INDIVIDUELLE BEDÜRFNISSE, KOLLEKTIVE AKTIONEN, POLITISCHE ALTERNATIVEN BEITRÄGE ZUR NEUEN ARBEITS-ZEITDEBATTE - Daniel Behruzi/Fanny Zeise (Hrsg.)

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Daniel Behruzi/Fanny Zeise (Hrsg.)
 INDIVIDUELLE BEDÜRFNISSE,
KOLLEKTIVE AKTIONEN,
­POLITISCHE ALTERNATIVEN
 BEITRÄGE ZUR NEUEN ARBEITS-
 ZEITDEBATTE
INHALT

Einleitung                                                                 3

Sybille Stamm/Richard Detje
Kämpfe um Zeit                                                             5

Teil 1
Umkämpfte Zeit: Tarifpolitische Erfolge, gesetzliche Deregulierung        11

Susanne Ferschl
Schutzrechte verteidigen, ­Selbstbestimmung stärken                       11
Bundesregierung und Arbeitgeber wollen das ­Arbeitszeitgesetz aufweichen

Bernd Riexinger
Arbeit, die zum Leben passt                                               15
Die Zeit ist reif für die «kurze Vollzeit»

Jutta Krellmann
Humanisierung 2.0                                                         19
Überlange und entgrenzte Arbeit machen krank

Reinhard Bispinck
Tarifliche Arbeitszeitpolitik                                             22
Wahloptionen als neues Instrument der ­Arbeitszeitgestaltung

Stephan Krull/Margareta Steinrücke
30 Stunden sind genug                                                     33
Ein Plädoyer für kollektive Arbeitszeitverkürzung

Teil 2
IG Metall: Rückkehr der ­Arbeitszeitfrage                                 35

Daniel Behruzi
Zurück in die Zukunft                                                     35
Die IG Metall hat das Thema Arbeitszeit wieder auf die Agenda gesetzt

Hilde Wagner
Mehr Zeit zum Leben – in und ­außerhalb der Arbeit                        40
Neue Arbeitszeitregelungen in der Metall- und ­Elektroindustrie
«Wir wollen die 35-Stunden-Woche für alle»                                        48
Ein Gespräch mit Jan Andrä, Leiter des IG-Metall-­Vertrauenskörpers
im VW-Werk Zwickau

Stephan Krull
Krise als Chance                                                                  51
Die Automobilindustrie steckt in einem Dilemma

Teil 3
ver.di: Arbeitszeit und Personal­bemessung gehören zusammen                       53

Volker Mörbe
Streikfähigkeit entscheidet                                                       53
ver.di diskutiert über Modelle zur Arbeitszeit­verkürzung im öffentlichen Dienst

Daniel Behruzi
Grenzen setzen                                                                    57
Krankenhausbeschäftigte streiten für mehr Personal und dafür,
dass Freizeit auch freie Zeit ist

Verzeichnis der Autor*innen                                                       62
Einleitung   3

EINLEITUNG

Um das Thema Arbeitszeit ist es in den deut-       Einen Blick zurück und nach vorn werfen zu-
schen Gewerkschaften lange still gewesen.          nächst Richard Detje und Sybille Stamm in ih-
Zwar war in der Krise 2008/09 die vorüberge-       rem einleitenden Beitrag. Sie umreißen die La-
hende und von den Beschäftigten größten-           ge, die Aufgaben und Leitplanken der neuen
teils selbst finanzierte Arbeitszeitverkürzung     Arbeitszeitdebatte.
von zentraler Bedeutung, um Massenentlas-          Im ersten Teil der Broschüre skizzieren Susan­
sungen bei den Stammbelegschaften weit-            ne Ferschl, Bernd Riexinger und Jutta Krell-
gehend zu vermeiden – ein offensichtlicher         mann die politischen Konfliktlinien. Sie stellen
Beleg dafür, dass Arbeitszeitverkürzung Be-        den Forderungen nach weiterer gesetzlicher
schäftigung sichert –, doch ging die anschlie-     Deregulierung und Verlängerung der Arbeits-
ßende Entwicklung in die entgegengesetz-           zeiten Konzepte wie die der «kurzen Vollzeit»
te Richtung: In den folgenden Boomjahren           entgegen, die sich an den Bedürfnissen der
wurden Arbeits- und Betriebsnutzungszeiten         Beschäftigten und der Gesellschaft orientie-
ausgeweitet, haben die Unternehmen die Fle-        ren. Und sie zeigen, wie parlamentarische
xibilisierung einseitig zu ihren Gunsten voran-    und öffentlichkeitswirksame Aktivitäten die
getrieben. Zudem berichten Beschäftigte aller      gewerkschaftliche Bewegung in den Betrie-
Branchen davon, dass sich Arbeitsintensität        ben und in der Tarifpolitik unterstützen kön-
und -belastung drastisch erhöht haben.             nen.
Höchste Zeit also, die Fragen nach der Län-        Einen Überblick über die neueren tarifpoliti-
ge und der Verteilung der Arbeitszeiten wie-       schen Entwicklungen zum Thema Arbeitszeit
der anzugehen und eine neue (arbeits-)zeit-        gibt Reinhard Bispinck – insbesondere über
politische Offensive zu starten, für die Richard   die in diversen Tarifverträgen enthaltenen
­Detje, Sybille Stamm und Florian Wilde bereits    Wahloptionen zwischen Arbeitszeitverkür-
 2014 in der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung       zung bzw. zusätzlichen freien Tagen und Ent-
 herausgegebenen Broschüre «Kämpfe um              gelterhöhungen. Im Kontrast zu dieser Praxis
 Zeit» plädiert haben.                             argumentieren Stephan Krull und ­Margareta
 Die Gewerkschaften haben das Thema Ar-            Steinrücke für die «klassische» Forderung
 beitszeit endlich wiederentdeckt und in die       nach kollektiver Arbeitszeitverkürzung in Form
 tarifpolitischen Auseinandersetzungen getra-      einer 30-Stunden-Woche und beziehen sich
 gen, wie die Tarifabschlüsse bei der Bahn, in     dabei unter anderem auf Erfahrungen mit ver-
 der Metallindustrie und anderswo dokumen-         kürzten Arbeitszeiten bei Volkswagen in den
 tieren. Gleichzeitig arbeiten Unternehmerver-     1990er Jahren.
 bände und (neo-)liberale Politiker*innen unter    Im zweiten Teil diskutieren Daniel Behruzi und
 dem Vorwand der Digitalisierung an der De-        Hilde Wagner den Verlauf und das Ergebnis
 regulierung des Arbeitszeitgesetzes. Da die       der Tarifbewegung in der Metall- und Elek­
 «Kämpfe um Zeit» also wieder entbrannt sind,      troindustrie 2018. Der Vertrauenskörperleiter
 steht in den Gewerkschaften und in der Linken     des Volkswagen-Werks Zwickau, Jan Andrä,
 eine neue Arbeitszeitdebatte an. Diese steckt     berichtet im Interview, warum die IG Metall
 allerdings noch in den Anfängen. Um sie zu        die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland
 befördern, versammelt die vorliegende Bro-        nach vielen Jahren wieder auf die Agenda ge-
 schüre Beiträge über unterschiedliche Aspek-      setzt hat. Und Stephan Krull begründet, wa-
 te und aktuelle Entwicklungen.                    rum Arbeitszeitverkürzung eine zentrale ge-
4   Einleitung

werkschaftliche Antwort auf die strukturelle     zung von Personalstandards zu einem mobi-
Krise der Automobilindustrie sein sollte.        lisierungsfähigen Thema gemacht werden, so
Die Arbeitszeitdiskussion in der Vereinten       seine These.
Dienstleistungsgewerkschaft zeichnet Vol-        Die versammelten Beiträge beleuchten
ker Mörbe im dritten Teil nach. Daniel Behruzi   schlaglichtartig zentrale Aspekte der neuen
betont mit Bezug auf die Bewegung für mehr       Arbeitszeitdiskussion und sollen zur weiteren
Personal und Entlastung im Krankenhaus den       Debatte einladen. Denn die «Ökonomie der
Zusammenhang zwischen Arbeitszeit- und           Zeit» ist wieder Thema. Gut so.
Leistungspolitik. Arbeitszeitverkürzung kön-
ne angesichts der hohen Belastung hier nur       Daniel Behruzi und Fanny Zeise
in engem Zusammenhang mit der Durchset-          Juni 2019
Kämpfe um Zeit   5

