INDIVIDUELLE BEDÜRFNISSE, KOLLEKTIVE AKTIONEN, POLITISCHE ALTERNATIVEN BEITRÄGE ZUR NEUEN ARBEITS-ZEITDEBATTE - Daniel Behruzi/Fanny Zeise (Hrsg.)
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MATERIALIEN Daniel Behruzi/Fanny Zeise (Hrsg.) INDIVIDUELLE BEDÜRFNISSE, KOLLEKTIVE AKTIONEN, POLITISCHE ALTERNATIVEN BEITRÄGE ZUR NEUEN ARBEITS- ZEITDEBATTE
INHALT Einleitung 3 Sybille Stamm/Richard Detje Kämpfe um Zeit 5 Teil 1 Umkämpfte Zeit: Tarifpolitische Erfolge, gesetzliche Deregulierung 11 Susanne Ferschl Schutzrechte verteidigen, Selbstbestimmung stärken 11 Bundesregierung und Arbeitgeber wollen das Arbeitszeitgesetz aufweichen Bernd Riexinger Arbeit, die zum Leben passt 15 Die Zeit ist reif für die «kurze Vollzeit» Jutta Krellmann Humanisierung 2.0 19 Überlange und entgrenzte Arbeit machen krank Reinhard Bispinck Tarifliche Arbeitszeitpolitik 22 Wahloptionen als neues Instrument der Arbeitszeitgestaltung Stephan Krull/Margareta Steinrücke 30 Stunden sind genug 33 Ein Plädoyer für kollektive Arbeitszeitverkürzung Teil 2 IG Metall: Rückkehr der Arbeitszeitfrage 35 Daniel Behruzi Zurück in die Zukunft 35 Die IG Metall hat das Thema Arbeitszeit wieder auf die Agenda gesetzt Hilde Wagner Mehr Zeit zum Leben – in und außerhalb der Arbeit 40 Neue Arbeitszeitregelungen in der Metall- und Elektroindustrie
«Wir wollen die 35-Stunden-Woche für alle» 48 Ein Gespräch mit Jan Andrä, Leiter des IG-Metall-Vertrauenskörpers im VW-Werk Zwickau Stephan Krull Krise als Chance 51 Die Automobilindustrie steckt in einem Dilemma Teil 3 ver.di: Arbeitszeit und Personalbemessung gehören zusammen 53 Volker Mörbe Streikfähigkeit entscheidet 53 ver.di diskutiert über Modelle zur Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst Daniel Behruzi Grenzen setzen 57 Krankenhausbeschäftigte streiten für mehr Personal und dafür, dass Freizeit auch freie Zeit ist Verzeichnis der Autor*innen 62
Einleitung 3 EINLEITUNG Um das Thema Arbeitszeit ist es in den deut- Einen Blick zurück und nach vorn werfen zu- schen Gewerkschaften lange still gewesen. nächst Richard Detje und Sybille Stamm in ih- Zwar war in der Krise 2008/09 die vorüberge- rem einleitenden Beitrag. Sie umreißen die La- hende und von den Beschäftigten größten- ge, die Aufgaben und Leitplanken der neuen teils selbst finanzierte Arbeitszeitverkürzung Arbeitszeitdebatte. von zentraler Bedeutung, um Massenentlas- Im ersten Teil der Broschüre skizzieren Susan sungen bei den Stammbelegschaften weit- ne Ferschl, Bernd Riexinger und Jutta Krell- gehend zu vermeiden – ein offensichtlicher mann die politischen Konfliktlinien. Sie stellen Beleg dafür, dass Arbeitszeitverkürzung Be- den Forderungen nach weiterer gesetzlicher schäftigung sichert –, doch ging die anschlie- Deregulierung und Verlängerung der Arbeits- ßende Entwicklung in die entgegengesetz- zeiten Konzepte wie die der «kurzen Vollzeit» te Richtung: In den folgenden Boomjahren entgegen, die sich an den Bedürfnissen der wurden Arbeits- und Betriebsnutzungszeiten Beschäftigten und der Gesellschaft orientie- ausgeweitet, haben die Unternehmen die Fle- ren. Und sie zeigen, wie parlamentarische xibilisierung einseitig zu ihren Gunsten voran- und öffentlichkeitswirksame Aktivitäten die getrieben. Zudem berichten Beschäftigte aller gewerkschaftliche Bewegung in den Betrie- Branchen davon, dass sich Arbeitsintensität ben und in der Tarifpolitik unterstützen kön- und -belastung drastisch erhöht haben. nen. Höchste Zeit also, die Fragen nach der Län- Einen Überblick über die neueren tarifpoliti- ge und der Verteilung der Arbeitszeiten wie- schen Entwicklungen zum Thema Arbeitszeit der anzugehen und eine neue (arbeits-)zeit- gibt Reinhard Bispinck – insbesondere über politische Offensive zu starten, für die Richard die in diversen Tarifverträgen enthaltenen Detje, Sybille Stamm und Florian Wilde bereits Wahloptionen zwischen Arbeitszeitverkür- 2014 in der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung zung bzw. zusätzlichen freien Tagen und Ent- herausgegebenen Broschüre «Kämpfe um gelterhöhungen. Im Kontrast zu dieser Praxis Zeit» plädiert haben. argumentieren Stephan Krull und Margareta Die Gewerkschaften haben das Thema Ar- Steinrücke für die «klassische» Forderung beitszeit endlich wiederentdeckt und in die nach kollektiver Arbeitszeitverkürzung in Form tarifpolitischen Auseinandersetzungen getra- einer 30-Stunden-Woche und beziehen sich gen, wie die Tarifabschlüsse bei der Bahn, in dabei unter anderem auf Erfahrungen mit ver- der Metallindustrie und anderswo dokumen- kürzten Arbeitszeiten bei Volkswagen in den tieren. Gleichzeitig arbeiten Unternehmerver- 1990er Jahren. bände und (neo-)liberale Politiker*innen unter Im zweiten Teil diskutieren Daniel Behruzi und dem Vorwand der Digitalisierung an der De- Hilde Wagner den Verlauf und das Ergebnis regulierung des Arbeitszeitgesetzes. Da die der Tarifbewegung in der Metall- und Elek «Kämpfe um Zeit» also wieder entbrannt sind, troindustrie 2018. Der Vertrauenskörperleiter steht in den Gewerkschaften und in der Linken des Volkswagen-Werks Zwickau, Jan Andrä, eine neue Arbeitszeitdebatte an. Diese steckt berichtet im Interview, warum die IG Metall allerdings noch in den Anfängen. Um sie zu die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland befördern, versammelt die vorliegende Bro- nach vielen Jahren wieder auf die Agenda ge- schüre Beiträge über unterschiedliche Aspek- setzt hat. Und Stephan Krull begründet, wa- te und aktuelle Entwicklungen. rum Arbeitszeitverkürzung eine zentrale ge-
4 Einleitung werkschaftliche Antwort auf die strukturelle zung von Personalstandards zu einem mobi- Krise der Automobilindustrie sein sollte. lisierungsfähigen Thema gemacht werden, so Die Arbeitszeitdiskussion in der Vereinten seine These. Dienstleistungsgewerkschaft zeichnet Vol- Die versammelten Beiträge beleuchten ker Mörbe im dritten Teil nach. Daniel Behruzi schlaglichtartig zentrale Aspekte der neuen betont mit Bezug auf die Bewegung für mehr Arbeitszeitdiskussion und sollen zur weiteren Personal und Entlastung im Krankenhaus den Debatte einladen. Denn die «Ökonomie der Zusammenhang zwischen Arbeitszeit- und Zeit» ist wieder Thema. Gut so. Leistungspolitik. Arbeitszeitverkürzung kön- ne angesichts der hohen Belastung hier nur Daniel Behruzi und Fanny Zeise in engem Zusammenhang mit der Durchset- Juni 2019
