IMPULSE - Deutsche Sporthochschule Köln
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IMPULSE Das Wissenschaftsmagazin der Deutschen Sporthochschule Köln Sport WISSENSCHAFT Handstandvermittlung: Effekte der Wrist Strategy | Duale Karriere: Evaluation der NRW- Sportschulen | Multiple Sklerose: Immunbiolo- gischer Einfluss von Sport | Mobilität: Einfluss- faktoren im realen Leben älterer gebrechlicher | 02 | 2019 | NOVEMBER | Menschen | Icaros: Fliegendes Trainingsgerät
VORWORT Liebe Leserin, lieber Leser, durch die Zunahme von ungefilterten digitalen „Informationsfluten“ kommt der Verbreitung von BILDU Erkenntnissen auf der Basis fundierter wissenschaftlicher Arbeit eine besondere Bedeutung zu. Ich danke daher den Autorinnen und Autoren, dass sie in unserem Wissenschaftsmagazin IMPULSE Einblicke in ihre Forschungsergebnisse geben. In dem ersten Beitrag geht es um die Handstandvermittlung im Turnen. Das Aufschwingen in den Handstand am Boden gilt als Basisfertigkeit und als grundlegende Voraussetzung für weiterführende turnerische Elemente. Die Autoren vom Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten (IVKS) erläutern die praktischen Effekte eines besonderen Coachingansatzes. In dem zweiten Beitrag werden die Ergebnisse der Evaluation der NRW-Sportschulen vorgestellt. Ziel der NRW-Sportschulen ist die Förderung der dualen Karriere von Nachwuchsleistungssportler*innen. Die Mitarbeiter des Instituts für Pädagogik und Philosophie sowie des IVKS haben die Implementation und Wirksamkeit des Modells analysiert. Positive Effekte von körperlicher Aktivität bei neurologischen Erkrankungen sind schon längere Zeit bekannt. Daher sind Sportprogramme auch für Patient*innen, die an Multipler Sklerose leiden, bereits fest etabliert. Im Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin erforschen Wissenschaftler*innen den Einfluss, den Sport und Bewegung auf diese chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems Damit Bildung niemals aufhört. ausüben. Die Ergebnisse lesen Sie im dritten Beitrag. Wir setzen uns dafür ein, dass junge Menschen ihre Möglichst bis ins hohe Alter mobil zu sein, ist ein wichtiges Ziel unserer Gesellschaft. Dabei spielen Talente entfalten können, und fördern bessere, viele verschiedene Einflussfaktoren eine große Rolle. Inwieweit Zugangsmöglichkeiten, physische und chancengerechte Bildung. Mehr über den kognitive Kompetenzen sowie deren Anwendung die Mobilität beeinflussen, erfahren Sie im vierten Stifterverband, sein Engagement für Bildung, Beitrag vom Institut für Bewegungs- und Sportgerontologie. Wissenschaft und Innovation sowie Möglichkeiten zum Mitwirken erfahren Sie online. Um die Möglichkeit des Einsatzes von virtuellen Realitäten zu Trainings- und Therapiezwecken geht es im letzten Beitrag aus dem Institut für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und www.stifterverband.org Rehabilitation. Zum Einsatz kam das Fitnessgerät und Flugsimulator Icaros, mit dessen Hilfe die klassische Übung des Unterarmstützes dynamischer gestaltet werden kann. Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre und alles Gute für das Jahr 2020! Univ.-Prof. Dr. Heiko Strüder Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln
INHALT 20 Multiple Sklerose Immunbiologischer Einfluss News.................................................................44 von Sport bei Multipler Sklerose +++ Vorhersagemodelle im Sport – Institut 06 für Trainingswissenschaft und Sportinfor- matik erhält neue DFG-Förderung +++ Über- lebensfähigkeit bei Prostatakrebs: eine der Handstandvermittlung im Turnen weltweit größten internationalen Studien Praktische Effekte eines expliziten +++ Gründung der Abteilung „Trainingspäd- agogik und Martial Research“ +++ Coachings zur Wrist Strategy auf die sportmotorischen Handstandleistungen Impressum IMPULSE Das Wissenschaftsmagazin der Deutschen Sporthochschule Köln 2/2019, 24. Jahrgang 34 Herausgeber Univ.-Prof. Dr. Heiko Strüder Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln Icaros: Fliegendes Trainingsgerät Redaktion Deutsche Sporthochschule Köln, Auswirkungen von Ganzkörper-Exergaming in der virtuellen Stabsstelle Akademische Planung und Steuerung, Realität auf kardiovaskuläre und muskuläre Parameter Abt. Presse und Kommunikation Am Sportpark Müngersdorf 6, 50933 Köln Telefon: 0221 4982-3440 Fax: 0221 4982-8400 E-Mail: presse@dshs-koeln.de Redaktionsleitung: Sabine Maas Redaktion und CvD: Lena Overbeck Layout: Sandra Bräutigam 14 26 Druckerei DFS Druck Brecher GmbH, www.dfs-pro.de Duale Karriere ISSN-Nr. Motilität und Mobilität 2192-3531 Fortsetzung der Zusammenhang von Motilität und Mobilität Evaluation der im realen Leben älterer gebrechlicher Menschen Cover: Shutterstock NRW-Sportschulen Eine PDF- und Online-Version finden Sie unter: www.dshs-koeln.de/impulse In dieser Publikation wird aus Gründen einer bes- seren Lesbarkeit teilweise nur die männliche Form/ Ansprache verwendet. Dies soll ausdrücklich nicht als Diskriminierung von Frauen verstanden werden. 4 IMPULSE | 02 | 2019 5
(z. B. Schul- oder Leistungssport) durch ein Wesensmerkmal charakterisiert, das Handstandvermittlung Bewegungsvermittlung im Turnen ist unabhängig vom jeweiligen Setting im Turnen die Initiierung motorischer Lernprozesse erschwert: Zeitdruck. Text Jonas Rohleder & Tobias Vogt E ng geschnürte Wettkampfkalender stehen dem Leistungstur- ner heutzutage bei der Implementierung neuer turnerischer Elemente in die Wettkampfübung entgegen. Doch auch Studie- rende der Deutschen Sporthochschule Köln erfahren bereits im Turn- praxiskurs des Basisstudiums die Schwierigkeit, innerhalb nur weniger verfügbarer Semesterwochen grundlegende turnerische Fertigkeiten bis zur praktischen Prüfung zu erlernen und bestenfalls zu automatisie- ren. Diese wenigen Beispiele verdeutlichen bereits die Notwendigkeit einer Erforschung zielführender Vermittlungskonzepte für erfolgrei- ches Bewegungslernen im Turntraining und -unterricht auch innerhalb kurzer Zeiträume. Es liegt nahe, dass sich derartige Vermittlungsfor- schung äußerst anwendungs- und zielgruppenorientiert sowie insbe- sondere interdisziplinär gestalten muss, zumal durch Lehrkräfte und Trainer*innen sowohl das Know-How (Methodik, zielführendes Feed- back und Instruktion) als auch das Know-That (Lehrgegenstand und -inhalt, Bewegungscharakteristik) der Zielbewegung berücksichtigt werden muss (vgl. Sands, 2018). Die wissenschaftliche Fundierung effektiver Bewegungsvermittlung bedient sich somit der generierten Wissensbestände sportwissenschaftlicher Disziplinen (z. B. Biomecha- nik, Bewegungswissenschaft, Sportpsychologie), um auf dieser Basis praktizierte Trainingslehre auf den Prüfstand zu stellen und moderni- sierte Handlungsstrategien zu eruieren. Die im Folgenden ausschnitt- weise vorgestellte Studie verfolgt genau diese Zielstellung für das Basiselement Handstand. IMPULSE 02 | 2019 7