Sybille Stamm/Richard Detje

KÄMPFE UM ZEIT

«Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf,          Der «Heißhunger nach Mehrarbeit» (Marx)
um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto         ist damit aufseiten des Kapitals nicht gestillt.
mehr Zeit gewinnt sie zu andrer Produk­tion,       100 Jahre nach Einführung des Acht-Stun-
materieller oder geistiger. Wie bei einem          den-Tages in Deutschland haben Arbeitge-
einzelnen Individuum, hängt die Allseitigkeit      berverbände ihre Lobbytruppen erneut in
ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer        Bewegung gesetzt, um diese Regelung im Ar-
Tätigkeit von Zeitersparnis ab. Ökonomie der       beitszeitgesetz zu kippen (nachdem die öffentli-
Zeit, darein löst sich schließlich alle Ökono-     chen Arbeitgeber bereits 2006 versucht hatten,
mie auf.» (Karl Marx: Grundrisse der Kritik        die 40- oder gar 42-Stunden-Woche wieder
der Politischen Ökonomie)                          einzuführen). Ein «grundlegendes Update des
Kämpfe um die Verteilung und Regulierung           Arbeitszeitgesetzes» fordert die Bundesverei-
von Arbeits- und Lebenszeit prägen die Arbei-      nigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
terbewegung seit ihren Ursprüngen. Knapp           (BDA) sowie «Experimentierspielräume» für ta-
zwei Jahrhunderte, von den 1830er Jahren           rifgebundene Betriebe (Der Spiegel, 4.4.2018).
bis heute, währt mittlerweile der Großkonflikt     Die Begründung kommt «modernistisch» da-
um den Acht-Stunden-Tag. Darin eingewoben          her: In einer globalisierten Wirtschaft auf dem
sind unterschiedliche Phasen der Entspan-          Sprung in die Welt der 4. industriellen Revo-
nung und Zuspitzung, von Defensive und Pro-        lution vernetzter cyberphysischer Systeme
gress. Zu einer Verdichtung der Auseinander-       (nach der Dampfmaschine und den Webstüh-
setzungen kam es in der zweiten Hälfte des         len, dem Fließband und dem Computer – man
20. Jahrhunderts mit den Kämpfen um das            sieht: ein technologisch extrem enges Fort-
arbeitsfreie Wochenende, um Pausenrege-            schrittsverständnis) sei Arbeitszeitbegrenzung
lungen und um die 35-Stunden-Woche in der          «old fashioned», aus der Zeit gefallen.
Metall- und Druckindustrie.
Doch nach diesem Zyklus verschwand das             Kein Stillstand
Thema Arbeitszeitverkürzung für nahezu zwei        Fortschritt verzehrende Regression allerorten?
Jahrzehnte von der gewerkschaftlichen und          Nein! Nach einem Vierteljahrhundert ist neue
gesellschaftlichen Agenda. In dieser bleiernen     Bewegung in die gewerkschaftliche Arbeits-
Zeit bestätigte sich die alte Erkenntnis der Ar-   zeitpolitik gekommen. Über 680.000 Beschäf-
beiterbewegung, dass Stillstand Rückschritt        tigte der Metall- und Elektroindustrie beteilig-
bedeutet. Aus dem tarifvertraglichen An-           ten sich 2017 an einer Umfrage der IG Metall
spruch auf kürzere Vollzeit wurde für einen Teil   über ihre Arbeits- und Lebenszeitwünsche.
der Beschäftigten de facto erneute Arbeits-        Sie berichten von einer betrieblichen Realität,
zeitverlängerung, für andere kurze Teilzeitar-     die durch «systematische Überlastung» (Krat-
beit unterhalb eines Niveaus auskömmlicher         zer 2016: 25 f.) in einem von massivem Kos-
Existenzsicherung – beides verpackt in aus­        ten-, Rendite- und Termindruck charakterisier-
ufernde Flexibilisierungsforderungen zur Rea­      ten Regime geprägt ist. Ihre Botschaft ist nicht
lisierung gesteigerter Renditeansprüche der        fatalistisch, sondern nach vorn gerichtet: Die
Unternehmen. So entstand ein Flickenteppich        Beschäftigten sind nicht mehr bereit, sich mit
entgrenzter, zerfaserter und fragmentierter Ar-    einem entgrenzten, krank machenden Sys-
beitswelten.                                       tem abzufinden. Auf die Kritik folgten Taten.
6   Kämpfe um Zeit