Kämpfe um Zeit 5 Sybille Stamm/Richard Detje KÄMPFE UM ZEIT «Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, Der «Heißhunger nach Mehrarbeit» (Marx) um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto ist damit aufseiten des Kapitals nicht gestillt. mehr Zeit gewinnt sie zu andrer Produktion, 100 Jahre nach Einführung des Acht-Stun- materieller oder geistiger. Wie bei einem den-Tages in Deutschland haben Arbeitge- einzelnen Individuum, hängt die Allseitigkeit berverbände ihre Lobbytruppen erneut in ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Bewegung gesetzt, um diese Regelung im Ar- Tätigkeit von Zeitersparnis ab. Ökonomie der beitszeitgesetz zu kippen (nachdem die öffentli- Zeit, darein löst sich schließlich alle Ökono- chen Arbeitgeber bereits 2006 versucht hatten, mie auf.» (Karl Marx: Grundrisse der Kritik die 40- oder gar 42-Stunden-Woche wieder der Politischen Ökonomie) einzuführen). Ein «grundlegendes Update des Kämpfe um die Verteilung und Regulierung Arbeitszeitgesetzes» fordert die Bundesverei- von Arbeits- und Lebenszeit prägen die Arbei- nigung der Deutschen Arbeitgeberverbände terbewegung seit ihren Ursprüngen. Knapp (BDA) sowie «Experimentierspielräume» für ta- zwei Jahrhunderte, von den 1830er Jahren rifgebundene Betriebe (Der Spiegel, 4.4.2018). bis heute, währt mittlerweile der Großkonflikt Die Begründung kommt «modernistisch» da- um den Acht-Stunden-Tag. Darin eingewoben her: In einer globalisierten Wirtschaft auf dem sind unterschiedliche Phasen der Entspan- Sprung in die Welt der 4. industriellen Revo- nung und Zuspitzung, von Defensive und Pro- lution vernetzter cyberphysischer Systeme gress. Zu einer Verdichtung der Auseinander- (nach der Dampfmaschine und den Webstüh- setzungen kam es in der zweiten Hälfte des len, dem Fließband und dem Computer – man 20. Jahrhunderts mit den Kämpfen um das sieht: ein technologisch extrem enges Fort- arbeitsfreie Wochenende, um Pausenrege- schrittsverständnis) sei Arbeitszeitbegrenzung lungen und um die 35-Stunden-Woche in der «old fashioned», aus der Zeit gefallen. Metall- und Druckindustrie. Doch nach diesem Zyklus verschwand das Kein Stillstand Thema Arbeitszeitverkürzung für nahezu zwei Fortschritt verzehrende Regression allerorten? Jahrzehnte von der gewerkschaftlichen und Nein! Nach einem Vierteljahrhundert ist neue gesellschaftlichen Agenda. In dieser bleiernen Bewegung in die gewerkschaftliche Arbeits- Zeit bestätigte sich die alte Erkenntnis der Ar- zeitpolitik gekommen. Über 680.000 Beschäf- beiterbewegung, dass Stillstand Rückschritt tigte der Metall- und Elektroindustrie beteilig- bedeutet. Aus dem tarifvertraglichen An- ten sich 2017 an einer Umfrage der IG Metall spruch auf kürzere Vollzeit wurde für einen Teil über ihre Arbeits- und Lebenszeitwünsche. der Beschäftigten de facto erneute Arbeits- Sie berichten von einer betrieblichen Realität, zeitverlängerung, für andere kurze Teilzeitar- die durch «systematische Überlastung» (Krat- beit unterhalb eines Niveaus auskömmlicher zer 2016: 25 f.) in einem von massivem Kos- Existenzsicherung – beides verpackt in aus ten-, Rendite- und Termindruck charakterisier- ufernde Flexibilisierungsforderungen zur Rea ten Regime geprägt ist. Ihre Botschaft ist nicht lisierung gesteigerter Renditeansprüche der fatalistisch, sondern nach vorn gerichtet: Die Unternehmen. So entstand ein Flickenteppich Beschäftigten sind nicht mehr bereit, sich mit entgrenzter, zerfaserter und fragmentierter Ar- einem entgrenzten, krank machenden Sys- beitswelten. tem abzufinden. Auf die Kritik folgten Taten.
6 Kämpfe um Zeit Ein Jahr später streikten 1,5 Millionen Metal- auch der weit vorangetriebene Ausbau pre- ler*innen für die Option auf mehr Zeitsouve- kärer Beschäftigungsverhältnisse gehört; ränität, kürzere Vollzeit, bessere Vereinbarkeit Ausdifferenzierung in einem weiten Feld von und Planbarkeit von Beruf und Familie, mehr deregulierter Überarbeit bis zu Modellen kur- Zeit für die Erziehung und Ausbildung der Kin- zer Teilzeit; Flexibilisierung zur weitestge- der und die Pflege von Angehörigen; auch das henden Anpassung der Arbeitsvolumina an Recht auf Teilzeit, verbunden mit dem Recht Nachfrageschwankungen (Lehndorff 2017). auf Rückkehr in einen Vollzeitjob, gehört dazu Entstandardisierung hat zu einer Auflösung (siehe die Beiträge von Reinhard Bispinck und einheitlicher Zeitmuster und, darin eingewo- Hilde Wagner). ben, zu einer Zunahme atypischer Arbeits- Was 1984 in den Streiks für die 35-Stun- zeiten geführt: Schichtarbeit, Nachtarbeit, den-Woche mit der Losung «Mehr Zeit zum Wochenendarbeit. Ausdifferenzierung wird Leben, Lieben, Lachen» als neue Melo- vorangetrieben durch verlängerte Betriebs- die der Frauen im Streik anklang, hat Früch- nutzungs- und Öffnungszeiten, Arbeitszeit- te getragen. Das Neue ist, dass Zeit auch in konten- und Gleitzeitsysteme, Arbeit auf Abruf den gewerkschaftlichen Kämpfen nicht nur und Telearbeit. Dies geht einher mit sozia- als Arbeitszeit, sondern zugleich in ihrem le- ler Polarisierung bei der Verteilung und Lage bensweltlichen Kontext wahrgenommen wird der Arbeitszeiten: zwischen den Geschlech- («Meine Zeit ist mein Leben»). Arbeit und Le- tern, zwischen beruflichen Qualifikationen, ben – beides ist im Blick. Das kommt auch in zwischen Stamm- und Randbelegschaften. einer Studie der Kassenärztlichen Bundesver- 2,1 Milliarden Überstunden (2017), davon einigung zum Ausdruck, in der 95 Prozent von rund die Hälfte nicht bezahlt, verweisen dar- 13.000 befragten Medizinstudent*innen an- auf, in welchem Ausmaß tarifliche und gesetz- geben, dass die Vereinbarkeit von Familie und liche Arbeitszeitregulierung entwertet ist. Beruf für sie das entscheidende Kriterium für Dieses zerklüftete Arbeitszeitregime ist funk- die Wahl des Arbeitsplatzes sei (Ärzte-Zeitung tional für eine Betriebsweise, die durch Ver- online, 30.1.2019). Gegen ein entgrenztes Un- marktlichung nicht nur im Verhältnis zwischen ternehmens- und Arbeitsregime werden glei- Betrieben und in deren Kundenbeziehungen, chermaßen arbeitsinhaltliche wie lebenswelt- sondern maßgeblich auch durch Marktbezie- liche Interessen geltend gemacht. Die enorme hungen innerhalb des Unternehmens geprägt Kluft zwischen dem erweiterten Zugriff auf die ist. An die Stelle direkter Anweisungen in ei- lebendige Arbeit auf der einen und den Zeit- nem kleinmaschigen Hierarchiesystem tritt wünschen großer Teile der Beschäftigten auf indirekte Steuerung, vermittelt über Kennzif- der anderen Seite lässt einen arbeitszeitpoliti- fernsysteme, Budgetvorgaben, Zielvereinba- schen Stillstand nicht mehr zu. rungen etc. (Sauer 2013). Damit verbunden ist eine Finalisierung der Leistungspolitik: Zerklüftetes Nicht eine festgelegte Arbeitsleistung pro Arbeitszeitregime Stunde, sondern das marktbewertete Arbeits Die heutigen «Kämpfe um Zeit» treffen den ergebnis ist der Maßstab. Daraus resultiert die Kern eines finanzmarktgetriebenen Akkumu- gleichsam systemische Entgrenzung von Ar- lationsregimes, dessen Verwertungsansprü- beitsleistung und Arbeitszeiten zum Zweck che die des Realkapitals noch übertreffen (Bi- kürzerer Kapitaldurchlaufzeiten, geringerer schoff 2014; Krüger 2015). Drei Tendenzen Kapitalbindung, optimalen Auslastungsgra- prägen das Zeitregime in den Betrieben und den, optimierten Wertschöpfungsketten und Verwaltungen: Entstandardisierung, wozu hoher externer und interner Flexibilität.