Abb. 3 Das Aufschwingen zum Handstand Das Aufschwingen zum Handstand auf dem Boden gilt unabhängig vom turnerischen Leistungsniveau als Basisfertigkeit des Gerätturnens und beschreibt die Testaufgabe der vor- liegenden Studie. Als grundlegende Voraussetzung für weiterführende turnerische Elemente ist diese Bewe- gung u.a. Bestandteil der Sporteig- nungsfeststellung im Bodenturnen an der Deutschen Sporthochschule Köln. Unabhängig vom Leistungsniveau ist der Handstand auf dem Boden sop et al., 2017; Gautier et al., 2009). Es gilt als belegt, dass die Auf- Die vorliegende Studie widmete sich daher der Frage nach praktischen Abb. 1 Handstand als invertiertes Pendel Der Handstand modeliert als invertiertes Pendel, das DAS Basiselement des Turnens (Bessi, 2009). Bereits bei grundlegen- rechterhaltung der Balancekontrolle bei sportmotorisch hochwertigen Effekten eines expliziten Coachings zur wrist strategy auf die sport- aus einem Segment bestehend um die Handgelenke den turnerischen Bewegungen (z. B. Rad) wird der Handstand dyna- Handstandleistungen primäre Aufgabe der handgelenkumspannenden motorischen Handstandleistungen (Qualität der Handstandposition, als inferior gelegene Rotationsachse rotiert (vgl. misch durchlaufen und verkörpert im Leistungssport gerätübergreifend Muskulatur ist (Blenkinsop et al., 2017). Die Literatur spricht hier von Aufrechterhaltung der Balancekontrolle) bei Turnnovizen unterschied- Blenkinsop et al., 2017). die Ausgangs- und Endposition dynamischer Bewegungen (Hedbávný der wrist strategy (Yeadon & Trewartha, 2003). Erst im Fall größerer lichen Ausgangsniveaus. Basierend auf dem Literaturstand wurden fol- et al., 2013). Ein guter Handstand definiert sich aus sportmotorischer Balancestörungen, für deren Ausgleich die im Handgelenk erzeugten gende Hypothesen formuliert: Abb. 2 Training der Handgelenkflexoren Aufwickeln eines moderaten Gewichts, welches mit Perspektive primär durch zwei Charakteristika, A: Die Qualität der li- Drehmomente nicht ausreichend sind, werden höher gelegene Gelenke einem Seil verbunden an einem Gymnastikstab befes- nearen Körperposition; B: Die Aufrechterhaltung der Balancekontrolle für Ausgleichskorrekturen hinzugezogen. Die shoulder strategy bzw. (I) Weniger qualifizierte Novizen zeigen im Vergleich zu qualifizierteren tigt ist. Das Seil hängt auf der der/m Trainierenden (Uzunov, 2008). Die gegenwärtige Literatur zur methodischen Heran- hip strategy kennzeichnen somit Handstände von Turnern niedrige- Novizen eine verlängerte Verweildauer (Balancezeit) im Handstand. zugewandten Seite des Gymnastikstabs, der Gymnas- führung an den Handstand liefert einerseits ein breites Repertoire an ren Niveaus. Mit Blick auf das Know-That, also dem Lehrinhalt der tikstab wird dabei vom Körper weg rotiert. Trainingsübungen (Bessi, 2009; Uzunov, 2008). Die dort geschilderte Handstandvermittlung, ist somit aus biomechanischer Sicht Folgendes (II) Weniger qualifizierte Novizen zeigen im Vergleich zu qualifizierteren Trainingslehre deutet dennoch darauf hin, dass der Ausprägung der festzuhalten: Anzustreben ist der Balancemechanismus der wrist stra- Novizen eine verbesserte Qualität der linearen Handstandposition. linear stabilisierten Körperposition im Handstand oberste Priorität ein- tegy, bei dem der Körper als ein Segment stabilisiert um diejenige zuräumen ist. Ein durch Aufrichtung des Beckens stabilisierter Bein- Gelenkpartie als invertiertes Pendel rotiert, die der Unterstützungsflä- Rumpf-Winkel sowie ein geöffneter Arm-Rumpf-Winkel stehen im Fokus. che inferior am nächsten gelegen ist (Abb. 1). Der Körperschwerpunkt Methodik Dieser Ansatz wird in der Trainingspraxis üblicherweise durch Feedback (KSP) wird über den Händen als Unterstützungsfläche lokalisiert (vgl. Stichprobe (verbal und/oder taktil) und explizite Instruktionen (z. B.: „Schieb dich Blenkinsop et al., 2017; Yeadon & Trewartha, 2003). Es ist offen- N = 32 Sportstudierende der DSHS (17 weiblich, 15 männlich; Alter; raus aus der Schulter“) untermauert. Mit Blick auf das Know-How der sichtlich, dass der Unterarmmuskulatur, mit Blick auf den natürlichen 21.34 ± 1.49 Jahre; Körperhöhe: 175.14 ± 10.26 cm; Körpermasse: Bewegungsvermittlung sind die Vorzüge expliziten Lernens hinsicht- Handaufsatz im Handstand auf dem Boden insbesondere den Flexoren, 68.23 ± 11.67 kg) ohne besondere Vorerfahrungen im Turnsport wurden lich der Verbalisierung entscheidender Bewegungsmerkmale unbestrit- eine große Bedeutung zukommt. rekrutiert. Die erfolgreiche Teilnahme an der Sporteignungsfeststellung ten (Sun et al., 2001), womit entscheidende Facetten einer mentalen im Vorfeld des Studiums garantierte dennoch eine grundlegende Vor- Bewegungsrepräsentation angelegt werden können (Wiemeyer, 1994). Um auf dieser Basis der Frage nach dem Stellenwert der Handgelenks- erfahrung mit dem Aufschwingen zum Handstand auf dem Boden. Die Dennoch weisen Studien darauf hin, dass explizite Hinweise bereits flexion im Handstandtraining zu begegnen, ist festzuhalten, dass so- Studie wurde durch die Ethikkommission der DSHS genehmigt. automatisierte motorische Abläufe Fortgeschrittener beeinträchtigen wohl Übungsgut als auch Feedback und Instruktion zu diesem Aspekt können (s. g. Reinvestment-Theorie, Masters & Maxwell, 2008). nur eine untergeordnete Rolle spielen (Bessi, 2009; Uzunov, 2008). Testaufgabe Vereinzelte Übungen befassen sich zwar mit Ansteuerung und Kräf- Alle Proband*innen absolvierten zwei Testsessions (Prä- und Posttest) In Anbetracht dieser Ausgangslage darf hinterfragt werden, ob diese tigung entsprechender Muskulatur (Abb. 2), ein expliziter Bezug zur mit jeweils drei Versuchen des Aufschwingens zum Handstand auf dem Methodik zur Verbesserung einer ganzheitlichen Handstandleistung Bedeutsamkeit dessen für die sportmotorische Handstandleistung er- Boden (Abb. 3). Das kommunizierte Ziel lag in einer möglichst langen innerhalb kurzer Zeit ausreicht? Und welche Rolle spielt das Training scheint aber in Relation zur offensichtlichen biomechanischen Rele- Verweildauer im Handstand, Hinweise zur Körperstabilisierung wurden der Handgelenkmuskulatur, zumal auch die Aufrechterhaltung der Ba- vanz unterrepräsentiert. Unbestritten sind auch die Vorzüge impliziten nicht gegeben. Auf die individuelle Vorbereitung (Handstände waren lancekontrolle charakteristisches Merkmal guter Handstände ist und Lernens hinsichtlich einer verbesserten Nachhaltigkeit und Variabilität verboten) folgte ein einzelner Probeversuch zur Gewöhnung. Das Ver- die Hände als Schnittstelle zwischen Körper und Boden fungieren? Stu- (Reber, 2013). Da die biomechanische Charakteristik des Handstandes lassen des Handstandes war durch Abrollen oder das Seit-/Rücksprei- dien, die die Handstandcharakteristik von Turnnovizen thematisieren, aber mit fortgeschrittenen Turnern heterogenen Leistungsniveaus wis- zen zur Ausgangsposition beliebig zu gestalten. Griffkorrekturen im sind rar und beziehen sich lediglich auf die Eruierung der Wirksam- senschaftlich eruiert, jedoch in Vermittlungskonzepten zum Erlernen Handstand führten zum Versuchsabbruch. Die Durchführung auf einer keit verschiedener Feedbackstrategien (Maleki et al., 2010; Rohleder des Handstandes für Novizen heterogenen Niveaus offenbar nur unzu- Turnmatte in Halle 21 der DSHS gewährleistete sportartspezifische Be- & Vogt, 2018). Verschiedene Studien mit fortgeschrittenen Turnern reichend verankert ist, stellt sich die Frage nach eventuellen Alterna- dingungen und ein anwendungsorientiertes Umfeld. Die Hände wurden untersuchten jedoch die biomechanischen Merkmale zur Aufrechterhal- tiven in der Handstandvermittlung, möglicherweise durch die Umkehr standardisiert innerhalb eines rechteckigen Korridors (Breite: 80 cm; tung der posturalen Kontrolle im Handstand auf dem Boden (Blenkin- impliziter und expliziter Lehrinhalte. Tiefe: 30 cm) platziert. 8 IMPULSE 02 | 2019 9