Ein Jahr später streikten 1,5 Millionen Metal-     auch der weit vorangetriebene Ausbau pre-
ler*innen für die Option auf mehr Zeitsouve-       kärer Beschäftigungsverhältnisse gehört;
ränität, kürzere Vollzeit, bessere Vereinbarkeit   Ausdifferenzierung in einem weiten Feld von
und Planbarkeit von Beruf und Familie, mehr        deregulierter Überarbeit bis zu Modellen kur-
Zeit für die Erziehung und Ausbildung der Kin-     zer Teilzeit; Flexibilisierung zur weitestge-
der und die Pflege von Angehörigen; auch das       henden Anpassung der Arbeitsvolumina an
Recht auf Teilzeit, verbunden mit dem Recht        Nachfrageschwankungen (Lehndorff 2017).
auf Rückkehr in einen Vollzeitjob, gehört dazu     Entstandardisierung hat zu einer Auflösung
(siehe die Beiträge von Reinhard Bispinck und      einheitlicher Zeitmuster und, darin eingewo-
Hilde Wagner).                                     ben, zu einer Zunahme atypischer Arbeits-
Was 1984 in den Streiks für die 35-Stun-           zeiten geführt: Schichtarbeit, Nachtarbeit,
den-Woche mit der Losung «Mehr Zeit zum            Wochenendarbeit. Ausdifferenzierung wird
Leben, Lieben, Lachen» als neue Melo-              vorangetrieben durch verlängerte Betriebs-
die der Frauen im Streik anklang, hat Früch-       nutzungs- und Öffnungszeiten, Arbeitszeit-
te getragen. Das Neue ist, dass Zeit auch in       konten- und Gleitzeitsysteme, Arbeit auf Abruf
den gewerkschaftlichen Kämpfen nicht nur           und Telearbeit. Dies geht einher mit sozia-
als Arbeitszeit, sondern zugleich in ihrem le-     ler Polarisierung bei der Verteilung und Lage
bensweltlichen Kontext wahrgenommen wird           der Arbeitszeiten: zwischen den Geschlech-
(«Meine Zeit ist mein Leben»). Arbeit und Le-      tern, zwischen beruflichen Qualifikationen,
ben – beides ist im Blick. Das kommt auch in       zwischen Stamm- und Randbelegschaften.
einer Studie der Kassenärztlichen Bundesver-       2,1 Milliarden Überstunden (2017), davon
einigung zum Ausdruck, in der 95 Prozent von       rund die Hälfte nicht bezahlt, verweisen dar-
13.000 befragten Medizinstudent*innen an-          auf, in welchem Ausmaß tarifliche und gesetz-
geben, dass die Vereinbarkeit von Familie und      liche Arbeitszeitregulierung entwertet ist.
Beruf für sie das entscheidende Kriterium für      Dieses zerklüftete Arbeitszeitregime ist funk-
die Wahl des Arbeitsplatzes sei (Ärzte-Zeitung     tional für eine Betriebsweise, die durch Ver-
online, 30.1.2019). Gegen ein entgrenztes Un-      marktlichung nicht nur im Verhältnis zwischen
ternehmens- und Arbeitsregime werden glei-         Betrieben und in deren Kundenbeziehungen,
chermaßen arbeitsinhaltliche wie lebenswelt-       sondern maßgeblich auch durch Marktbezie-
liche Interessen geltend gemacht. Die enorme       hungen innerhalb des Unternehmens geprägt
Kluft zwischen dem erweiterten Zugriff auf die     ist. An die Stelle direkter Anweisungen in ei-
lebendige Arbeit auf der einen und den Zeit-       nem kleinmaschigen Hierarchiesystem tritt
wünschen großer Teile der Beschäftigten auf        indirekte Steuerung, vermittelt über Kennzif-
der anderen Seite lässt einen arbeitszeitpoliti-   fernsysteme, Budgetvorgaben, Zielvereinba-
schen Stillstand nicht mehr zu.                    rungen etc. (Sauer 2013). Damit verbunden
                                                   ist eine Finalisierung der Leistungspolitik:
Zerklüftetes                                       Nicht eine festgelegte Arbeitsleistung pro
­Arbeitszeitregime                                 Stunde, sondern das marktbewertete Arbeits­
 Die heutigen «Kämpfe um Zeit» treffen den         ergebnis ist der Maßstab. Daraus resultiert die
 Kern eines finanzmarktgetriebenen Akkumu-         gleichsam systemische Entgrenzung von Ar-
 lationsregimes, dessen Verwertungsansprü-         beitsleistung und Arbeitszeiten zum Zweck
 che die des Realkapitals noch übertreffen (Bi-    kürzerer Kapitaldurchlaufzeiten, geringerer
 schoff 2014; Krüger 2015). Drei Tendenzen         Kapitalbindung, optimalen Auslastungsgra-
 prägen das Zeitregime in den Betrieben und        den, optimierten Wertschöpfungsketten und
 Verwaltungen: Entstandardisierung, wozu           hoher externer und interner Flexibilität.
Kämpfe um Zeit   7

Die neuen Steuerungsformen sind ambi-              zung der verbleibenden lebendigen Arbeit
valent: Sie haben das Potenzial verstärk-          ausgerichtet. Urban/Ehlscheid (2019: 113)
ter (Selbst-)Ausbeutung, können allerdings         beschreiben ein «Bad-Case-Szenario», in dem
auch selbstbestimmte Arbeitsorganisation           «das vielfach diskutierte Leitbild der ‹agilen
mit mehr Zeitsouveränität befördern (Menz          Unternehmensführung› […] wie kein anderes
u. a. 2019). Ausschlaggebend ist letztlich die     für eine Beschleunigung der Arbeitsvorgän-
Ressourcenausstattung: finanziell, personell,      ge und einen umfassenden Zugriff auf das Ar-
zeitlich. Wie selbstorganisierte Arbeitszeiten,    beitsvermögen der Beschäftigten» steht; Mit-
die zum Leben passen, im Rahmen agiler Me-         bestimmung, Arbeitnehmerrechte, regulierte
thoden klappen können, zeigen Projekte bei         Arbeits-, Arbeitszeit- und Leistungsbedingun-
BMW in München zur Reorganisation der Bü-          gen werden dabei als «vermeintliche Moderni-
roarbeit oder bei Volkswagen in Emden mit          sierungs- und Wettbewerbs-Hürden ins Visier
agiler Teilzeitarbeit im Schichtbetrieb.           genommen» (ebd.: 114).
                                                   In der deutschen Exportökonomie dürften die
Transformationskrise                               Beschäftigungsprobleme durch die Regionali-
Vermarktlichung und indirekte Steuerung            sierung des Weltmarktes wachsen; was heute
gibt es mittlerweile seit rund drei Jahrzehn-      noch hierzulande produziert wird, steht unter
ten, doch der Kontext hat sich verändert. Ge-      dem verstärkten Druck der Vor-Ort-Fertigung
blieben sind die finanzmarktkapitalistische        in den anderen Zentren der Triade. Beschäfti-
Rahmung und damit ein potenzierter Krisen-         gungspolitisch laufen diese Entwicklungspro-
charakter. Hinzu kommt ein mehrdimensio­           zesse auf eine Transformationskrise hinaus.
naler Transformationsprozess, in dem drei          Allerdings können die Folgen der Transfor-
Entwicklungsprozesse dominieren: erstens           mation im gesellschaftlichen Arbeitskörper
eine neue Qualität der Digitalisierung, der in-    höchst disparat sein. Gegenwärtig spricht ei-
formationellen Durchdringung und Steuerung         niges dafür, dass von Dekarbonisierung über-
von Produktion und Dienstleistungen unter          proportional klassische Fertigungsbereiche
dem Label Arbeit 4.0; zweitens eine räumliche      betroffen sein werden, wie beispielsweise
Neuverteilung von Wertschöpfungsketten,            der Antriebsstrang des Verbrennungsmo-
die nicht mehr pauschal als Globalisierung,        tors beim Übergang zur E-Mobilität. Digitali-
sondern eher als Regionalisierung (im Rahmen       sierung hingegen wirkt als Rationalisierungs-
der Triade USA, Europa, differenziert nach         treiber vor allem in den Sektoren Logistik und
West und Ost, sowie China und Südostasien)         Wartung, in Büroberufen, aber auch im ge-
und damit verwoben auch mit protektionisti-        samten Pflege- und Gesundheitsbereich. Da-
scher Nationalisierung zu fassen ist; drittens     mit droht eine weitere Fragmentierung der
Dekarbonisierung in einer Zeit, in der fossilis-   Arbeitszeitregime, die weit in Stammbeleg-
tische Wachstumsregime nur auf die unab-           schaften hineinwirkt.
weisliche Gefahr der definitiven Zerstörung
der natürlichen Lebensgrundlagen aufrecht-         Neue Leitplanken
zuerhalten wären.                                  der Arbeitszeitdebatte
In ihrer kapitalistischen Formbestimmung           Einen neuen Anlauf in der gewerkschaftli-
handelt es sich bei der Digitalisierung um Ra-     chen Arbeitszeitpolitik zu unternehmen er-
tionalisierungsprozesse, die maßgeblich zur        weist sich vor diesem Hintergrund als eine
Kostensenkung und Profitsteigerung beitra-         sehr anspruchsvolle und komplexe Aufgabe.
gen sollen. Als solche sind sie auf die Einspa-    Die Forderung nach allgemeiner Arbeitszeit-
rung von Arbeitsplätzen bzw. intensivere Nut-      verkürzung bündelte Mitte der 1980er Jahre
8   Kämpfe um Zeit