Kämpfe um Zeit 7 Die neuen Steuerungsformen sind ambi- zung der verbleibenden lebendigen Arbeit valent: Sie haben das Potenzial verstärk- ausgerichtet. Urban/Ehlscheid (2019: 113) ter (Selbst-)Ausbeutung, können allerdings beschreiben ein «Bad-Case-Szenario», in dem auch selbstbestimmte Arbeitsorganisation «das vielfach diskutierte Leitbild der ‹agilen mit mehr Zeitsouveränität befördern (Menz Unternehmensführung› […] wie kein anderes u. a. 2019). Ausschlaggebend ist letztlich die für eine Beschleunigung der Arbeitsvorgän- Ressourcenausstattung: finanziell, personell, ge und einen umfassenden Zugriff auf das Ar- zeitlich. Wie selbstorganisierte Arbeitszeiten, beitsvermögen der Beschäftigten» steht; Mit- die zum Leben passen, im Rahmen agiler Me- bestimmung, Arbeitnehmerrechte, regulierte thoden klappen können, zeigen Projekte bei Arbeits-, Arbeitszeit- und Leistungsbedingun- BMW in München zur Reorganisation der Bü- gen werden dabei als «vermeintliche Moderni- roarbeit oder bei Volkswagen in Emden mit sierungs- und Wettbewerbs-Hürden ins Visier agiler Teilzeitarbeit im Schichtbetrieb. genommen» (ebd.: 114). In der deutschen Exportökonomie dürften die Transformationskrise Beschäftigungsprobleme durch die Regionali- Vermarktlichung und indirekte Steuerung sierung des Weltmarktes wachsen; was heute gibt es mittlerweile seit rund drei Jahrzehn- noch hierzulande produziert wird, steht unter ten, doch der Kontext hat sich verändert. Ge- dem verstärkten Druck der Vor-Ort-Fertigung blieben sind die finanzmarktkapitalistische in den anderen Zentren der Triade. Beschäfti- Rahmung und damit ein potenzierter Krisen- gungspolitisch laufen diese Entwicklungspro- charakter. Hinzu kommt ein mehrdimensio zesse auf eine Transformationskrise hinaus. naler Transformationsprozess, in dem drei Allerdings können die Folgen der Transfor- Entwicklungsprozesse dominieren: erstens mation im gesellschaftlichen Arbeitskörper eine neue Qualität der Digitalisierung, der in- höchst disparat sein. Gegenwärtig spricht ei- formationellen Durchdringung und Steuerung niges dafür, dass von Dekarbonisierung über- von Produktion und Dienstleistungen unter proportional klassische Fertigungsbereiche dem Label Arbeit 4.0; zweitens eine räumliche betroffen sein werden, wie beispielsweise Neuverteilung von Wertschöpfungsketten, der Antriebsstrang des Verbrennungsmo- die nicht mehr pauschal als Globalisierung, tors beim Übergang zur E-Mobilität. Digitali- sondern eher als Regionalisierung (im Rahmen sierung hingegen wirkt als Rationalisierungs- der Triade USA, Europa, differenziert nach treiber vor allem in den Sektoren Logistik und West und Ost, sowie China und Südostasien) Wartung, in Büroberufen, aber auch im ge- und damit verwoben auch mit protektionisti- samten Pflege- und Gesundheitsbereich. Da- scher Nationalisierung zu fassen ist; drittens mit droht eine weitere Fragmentierung der Dekarbonisierung in einer Zeit, in der fossilis- Arbeitszeitregime, die weit in Stammbeleg- tische Wachstumsregime nur auf die unab- schaften hineinwirkt. weisliche Gefahr der definitiven Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen aufrecht- Neue Leitplanken zuerhalten wären. der Arbeitszeitdebatte In ihrer kapitalistischen Formbestimmung Einen neuen Anlauf in der gewerkschaftli- handelt es sich bei der Digitalisierung um Ra- chen Arbeitszeitpolitik zu unternehmen er- tionalisierungsprozesse, die maßgeblich zur weist sich vor diesem Hintergrund als eine Kostensenkung und Profitsteigerung beitra- sehr anspruchsvolle und komplexe Aufgabe. gen sollen. Als solche sind sie auf die Einspa- Die Forderung nach allgemeiner Arbeitszeit- rung von Arbeitsplätzen bzw. intensivere Nut- verkürzung bündelte Mitte der 1980er Jahre
8 Kämpfe um Zeit die Kämpfe um Zeit. Bereits damals ging es von Arbeitszeiten und Entlohnung zwischen um Entlastung von verdichteter Arbeit, um den Geschlechtern; mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten – Neueinführung flexibler Altersübergangs- sowie um Beschäftigungssicherung. Unter regelungen, nachdem diese vonseiten des den skizzierten veränderten Bedingungen ist Gesetzgebers seit dem Beginn des Jahrhun- es fraglich, ob diese Bündelung heute mit ei- derts nahezu vollständig gekappt worden ner neuen Maßzahl der Wochenarbeitszeit – waren. 30 Stunden – gelingen kann: für Projektarbeit Ebenso wie die Regulierung und die Kontrol- in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen le der Arbeitszeit durch das Nadelöhr individu- und weite Bereiche der Arbeitsvorbereitung eller Ansprüche und Bedürfnisse gehen müs- über Service- und Dienstleistungsarbeiten bis sen, ist von den unterschiedlichen Zugängen hin zu Teilzeit, geringfügiger und temporärer und Problemlagen bei der Wiederaneignung Beschäftigung, in der Industrie ebenso wie der Zeit auszugehen. Neue gesellschaftliche in den privaten und öffentlichen Dienstleis- Normierungen und Standards können – sollen tungsbereichen. sie mehr sein als eine formale Durchschnitts- Richtig ist: Es gibt einen weitverbreiteten berechnung – nicht Voraussetzung, sondern Wunsch nach kurzer Vollzeit. Doch um dahin nur Resultat der neuen Kämpfe um Zeit sein. zu kommen, müssen heute offenbar unter- schiedliche Pfade gegangen werden. Neue Gesetzliche «Leitplanken» und «Haltegriffe» (Lehndorff) Rahmenbedingungen sind erforderlich für unterschiedliche Pro Die Entstandardisierung und Ausdifferenzie- blemlagen. Um nur wenige zu nennen: rung der betrieblichen Zeitregime wirft erneut – beschäftigungssichernde Arbeitszeitverkür- die Frage nach gesetzlichen Rahmenbedin- zung und weitere Maßnahmen des Rationa- gungen auf, mit der strategischen Perspekti- lisierungsschutzes für unterschiedlich be- ve, die Konkurrenz oder Kluft zwischen Zeit- troffene Beschäftigtengruppen; regelungen in Tarifverträgen und gesetzlichen – breit angelegte Auf- und Umqualifizierungs- Möglichkeiten zu verringern. Das Arbeitszeit- maßnahmen mit arbeitszeitverkürzenden gesetz lässt in Deutschland immer noch eine Effekten für wegfallende und stark dezi- Wochenarbeitszeit von 48 Stunden bei einer mierte Arbeitsbereiche im Transformations- Sechs-Tage-Woche zu. Eine Erhöhung auf prozess; zehn Stunden täglich ist möglich, sofern in- – Verknüpfung von Arbeitszeit und Leistungs- nerhalb eines Ausgleichszeitraums von sechs politik auch unter dem Gesichtspunkt nicht Monaten acht Stunden täglich nicht über- nur des Gesundheitsschutzes, sondern schritten werden. Das ist ein beständiger An- auch der Humanisierung der Arbeit vor al- reiz für Arbeitgeber, Tarifflucht zu begehen. lem dort, wo steigende Produktivität mit Ein neues Arbeitszeitgesetz mit einer Wo- wachsendem Arbeitsstress einhergeht; chenarbeitszeitbegrenzung auf 40 Stunden – E ntlastung von krank machenden atypi- steht auf der Agenda (siehe den Beitrag von schen Arbeitszeiten ebenso wie von kör- Susanne Ferschl). perlich schwer belastender oder repetitiver Die Kommission für Arbeits-, Gleichstellungs- Arbeit, was im Zweifelsfall auch Automati- und Wirtschaftsrecht im Deutschen Juris- sierung bedeuten kann; tinnenbund hat 2016 eine Konzeption für ein – Zeitsouveränität und Vereinbarkeit von Pri- Wahlarbeitszeitgesetz erarbeitet. Darin heißt vatleben und Beruf, auch durch geschlech- es: «Der Vorschlag für ein Wahlarbeitszeit- terdemokratische Neu- und Umverteilung gesetz kann […] nicht einer Forderung nach