Woche 1 vor Woche 2 Woche 2 Woche 3 Woche 4 Woche 5 Pretest Video tutorial 5 Trainingseinsheiten Posttest 10 min 2:30 min each 15 min 10 min individuelle Introducing Für jede Trainingseinheit gilt: individuelle Vorbereitung the participants Individuelle Vorbereitung Vorbereitung 1 Probeversuch to the 6 Trainingsübungen x 2 Sätze 1 Probeversuch 3 Versuche wrist strategy 3 Versuche Datenerhebung Datenerhebung Der Handstand ist das Basiselement im Turnen und eine Grundposition in verschiedenen Sportarten. Abb. 5 Datenerhebung im anwednungsorientierten Setting. Tab. 1 Experimentelles Design Untersuchungsdesign In Anlehnung an geltendes internationales Regelwerk hinsichtlich er- Die experimentelle Struktur der Studie ist charakte- Alle Proband*innen durchliefen den Prätest innerhalb einer Woche laubter Winkelabweichungen von der Handstandposition wurde die Ver- risiert durch das Prä-Post-Design. Zwischen Prä- und (Abb. 4). Es folgte ein Video-Tutorial mit prägnantem deklarativem weildauer im Handstand innerhalb eines Korridors von 15° vor und hinter Post-Test ist ein dreiwöchiger Interventionszeitraum Wissen zum Prinzip der wrist strategy zur Aufrechterhaltung der Hand- der Vertikalen oberhalb der Handgelenke gemessen (FIG, 2017; Rohleder verankert, der eingeleitet durch ein Video-Tutorial standbalance. Im Fokus stand die Aufmerksamkeitslenkung auf die & Vogt, 2018a). Die Messung begann, sobald sich beide Beine nach insbesondere durch physische Trainingsübungen zur Platzierung des KSP über der Unterstützungsfläche sowie auf die er- dem Aufschwingen zum Handstand vollständig innerhalb des Korridors Implementierung der wrist strategy geprägt ist. forderliche Handgelenksflexion zur Vermeidung des ventralen Überfal- befanden. Unter folgenden Bedingungen wurde die Zeitmessung abge- lens aus dem Handstand. Daraufhin absolvierten alle Proband*innen brochen; 1: Verlassen des Korridors durch die Sprung- oder Fußgelenke, Abb. 4 innerhalb der anschließenden drei Wochen in Folge des Prätests fünf 2: Einleitung der Abrollbewegung durch initiales Beugen der Ellbogen Ü1: Aufwickeln einer mit einem Seil verbundenen praktische Trainingseinheiten, bestehend aus zwei Sätzen mit jeweils oder Einrollen des Kopfes, 3: Einleitung des Seit- oder Rückspreizens der Gewichtscheibe (1.25 kg) auf einen Stab. sechs verschiedenen Trainingsübungen. Basierend auf den im Tutorial Füße (initiale Öffnung der maximal verringerten Lücke zwischen beiden Ü2: Schrägstand mit parallelen Armen in Hochhalte vermittelten Inhalten adressierten die entsprechenden Übungen aus- Füßen). und wiederholter Hand- und Fingerdruck gegen die schließlich das fertigkeitsspezifische Training der Handgelenksflexoren Wand, so dass die Wand allein durch die Fingerspitze für den Handstand auf dem Boden. Angelehnt an Uzunov (2008) wur- In Abstimmung mit geltenden Bewertungskriterien (FIG, 2017) wur- kontaktiert wird. den folgende Übungen (Ü1 - Ü6) konzipiert (Abb. 4). de die Qualität der Handstandposition von vier unabhängigen Turn- Ü3: Kniestand und wiederholte Palmarflexion des Expert*innen (jeweils zwei Trainer*innen und Kampfrichter*innen mit Handgelenks mit einer Gewichtscheibe (1.25 kg) in Gemäß empfohlener Trainingsumfänge und -intensitäten (Uzunov, nationaler Lizenz) durch Punktevergabe auf einer Skala von 0.0-10.0 be- jeder Hand. 2008) wurde jede Trainingsübung für 30 s durchgeführt, gefolgt von wertet. Die Expert*innen wurden instruiert, die Verweildauer im Hand- Ü4: Freies Üben des Aufschwingens zum Handstand einer selbstbestimmten Erholungspause (≤ 30 s). Anpassungen der Kör- stand bei der Bewertung nicht zu berücksichtigen. Stattdessen wurden mit dem Ziel, den KSP vertikal über der Unterstüt- perposition im Handstand (Ü4 und Ü6) erfolgten lediglich implizit und Sie angehalten, Unsicherheiten und Winkelabweichungen von der per- zungsfläche zu platzieren; Zusätzlich: Selbstbe- ohne jegliche externe Instruktion. Im Nachgang der dritten Trainings- fekten Körperlinie in den großen Körpergelenken zu bewerten. Alle Test- stimmtes Video-Feedback (Zeitverzögerung: 12 s) woche erfolgte der Posttest gemäß Prätest-Bestimmungen (Tab. 1). versuche wurden den Expert*innen in randomisierter Form präsentiert. mittels Tablet-PC. Ü5: Schlusstand mit parallelen Armen in Hochhalte Datenerhebung und -verarbeitung Statistische Datenanalyse und wiederholte Palmarflexion im Handgelenk mit ei- Die Nutzung eines let-PCs (Frequenz: 60 Hz; Auflösung: 1080 p) er- In Anbetracht kollidierender Termine und physischer Probleme be- ner Gewichtscheibe (1.25 kg) in jeder Hand. möglichte standardisierte und anwendungsorientierte Videoaufzeich- dingt durch das Sportstudium mussten sechs Proband*innen die Studie Ü6: Aufschwingen zum Handstand mit Kontakt der nungen aus der Sagittalebene (Abb. 5). Tape-Marker wurden an den abbrechen und wurden von der weiteren statistischen Datenanalyse Oberschenkel gegen einen Barrenholm (Handstütz folgenden anatomischen Orientierungspunkten angebracht; 1: Handge- ausgeschlossen. Ein Proband wurde mittels 2σ-Methode als Ausreißer ca. 10 cm entfernt von der Vertikalen des Holmes) lenk (processus styloideus ulnae), 2: Schulter (deltoideus posterior), 3: identifiziert und ausgeschlossen. In Anlehnung an Vogt et al. (2017) und Lösen des Kontaktes vom Holm durch Palmarfle- Hüfte (trochantor major femoris), 4: Knie (epicondylus lateralis femo- wurden die übrigen Proband*innen (n = 25) einer von zwei Gruppen zu- xion im Handgelenk; Kein bewusstes Abdrücken mit ris), 5: Sprunggelenk (malleolus lateralis). Weitere kinematische Video- geordnet. Dazu wurde die nach Mittelwerten der Prätest-Balancezeiten den Beinen vom Holm erlaubt. auswertungen wurden mit der Software Kinovea 0.8.15 durchgeführt. sortierte Rangliste der Proband*innen in zwei Hälften geteilt (lange 10 IMPULSE 02 | 2019 11