die Kämpfe um Zeit. Bereits damals ging es          von Arbeitszeiten und Entlohnung zwischen
um Entlastung von verdichteter Arbeit, um           den Geschlechtern;
mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten      –	Neueinführung flexibler Altersübergangs-
sowie um Beschäftigungssicherung. Unter             regelungen, nachdem diese vonseiten des
den skizzierten veränderten Bedingungen ist         Gesetzgebers seit dem Beginn des Jahrhun-
es fraglich, ob diese Bündelung heute mit ei-       derts nahezu vollständig gekappt worden
ner neuen Maßzahl der Wochenarbeitszeit –           waren.
30 Stunden – gelingen kann: für Projektarbeit    Ebenso wie die Regulierung und die Kontrol-
in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen       le der Arbeitszeit durch das Nadelöhr individu-
und weite Bereiche der Arbeitsvorbereitung       eller Ansprüche und Bedürfnisse gehen müs-
über Service- und Dienstleistungsarbeiten bis    sen, ist von den unterschiedlichen Zugängen
hin zu Teilzeit, geringfügiger und temporärer    und Problemlagen bei der Wiederaneignung
Beschäftigung, in der Industrie ebenso wie       der Zeit auszugehen. Neue gesellschaftliche
in den privaten und öffentlichen Dienstleis-     Normierungen und Standards können – sollen
tungsbereichen.                                  sie mehr sein als eine formale Durchschnitts-
Richtig ist: Es gibt einen weitverbreiteten      berechnung – nicht Voraussetzung, sondern
Wunsch nach kurzer Vollzeit. Doch um dahin       nur Resultat der neuen Kämpfe um Zeit sein.
zu kommen, müssen heute offenbar unter-
schiedliche Pfade gegangen werden. Neue          Gesetzliche
«Leitplanken» und «Haltegriffe» (Lehndorff)      ­Rahmenbedingungen
sind erforderlich für unterschiedliche Pro­       Die Entstandardisierung und Ausdifferenzie-
blemlagen. Um nur wenige zu nennen:               rung der betrieblichen Zeitregime wirft erneut
–	beschäftigungssichernde Arbeitszeitverkür-     die Frage nach gesetzlichen Rahmenbedin-
   zung und weitere Maßnahmen des Rationa-        gungen auf, mit der strategischen Perspekti-
   lisierungsschutzes für unterschiedlich be-     ve, die Konkurrenz oder Kluft zwischen Zeit-
   troffene Beschäftigtengruppen;                regelungen in Tarifverträgen und gesetzlichen
–	breit angelegte Auf- und Umqualifizierungs-   Möglichkeiten zu verringern. Das Arbeitszeit-
   maßnahmen mit arbeitszeitverkürzenden         gesetz lässt in Deutschland immer noch eine
   Effekten für wegfallende und stark dezi-      Wochenarbeitszeit von 48 Stunden bei einer
   mierte Arbeitsbereiche im Transformations-    Sechs-Tage-Woche zu. Eine Erhöhung auf
   prozess;                                      zehn Stunden täglich ist möglich, sofern in-
–	Verknüpfung von Arbeitszeit und Leistungs-    nerhalb eines Ausgleichszeitraums von sechs
   politik auch unter dem Gesichtspunkt nicht    Monaten acht Stunden täglich nicht über-
   nur des Gesundheitsschutzes, sondern          schritten werden. Das ist ein beständiger An-
   auch der Humanisierung der Arbeit vor al-     reiz für Arbeitgeber, Tarifflucht zu begehen.
   lem dort, wo steigende Produktivität mit      Ein neues Arbeitszeitgesetz mit einer Wo-
   wachsendem Arbeitsstress einhergeht;          chenarbeitszeitbegrenzung auf 40 Stunden
–	E ntlastung von krank machenden atypi-        steht auf der Agenda (siehe den Beitrag von
   schen Arbeitszeiten ebenso wie von kör-       Susanne Ferschl).
   perlich schwer belastender oder repetitiver   Die Kommission für Arbeits-, Gleichstellungs-
   Arbeit, was im Zweifelsfall auch Automati-    und Wirtschaftsrecht im Deutschen Juris-
   sierung bedeuten kann;                        tinnenbund hat 2016 eine Konzeption für ein
–	Zeitsouveränität und Vereinbarkeit von Pri-   Wahlarbeitszeitgesetz erarbeitet. Darin heißt
   vatleben und Beruf, auch durch geschlech-     es: «Der Vorschlag für ein Wahlarbeitszeit-
   terdemokratische Neu- und Umverteilung        gesetz kann […] nicht einer Forderung nach
Kämpfe um Zeit   9

allgemeiner Verkürzung der Arbeitszeit in          lung aller werden kann.» (Ebd.: 23) Hieraus
Richtung auf 30 Stunden entgegengehalten           entwickelt sich nicht zuletzt eine Lebenskom-
werden, vielmehr ergänzen sie sich […]. Eine       petenz, die Arbeit, Lernen, Kunst, Kultur, Mu-
allgemeine Arbeitszeitverkürzung kann aber         ße und Genuss in Einklang bringt.
das Bedürfnis nach flexiblen Arbeitszeitregi-      Kämpfe um Zeit sind immer auch Teil von Klas-
mes nicht ersetzen. Denn es ist unbestreitbar,     senkämpfen, von Auseinandersetzungen zwi-
dass auch eine kürzere Vollzeitarbeit nicht al-    schen Kapital und Arbeit. Sie müssen von brei-
le im Lebensverlauf auftretende Erfordernisse      ten gesellschaftlichen Bündnissen begleitet
abweichender Arbeitszeiten abdecken kann.»         werden. Es gilt, Bündnisse zu knüpfen, um zu-
(Kommission 2016) Eine Kombination von all-        mindest punktuell gesellschaftliche Hegemo-
gemeiner, gesetzlicher und tariflicher Arbeits-    nie über die Zeitfrage zu erringen. Hauptak-
zeitverkürzung und Wahlarbeitszeiten zeigt         teur*innen werden Gewerkschafter*innen in
einen Weg auf, der Zeitsouveränität und Zeit-      Tarifkämpfen sein. So ist in allen Fragen der
wohlstand für Alle ermöglichen kann.               Arbeitszeit oder allgemeiner der Neuvermes-
                                                   sung der Arbeitsgesellschaft die Debatte in
Gesamtgesellschaftliche                            Gewerkschaften und Betrieben ausschlagge-
Perspektive                                        bend.
Die Kämpfe um Zeit sollten nicht allein auf die
Verteilung und Regulierung von Arbeitszeit         Wahloptionen als gewerk-
zielen. Die Wiederaneignung der Zeit ist glei-     schaftliche Solidarantwort?
chermaßen ein arbeits- wie gesellschaftspoli-      Noch in den Kämpfen um die 35-Stun-
tisches Projekt. Wichtig ist, die gesamtgesell-    den-Woche und danach galt die alte gewerk-
schaftliche Arbeit und Tätigkeit in den Blick      schaftliche Forderung «Arbeitszeitverkürzung
zu nehmen, wie dies etwa in der «Vier-in-ei-       bei vollem Lohnausgleich». In mehreren Ta-
nem-Perspektive» (Haug 2008) projektiert ist.      rifverträgen – bei der Telekom, in der Me-
Es geht nicht nur um den Erhalt von Arbeits-       tall- und Elektroindustrie, der Chemischen
plätzen und um die Vereinbarkeit von Familie       Industrie, bei E.ON usw. – werden seit gerau-
und Beruf, sondern weit darüber hinaus um          mer Zeit Wahloptionen «Geld oder mehr freie
Zeit für menschliche Entwicklung, Fürsorge         Zeit» angeboten; ver.di hat die Beschäftigten
und Solidarität ebenso wie um Zeit für die Ent-    im öffentlichen Dienst befragt, in den nächs-
faltung partizipativer Demokratie. Die politi-     ten Tarifrunden eine entsprechende Option
sche Kunst liegt in der Verknüpfung der vier       zu verhandeln. Mit dieser Lösung ist neue Be-
Bereiche Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit,       wegung in die arbeitszeitpolitischen Debat-
politische Arbeit und individuelle Entwick-        ten und Auseinandersetzungen gekommen;
lung. «Keiner sollte ohne die anderen verfolgt     sie stellt aber zugleich eine Hypothek dar. Die
werden, was eine Politik und zugleich eine Le-     zusätzliche freie Zeit wird zum Teil mit der Ta-
bensgestaltung anzielt, die zu leben umfas-        riferhöhung bezahlt. Dieses Optionenmodell
send wäre, lebendig, sinnvoll, eingreifend und     stößt dort an Grenzen, wo zeitpolitische Not
lustvoll genießend. Dies ist kein Nahziel, […]     mit niedrigen Einkommen einhergeht. Das ist
doch kann es als Kompass dienen für Nahzie-        in größeren Teilen des Dienstleistungssektors,
le in der Politik, als Maßstab für unsere Forde-   aber auch in industriellen Randbelegschaften
rungen, als Basis unserer Kritik, als Hoffnung,    der Fall. Zudem ist der negative, geschlech-
als konkrete Utopie, die alle Menschen einbe-      terpolitische Touch offenkundig. Sollte es
zieht und in der endlich die Entwicklung jedes     sich bewahrheiten, dass in der Transforma-
Einzelnen zur Voraussetzung für die Entwick-       tionskrise gerade jene Beschäftigten über-
10 Kämpfe um Zeit