Kämpfe um Zeit 9 allgemeiner Verkürzung der Arbeitszeit in lung aller werden kann.» (Ebd.: 23) Hieraus Richtung auf 30 Stunden entgegengehalten entwickelt sich nicht zuletzt eine Lebenskom- werden, vielmehr ergänzen sie sich […]. Eine petenz, die Arbeit, Lernen, Kunst, Kultur, Mu- allgemeine Arbeitszeitverkürzung kann aber ße und Genuss in Einklang bringt. das Bedürfnis nach flexiblen Arbeitszeitregi- Kämpfe um Zeit sind immer auch Teil von Klas- mes nicht ersetzen. Denn es ist unbestreitbar, senkämpfen, von Auseinandersetzungen zwi- dass auch eine kürzere Vollzeitarbeit nicht al- schen Kapital und Arbeit. Sie müssen von brei- le im Lebensverlauf auftretende Erfordernisse ten gesellschaftlichen Bündnissen begleitet abweichender Arbeitszeiten abdecken kann.» werden. Es gilt, Bündnisse zu knüpfen, um zu- (Kommission 2016) Eine Kombination von all- mindest punktuell gesellschaftliche Hegemo- gemeiner, gesetzlicher und tariflicher Arbeits- nie über die Zeitfrage zu erringen. Hauptak- zeitverkürzung und Wahlarbeitszeiten zeigt teur*innen werden Gewerkschafter*innen in einen Weg auf, der Zeitsouveränität und Zeit- Tarifkämpfen sein. So ist in allen Fragen der wohlstand für Alle ermöglichen kann. Arbeitszeit oder allgemeiner der Neuvermes- sung der Arbeitsgesellschaft die Debatte in Gesamtgesellschaftliche Gewerkschaften und Betrieben ausschlagge- Perspektive bend. Die Kämpfe um Zeit sollten nicht allein auf die Verteilung und Regulierung von Arbeitszeit Wahloptionen als gewerk- zielen. Die Wiederaneignung der Zeit ist glei- schaftliche Solidarantwort? chermaßen ein arbeits- wie gesellschaftspoli- Noch in den Kämpfen um die 35-Stun- tisches Projekt. Wichtig ist, die gesamtgesell- den-Woche und danach galt die alte gewerk- schaftliche Arbeit und Tätigkeit in den Blick schaftliche Forderung «Arbeitszeitverkürzung zu nehmen, wie dies etwa in der «Vier-in-ei- bei vollem Lohnausgleich». In mehreren Ta- nem-Perspektive» (Haug 2008) projektiert ist. rifverträgen – bei der Telekom, in der Me- Es geht nicht nur um den Erhalt von Arbeits- tall- und Elektroindustrie, der Chemischen plätzen und um die Vereinbarkeit von Familie Industrie, bei E.ON usw. – werden seit gerau- und Beruf, sondern weit darüber hinaus um mer Zeit Wahloptionen «Geld oder mehr freie Zeit für menschliche Entwicklung, Fürsorge Zeit» angeboten; ver.di hat die Beschäftigten und Solidarität ebenso wie um Zeit für die Ent- im öffentlichen Dienst befragt, in den nächs- faltung partizipativer Demokratie. Die politi- ten Tarifrunden eine entsprechende Option sche Kunst liegt in der Verknüpfung der vier zu verhandeln. Mit dieser Lösung ist neue Be- Bereiche Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, wegung in die arbeitszeitpolitischen Debat- politische Arbeit und individuelle Entwick- ten und Auseinandersetzungen gekommen; lung. «Keiner sollte ohne die anderen verfolgt sie stellt aber zugleich eine Hypothek dar. Die werden, was eine Politik und zugleich eine Le- zusätzliche freie Zeit wird zum Teil mit der Ta- bensgestaltung anzielt, die zu leben umfas- riferhöhung bezahlt. Dieses Optionenmodell send wäre, lebendig, sinnvoll, eingreifend und stößt dort an Grenzen, wo zeitpolitische Not lustvoll genießend. Dies ist kein Nahziel, […] mit niedrigen Einkommen einhergeht. Das ist doch kann es als Kompass dienen für Nahzie- in größeren Teilen des Dienstleistungssektors, le in der Politik, als Maßstab für unsere Forde- aber auch in industriellen Randbelegschaften rungen, als Basis unserer Kritik, als Hoffnung, der Fall. Zudem ist der negative, geschlech- als konkrete Utopie, die alle Menschen einbe- terpolitische Touch offenkundig. Sollte es zieht und in der endlich die Entwicklung jedes sich bewahrheiten, dass in der Transforma- Einzelnen zur Voraussetzung für die Entwick- tionskrise gerade jene Beschäftigten über-
10 Kämpfe um Zeit proportional betroffen sind, die arbeits- wie ter Arbeit [andererseits; d. V.] positionieren. entgeltpolitisch zu den schon immer zu kurz Das kann nicht für die Betroffenen, sondern Gekommenen gehören, ist Arbeitszeitverkür- nur mit ihnen gelingen.» (Urban/Ehlscheid zung mit nur geringem Teillohnausgleich ein 2019: 120) Angebot zwischen Skylla und Charybdis. Das kann nicht die gewerkschaftliche Solidarant- Literatur wort sein. Bischoff, Joachim (2014): Finanzgetriebe- Eine überzeugende, alle Beschäftigtengrup- ner Kapitalismus. Entstehung, Krise, Entwick- pen umfassende Solidarantwort, die zudem lungstendenzen, Hamburg. in der Lage ist, in die Gesellschaft in Richtung Haug, Frigga (2008): Die Vier-in-einem-Pers- potenzieller Bündnispartner*innen auszu- pektive. Politik von Frauen für eine neue Linke, strahlen, ist erforderlich, um den Widerstand Hamburg. des Kapitals zu durchbrechen. Arbeitszeitfra- Kommission für Arbeits-, Gleichstellungs- gen sind Grundsatzfragen, geht es doch um und Wirtschaftsrecht im Deutschen Ju- den Zugriff auf die lebendige Arbeit und damit ristinnenbund (2016): Konzeption für ein um das «Geheimnis der Plusmacherei» (Marx) Wahlarbeitszeitgesetz, Berlin. in der kapitalistischen Gesellschaft. Das gilt Kratzer, Nick (2016): Unternehmenskulturel- gleichermaßen für die Arbeitszeit als extensi- le Aspekte des Umgangs mit Zeit- und Leis- ve und als intensive Größe, für die Länge des tungsdruck, in: Badura, Bernhard u. a. (Hrsg.): Arbeitstages und die Leistungsbedingungen. Fehlzeiten-Report 2016, Heidelberg, S. 21–31. Die neue Beweglichkeit in der gewerkschaft- Krüger, Stephan (2015): Entwicklung des lichen Arbeitszeitpolitik ist ein erster Schritt deutschen Kapitalismus 1950–2013, Ham- des wieder aufgenommenen Kampfes um burg. Zeitwohlstand, dem ein zweiter Schritt fol- Lehndorff, Steffen (2017): Zeit zum Umden- gen muss: Neufestsetzung und Regulierung ken – Arbeitszeitrealitäten und Arbeitszeitpoli- der Leistungsnormen im Sinne entdichteter, tik, in: Schröder, Lothar/Urban, Hans-Jürgen: vor permanentem Stress geschützter Arbeit. Jahrbuch Gute Arbeit. Streit um Zeit – Arbeits- Dabei geht es um definierte Arbeitsbedingun- zeit und Gesundheit, Frankfurt a. M., S. 81–91. gen und Arbeitsaufgaben. Das wird es nur mit Marx, Karl (1974): Grundrisse der Kritik der erweiterter Mitbestimmung und direkter Par- Politischen Ökonomie, Berlin. tizipation der Beschäftigten bei der Personal- Menz, Wolfgang/Nies, Sarah/Sauer, Die- bemessung in den Betrieben und deren Ab- ter (2019): Digitale Kontrolle und Vermarktli- teilungen geben. In dieser Perspektive geht es chung. Beschäftigtenautonomie im Kontext bei den Kämpfen um Zeit – wie verdeckt oder betrieblicher Strategien der Digitalisierung, in: offen thematisiert auch immer – um die Ver- Prokla 195, S. 181–200. änderung von Systemzusammenhängen, von Sauer, Dieter (2013): Die organisatorische Herrschafts- und Machtpositionen. Revolution. Umbrüche in der Arbeitswelt – Ur- «Inwieweit es den Gewerkschaften gelingt, ei- sachen, Auswirkungen und arbeitspolitische ne arbeitskraftorientierte Zeitpolitik gegen die Antworten, Hamburg. Zeitherrschaftsansprüche des Kapitals durch- Urban, Hans-Jürgen/Ehlscheid, Christoph zusetzen, hängt auch von ihrer eigenen Kon- (2019): Arbeitszeit und Leistung im Gegen- fliktbereitschaft ab. Dabei werden sie sich wartskapitalismus – Ein Blick zurück nach auch die Frage stellen müssen, wie sie sich im vorn, in: Schröder, Lothar/Urban, Hans-Jür- Widerstreit von Produktivitäts- und Wettbe- gen: Jahrbuch Gute Arbeit. Transformation werbslogik einerseits und menschengerech- der Arbeit, Frankfurt a. M., S. 104–122.