Balancezeit Handstandqualität weniger qualifizierten (Z = -2.67, p < .05, d = .79), jedoch nicht für die qualifizierteren Novizen (Z = -1.71, p > .05, d = .47). Weiterhin zeigte 1.80 8.00 der Mann-Whitney-U-test signifikante Gruppenunterschiede im Prätest, 1.60 U = 22.50, p < .01, allerdings nicht im Posttest, U = 77.50, p > .05 7.00 (Abb. 7, Tab. 2). 1.40 mittlere Balancezeit [s] Der Aha-Effekt Expertenurteil [Punkte] 1.20 6.00 Die vorliegende Studie untersuchte praktische Effekte eines explizi- 1.00 5.00 ten Coachings zur wrist strategy (Yeadon & Trewartha, 2003) auf die 0.80 sportmotorischen Handstandleistungen bei Turnnovizen unterschiedli- 0.60 4.00 * chen Ausgangsniveaus. 0.40 * 3.00 Gemäß unserer Hypothese (I) zeigten weniger qualifizierte Novizen im Nachgang der Intervention verbesserte Balancezeiten im Handstand. 0.20 Dieser Effekt blieb bei qualifizierteren Novizen aus. Durch Bewusstma- 0.00 2.00 chung der wrist strategy wird bei gänzlich Unerfahrenen offenbar ein Pre Post Aha-Effekt hinsichtlich eines Verständnisses für die Handstandbalance Pre Post weniger qualifiziert qualifiziertere weniger qualifiziert qualifiziertere erzielt, was auf positive Wirkweisen expliziten Lernens zu schließen ist (Sun et al., 2001). Handstände fortgeschrittener Anfänger könn- ten hingegen durch Reinvestment (Masters & Maxwell, 2008) negativ Weniger qualifizierte Nozen qualifizierte Nozen beeinflusst worden sein, wobei die Balancezeiten in dieser Gruppe le- Variable diglich stagnierten, sich jedoch nicht reduzierten. Prätest Posttest Prätest Posttest Gemäß unserer Hypothese (II) zeigten weniger qualifizierte Novizen im Balance - Zeit [s] 0.44 ± 0.19 0.90 ± 0.47 1.30 ± 0.65 1.21 ± 1.05 Nachgang der Intervention verbesserte Qualitäten der Handstandposi- tion. Dieser Effekt blieb bei qualifizierteren Novizen aus. Es liegt nahe, Handstandqualität [Punkte] 4.07 ± 1.20 5.22 ± 1.37 6.00 ± 1.01 5.25 ± 1.16 dass die Bewusstmachung der wrist strategy bei gänzlich Unerfahrenen implizit bewirkt haben könnte, dass Schulter- und Hüftgelenk weniger für Ausgleichskorrekturen hinzugezogen werden müssen, was sich po- sitiv auf das Erscheinungsbild der Handstandposition im Expertenauge ausgewirkt haben könnte. Zudem vermag das vermutete Reinvestment (Masters & Maxwell, 2008) bei Turnern mit impliziter Erfahrung im Abb. 6 & 7 Balancezeit, 1.30 ± 0.65 s; kurze Balancezeit, 0.44 ± 0.19 s). Gemäß Handstand auch eine Verbesserung der Handstandvirtuosität beein- Graphische Darstellung zur Veränderung der dieser Gliederung wurden die Proband*innen in den weiteren Analysen trächtigt haben. Handstand-Balancezeiten und Handstandqualität im als qualifiziertere (n = 13) und weniger qualifizierte Novizen (n = 12) Prä-Post-Vergleich. klassifiziert [t(23) = 5.40, p < .01]. Ungeklärt bleibt die Frage, ob die erzielten Effekte primär durch das im Tutorial vermittelte deklarative Wissen zur wrist strategy bedingt sind, Tab. 2 Für die intervallskalierte Variable Balancezeit wurde eine Varianzana- oder ob tatsächlich die dreiwöchige Trainingsintervention ausschlag- Tabellarische Darstellung (M±SD) zur Veränderung lyse mit Messwiederholung (ANOVA) durchgeführt, zumal paarweise gebend war. Hierzu sind weiterführende Studien erforderlich. der Handstand-Balancezeiten und Handstandquali- Vergleiche (t-Test für abhängige und unabhängige Stichproben) post tät im Prä-Post-Vergleich. hoc gerechnet wurden. Zur Bestimmung von Mittelwertunterschieden Zusammenfassend rechtfertigen die vorliegenden Ergebnisse die Erfor- für die ordinalskalierte Variable Handstandqualität wurden Wilcoxon- schung praxisnaher Auswirkungen eines expliziten Coachings zur wrist Fotos: LSB NRW / Andrea Bowinkelmann; Deutsche Sporthochschule Köln Test sowie der Mann-Whitney-U-Test angewendet. Um der Alphafehler- strategy auf die Handstandleistungen bei Novizen unterschiedlichen Dr. Jonas Rohleder, geboren 1989 in Siegen, Kumulierung entgegenzuwirken wurde das α-Niveau mittels Bonferro- Leistungsniveaus. Die gewonnenen Erkenntnisse suggerieren, gänzlich studierte an der Deutschen Hochschule für Gesund- ni-Holm-Korrektur angepasst. Zur Einordnung der Interraterreliabilität Unerfahrene explizit auf die Funktionsweise der Handgelenke im Hand- heit und Sport in Berlin. Seit 2015 ist er Lehrkaft wurde für die Handstandqualität zudem Kendall’s Konkordanzkoeffizi- stand aufmerksam zu machen, um innerhalb kurzer Zeiträume ganzheit- für besondere Aufgaben im Lehr- und Forschungs- ent (W) berechnet [W(149) = .787, p < .01]. Für die statistische Da- lich verbesserte Handstandleistungen zu bewirken. gebiet Turnen am Institut für Vermittlungskom- petenz in den Sportarten (IVKS) der Deutschen tenanalyse wurde die Software SPSS 25.0 verwendet. Das Signifikanz- Sporthochschule Köln. Rohleder war professioneller niveau wurde auf p .05, d = .27]. Haupteffekte hinsichtlich der Faktoren Messzeitpunkt und Gruppe blieben aus, F(1, 23) = 1.88, p > .05, η2p = .08 (Abb. 6, Tab. 2). Handstandqualität Der Wilcoxon-Test zeigte signifikant gesteigerte Punktzahlen für die 12 IMPULSE 02 | 2019 13
Duale Karriere Fortsetzung der Evaluation der NRW-Sportschulen Text Benjamin Bonn, Tino Symanzik, Swen Körner, Johannes Karsch & Christopher Nöcker D ie gemeinsame Story von Akteuren in Ver- Sportschule der Abteilung Pädagogik der Deutschen bünden von Schule und Leistungssport ist Sporthochschule befasst sich seit dem Jahr 2013 die zeitgleiche Förderung schulischen und mit der Untersuchung der jeweiligen Standorte und sportlichen Erfolgs. Schulpflichtige Nachwuch s- erforscht die Implementation und Wirksamkeit des leistungssportler*innen sollen bestmögliche Modells. Aus der systematischen, wissenschaftli- schulische Abschlüsse mit leistungssportlichem chen Analyse resultiert eine Basis zur Bewertung Engagement und Erfolg vereinen können. In und Weiterentwicklung dieser Förderstruktur. Nach Nordrhein-Westfalen (NRW) stehen für die Unter- dem Ausgangsprojekt und der Untersuchung von stützung einer solchen dualen Karriere seit dem acht Standorten mit neun Schulen (2013-2015) Jahr 2006 NRW-Sportschulen zur Verfügung, in widmete sich das Folgeprojekt den zehn weiteren, denen neben dem überbergreifendem Schulprofil noch nicht evaluierten Standorten mit 23 Schulen und ggf. verschiedenen Schwerpunkten Leistungs- (2016-2018). Die Ergebnisse dieser Evaluation sind sport in besonderer Weise gefördert werden soll. Gegenstand des vorliegenden Beitrags. In fünf Ab- Eine strukturgebende Bedeutung weisen dabei die schnitten werden überblicksartig Forschungsdesign Rahmenvorgaben (RV) des Landes NRW (MFKJKS, und zentrale Ergebnisse entlang der Evaluationsdi- 2011) auf, in denen Grundzüge und einzelne Maß- mensionen geschildert. Eine Abschlussbetrachtung nahmen des Modells programmatisch festgelegt mit ausgewählten Handlungsempfehlungen und ei- sind. Das Forschungsprojekt Evaluation der NRW- ner Gesamteinschätzung schließt die Ausführungen. IMPULSE 02 | 2019 15
