die Kultur-, Verwaltungs- zuvor deutlich zulasten der Länder verschärft und Organisationshoheit der Länder enthält sich hatte. Denn nahezu fraktionsübergreifend hat- die KMK-Strategie allerdings vergleichbarer Vor- ten sich die Haushaltspolitiker darauf verständigt, gaben zu finanzwirksamen Fragen des digitalen dass im Gegenzug zu einer Streichung des Tatbe- Personal- und Infrastrukturausbaus. Gleichwohl standes der „Finanzschwäche“ die Investitionshil- finden sich Überlegungen zu einer „Finanzierung fen des Bundes nur unter Anwendung des „Zu- über ein Investitionsprogramm des Bundes“.14 sätzlichkeitsprinzips“ gewährt werden dürften Die Digitalpakt-Verhandlungen selbst gerieten und daher die „Mittel des Bundes (…) in jeweils infolge des Bundestagswahlkampfes 2017 und der mindestens gleicher Höhe durch Landesmittel langwierigen Regierungsneubildung ins Stocken. für den entsprechenden Investitionsbereich zu Dennoch verabschiedeten Bund und Länder eine ergänzen“ wären.15 Diese Maßgabe hätte wiede- Finanzausgleichsreform. Dazu zählte eine Ergän- rum all die Länder und Kommunen benachteiligt, zung des Kommunalinvestitionsförderungsgeset- die nicht über hinreichende Eigenmittel für eine zes um ein gänzlich neues Kapitel, das zusätzliche gleichwertige Gegenfinanzierung verfügt hätten. 3,5 Milliarden Euro für Finanzhilfen zur Verbes- Vor diesem Hintergrund stimmten die Bundes- serung der Schulinfrastruktur finanzschwacher länder im Dezember 2018 geschlossen gegen die Kommunen nach Art. 104c GG vorsieht. Damit Vorlage des Bundestages und riefen den Vermitt- fand der Tatbestand der „Finanzschwäche“ Ein- lungsausschuss an. Wohl nicht zuletzt aufgrund gang in das Grundgesetz. Nicht nur über diesen des öffentlichen Drucks kam dieser nach nur zwei neuen Verteilungsmaßstab, sondern vor allem auch Sitzungen im Februar 2019 zu einer Einigung. Das über den weitreichenden Eingriff des Bundes in die Zusätzlichkeitskriterium wurde dabei durch fol- Kulturhoheit der Länder, entspann sich bereits im gende Formulierung für Art. 104b Abs. 2 GG ent- schärft: „Die Mittel des Bundes werden zusätzlich 11 KMK, Bildung in der digitalen Welt, Berlin 2016, S. 9, S. 16–19. zu eigenen Mitteln der Länder bereitgestellt.“16 12 Ebd., S. 15. Vgl. auch Henrik Scheller, Der deutsche Bildungs- Auf dieser Basis konnten Bund und Län- föderalismus im Spannungsfeld zwischen föderalem Kompetenz- der den bereits zuvor vollständig ausgehandel- streit und europäischer Harmonisierung, in: Klaus Detterbeck/ ten Digitalpakt mit leichten Modifizierungen un- Wolfgang Renzsch/Stefan Schieren (Hrsg.), Föderalismus in Deutschland, München 2010, S. 230. 13 KMK (Anm. 11), S. 18. 15 BT-Drs. 19/6144, 28. 11. 2018. 14 Ebd., S. 41. 16 BT-Drs. 19/7940, 20. 2. 2019. 14
Bildung und Digitalisierung APuZ terzeichnen. Die Verwaltungsvereinbarung (VV) Drittel nach der Bevölkerungszahl richtet, er- sieht im Wesentlichen sechs Fördergegenstände folgt die Weiterleitung an die jeweiligen Kommu- vor. Diese umfassen den Aufbau oder die Verbes- nen und Schulträger in einem wettbewerblichen serung digitaler Infrastrukturen und Vernetzung Antragsverfahren. Hierzu müssen zunächst Län- in Schulgebäuden und auf dem Schulgelände, derprogramme mit Kriterien und Verfahren zur den Aufbau und die Weiterentwicklung digitaler Bewertung und Begutachtung von Anträgen der Lehr- und Lerninfrastrukturen sowie Investitio- Schulträger aufgesetzt werden (§ 5 Abs. 1 VV). nen in digitale Anzeige-, Interaktions-, Arbeits- Dabei sollen die Mittel aus dem Digitalpakt und Endgeräte.17 Darüber hinaus sind Investiti- nur für die digitale Infrastruktur und Vernet- onen in regionale und landesweite Einrichtungen zung in den Schulen selbst Verwendung finden. der Lehrausbildung sowie länderübergreifende