Schutzrechte verteidigen, S elbstbestimmung stärken 11 TEIL 1 UMKÄMPFTE ZEIT: TARIFPOLITISCHE ERFOLGE, GESETZLICHE DEREGULIERUNG Susanne Ferschl SCHUTZRECHTE VERTEIDIGEN, SELBSTBESTIMMUNG STÄRKEN BUNDESREGIERUNG UND ARBEITGEBER WOLLEN DAS ARBEITSZEITGESETZ AUFWEICHEN Der digitale Wandel eröffnet für Beschäftige Vorschläge erarbeitet werden. Schon wäh- neue Möglichkeiten, ihre Arbeitsabläufe und rend dieses Prozesses warb Nahles erstmals Arbeitszeiten selbstbestimmter zu gestalten. öffentlich für einen «neuen sozialen Kompro- Zugleich bringt er eine «Ausdifferenzierung miss», der im Kern «ein Kompromiss über von Arbeitszeitstrukturen» (Schneider 2018: Schutz, mehr Souveränität sowie nötige und 33) mit sich, die eine Entgrenzung und Fle- erwünschte Flexibilität in der Arbeitswelt xibilisierung im Interesse der Unternehmen sein» (Nahles 2016: 2) sollte. Die SPD-Politi- und zulasten der Beschäftigten befördern. kerin setzte dabei auf soziale Marktwirtschaft Wie werden diese gegensätzlichen Interes- und Sozialpartnerschaft als Gegenentwurf sen und Ansprüche derzeit politisch verhan- zum kalifornischen Raubtierkapitalismus à la delt und welche Schlüsse können wir als Ge- Google und Amazon. Um dieses Modell «Ma- werkschafter*innen daraus für unsere Arbeit de in Germany» für die digitale Zukunft fit zu ziehen? Eines ist klar: Die Frage der Arbeitszeit machen, sei die faire Verhandlung über Flexi- wird zu einer der wichtigsten gesellschaftspo- bilisierungsbedürfnisse und -potenziale von litischen Auseinandersetzungen der nächsten Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten un- Jahre – und zugleich ein Gradmesser für die erlässlich. Stärke unserer Stimme in gesellschaftlichen Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Ar- Kämpfen. beitszeitgesetz. Den Tarifpartnern soll künftig mittels Öffnungsklauseln ermöglicht werden, Nahles «neuer sozialer von gesetzlich vorgeschriebenen Arbeits- Kompromiss» und Ruhezeiten abzuweichen, um neue Ar- Lange Zeit hat die Politik den digitalen Wan- beitsformen auszutesten. Scheiterte dieser del lediglich als eine weitere Technisierung Plan in der letzten Groko noch am Wider- betrachtet und seine gesellschaftlichen sowie stand der Gewerkschaften, steht es jetzt of- sozialpolitischen Umwälzungs- und Umver- fiziell im Koalitionsvertrag: «Wir werden über teilungspotenziale massiv unterschätzt – bis eine Tariföffnungsklausel im Arbeitszeitge- die damalige Arbeits- und Sozialministerin setz Experimentierräume für tarifgebundene Andrea Nahles im Frühjahr 2015 den soge- Unternehmen schaffen, um eine Öffnung für nannten Dialogprozess Arbeit 4.0 startete. Auf mehr selbstbestimmte Arbeitszeit der Arbeit- Fachkonferenzen und Bürgerforen sollten die nehmer und mehr betriebliche Flexibilität in Gestaltungspotenziale des digitalen Wandels der zunehmend digitalen Arbeitswelt zu erpro- für die Arbeitswelt ausgelotet und konkrete ben. Auf Grundlage von diesen Tarifverträgen
12 Schutzrechte verteidigen, S elbstbestimmung stärken kann dann mittels Betriebsvereinbarungen serungen mit Rechtsanspruch entpuppen insbesondere die Höchstarbeitszeit wöchent- sich als Luftnummern. Die seit Anfang 2019 lich flexibler geregelt werden.» (CDU/CSU und geltende sogenannte Brückenteilzeit sollte SPD 2018: 52) als die gesetzliche Umsetzung des lange ge- Die Umsetzung dieser Aufweichung des Ar- forderten Rückkehrrechts von Teilzeit in Voll- beitszeitgesetzes steht aktuell noch aus. In zeit Geschichte schreiben. Tatsächlich gilt sie anderer Hinsicht wurden hingegen bereits allerdings aufgrund diverser Beschränkungen Tatsachen geschaffen. Ideologisch fallen sie nur für einen sehr kleinen Teil der Beschäftig- ebenfalls unter Nahles’ Flexibilitätskompro- ten: In über 96 Prozent der Betriebe gilt die- miss und verdeutlichen, in welche Richtung ser Rechtsanspruch von Rückkehr von Teilzeit die staatlich organisierte Aushandlung der in die Vollzeit nicht, zwei Drittel aller arbeiten- gegensätzlichen Ansprüche ausschlägt. Da den Mütter sind davon ausgeschlossen. Die ist zum einen die Arbeitsstättenverordnung, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitge- die nach jahrelangem Gezerre Ende 2016 berverbände (BDA) feiert dies als Erfolg: «Die in Kraft trat – nachdem sich das Kanzleramt Entscheidung über die Verteilung des Arbeits- eingeschaltet und das Bundesarbeitsminis- volumens bleibt in der Hand des Arbeitge- terium dazu verdonnert hatte, die bereits ab- bers.» (BDA 2019: 2) gestimmte Verordnung im Sinne der Arbeitge- Acht-Stunden-Tag berverbände erneut zu ändern. Dadurch sind demontiert Beschäftigte nun nicht mehr über den Arbeit- Nach der Festschreibung von Tariföffnungs- geber unfallversichert, wenn sie im Homeof- klauseln im Regierungsprogramm gehen die fice arbeiten. Die erkämpfte Möglichkeit, zu Arbeitgeberverbände nun einen Schritt wei- Hause zu arbeiten, wird so gesetzlich beein- ter und fordern die komplette Abschaffung trächtigt, indem Betroffene sich selbst um ih- der täglichen Höchstarbeitszeit. Künftig soll re Versicherung kümmern müssen. Zum an- es möglich sein, dass acht Stunden Arbeit deren wurde beim Gesetz zur Neuregelung nicht mehr in achteinhalb Stunden, sondern des Mutterschutzrechts im Mai 2017 das Ver- innerhalb eines größeren Zeitraums von bei- bot von Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit für spielsweise 15 Stunden geleistet werden. Schwangere aufgeweicht. Künftig wird diese Der Hotel- und Gaststättenverband startete Arbeit erlaubt sein, wenn sich die Frauen «frei- dazu im März 2017 die Kampagne «Höchs- willig» dafür entscheiden. Hier zeigt sich, wie te Zeit für Wochenarbeitszeit», mit der er für abhängig Beschäftigte – unter dem Deckman- eine Umstellung von einer täglichen auf ei- tel des Eingehens auf ihre Flexibilitätsansprü- ne wöchentliche Höchstarbeitszeit wirbt. Die che – vom Gesetzgeber in eine Lage gebracht Kampagne stellt den Acht-Stunden-Tag als werden, in der sie dem Willen des Arbeitge- bers ausgeliefert sind. starr und veraltet dar und als «Gefahr für die Gastfreundschaft» (DEHOGA 2017). Der Rat Diese Beispiele verdeutlichen, wie Schutz- der «Wirtschaftsweisen» legte nach und be- rechte zugunsten von Arbeitgebern geschlif- schwor den wirtschaftlichen Untergang, falls fen werden. Doch auch gesetzliche Verbes- der Acht-Stunden-Tag nicht bald falle. Welche Wer innerhalb des gesetzlichen Ziele dabei konkret ver- Rahmens Verbesserungen durchsetzen folgt werden, verdeut- will, muss sie tariflich aushandeln oder licht das BDA-Positions- auf gute Betriebsvereinbarungen hoffen. papier «New Work» (BDA