b) der Ermächtigung zur selbstbestimmten Steuerung In den Abweichungen von der Programmvorgabe im Verbund ist und somit als gemeinsame Story des der individuellen Entwicklung. liegen allerdings wiederum Gemeinsamkeiten der Netzwerks identifiziert werden kann. Die Berücksich- Schulen; z. B. dadurch, dass Schwierigkeiten bei tigung schulischer und sportlicher Leistungen und Innerhalb dieses Verständnisses findet die Analyse Aufnahmeverfahren bestehen, die Sportstättensitu- Anforderungen in diversen Kontexten sowie Maßnah- und Bewertung des Modells statt. In der Umsetzung ation Bedarfe aufweist oder bei Kooperationen mit men zur Förderung der sozialen oder persönlichen liegt der Schwerpunkt auf der Implementation des Grundschulen Probleme und Limitationen beste- Entwicklung drücken das beispielhaft aus. Damit ver- Programms und der programmatischen Berücksich- hen. Auf programmatischer Ebene fehlt es zudem weist die Untersuchung dieser Sozialbeziehungen auf tigung von Voraussetzungen pädagogischer Qua- zum Teil an aktuellen Schulprogrammen, expliziten pä-dagogische Qualität im Netzwerk der jeweiligen lität. Akzeptanz steht dabei im direkten Bezug zu sportlichen Leitbildern und dokumentierten Talent- NRW-Sportschule. Als Enhancement kommt dies ge- Qualität als Zweckmäßigkeit und manifestiert sich verständnissen. Vor diesem Hintergrund lassen sich mäß der Zielsetzung insbesondere in der Förderung in Anlehnung an Quiring (2006) durch eine aktive neben schulspezifischen Handlungsempfehlungen schulischer und sportlicher Entwicklung zum Aus- Partizipation oder ein zustimmendes Werturteil. Die übergreifende Potenziale ausmachen und an das druck. Beide Bereiche treten im Verständnis gelun- Operationalisierung in Zufriedenheit soll etwaige Programm der NRW-Sportschule richten. gener dualer Karriere seitens der Schulleitungen auf Verständnisprobleme bspw. bei Schülern vermeiden und werden in den Maßnahmen der Schulen (Sport- (Cachay & Thiel, 2008; Kleinert & Brand, 2011). Ein weiterer Faktor, der Abweichungen von der Norm förderung, Unterstützungsmaßnahmen etc.) manifest. Mit Blick auf die Wirksamkeit wird sportliches Talent begründet, liegt in der unterschiedlichen Anzahl be- Anlässe für ein Empowerment der Schüler als Transfor- mehrdimensional begriffen und an Faktoren, wie teiligter Schulen an den jeweiligen Standorten, die mationsleistung zur Ermächtigung selbstbestimmten Motorik, Outcome, Rahmenbedingungen (Hohmann, von Einzelschulen bis zu einem Verbund von vier Handelns sind ebenfalls teilweise strukturell integriert 23 Schulen an zehn 2009; Seidel, 2011; Güllich, 2013) festgemacht Schulen, bspw. in Bochum und Köln variiert. Daraus durch das Anstreben von Reflexionsprozessen, theore- Standorten wurden evalu- sowie über die Dimensionen Transformation und ergeben sich sozialstrukturell andere Ausprägungen tischen Thematisierungen des Sports oder des eigenen iert. In einer ersten Phase Forschungsdesign Zweckmäßigkeit analysiert. des jeweiligen standortspezifischen Netzwerks NRW- Trainings oder beispielhaft Aktionstagen zum Thema (2013-2015) wurden Als Evaluation ist das Forschungsprojekt auf die Sportschule. NRW-Sportschulen bilden Netzwerke aus Doping. Beratungsangebote stehen an allen Schulen bereits neun Schulen an empirisch fundierte und methodisch kontrollierte Die Evaluation greift dabei auf einen Mix aus quan- Schule(n), organisiertem Sport in Form von Vereinen, zur Verfügung und können bspw. bei Druck (in Schule acht Standorten evaluiert. Bewertung des Programms NRW-Sportschule in- titativen und qualitativen Zugängen zurück. Die Um- Verbänden, Stützpunkten etc., städtischen Partnern, und/oder Sport) zum Einsatz kommen. Darüber hinaus Nachzulesen in: klusive seiner Ziele und Maßnahmen ausgerichtet. setzungsdimension umfasst Ergebnisse einer Analyse politischen Instanzen und weiteren Akteuren. Die umfasst die sportliche Förderung abseits des Wegs als IMPULSE 2|2017 Damit werden die Schwerpunkte auf die Kontrolle von Schulmaterialien und leitfadengestützten Inter- beteiligten Akteure variieren ebenso wie ihre Zentra- Leistungssportler*in weitere Einbindungsmöglichkei- www.dshs-koeln.de/ und Effekte der bestehenden Implementation sowie views mit Schulleitungen (n = 23). Eine zusätzliche lität im Netzwerk, wobei sich innerhalb eines Stand- ten u. a. durch breitensportlich ausgerichtete Maß- impulse die rekursive Programmgestaltung gelegt (Kromrey, Interviewbefragung dient der Nacherhebung offen orts Partner mit unterschiedlichen Voraussetzungen nahmen oder in Form von Ausbildungsangeboten für 2005). Struktur geben die Evaluationsdimensionen gebliebener und der Vertiefung einzelner Aspekte finden, bspw. durch die Beteiligung von Bundesli- Sporthelfer*innen, Übungsleiter*innen etc. (1) Umsetzung der ministeriellen RV, (2) Akzeptanz (n = 23). Die Auswertung der Interviews verlief mit- gavereinen oder hauptsächlich auf ehrenamtlicher des Modells und der Umsetzung und (3) Wirksamkeit tels strukturierender Inhaltsanalyse (Mayring, 2015; Tätigkeit basierenden Vereinen. Die Intensität der Akzeptanz in der Talententwicklung. Folgende Leitfragen ste- Schreier, 2014) und gemäß der Erwartungscluster. In Zusammenarbeit weist ebenfalls Unterschiede durch Die Umsetzung und Ausrichtung des Programms trifft hen im Fokus: Wurden die in den RV formulierten den Dimensionen Akzeptanz (21 Schulen) und Talen- engere und lockere Kooperationen auf. Am Standort bei den befragten Akteuren weitestgehend auf Ak- Anforderungen, Zielsetzungen und Rahmenbedin- tentwicklung (12 Schulen) dienten standardisierte Bochum nimmt beispielhaft der dortige Olympia- zeptanz. Mehrheitlich negative Bewertungen von gungen für NRW-Sportschulen hinreichend erfüllt? Fragebögen digital und analog mit offenen und ge- stützpunkt eine zentrale Rolle ein, der neben sei- Maßnahmen sind auf der sachstrukturellen Ebene die Inwieweit finden die Schulen aus Sicht der betei- schlossenen Fragen zur Datenerfassung. ner Einbindung in Maßnahmen und Absprachen als ligten Akteure intern wie außerschulisch Akzeptanz? Mittler eine Verknüpfung zu weiteren Organisationen Wie entwickeln sich Schülerinnen und Schüler in den herstellt, wie Abbildung 1 darstellt. NRW-Sportschulen als sportliche Talente? Ergebnisse & Diskussion Umsetzung Bei aller Unterschiedlichkeit finden sich schulüber- Verbundschulen Schule Schüler Die Dimensionen sind über das zugrundeliegende Die Umsetzung von Maßnahmen und deren Ausrich- greifend ähnliche Strukturen u. a. bei der Gestaltung theoretische Modell gekoppelt. Den Ausgangs- tung orientiert sich bei den Schulen zumeist an den von Kommunikationswegen und Funktionen einzelner punkt bildet die sozialwissenschaftliche Netz- Vorgaben der NRW-Sportschulen. Das betrifft insbe- Akteure. Während Schulleitungen als Machtpromoto- werkforschung mit der Perspektive, Netzwerke aus sondere Strukturen, wie den Einsatz des Motorischen ren agieren und damit von zentraler Bedeutung bei Abstimmungsge- zentraler Beratung spräche Partner (z.B. Laufbahn) NRW-Sportschulen Sozialbeziehungen zwischen Akteuren als eine Tests 1 für NRW, das Angebot von Schulsportge- Entscheidungsprozessen (z. B. Kooperation, Freistel- Ziel der NRW-Sportschulen Grundstruktur des Sozialen zu verstehen (Fuhse, meinschaften und die Integration von Sportmodulen lungen) und der Durchsetzung des