proportional betroffen sind, die arbeits- wie      ter Arbeit [andererseits; d. V.] positionieren.
entgeltpolitisch zu den schon immer zu kurz        Das kann nicht für die Betroffenen, sondern
Gekommenen gehören, ist Arbeitszeitverkür-         nur mit ihnen gelingen.» (Urban/Ehlscheid
zung mit nur geringem Teillohnausgleich ein        2019: 120)
Angebot zwischen Skylla und Charybdis. Das
kann nicht die gewerkschaftliche Solidarant-       Literatur
wort sein.                                         Bischoff, Joachim (2014): Finanzgetriebe-
Eine überzeugende, alle Beschäftigtengrup-         ner Kapitalismus. Entstehung, Krise, Entwick-
pen umfassende Solidarantwort, die zudem           lungstendenzen, Hamburg.
in der Lage ist, in die Gesellschaft in Richtung   Haug, Frigga (2008): Die Vier-in-einem-Pers-
potenzieller Bündnispartner*innen auszu-           pektive. Politik von Frauen für eine neue Linke,
strahlen, ist erforderlich, um den Widerstand      Hamburg.
des Kapitals zu durchbrechen. Arbeitszeitfra-      Kommission für Arbeits-, Gleichstellungs-
gen sind Grundsatzfragen, geht es doch um          und Wirtschaftsrecht im Deutschen Ju-
den Zugriff auf die lebendige Arbeit und damit     ristinnenbund (2016): Konzeption für ein
um das «Geheimnis der Plusmacherei» (Marx)         Wahlarbeitszeitgesetz, Berlin.
in der kapitalistischen Gesellschaft. Das gilt     Kratzer, Nick (2016): Unternehmenskulturel-
gleichermaßen für die Arbeitszeit als extensi-     le Aspekte des Umgangs mit Zeit- und Leis-
ve und als intensive Größe, für die Länge des      tungsdruck, in: Badura, Bernhard u. a. (Hrsg.):
Arbeitstages und die Leistungsbedingungen.         Fehlzeiten-Report 2016, Heidelberg, S. 21–31.
Die neue Beweglichkeit in der gewerkschaft-        Krüger, Stephan (2015): Entwicklung des
lichen Arbeitszeitpolitik ist ein erster Schritt   deutschen Kapitalismus 1950–2013, Ham-
des wieder aufgenommenen Kampfes um                burg.
Zeitwohlstand, dem ein zweiter Schritt fol-        Lehndorff, Steffen (2017): Zeit zum Umden-
gen muss: Neufestsetzung und Regulierung           ken – Arbeitszeitrealitäten und Arbeitszeitpoli-
der Leistungsnormen im Sinne entdichteter,         tik, in: Schröder, Lothar/Urban, Hans-Jürgen:
vor permanentem Stress geschützter Arbeit.         Jahrbuch Gute Arbeit. Streit um Zeit – Arbeits-
Dabei geht es um definierte Arbeitsbedingun-       zeit und Gesundheit, Frankfurt a. M., S. 81–91.
gen und Arbeitsaufgaben. Das wird es nur mit       Marx, Karl (1974): Grundrisse der Kritik der
erweiterter Mitbestimmung und direkter Par-        Politischen Ökonomie, Berlin.
tizipation der Beschäftigten bei der Personal-     Menz, Wolfgang/Nies, Sarah/Sauer, Die-
bemessung in den Betrieben und deren Ab-           ter (2019): Digitale Kontrolle und Vermarktli-
teilungen geben. In dieser Perspektive geht es     chung. Beschäftigtenautonomie im Kontext
bei den Kämpfen um Zeit – wie verdeckt oder        betrieblicher Strategien der Digitalisierung, in:
offen thematisiert auch immer – um die Ver-        Prokla 195, S. 181–200.
änderung von Systemzusammenhängen, von             Sauer, Dieter (2013): Die organisatorische
Herrschafts- und Machtpositionen.                  Revolution. Umbrüche in der Arbeitswelt – Ur-
«Inwieweit es den Gewerkschaften gelingt, ei-      sachen, Auswirkungen und arbeitspolitische
ne arbeitskraftorientierte Zeitpolitik gegen die   Antworten, Hamburg.
Zeitherrschaftsansprüche des Kapitals durch-       Urban, Hans-Jürgen/Ehlscheid, Christoph
zusetzen, hängt auch von ihrer eigenen Kon-        (2019): Arbeitszeit und Leistung im Gegen-
fliktbereitschaft ab. Dabei werden sie sich        wartskapitalismus – Ein Blick zurück nach
auch die Frage stellen müssen, wie sie sich im     vorn, in: Schröder, Lothar/Urban, Hans-Jür-
Widerstreit von Produktivitäts- und Wettbe-        gen: Jahrbuch Gute Arbeit. Transformation
werbslogik einerseits und menschengerech-          der Arbeit, Frankfurt a. M., S. 104–122.
Schutzrechte verteidigen, ­S elbstbestimmung stärken 11

TEIL 1
UMKÄMPFTE ZEIT: TARIFPOLITISCHE
ERFOLGE, GESETZLICHE DEREGULIERUNG

Susanne Ferschl

SCHUTZRECHTE VERTEIDIGEN,
­SELBSTBESTIMMUNG STÄRKEN
BUNDESREGIERUNG UND ARBEITGEBER WOLLEN
DAS ­ARBEITSZEITGESETZ AUFWEICHEN