Schutzrechte verteidigen, S elbstbestimmung stärken 13 2018), in dem gefordert wird, die gesetzliche auf gesellschaftspolitischen Debatten, in de- Höchstarbeitszeit ebenso wie Dokumenta- nen wir sichtbar und überzeugend sein müs- tionspflichten aus dem Gesetz zu streichen. sen. Diese entscheiden darüber, ob der Acht- Einzige Haltelinien wären eine gesetzliche Stunden-Tag als Norm entsorgt wird und ob 48-Stunden-Woche sowie eine tägliche, redu- Schutzrechte als veraltet angesehen und auf- zierte und nicht zusammenhängende Ruhe- geweicht werden. Dass wir dabei nicht nur zeit von neun Stunden (Piele/Piele 2017). Wer gegen die Arbeitgeberverbände ankämpfen, innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens Ver- zeigt ein Blick auf unsere europäischen Nach- Die Aktivitäten auf tariflicher und betrieblicher Ebene fußen nicht zuletzt auf gesellschaftspolitischen Debatten, in denen wir sichtbar und überzeugend sein müssen. besserungen durchsetzen will, muss sie tarif- barn, wo konservative und rechte Kräfte Um- lich aushandeln oder auf gute Betriebsverein- verteilung von rechts organisieren. Die rech- barungen hoffen. Das wird angesichts eines te Regierung in Österreich hat die tägliche gewerkschaftlichen Organisationsgrads von Ausweitung der Arbeitszeit auf bis zu zwölf unter 20 Prozent und einer betrieblichen Inte- Stunden und wöchentlich auf bis zu 60 Stun- ressenvertretung in nicht einmal jedem zehn- den beschlossen; die ungarische Regierung ten Betrieb schwierig. drückte mehr Überstunden durch (Schneider 2018). Auch in Deutschland gibt es derartige Thema Arbeitszeit Vorstellungen, zum Beispiel bei der AfD, die mobilisiert variable monatliche Höchstarbeitszeiten ein- Für linke Gewerkschafter*innen bietet der di- führen will. Gleichwohl dürfen wir uns nicht gitale Wandel die Möglichkeit, Verteilungsfra- beirren lassen und unsere Idee einer emanzi- gen neu zu stellen, insbesondere in Bezug auf patorischen Umverteilung von links weiterhin die Arbeitszeit und die Frage, wann, wo und verfolgen – auch wenn nicht wenige sie als wie viel wir künftig arbeiten wollen. Derzeit «Robin-Hood-Rhetorik» (Nahles 2016: 9) lä- ist viel in Bewegung und wir stehen mitten- cherlich machen wollen. drin. Das Mobilisierungspotenzial ist enorm Wir als Gewerkschafter*innen wollen alle Be- und wir konnten auf der tarifpolitischen Ebene schäftigten vertreten – egal ob es Ingenieure schon deutliche Erfolge erzielen (siehe Beiträ- oder Paketbot*innen sind. Wir wollen durch ge von Reinhard Bispinck und Hilde Wagner). eine Solidarisierung mit prekär Beschäftigten Die von den Gewerkschaften bei der Bahn, in die gesellschaftliche Stimme im Kampf um der Metallindustrie und anderswo erkämpften unsere Schutzgesetze sein und uns für eine Wahlmodelle sind ein echter Durchbruch für kürzere Vollzeit einsetzen. DIE LINKE fordert die Beschäftigten (Riexinger 2018). Ähnliches als einzige Partei eine gesetzliche Senkung gilt für viele Betriebsvereinbarungen, die Ar- der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 beitszeiten konkret ausgestalten und helfen, auf 40 Stunden. Wir wollen die Zukunft ge- an den Betrieb angepasste Lösungen zu fin- stalten – solidarisch und mitbestimmt. Wir den (Massolle 2018). wollen diskutieren, wie das Arbeitszeitgesetz Diese Aktivitäten sowohl auf tariflicher als als Schutzrecht auch im Zuge des digitalen auch auf betrieblicher Ebene fußen auf ei- Wandels Bestand haben und helfen kann, das ner gesetzlichen Grundlage und nicht zuletzt Selbstbestimmungsrecht von Beschäftigten
14 Schutzrechte verteidigen, S elbstbestimmung stärken zu fördern. Wir wollen dabei den gesetzlichen DEHOGA – Deutscher Hotel- und Gaststät- Rahmen für alle Beschäftigten verbessern, tenverband (2017): Höchste Zeit für Wochen- auch um die tarifliche Ausgestaltung zuguns- arbeitszeit, unter: www.wochen-arbeitszeit.de/. ten der Beschäftigten zu stärken. Lasst uns Massolle, Julia (2018): Meine Zeit, mein Le- diesen Weg gemeinsam beschreiten. ben. Gute Praxis in der Arbeitszeitgestaltung – Projekt zum Deutschen Betriebsrätepreis der Literatur Jahre 2012–2017, in: Mitbestimmungspraxis BDA – Bundesvereinigung der Deutschen 18/2018, Düsseldorf. Arbeitgeberverbände (2018): New Work. Nahles, Andrea (2016): Ein neuer sozialer Zeit für eine neue Arbeitszeit, unter: https://ar- Kompromiss für das Zeitalter der digitalen beitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/res/23D- Transformation, unter: www.arbeitenviernull. DAB5D5716F268C1258228003C5959/%24fi- de/fileadmin/Downloads/sozialer-kompro- le/BDA_New_Work.pdf. miss-papier-nahles.pdf. BDA – Bundesvereinigung der Deutschen Piele, Christian/Piele, Alexander (2017): Fle- Arbeitgeberverbände (2019): Arbeitge- xible Arbeitszeiten – Arbeitszeitmodelle und ber Aktuell, Januar 2019, unter: www.ar- Flexibilitätsanforderungen, Stuttgart. beitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/res/3F- Riexinger, Bernd (2018): Neue Klassenpoli- 85742C3B5E8B69C125838B00561EAF/«file/ tik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Arbeitgeber_aktuell_1_2019-web.pdf. Wenigen, Hamburg. CDU/CSU und SPD (2018): Ein neuer Auf- Schneider, Roland (2018): Innovative Ar- bruch für Europa. Eine neue Dynamik für beitszeitpolitik im Dienstleistungssektor, Wor- Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für un- king Paper Hans-Böckler-Stiftung Nr. 91, Sep- ser Land, Koalitionsvertrag 19. Legislaturperi- tember 2018, Düsseldorf. ode, Berlin.