Programms sind, ist die Förderung der 2009). Als prinzipiell offene Gebilde überspannen in den Schulalltag (Sportfeste, Pausensport etc.), findet sich an allen Schulen die Position der Sport- Nachwuchsleistungs sie unterscheidbare Netzwerkkontexte und lassen spezielle Angebote für Sportler*innen in Form (in- koordination, die in der Zusammenarbeit diverser Vereine OSP sportler*innen in der sich auf ihre Ausprägungen, wie z. B. Zentralität, dividualisierter) Betreuungs- und Unterstützungs- Organisationen als Beziehungspromotor wirken und Verbände Vereinbarkeit von schu- Nähe und Distanz hin analysieren. Das idealtypi- maßnahmen oder Freistellungen. Zugleich bricht schulintern als Prozesspromotor Abläufe zwischen lischen und sportlichen sche, in den RV beschriebene Netzwerk dient dabei sich die Programmnorm an den jeweiligen regiona- einzelnen Akteuren verknüpfen. Als Ansprechpartner Anforderungen. als Messlatte. Das Forschungsprojekt verknüpft die len und schulspezifischen Bedingungen, bei denen für verschiedene Akteure nehmen sie im Verbund von Verknüpfung netzwerktheoretische Perspektive mit den Dimen- Unterschiede vor allem in Art und Anzahl der Pro- Schule und Leistungssport eine zentrale Position ein. sionen pädagogischer Qualität. Diese liegt nach filsportarten, der Schulform und -größe, dem Ein- Andere Sozialfiguren, wie Schulkoordinatoren des Harvey und Green (2000) in der Zweckmäßigkeit stiegszeitpunkt ins Programm und leistungssport- DFB, Lerncoaches usw. finden sich an wenigen oder als Zufriedenheit mit dem Grad der Zielerreichung lichen Strukturen vor Ort etc. liegen. Die Schulen einzelnen Standorten. Voll-/Teilinternat Grundschulen Berufskolleg sowie der dazu in Anschlag gebrachten Mittel und weisen bei der Umsetzung eine Eigenlogik auf, die in Transformationsprozessen als a) persönlichen neben übergreifenden Gemeinsamkeiten der Schulen An allen Standorten wird deutlich, dass die duale Leistungs- oder Bildungswertezuwächsen und/oder insbesondere individuelle Ausprägungen anzeigt. Karriere ein übergeordneter Bezugspunkt der Arbeit Abb. 1. Beispielstruktur zur Bedeutung des Olympiastützpunkts (OSP) am Standort Bochum. 16 IMPULSE 02 | 2019 17
Tab. 1 Zufriedenheit mit dem Miteinander von Sportschüler*innen und Nicht-Sportschüler*innen*. Tab. 2 Wettkampfplatzierungen der befragten NRW-Sportschüler*innen. Akteure n Prozent MW SD 1-3 4-8 9 oder höher z eher z eher unz unz Bezirksweit 26 16 Sportschüle r 433 (36E) 48,96 36,95 10,16 3,93 1,69 0,81 Nicht- Landesweit 17 6 5 1445 (141E) 49,90 30,87 11,97 7,27 1,77 0,92 Sportschüler 2014 Bundesweit 3 0 0 Lehrer 743 (224E) 35,53 44,41 16,42 3,63 1,88 0,81 Europaweit 0 2 1 * Die Antwortkategorien sind zufrieden (1), eher zufrieden (2), eher unzufrieden (3), unzufrieden (4). MW steht für Mittelwert, Weltweit 1 0 0 SD für Standardabweichung und E für Enthaltungen. Bezirksweit 34 15 3 Landesweit 16 7 2 2015 Bundesweit 5 3 0 Europaweit 0 2 2 Ausnahme (z. B. Sportgruppenangebot, Sportstätten) ihrer sportlichen und schulischen Entwicklung ist und betreffen oftmals einzelne Akteursgruppen. Die ebenfalls heterogen und weist einerseits auf ein Weltweit 0 1 1 Negativurteile liegen teilweise in schulspezifischen duales Enhancement und andererseits auf negativ Bezirksweit 26 13 5 Gegebenheiten begründet und sind vor deren Hinter- bewertete Entwicklungen in einem oder beiden Be- Landesweit 10 6 0 grund differenziert zu betrachten. Gleiches gilt für reichen seit Aufnahme an die Schule hin. 2016 Bundesweit 7 5 4 die Sozialbeziehungen der Akteure untereinander, die Europaweit 3 3 2 überwiegend ein zweckmäßiges Miteinander umfas- Abschlussbetrachtung sen, was sich bspw. bei Unterstützungsleistungen der Mit ihrem programmgestaltenden Anspruch kommt Weltweit 1 1 3 Schüler*innen oder der Zusammenarbeit schulischer die Evaluation zu Handlungsempfehlungen auf Bezirksweit 33 16 4 und sportlicher Akteure zeigt. Beispielhaft zeigt Basis der erhobenen Ergebnisse, die sich an den Landesweit 15 11 0 Tabelle 1 die Zufriedenheit des Miteinanders von Programmgeber und/oder Einzelschulen richten. 2017 Bundesweit 6 11 10 Sportschüler*innen und Nicht-Sportschüler*innen an Anlässe betreffen unterschiedliche Ebenen: In pro- den untersuchten NRW-Sportschulen. grammatischer Hinsicht liegen Bedarfe an einer Europaweit 2 4 2 Aktualisierung und schriftlichen Dokumentation Weltweit 4 2 2 Verbesserungspotenziale liegen vor und betref- von Schulprogrammen und Leitbildern, der Abstim- Bezirksweit 30 18 7 fen bspw. die schulinterne Kommunikation sowie mung unterschiedlicher Förderlinien (Eliteschule Landesweit 16 11 3 die Einbindung der Akteure in Entscheidungen. Als des Sports, NRW-Sportschule etc.), der Diskussi- Netzwerk von Akteursgruppen bzw. Personen mit on einer expliziter Förderung des paralympischen 2018 Bundesweit 8 15 4 unterschiedlicher organisationaler Anbindung ist Sports und einer dokumentierten Bestimmung des Europaweit 3 3 1 das Ergebnis in der Mehrzahl positiv zu werten. Glei- Talentbegriffs vor. Die Dokumentation expliziter Weltweit 2 2 1 ches gilt für die Ebene der Programmatik, auf der Leitbilder oder Talentbegriffe bietet handelnden überwiegend positive Werturteile für die Förderung Akteuren Orientierung und fördert womöglich eine der dualen Karrieren und des Leistungssports sowie gemeinsame Ausrichtung von Maßnahmen, was ge- zweckmäßig. Die Überführung der Zuständigkeit für zustimmende Urteile zu positiven Zuschreibungen rade bei nicht zum institutionell-organisatorischen diese Aufgabe in eine bestehende oder die Einrich- Benjamin Bonn, geboren 1990, studierte von 2010 bis 2016 Sport und Spanisch im zum Sport (bspw. Persönlichkeitsentwicklung) das Nahbereich der Schulen gehörenden Akteuren von tung einer neuen (ggf. schulübergreifenden) Stelle Lehramt Staatsexamen für Gymnasium und Gesamtschule an der Deutschen Sporthoch- Meinungsbild prägen. Bedeutung ist. Ein mehrperspektivischer Begriff kann in Abstimmung des Programmgebers mit den schule und der Universität Köln. Seit 2013 arbeitete er im Institut für Pädagogik sportlichen Talents kann möglicherweise Akzeptanz jeweiligen NRW-Sportschulen sinnvoll sein. und Philosophie erst als studentische Hilfskraft und ab 2016 als wissenschaftlicher Mitarbeiter. 