Der digitale Wandel eröffnet für Beschäftige        Vorschläge erarbeitet werden. Schon wäh-
neue Möglichkeiten, ihre Arbeitsabläufe und         rend dieses Prozesses warb Nahles erstmals
Arbeitszeiten selbstbestimmter zu gestalten.        öffentlich für einen «neuen sozialen Kompro-
Zugleich bringt er eine «Ausdifferenzierung         miss», der im Kern «ein Kompromiss über
von Arbeitszeitstrukturen» (Schneider 2018:         Schutz, mehr Souveränität sowie nötige und
33) mit sich, die eine Entgrenzung und Fle-         erwünschte Flexibilität in der Arbeitswelt
xibilisierung im Interesse der Unternehmen          sein» (Nahles 2016: 2) sollte. Die SPD-Politi-
und zulasten der Beschäftigten befördern.           kerin setzte dabei auf soziale Marktwirtschaft
Wie werden diese gegensätzlichen Interes-           und Sozialpartnerschaft als Gegenentwurf
sen und Ansprüche derzeit politisch verhan-         zum kalifornischen Raubtierkapitalismus à la
delt und welche Schlüsse können wir als Ge-         Google und Amazon. Um dieses Modell «Ma-
werkschafter*innen daraus für unsere Arbeit         de in Germany» für die digitale Zukunft fit zu
ziehen? Eines ist klar: Die Frage der Arbeitszeit   machen, sei die faire Verhandlung über Flexi-
wird zu einer der wichtigsten gesellschaftspo-      bilisierungsbedürfnisse und -potenziale von
litischen Auseinandersetzungen der nächsten         Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten un-
Jahre – und zugleich ein Gradmesser für die         erlässlich.
Stärke unserer Stimme in gesellschaftlichen         Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Ar-
Kämpfen.                                            beitszeitgesetz. Den Tarifpartnern soll künftig
                                                    mittels Öffnungsklauseln ermöglicht werden,
Nahles «neuer sozialer                              von gesetzlich vorgeschriebenen Arbeits-
­Kompromiss»                                        und Ruhezeiten abzuweichen, um neue Ar-
 Lange Zeit hat die Politik den digitalen Wan-      beitsformen auszutesten. Scheiterte dieser
 del lediglich als eine weitere Technisierung       Plan in der letzten Groko noch am Wider-
 betrachtet und seine gesellschaftlichen sowie      stand der Gewerkschaften, steht es jetzt of-
 sozialpolitischen Umwälzungs- und Umver-           fiziell im Koalitionsvertrag: «Wir werden über
teilungspotenziale massiv unterschätzt – bis        eine Tariföffnungsklausel im Arbeitszeitge-
die damalige Arbeits- und Sozialministerin          setz Experimentierräume für tarifgebundene
Andrea Nahles im Frühjahr 2015 den soge-            Unternehmen schaffen, um eine Öffnung für
nannten Dialogprozess Arbeit 4.0 startete. Auf      mehr selbstbestimmte Arbeitszeit der Arbeit-
Fachkonferenzen und Bürgerforen sollten die         nehmer und mehr betriebliche Flexibilität in
Gestaltungspotenziale des digitalen Wandels         der zunehmend digitalen Arbeitswelt zu erpro-
für die Arbeitswelt ausgelotet und konkrete         ben. Auf Grundlage von diesen Tarifverträgen
12 Schutzrechte verteidigen, ­S elbstbestimmung stärken

kann dann mittels Betriebsvereinbarungen           serungen mit Rechtsanspruch entpuppen
insbesondere die Höchstarbeitszeit wöchent-        sich als Luftnummern. Die seit Anfang 2019
lich flexibler geregelt werden.» (CDU/CSU und      geltende sogenannte Brückenteilzeit sollte
SPD 2018: 52)                                      als die gesetzliche Umsetzung des lange ge-
Die Umsetzung dieser Aufweichung des Ar-           forderten Rückkehrrechts von Teilzeit in Voll-
beitszeitgesetzes steht aktuell noch aus. In       zeit Geschichte schreiben. Tatsächlich gilt sie
anderer Hinsicht wurden hingegen bereits           allerdings aufgrund diverser Beschränkungen
Tatsachen geschaffen. Ideologisch fallen sie       nur für einen sehr kleinen Teil der Beschäftig-
ebenfalls unter Nahles’ Flexibilitätskompro-       ten: In über 96 Prozent der Betriebe gilt die-
miss und verdeutlichen, in welche Richtung         ser Rechtsanspruch von Rückkehr von Teilzeit
die staatlich organisierte Aushandlung der         in die Vollzeit nicht, zwei Drittel aller arbeiten-
gegensätzlichen Ansprüche ausschlägt. Da           den Mütter sind davon ausgeschlossen. Die
ist zum einen die Arbeitsstättenverordnung,        Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitge-
die nach jahrelangem Gezerre Ende 2016             berverbände (BDA) feiert dies als Erfolg: «Die
in Kraft trat – nachdem sich das Kanzleramt        Entscheidung über die Verteilung des Arbeits-
eingeschaltet und das Bundesarbeitsminis-          volumens bleibt in der Hand des Arbeitge-
terium dazu verdonnert hatte, die bereits ab-      bers.» (BDA 2019: 2)
gestimmte Verordnung im Sinne der Arbeitge-
                                Acht-Stunden-Tag
berverbände erneut zu ändern. Dadurch sind
                                ­demontiert
Beschäftigte nun nicht mehr über den Arbeit-
                                 Nach der Festschreibung von Tariföffnungs-
geber unfallversichert, wenn sie im Homeof-
                                 klauseln im Regierungsprogramm gehen die
fice arbeiten. Die erkämpfte Möglichkeit, zu
                                 Arbeitgeberverbände nun einen Schritt wei-
Hause zu arbeiten, wird so gesetzlich beein-
                                 ter und fordern die komplette Abschaffung
trächtigt, indem Betroffene sich selbst um ih-
                                 der täglichen Höchstarbeitszeit. Künftig soll
re Versicherung kümmern müssen. Zum an-
                                 es möglich sein, dass acht Stunden Arbeit
deren wurde beim Gesetz zur Neuregelung
                                 nicht mehr in achteinhalb Stunden, sondern
des Mutterschutzrechts im Mai 2017 das Ver-
                                 innerhalb eines größeren Zeitraums von bei-
bot von Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit für
                                 spielsweise 15 Stunden geleistet werden.
Schwangere aufgeweicht. Künftig wird diese
                                 Der Hotel- und Gaststättenverband startete
Arbeit erlaubt sein, wenn sich die Frauen «frei-
                                 dazu im März 2017 die Kampagne «Höchs-
willig» dafür entscheiden. Hier zeigt sich, wie
                                 te Zeit für Wochenarbeitszeit», mit der er für
abhängig Beschäftigte – unter dem Deckman-
                                 eine Umstellung von einer täglichen auf ei-
tel des Eingehens auf ihre Flexibilitätsansprü-
                                 ne wöchentliche Höchstarbeitszeit wirbt. Die
che – vom Gesetzgeber in eine Lage gebracht
                                 Kampagne stellt den Acht-Stunden-Tag als
werden, in der sie dem Willen des Arbeitge-
bers ausgeliefert sind.          starr und veraltet dar und als «Gefahr für die
                                 Gastfreundschaft» (DEHOGA 2017). Der Rat
Diese Beispiele verdeutlichen, wie Schutz-
                                 der «Wirtschaftsweisen» legte nach und be-
rechte zugunsten von Arbeitgebern geschlif-
                                 schwor den wirtschaftlichen Untergang, falls
fen werden. Doch auch gesetzliche Verbes-
                                                     der Acht-Stunden-Tag
                                                     nicht bald falle. Welche
Wer innerhalb des gesetzlichen                       Ziele dabei konkret ver-
Rahmens Verbesserungen durchsetzen                   folgt werden, verdeut-
will, muss sie tariflich aushandeln oder             licht das BDA-Positions-
auf gute Betriebsvereinbarungen hoffen.              papier «New Work» (BDA
Schutzrechte verteidigen, ­S elbstbestimmung stärken 13