Arbeit, die zum Leben passt 15 Bernd Riexinger ARBEIT, DIE ZUM LEBEN PASST DIE ZEIT IST REIF FÜR DIE «KURZE VOLLZEIT» Arbeitsstress und Erschöpfung sind längst länger als 48 Stunden, wie eine aktuelle An- zu einem Thema geworden, das ganz unter- frage der Linksfraktion im Bundestag ergab. schiedliche Beschäftigte verbindet – egal ob 2018 haben die Beschäftigten 2,1 Milliarden sie mit Pflegekittel, im Blaumann, mit Lap- Überstunden gemacht, die Hälfte davon un- top oder Wischmopp arbeiten. Millionen Be- bezahlt. Personalmangel und krank machen- schäftigte wünschen sich mehr Zeit für Fami- der Dauerstress sind in vielen Bereichen, nicht lie, Freunde, Weiterbildung, für kulturelles und nur in der Pflege und in den Kitas, zum Nor- politisches Engagement. malzustand geworden. Auch deshalb verkür- Statt die Rahmenbedingungen dafür zu schaf- zen immer mehr Menschen, nicht nur Frauen, fen, dass alle gleichberechtigt an Erwerbs- ihre Arbeitszeit in Richtung 30-Stunden-Wo- und Familienarbeit teilnehmen können, che. Aber unter den bestehenden Bedingun- konnte sich die Große Koalition nur auf vage gen führt Teilzeit oft in die Altersarmut. Wer Formelkompromisse verständigen. Der Dau- nur knapp über dem Mindestlohn verdient erstress in der Arbeitswelt ist für die Bundes- und steigende Mieten bezahlen muss, kann regierung offenbar kein drängendes Thema. sich eine Arbeitszeitverkürzung oft nicht leis- Im Gegenteil: In Tarifverträgen sollen neue Ab- ten. Etwa 40 bis 50 Prozent aller Beschäftig- weichungsmöglichkeiten zur Verlängerung ten kommen mit ihrem Lohn kaum über die der Tagesarbeitszeiten geschaffen werden. Runden. Das ist eine wichtige Forderung der Unter- Ohne eine kollektive Bewegung für eine neue nehmensverbände, denn so würde Flexibili- gesellschaftliche Regelung der Arbeitszeiten tät weiter einseitig von den Unternehmen be- müssen alle nach individuellen Lösungen su- stimmt. chen, um genug zu verdienen, Arbeit und Le- Die Arbeitszeitfrage spielte in den vergange- ben mit Kindern zu vereinbaren oder mit dem nen zwei Jahren in den Gewerkschaften wie- Arbeitsstress umzugehen. Unter der Ober- der eine größere Rolle: In der Tarifrunde der fläche gärt es, immer mehr Menschen wün- IG Metall streikten 1,5 Millionen Beschäftig- schen sich andere Arbeitszeiten. Wenn die te für «Arbeitszeiten, die zum Leben passen». größte Industriegewerkschaft Schritte in Rich- Auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerk- tung der 30-Stunden-Woche mit Teillohnaus- schaft (EVG) sowie ver.di konnten Erfolge mit gleich für Menschen mit Kindern und pflege- neuen Tarifregelungen verbuchen, die kürzere bedürftigen Angehörigen durchsetzt, wenn und selbstbestimmtere Arbeitszeiten ermög- Pflegekräfte für Entlastung streiken, dann sind lichen. das Signale, dass wir einen gesellschaftlichen Beim Kampf um die Arbeitszeit geht es um die Aufbruch brauchen: für Arbeit, die zum Leben Frage, in welche Richtung sich die Arbeits- passt. gesellschaft entwickelt. Die Arbeitszeiten der Menschen sind in den letzten 20 Jahren mas- Dauerstress stoppen – mehr siv auseinandergedriftet. Viele Frauen in Mini- Personal statt Überstunden! jobs oder unfreiwilliger Teilzeit arbeiten weni- Eine neue Arbeitszeitoffensive der Gewerk- ger, als sie eigentlich wünschen. Gleichzeitig schaften und ihrer Bündnispartner ist drin- arbeiten immer mehr Beschäftigte regelmäßig gend notwendig. Als LINKE haben wir das
16 Arbeit, die zum Leben passt Konzept eines «Neuen Normalarbeitsverhält- Mehr Zeit zum Leben – nisses» entwickelt (Riexinger/Becker 2017) mit der «kurzen Vollzeit» und in den vergangenen zwei Jahren in die ge- Eine neue Arbeitszeitoffensive braucht ei- werkschaftliche Diskussion eingebracht. Mit ne mobilisierende Perspektive, die über Ein- der Initiative «Arbeit, die zum Leben passt» zelforderungen und tarifliche Auseinander- wollen wir dafür an der Basis, in den Betrie- setzungen hinausgeht bzw. diese verbinden ben und bei den vielen Menschen, die eine ge- kann. Es ist eine Frage der (Klassen-)Kämpfe rechte Arbeitswelt und mehr Zeit zum Leben um die Hegemonie, was in einer Gesellschaft wünschen, Mitstreiter*innen gewinnen. als «selbstverständlich», als «normal» gilt, wel- Zur «Arbeit, die zum Leben passt» gehören che Vorstellungen von guter Arbeit und einem Löhne, die für ein gutes Leben reichen, so- guten Leben sich gesellschaftlich verallgemei- wie sichere und sozial abgesicherte Arbeit. Ei- nern und durchsetzen. In der Auseinanderset- ne neue Arbeitszeitinitiative wird nur an Fahrt zung um die Arbeitszeitverkürzung Mitte der gewinnen, wenn wir sie mit dem Kampf um 1980er Jahre, die als Teil eines Kulturkampfes höhere Löhne (durch einen höheren Mindest- geführt wurde, konnten die Gewerkschaften lohn von mindestens zwölf Euro und flächen- zum letzten Mal gesamtgesellschaftliche De- deckende Tarifverträge) verbinden und dem batten prägen und im Rahmen von Tarifaus Dauerstress in der Arbeit den Kampf ansa- einandersetzungen Perspektiven auf eine wei- gen. Egal ob bei Amazon oder bei der Post, ter reichende gesellschaftliche Transformation im Krankenhaus oder im Pflegeheim, im Büro eröffnen. Allein schon das Logo mit der auf- oder in der Fabrik – fast alle machen die Er- gehenden Sonne verbreitete gesellschaftli- fahrung von erhöhtem Leistungsdruck und chen Optimismus. Umverteilung der Arbeit Dauerstress. Entscheidend ist, das Problem auf mehr Hände und Köpfe durch die 35-Stun- zu einem kollektiven und gesellschaftlichen zu den-Woche bei vollem Lohnausgleich. Dieses machen. Projekt war von Anfang an mehr als eine klas- Fast alle machen die Erfahrung von erhöhtem Leistungs druck und Dauerstress. Entscheidend ist, das Problem zu einem kollektiven und gesellschaftlichen zu machen. Arbeit darf nicht krank machen und mensch- sische tarifliche Auseinandersetzung. Es ging liche Bedürfnisse müssen den Vorrang vor auch um ein neues Verhältnis von Arbeit und Profitinteressen haben. Daher braucht es drin- Leben, um emanzipatorische Zukunftsent- gend eine Anti-Stress-Verordnung, wie sie würfe im Zusammenleben der Geschlechter, auch von verschiedenen Gewerkschaften ge- um die Definition von Lebensqualität. «Zeit- fordert wird. Alle Beschäftigten müssen zum wohlstand» brachte auf den Begriff, dass Beispiel ein Recht auf Nichterreichbarkeit au- mehr Zeit mehr Lebensqualität bedeutet. ßerhalb der Arbeitszeit bekommen. Die Ar- Der Vorschlag einer «kurzen Vollzeit» greift die beitsmenge muss so bemessen sein, dass sie verschiedenen Aspekte der Arbeitszeitdiskus- in der vertraglichen Arbeitszeit geleistet wer- sion auf und eröffnet eine «konkret utopische» den kann. Das erfordert eine erweiterte Mitbe- Perspektive. Die Zeit ist längst reif für eine stimmung der Betriebsräte und direkte Veto- neue, kürzere Normalarbeitszeit, die zwischen rechte für Beschäftigte gegen unzumutbare 28 und 35 Stunden pro Woche für alle selbst- Arbeitsbelastungen. bestimmter gestaltbar ist. Unser Vorschlag