2016 begann er zudem mit seiner Promotion mit der Untersuchung von Talententwicklung für die gemeinsame Arbeit von Schule und Sport pädagogischen Formen beim Selftracking. Mitte 2019 wechselte er in die Abteilung Die Entwicklung der Talente weist dagegen ein he- begründen, die Identifikation mit dem Programm Davon abgesehen kommt die Evaluation in An- Trainingspädagogik und Martial Research. Thematische Schwerpunkte seiner Arbeit terogeneres Ergebnis auf. Steigerungen des Trai- fördern (Heinrich & Kussau, 2016) und an ein- betracht ihrer theoretischen und methodischen als wissenschaftlicher Mitarbeiter liegen derzeit in Selftracking, E-Sport, Netzwerk- ningspensums, der Wettkampfteilnahmen und der zelne Förder- und Diagnoseverfahren angekoppelt Möglichkeiten zu dem Fazit, dass die Umsetzung forschung und Verbünden von Schule und Leistungssport. » b.bonn@dshs-koeln.de -platzierungen zeigen positive Entwicklungen und werden. Sachstrukturelle Vorschläge beziehen sich des Programms insgesamt hinreichend und zweck- pädagogische Qualität als Enhancement auf. Tabelle u. a. auf einzelne Maßnahmen, Bedingungen bei mäßig stattfindet und positive Talententwicklung Dr. Tino Symanzik, geboren 1980, studierte von 2001 bis 2006 Sport- und Poli- 2 zeigt beispielhaft die Wettkampfplatzierungen der Aufnahmeverfahren, Asymmetrien bei Sportarten ermöglicht, Abweichungen von Programmnorm so- Fotos: Sandra Bräutigam; DSHS; nc-seebotfr@netcologne.de tikwissenschaft an der Universität Rostock. Seine Dissertation schrieb er von 2006 befragten NRW-Sportschüler*innen im Zeitverlauf. (Schülerzahlen, Bedingungen), Datenerhebungen wie eigenlogischer Umsetzung seitens der Schulen bis 2009 zum Thema „Netzwerk Fußball: Eine machtpsychologische Betrachtung der und Sportstätten. Ein Fehlen geeigneter Sport- erwartbar sind und Anlass für wechselseitige An- Bundesliga im Einflussfeld der Massenmedien“. Bevor er an die Sporthochschule wechselte, arbeite er crossmedial als freier Journalist und als wiss. Mitarbeiter im Schwerpunkte abseits der Profilsportarten und eine stätten ist auch dadurch von Brisanz, da diese passungen zwischen Schulen und Programm sein BISp. Seit 2013 ist er in der Abteilung Pädagogik als wiss. Mitarbeiter beschäftigt Dropoutquote von ca. zwei Dritteln zum Übergang von einigen Schulen als Bedingung zur Teilnahme können. Flexibilität auf Seiten der Schulen ist da- und koordiniert Forschungsprojekte in den Themenfeldern Dopingprävention und in die leistungssportliche Förderung stehen dem am NRW-Sportschulprogramm galt. Der Bedarf ist mit ebenso gefordert wie eine Gestaltung flexibler dem Verbund Schule-Leistungssport. Als freiberuflicher Dozent ist er zudem für die gegenüber, wobei Ursachen bei Schüler*innen dabei im Netzwerk beteiligter Partner zu decken Vorgaben, die Orientierung geben und für schulspe- Trainerakademie des DOSB und Sportverbände tätig. » t.symanzik@dshs-koeln.de (fehlendes Interesse) und Bedingungen (fehlende und an die Anforderungen jeweiliger Maßnahmen zifische Bedingungen übersetzt werden können. Unterstützung, unzureichende Vereinbarkeit) lie- (Sportunterricht, Leistungstraining etc.) anzupas- Univ.-Prof. Dr. Swen Körner, geboren 1975, hat u.a. Sportwissenschaft an der gen. Darüber hinaus deuten Angaben der befragten sen. Auf sozialstruktureller Ebene geht es um Par- Ausführlichere Darstellungen und Ergebnisse sind nach- Deutschen Sporthochschule studiert und ist Preisträger des Deutschen Studi- Schüler*innen auf Einschränkungen in der Zweck- tizipationsmöglichkeiten für Schüler*innen, Eltern zulesen in: Körner, S., Bonn, B, Karsch, J., Nöcker, C., enpreises der Körber-Stiftung 2001. 2008 promovierte er zum Dr. phil. an der mäßigkeit der Bedingungen für eine leistungs- und Vertreter*innen des Sports, Probleme bei der Scharf, M. & Symanzik T. (2019). Netzwerk NRW-Sport- Technischen Universität Darmstadt (summa cum laude). Seit 2009 ist er Professor für Sportwissenschaft. Aktuell leitet er die Abteilung für Trainingspädagogik und sportliche Förderung (an der Schule allgemein, bei Personalrekrutierung und Ausbaupotenziale bei der schule: Umsetzung, Akzeptanz und Talententwicklung an Martial Research an der Deutschen Sporthochschule Köln. Seine derzeitigen For- Sportstätten, Zusammenarbeit mit Verein) hin. Die Zusammenarbeit mit Grundschulen. So erscheint zehn Standorten des Verbundmodells. Meyer & Meyer: Aa- schungsschwerpunkte liegen im Bereich der Professionalisierung des Polizeilichen Unterstützung einzelner Akteursgruppen auf per- eine zielgerichtete Ausrichtung der Kooperation für chen (in Vorbereitung). Einsatztrainings, der Gewaltdynamiken im Einsatz von Rettungskräften und der soneller Ebene ist dagegen zufriedenstellend. Die beidseitige Erwartungssicherheit und eine Koordi- Martial Arts Studies. » koerner@dshs-koeln.de Selbsteinschätzung der befragten Schüler*innen zu nierung von Kapazitäten und erwarteten Erträgen Literatur bei den Autoren 18 IMPULSE 02 | 2019 19
Schon längere Zeit weiß man in der Medizin, dass Sport positive Effekte für das Gehirn hat. Immunbiologischer Einfluss Daher sind Sportprogramme auch für Patient*innen, die an Multipler Sklerose (MS) leiden, bereits fest etabliert. Im Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin, Abteilung molekulare und zelluläre Sportmedizin, erforschen Wissenschaftler*innen den Einfluss, den Sport und Bewegung auf diese chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems ausüben. von Sport bei Multipler Sklerose Text Sebastian Proschinger, Annette Radmacher, Niklas Joisten, Marit Lea Schlagheck, Die Multiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmunerkrankung, bei der sich autoreaktive Immunzellen David Walzick, Wilhelm Bloch, Philipp Zimmer gegen die fetthaltige Ummantelung der Nervenzellen im Zentralen Nervensystem (ZNS) richten. Die entstehenden Schädigungen der Nervenzellen beeinträchtigen maßgeblich psychomotorische Funktionen sowie die kognitive Leistungsfähigkeit, was sich negativ auf die Lebensqualität und Alltagsbewältigung der Betroffenen auswirkt. 20 IMPULSE 02 | 2019 21
Abb.1 Sporttherapeut und Studienleiter Dr. Jens Bansi motiviert in den Kliniken Valens Patient*innen und Studienteilnehmer*innen bei den regelmäßig durchge- führten Trainingseinheiten auf dem Fahrradergometer. D er zuletzt 2014 veröffentlichte „Atlas of Multiple Sclerosis“ of- zu sein. Immer mehr Studien zeigen, dass es eine gewisse Dosis-Wir- existieren zu diesem Forschungsthema jedoch wenig randomisierte- und die damit einhergehende Ausschüttung von IL-6 hemmend auf fenbarte, dass die geschätzte Zahl der Personen mit MS zwischen kungs-Beziehung zu geben scheint: Je stärker der akute Belastungsreiz kontrollierte Studien mit ausreichender methodischer Qualität, um die Freisetzung des häufig an Entzündungsprozessen beteiligten Tu- 2008 bis 2013 weltweit von 2.1 auf 2.3 Mio. anstieg (Browne, ein System aus dem Gleichgewicht bringt, desto größer sind die lang- eindeutige Aussagen über die Effekte körperlicher Aktivität auf die mor-Nekrose-Faktors-alpha (TNF-alpha) (Starkie, 2003). Drittens ist 2014). Eine Auswertung von Abrechnungsdaten der deutschen Ver- fristigen positiven Anpassungen. Tatsächlich scheinen auch Personen kognitive Leistungsfähigkeit bei Personen mit MS zu treffen (Sandroff, eine erhöhte kardiorespiratorische Fitness mit einer erhöhten Kon- tragsärzte ergab, dass in einem ähnlichen Zeitfenster (2009-2015) die mit MS besonders von intensiven Trainingsformen zu profitieren (Hub- 2016). In einer bereits abgeschlossenen Studie konnte unsere Arbeits- zentration anti-inflammatorischer Tregs assoziiert (Weinhold, 2016). Gesamtzahl an ambulant versorgten und gesetzlich versicherten Pati- bard, 2019; Zimmer, 