2018), in dem gefordert wird, die gesetzliche      auf gesellschaftspolitischen Debatten, in de-
Höchstarbeitszeit ebenso wie Dokumenta-            nen wir sichtbar und überzeugend sein müs-
tionspflichten aus dem Gesetz zu streichen.        sen. Diese entscheiden darüber, ob der Acht-
Einzige Haltelinien wären eine gesetzliche         Stunden-Tag als Norm entsorgt wird und ob
48-Stunden-Woche sowie eine tägliche, redu-        Schutzrechte als veraltet angesehen und auf-
zierte und nicht zusammenhängende Ruhe-            geweicht werden. Dass wir dabei nicht nur
zeit von neun Stunden (Piele/Piele 2017). Wer      gegen die Arbeitgeberverbände ankämpfen,
innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens Ver-         zeigt ein Blick auf unsere europäischen Nach-

Die Aktivitäten auf tariflicher und betrieblicher Ebene
fußen nicht zuletzt auf gesellschaftspolitischen Debatten,
in denen wir sichtbar und überzeugend sein müssen.

besserungen durchsetzen will, muss sie tarif-      barn, wo konservative und rechte Kräfte Um-
lich aushandeln oder auf gute Betriebsverein-      verteilung von rechts organisieren. Die rech-
barungen hoffen. Das wird angesichts eines         te Regierung in Österreich hat die tägliche
gewerkschaftlichen Organisationsgrads von          Ausweitung der Arbeitszeit auf bis zu zwölf
unter 20 Prozent und einer betrieblichen Inte-     Stunden und wöchentlich auf bis zu 60 Stun-
ressenvertretung in nicht einmal jedem zehn-       den beschlossen; die ungarische Regierung
ten Betrieb schwierig.                             drückte mehr Überstunden durch (Schneider
                                                   2018). Auch in Deutschland gibt es derartige
Thema Arbeitszeit                                  Vorstellungen, zum Beispiel bei der AfD, die
­mobilisiert                                       variable monatliche Höchstarbeitszeiten ein-
 Für linke Gewerkschafter*innen bietet der di-     führen will. Gleichwohl dürfen wir uns nicht
 gitale Wandel die Möglichkeit, Verteilungsfra-    beirren lassen und unsere Idee einer emanzi-
 gen neu zu stellen, insbesondere in Bezug auf     patorischen Umverteilung von links weiterhin
 die Arbeitszeit und die Frage, wann, wo und       verfolgen – auch wenn nicht wenige sie als
 wie viel wir künftig arbeiten wollen. Derzeit     «Robin-Hood-Rhetorik» (Nahles 2016: 9) lä-
 ist viel in Bewegung und wir stehen mitten-       cherlich machen wollen.
 drin. Das Mobilisierungspotenzial ist enorm       Wir als Gewerkschafter*innen wollen alle Be-
 und wir konnten auf der tarifpolitischen Ebene    schäftigten vertreten – egal ob es Ingenieure
 schon deutliche Erfolge erzielen (siehe Beiträ-   oder Paketbot*innen sind. Wir wollen durch
 ge von Reinhard Bispinck und Hilde Wagner).       eine Solidarisierung mit prekär Beschäftigten
 Die von den Gewerkschaften bei der Bahn, in       die gesellschaftliche Stimme im Kampf um
 der Metallindustrie und anderswo erkämpften       unsere Schutzgesetze sein und uns für eine
 Wahlmodelle sind ein echter Durchbruch für        kürzere Vollzeit einsetzen. DIE LINKE fordert
 die Beschäftigten (Riexinger 2018). Ähnliches     als einzige Partei eine gesetzliche Senkung
 gilt für viele Betriebsvereinbarungen, die Ar-    der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48
 beitszeiten konkret ausgestalten und helfen,      auf 40 Stunden. Wir wollen die Zukunft ge-
 an den Betrieb angepasste Lösungen zu fin-        stalten – solidarisch und mitbestimmt. Wir
 den (Massolle 2018).                              wollen diskutieren, wie das Arbeitszeitgesetz
 Diese Aktivitäten sowohl auf tariflicher als      als Schutzrecht auch im Zuge des digitalen
 auch auf betrieblicher Ebene fußen auf ei-        Wandels Bestand haben und helfen kann, das
 ner gesetzlichen Grundlage und nicht zuletzt      Selbstbestimmungsrecht von Beschäftigten
14 Schutzrechte verteidigen, ­S elbstbestimmung stärken

zu fördern. Wir wollen dabei den gesetzlichen        DEHOGA – Deutscher Hotel- und Gaststät-
Rahmen für alle Beschäftigten verbessern,            tenverband (2017): Höchste Zeit für Wochen-
auch um die tarifliche Ausgestaltung zuguns-         arbeitszeit, unter: www.wochen-arbeitszeit.de/.
ten der Beschäftigten zu stärken. Lasst uns          Massolle, Julia (2018): Meine Zeit, mein Le-
diesen Weg gemeinsam beschreiten.                    ben. Gute Praxis in der Arbeitszeitgestaltung –
                                                     Projekt zum Deutschen Betriebsrätepreis der
Literatur                                            Jahre 2012–2017, in: Mitbestimmungspraxis
BDA – Bundesvereinigung der Deutschen                18/2018, Düsseldorf.
Arbeitgeberverbände (2018): New Work.                Nahles, Andrea (2016): Ein neuer sozialer
Zeit für eine neue Arbeitszeit, unter: https://ar-   Kompromiss für das Zeitalter der digitalen
beitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/res/23D-            Transformation, unter: www.arbeitenviernull.
DAB5D5716F268C1258228003C5959/%24fi-                 de/fileadmin/Downloads/sozialer-kompro-
le/BDA_New_Work.pdf.                                 miss-papier-nahles.pdf.
BDA – Bundesvereinigung der Deutschen                Piele, Christian/Piele, Alexander (2017): Fle-
Arbeitgeberverbände (2019): Arbeitge-                xible Arbeitszeiten – Arbeitszeitmodelle und
ber Aktuell, Januar 2019, unter: www.ar-             Flexibilitätsanforderungen, Stuttgart.
beitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/res/3F-             Riexinger, Bernd (2018): Neue Klassenpoli-
85742C3B5E8B69C125838B00561EAF/«file/                tik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der
Arbeitgeber_aktuell_1_2019-web.pdf.                  Wenigen, Hamburg.
CDU/CSU und SPD (2018): Ein neuer Auf-               Schneider, Roland (2018): Innovative Ar-
bruch für Europa. Eine neue Dynamik für              beitszeitpolitik im Dienstleistungssektor, Wor-
Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für un-          king Paper Hans-Böckler-Stiftung Nr. 91, Sep-
ser Land, Koalitionsvertrag 19. Legislaturperi-      tember 2018, Düsseldorf.
ode, Berlin.
Arbeit, die zum Leben passt 15