Arbeit, die zum Leben passt 17 einer «kurzen Vollzeit» umfasst unterschiedliche Säulen, die zu- Weil kürzere Arbeit produktiver ist, gleich Forderungen für Einstiege muss es einen gesetzlich verpflich sein können: tenden Teillohnausgleich geben, der 1) Die «kurze Vollzeit» zwischen tariflich ausgestaltet werden soll. 28 und 35 Stunden pro Woche soll zur gesetzlichen Regelarbeitszeit werden, liche Wahlarbeitszeitabkommen» fördern. zu einer Norm, an der sich gesetzliche Rege- Alle Unternehmen werden verpflichtet, min- lungen und Tarifverträge orientieren. Der öf- destens alle zwei Jahre und vor jeder Tarifrun- fentliche Sektor (unter anderem Gesundheits- de einen «Arbeitszeit-Check» durchzuführen, und Bildungsberufe) sowie hoch produktive also eine Befragung der Beschäftigten, wel- Bereiche wie die Metallindustrie könnten da- che Arbeitszeit sie sich wünschen. Fehlt es an bei zum Vorreiter werden und die kurze Voll- einem betrieblichen Wahlarbeitszeitabkom- zeit mit Lohn- und notwendigem Personalaus- men, werden die Anträge von Beschäftigten gleich einführen. Das wollen wir durch eine auf Veränderung der Arbeitszeit Bestandteil gesellschaftliche Mobilisierung für eine neue des Arbeitsvertrages. gesetzliche Regulierung der Arbeitszeit und 4) Investieren in mehr Lebensqualität: Durch staatlich geförderte Einstiege in die «kurze ein Investitionsprogramm in Höhe von Vollzeit» für alle unterstützen. 120 Milliarden Euro können zwei Millionen 2) Alle Beschäftigten müssen das Recht auf neue Arbeitsplätze in kurzer Vollzeit zwischen eine Mindeststundenzahl von 22 Stunden pro 28 und 35 Stunden in den Bereichen Bildung Woche im Arbeitsvertrag erhalten. Die wö- und Weiterbildung, Gesundheitsversorgung chentliche Höchstarbeitszeit soll von derzeit und Pflege, soziale Arbeit, Integration und 48 auf 40 Stunden begrenzt werden. öffentliche Dienstleistungen für lebenswer- 3) Mit einem «Wahlarbeitszeitgesetz» und ei- te, barrierefreie und ökologisch zukunftsfähi- ner Ausweitung der Mitbestimmung sollen al- ge Kommunen sowie im sozial-ökologischen le Beschäftigten das Recht erhalten, innerhalb Umbau der Industrie geschaffen werden. eines Korridors von 22 bis 35 Wochenstunden 5) Soziale Absicherung für gerechte Vertei- ihre Arbeitszeit zu bestimmen, zeitweilig zu lung der Arbeit, Familien- und Weiterbildungs- begrenzen und zu erhöhen. Alle Beschäftigten zeit: Lohnarbeit soll so geregelt werden, dass sollen Anspruch auf eine zeitweilige Verringe- sie die Familien- und Sorgearbeit als gesell- rung der wöchentlichen Arbeitszeit bis maxi- schaftlich notwendige Arbeit anerkennt und mal 50 Prozent der tariflichen Arbeitszeit oder das Recht auf Weiterbildung für alle Beschäf- auf eine Auszeit von einem Jahr (Sabbatical) tigten verwirklicht. Dazu braucht es einen teil- haben. Die verkürzte Arbeitszeit gilt für mini- weisen Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkür- mal ein Jahr und maximal sechs Jahre mit ga- zung im Rahmen von Familien-, Pflege- oder rantiertem Rückkehrrecht zur ursprünglichen Weiterbildungszeit, der durch eine Abgabe Arbeitszeit. Weil kürzere Arbeit produktiver von Unternehmen mit mehr als zehn Beschäf- ist, muss es einen gesetzlich verpflichtenden tigten und durch begrenzte staatliche Zu- Teillohnausgleich geben, der tariflich ausge- schüsse finanziert werden kann. staltet werden soll. Die frei werdenden Stel- lenteile werden verpflichtend besetzt. Statt Gesellschaftliche Kampagne Zeitkonflikte weiter auf die Einzelnen zu ver- Wir sollten auch heute die Auseinanderset- lagern, soll ein Wahlarbeitszeitgesetz mitbe- zung konsequent als eine gesellschaftspoli- stimmte kollektive Lösungen durch «betrieb tische führen: In welcher Gesellschaft wollen
18 Arbeit, die zum Leben passt wir leben? Wie wollen wir arbeiten und leben? um, Reichtum, Arbeit und Zeit radikal umzu- Der Konflikt um die Zeit dreht sich auch um die verteilen. So könnten Einstiege in ein neues richtigen Weichenstellungen für die Zukunft: Wohlstandsmodell aussehen, das mehr Le- Durch die Digitalisierung, den Wandel der bensqualität, mehr Zeit zum Leben und sinn- Dienstleistungen und den Übergang zu Elek volle Arbeit für alle ermöglicht, statt blindem tromobilität werden viele Arbeitsplätze wegfal- Wachstum und Profitstreben zu folgen. len. Führen diese Umbrüche zu mehr Arbeits- Wie die Durchsetzung des Mindestlohns losigkeit und prekärer Arbeit? Oder nutzen wir zeigt, ist die Schaffung gesellschaftlicher die wachsende Produktivität, um Arbeit ge- Mehrheiten entscheidend. Dazu braucht rechter zu verteilen und endlich Wirtschaft und es einen langen Atem, beharrliche Arbeit an Arbeitswelt menschlicher zu gestalten? breiten gesellschaftlichen Bündnissen und Angesichts der sich verschärfenden Klimakri- die Verknüpfung zivilgesellschaftlicher Auf- se bleibt nicht viel Zeit. Notwendig ist ein ra- klärung und Mobilisierung mit parlamentari- dikaler Umbau unserer Gesellschaft, der Wirt- schen Initiativen. Eine Herausforderung für schaft und Infrastruktur. die Zukunft besteht darin, Das bedeutet auch: eine betriebliche Auseinander- andere Arbeitsgesellschaft Es geht auch darum, setzungen und Tarifpolitik und neue Lebensweisen, Reichtum, Arbeit um Arbeitszeitregelungen ein anderes Verhältnis von und Zeit radikal mit einer gesellschaftli- Arbeit, Konsum und ge- umzuverteilen. chen Kampagne der Ge- meinsam gestalteter Zeit. werkschaften und zivilge- Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit sellschaftlicher Bündnispartner aus sozialen werden nur zusammen funktionieren. Bewegungen und Parteien zu verbinden. Die Alternative zu einem «grünen Kapitalis- Die Perspektive der «kurzen Vollzeit» und die mus» und zum neoliberalen Exportmodell mit Einbettung in eine Initiative «Arbeit, die zum wachsender sozialer Ungleichheit und auto- Leben passt» bieten eine gute Grundlage, um ritär abgesicherten Wohlstandsinseln lautet: eine gesellschaftliche Debatte loszutreten und den Wohlstand für die überwältigende Mehr- eine politische Kampagne aufzubauen. Träger heit der Menschen in Deutschland auf eine einer politischen Initiative wären deshalb nicht neue Grundlage stellen. Mit einem ökologi- nur die Gewerkschaften. Feministische Initia- schen Umbau der Industrie. Gerechte Über- tiven, Erwerbsloseninitiativen, Sozialverbän- gänge statt Strukturwandel auf Kosten der de, Attac, kirchliche Initiativen und sogar Teile Beschäftigten, mit Wirtschaftsdemokratie der SPD und der Grünen könnten dafür sor- und Arbeitszeitverkürzung mit Einkommens- gen, dass sie große Wellen schlägt, wenn erst garantien. Mit massiven Investitionen in öf- einmal der Stein ins Wasser geworfen wird. fentlichen Reichtum, der allen zugutekommt, in Form kostenfreier Bildung, guter Gesund- Literatur heitsversorgung und Pflege, bezahlbarer und Riexinger, Bernd/Becker, Lia (2017): For the ökologisch gebauter Wohnungen in genos- many, not the few: Gute Arbeit für alle! Vor- senschaftlichem Eigentum, mit kostenfreiem schläge für ein neues Normalarbeitsverhält- öffentlichem Nahverkehr. Es geht auch dar- nis, Supplement Sozialismus 9/2017.
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