2017). gruppe den positiven Einfluss eines hochintensiven Intervalltrainings, Besonderes Letzteres stellt vor dem Hintergrund des vermuteten pa- enten mit MS von 172 Tsd. auf mehr als 223 Tsd. gestiegen ist. Daher untersucht die Arbeitsgruppe der klinischen Sport-(Neuro-)Im- verglichen zu einem moderaten kontinuierlichen Training, auf das ver- thologischen Mechanismus von MS (siehe Abschnitt „Immunologische Etwa 85 % der Personen, die an MS leiden, haben einen schubförmig munologie unter der Leitung von Dr. Dr. Philipp Zimmer den Einfluss bale Gedächtnis bei Personen mit schubförmiger und sekundär progre- Dysbalance bei Multipler Sklerose“) eine wichtige Rolle dar. Bezüglich remittierenden Krankheitsverlauf. Anders als die primär progrediente von rehabilitativen und alltagsnahen Trainingsinterventionen auf den dienter MS zeigen (Zimmer, 2018). Darauf basierend untersuchen wir der Belastungsintensität wurde im Rahmen eines Mausmodells mit ex- Form der MS, welche sich durch einen stetigen Krankheitsfortschritt MS-spezifischen Symptomkomplex und immunologische Biomarker, um aktuell in zwei randomisiert-kontrollierten Studien den Einfluss hoch- perimenteller MS gezeigt, dass ein hochintensives Ausdauertraining charakterisiert und die schwerwiegendste Form darstellt, zeichnet sich Bewegungsempfehlungen zu optimieren und zugrundeliegende mole- intensiver Belastungen auf unter anderem die Verarbeitungsgeschwin- stärkere anti-inflammatorische Effekte verglichen zu einem moderaten die schubförmige Verlaufsform durch einen Wechsel von symptomati- kulare Mechanismen zu identifizieren. digkeit, das verbale und räumlich-visuelle Gedächtnis, um langfristig Ausdauertraining erzeugt hat (Xie, 2019). In einer Übersichtsarbeit schen und symptomfreien Phasen aus. Mit der Zeit geht diese Form nicht-medikamentöse Therapieempfehlungen aussprechen zu können von Barry et al. (2016) werden die anti-inflammatorischen Effekte kör- in die sekundär progrediente Verlaufsform mit einer kontinuierlichen Kognition (Joisten, 2019; Proschinger, 2019 eingereicht). perlicher Aktivität bei Personen mit MS dargestellt und das Potential Verschlechterung der Symptomatik über. Medikamentöse Therapien Kognitive Einschränkungen werden von 43-70 % der Erkrankten be- körperlicher Aktivität in Bezug auf die Modulation entzündlicher Pro- wirken hier auf unterschiedliche Weise regulierend auf die chronisch richtet. Verminderte Gedächtnisleistungen, Defizite in der Verarbei- Inflammation zesse hervorgehoben. Die Inhalte der einzelnen Trainingsinterventio- schwelenden entzündlichen Herde in der Peripherie und ZNS ein. Al- tungsgeschwindigkeit sowie den exekutiven Funktionen führen zu Neben neuroprotektiven Eigenschaften weist körperliche Aktivität auch nen der Untersuchungen variieren jedoch bezüglich -art, -dauer und lerdings ist bei der Einnahme von Medikamenten das Auftreten von Einschränkungen im Alltag und der beruflichen Tätigkeit vieler Be- eine anti-inflammatorische Wirkung auf. Es wird dabei zwischen indi- -intensität, was erneut den Forschungsbedarf in diesem Themenfeld unerwünschten Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen. troffenen und resultieren in einer reduzierten gesundheitsbezogenen rekten und direkten Effekten unterschieden, welche vor dem Hinter- verdeutlicht, um künftig spezifische Trainingsempfehlungen formulie- Eine nicht nur nebenwirkungsarme, sondern auf systemischer Ebene Lebensqualität (Langdon, 2012). Körperliche Aktivität stellt einen grund des allgemein wandelnden Lebensstils zunehmend an Bedeutung ren zu können. förderliche Therapiemaßnahme ist die Bewegung. Mittlerweile gibt es potentiellen nicht-medikamentösen Therapieansatz dar, welcher zu- gewinnen. Bei dem indirekten Effekt unterstützt regelmäßige körper- ausreichend wissenschaftliche Evidenz, welche die anti-inflammatori- nehmend an Bedeutung gewinnt. Bewiesen ist der positive Zusammen- liche Aktivität die Reduktion von viszeralem Fettgewebe, welches mit Immunsystem schen und immunregulatorischen Eigenschaften regelmäßiger Bewe- hang von körperlichen Belastungen und einer erhöhten Konzentration einer erhöhten Konzentration von inflammatorischen Immunzellen und Je nach Aufgabe und Rekrutierungsdauer lässt sich die Gesamtheit der gung und eines aktiven Lebensstils belegen (Pedersen, 2015; Walsh, der Wachstumsfaktoren BDNF (Brain-derived neurotrophic factor) und einer verminderten Konzentration von anti-inflammatorischen regu- Immunzellen entweder der angeborenen (u. a. Makrophagen) oder der 2011). Das ist wohl auf eine Wiederherstellung des Gleichgewichts VEGF (vascular-endothelial growth factor), welche eine starke neuro- latorischen T-Zellen (Tregs) assoziiert wird. Durch diese immunologi- erworbenen Immunabwehr (B-Zellen, T-Zellen) zuordnen. Bei der MS zwischen (anti-)inflammatorischen Immunzellen und ihrer Produktion protektive Wirkung aufweisen und unter anderem für die Stimulation sche Dysbalance ist das Risiko eines chronischen inflammatorischen weiß man um ein Ungleichgewicht im Arm des erworbenen Immunsys- von Botenstoffen zurückzuführen. Durch die Kooperation des Instituts von Neuro-, Synapto- und Angiogenese verantwortlich sind (Zimmer, Zustands im Körper deutlich erhöht (Gleeson 2011). tems zugunsten der T-Zellen mit proinflammatorischen Eigenschaften für Kreislaufforschung und Sportmedizin (Abt. molekulare und zelluläre 2019 akzeptiert). Zusätzlich konnten Anpassungen durch körperliche Dem direkten Effekt werden verschiedene Mechanismen zu Grunde ge- (Jones, 2016). Insbesondere spricht man hier von den sogenannten Sportmedizin) mit den Kliniken Valens (Rehabilitationsklinik, Schweiz) Belastungen auf struktureller Ebene im Gehirn bei Personen mit MS legt: Erstens besteht ein Zusammenhang zwischen der akuten Aus- T-Helferzellen vom Typ 1 (TH1) und 17 (TH17), welche bei einer chro- konnten bisher eindrucksvolle Ergebnisse eines regelmäßigen Trainings festgestellt werden (Kjølhede, 2018). Vor dem Hintergrund der neuro- schüttung von Interleukin- (IL) 6 durch Muskelkontraktionen während nisch erhöhten Aktivität durch die Produktion von inflammatorischen auf den Symptomkomplex sowie mögliche zugrundeliegende moleku- degenerativen Eigenschaften von MS und der beschriebenen Wirkung körperlicher Aktivität und einer anschließend erhöhten Konzentrati- Botenstoffen nicht nur auf peripherer Ebene negative Effekte zeigen, lare Mechanismen festgestellt und publiziert werden (Zimmer, 2017). von körperlicher Aktivität weisen sporttherapeutische Bewegungsin- on anti-inflammatorischer Zytokine wie IL-10 und IL-1 Rezeptor An- sondern auch im ZNS ein inflammatorisches und damit zelltoxisches Dabei scheint die Art und Weise, wie trainiert wird, nicht unerheblich terventionen ein hohes Potential zur supportiven Therapie auf. Bislang tagonisten (Steensberg, 2003). Zweitens wirkt körperliche Aktivität Milieu fördern (Lovett-Racke, 2011). 22 IMPULSE 02 | 2019 23
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