Eine mögliche Breitbandanbindung der Schul Projektvorhaben möglich – wenn sie einen un- standorte an das Glasfasernetz soll demgegen- mittelbaren Nutzen für die Schulträger erfüllen über weiterhin aus Mitteln des Breitbandausbau- und zum Erreichen der Ziele der KMK- oder der programms des Bundesministeriums für Verkehr BMBF-Strategie geeignet scheinen. und digitale Infrastruktur erfolgen. Dieses läuft seit 2017 und ist mit vier Milliarden Euro ausge- DIGITALPAKT-DILEMMATA stattet. Bereits diese Doppelstruktur begründet einen administrativen Mehraufwand für Kom- Die politische und öffentliche Kontroverse über munen und Schulträger – zumal die Förderung den Digitalpakt lässt sich nur umfassend würdi- auf Basis unterschiedlicher Rechtsgrundlagen gen, wenn sie in den vorstehend skizzierten Kon- und Zuweisungsformen erfolgt. Ein grundsätzli- text gestellt wird. Denn mit Finanzprogrammen ches Dilemma besteht dabei nicht nur in den ver- wie dem Digitalpakt werden neben konkreten teilten Zuständigkeiten zwischen verschiedenen investitionspolitischen Zwecksetzungen immer Fachministerien und den föderalen Ebenen. Viel- auch finanzföderale Ausgleichs- und Kompensa- mehr fehlt dem Bund eine verlässliche Übersicht tionsziele verfolgt.18 Die Finanzkraft-Disparitä- über die detaillierten Bedarfe von Ländern und ten zwischen Ländern und Kommunen einerseits Kommunen, sodass er letztlich nur Programm- und das Finanzvolumen des Digitalpakts anderer- pauschalen zur Verfügung stellen kann.19 seits offenbaren dabei bereits eine grundlegende Dilemmata ergeben sich nicht nur aus der Dis- Diskrepanz: Vielen Kommunen fehlen seit Lan- krepanz zwischen realen Investitionsbedarfen gem die Ressourcen für notwendige Schulsanie- und zur Verfügung gestellten Ressourcen. Weil rungen und -erweiterungen. Ein fünf Milliarden der Bund mit Programmen wie dem Digitalpakt Euro umfassendes Investitionsprogramm über grundsätzlich nur investive Maßnahmen von Län- fünf Jahre für eine Technologie mit extrem kur- dern und deren Kommunen fördern darf, ist die zen Innovationszyklen, hohen Folgekosten und Übernahme von etwaigen Personalkosten eigent- komplexen technischen und datenschutzrecht- lich nicht zulässig. Da die mit dem Digitalpakt in- lichen Anforderungen kann daher letztlich im- tendierte Digitalisierung des Bildungswesens ange- mer nur eine Anschubfinanzierung bleiben. Aus- sichts der sozialen und technologischen Tragweite gehend von den rund 40 000 allgemeinbildenden einer umfassenden pädagogisch-konzeptionellen Schulen in Deutschland bleiben für jede Schule Einbettung in den schulischen Fächerkanon bedarf, nur rund 137 000 Euro. Die Zuweisung der Mittel ergibt sich hieraus ein weiteres Dilemma: Für das erfolgt dabei allerdings nicht gleichmäßig auf alle kostenintensive Personal, das erforderlich ist, um Schulen. Während die Verteilung der Gesamt- dem „Primat des Pädagogischen“ zu seiner Bedeu- summe auf die Länder nach dem Königsteiner tung zu verhelfen, müssen Länder und Kommu- Schlüssel berechnet wurde, der sich zu zwei Drit- nen aufkommen, die in ihrer Haushaltswirtschaft teln nach dem Steueraufkommen und zu einem – nicht zuletzt im Vorgriff auf die ab 2020 vollstän- dig wirksam werdende Schuldenbremse – deutlich eingeschränkter sind und in den vergangenen Jah- 17 Vgl. Verwaltungsvereinbarung „DigitalPakt Schule 2019 bis ren eher vorsichtig bei Personaleinstellungen agie- 2024“ (Anm. 1), S. 3 ff. 18 So heißt es selbst in § 8 Abs. 4 der Verwaltungsvereinbarung ren mussten. Die Folgen erweisen sich inzwischen „DigitalPakt Schule 2019 bis 2024“ (Anm. 1.), S. 8: „Die Länder ermöglichen die Teilnahme finanzschwacher Kommunen“. 19 Vgl. BT-Drs. 19/2372, 29. 5. 2018, S. 2. 15
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