Bernd Riexinger

ARBEIT, DIE ZUM LEBEN PASST
DIE ZEIT IST REIF FÜR DIE «KURZE VOLLZEIT»

Arbeitsstress und Erschöpfung sind längst           länger als 48 Stunden, wie eine aktuelle An-
zu einem Thema geworden, das ganz unter-            frage der Linksfraktion im Bundestag ergab.
schiedliche Beschäftigte verbindet – egal ob        2018 haben die Beschäftigten 2,1 Milliarden
sie mit Pflegekittel, im Blaumann, mit Lap-        Überstunden gemacht, die Hälfte davon un-
top oder Wischmopp arbeiten. Millionen Be-         bezahlt. Personalmangel und krank machen-
schäftigte wünschen sich mehr Zeit für Fami-       der Dauerstress sind in vielen Bereichen, nicht
lie, Freunde, Weiterbildung, für kulturelles und   nur in der Pflege und in den Kitas, zum Nor-
politisches Engagement.                            malzustand geworden. Auch deshalb verkür-
Statt die Rahmenbedingungen dafür zu schaf-        zen immer mehr Menschen, nicht nur Frauen,
fen, dass alle gleichberechtigt an Erwerbs-        ihre Arbeitszeit in Richtung 30-Stunden-Wo-
und Familienarbeit teilnehmen können,              che. Aber unter den bestehenden Bedingun-
konnte sich die Große Koalition nur auf vage       gen führt Teilzeit oft in die Altersarmut. Wer
Formelkompromisse verständigen. Der Dau-           nur knapp über dem Mindestlohn verdient
erstress in der Arbeitswelt ist für die Bundes-    und steigende Mieten bezahlen muss, kann
regierung offenbar kein drängendes Thema.          sich eine Arbeitszeitverkürzung oft nicht leis-
Im Gegenteil: In Tarifverträgen sollen neue Ab-    ten. Etwa 40 bis 50 Prozent aller Beschäftig-
weichungsmöglichkeiten zur Verlängerung            ten kommen mit ihrem Lohn kaum über die
der Tagesarbeitszeiten geschaffen werden.          ­Runden.
Das ist eine wichtige Forderung der Unter-          Ohne eine kollektive Bewegung für eine neue
nehmensverbände, denn so würde Flexibili-           gesellschaftliche Regelung der Arbeitszeiten
tät weiter einseitig von den Unternehmen be-        müssen alle nach individuellen Lösungen su-
stimmt.                                             chen, um genug zu verdienen, Arbeit und Le-
Die Arbeitszeitfrage spielte in den vergange-       ben mit Kindern zu vereinbaren oder mit dem
nen zwei Jahren in den Gewerkschaften wie-          Arbeitsstress umzugehen. Unter der Ober-
der eine größere Rolle: In der Tarifrunde der       fläche gärt es, immer mehr Menschen wün-
IG Metall streikten 1,5 Millionen Beschäftig-       schen sich andere Arbeitszeiten. Wenn die
te für «Arbeitszeiten, die zum Leben passen».       größte Industriegewerkschaft Schritte in Rich-
Auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerk-             tung der 30-Stunden-Woche mit Teillohnaus-
schaft (EVG) sowie ver.di konnten Erfolge mit       gleich für Menschen mit Kindern und pflege-
neuen Tarifregelungen verbuchen, die kürzere        bedürftigen Angehörigen durchsetzt, wenn
und selbstbestimmtere Arbeitszeiten ermög-          Pflegekräfte für Entlastung streiken, dann sind
lichen.                                             das Signale, dass wir einen gesellschaftlichen
Beim Kampf um die Arbeitszeit geht es um die        Aufbruch brauchen: für Arbeit, die zum Leben
Frage, in welche Richtung sich die Arbeits-         passt.
gesellschaft entwickelt. Die Arbeitszeiten der
Menschen sind in den letzten 20 Jahren mas-        Dauerstress stoppen – mehr
siv auseinandergedriftet. Viele Frauen in Mini-    Personal statt Überstunden!
jobs oder unfreiwilliger Teilzeit arbeiten weni-   Eine neue Arbeitszeitoffensive der Gewerk-
ger, als sie eigentlich wünschen. Gleichzeitig     schaften und ihrer Bündnispartner ist drin-
arbeiten immer mehr Beschäftigte regelmäßig        gend notwendig. Als LINKE haben wir das
16 Arbeit, die zum Leben passt

Konzept eines «Neuen Normalarbeitsverhält-        Mehr Zeit zum Leben –
nisses» entwickelt (Riexinger/Becker 2017)        mit der «kurzen Vollzeit»
und in den vergangenen zwei Jahren in die ge-     Eine neue Arbeitszeitoffensive braucht ei-
werkschaftliche Diskussion eingebracht. Mit       ne mobilisierende Perspektive, die über Ein-
der Initiative «Arbeit, die zum Leben passt»      zelforderungen und tarifliche Auseinander-
wollen wir dafür an der Basis, in den Betrie-     setzungen hinausgeht bzw. diese verbinden
ben und bei den vielen Menschen, die eine ge-     kann. Es ist eine Frage der (Klassen-)Kämpfe
rechte Arbeitswelt und mehr Zeit zum Leben        um die Hegemonie, was in einer Gesellschaft
wünschen, Mitstreiter*innen gewinnen.             als «selbstverständlich», als «normal» gilt, wel-
Zur «Arbeit, die zum Leben passt» gehören         che Vorstellungen von guter Arbeit und einem
Löhne, die für ein gutes Leben reichen, so-       guten Leben sich gesellschaftlich verallgemei-
wie sichere und sozial abgesicherte Arbeit. Ei-   nern und durchsetzen. In der Auseinanderset-
ne neue Arbeitszeitinitiative wird nur an Fahrt   zung um die Arbeitszeitverkürzung Mitte der
gewinnen, wenn wir sie mit dem Kampf um           1980er Jahre, die als Teil eines Kulturkampfes
höhere Löhne (durch einen höheren Mindest-        geführt wurde, konnten die Gewerkschaften
lohn von mindestens zwölf Euro und flächen-       zum letzten Mal gesamtgesellschaftliche De-
deckende Tarifverträge) verbinden und dem         batten prägen und im Rahmen von Tarifaus­
Dauerstress in der Arbeit den Kampf ansa-         einandersetzungen Perspektiven auf eine wei-
gen. Egal ob bei Amazon oder bei der Post,        ter reichende gesellschaftliche Transformation
im Krankenhaus oder im Pflegeheim, im Büro        eröffnen. Allein schon das Logo mit der auf-
oder in der Fabrik – fast alle machen die Er-     gehenden Sonne verbreitete gesellschaftli-
fahrung von erhöhtem Leistungsdruck und           chen Optimismus. Umverteilung der Arbeit
Dauerstress. Entscheidend ist, das Problem        auf mehr Hände und Köpfe durch die 35-Stun-
zu einem kollektiven und gesellschaftlichen zu    den-Woche bei vollem Lohnausgleich. Dieses
machen.                                           Projekt war von Anfang an mehr als eine klas-

Fast alle machen die Erfahrung von erhöhtem Leistungs­
druck und Dauer­stress. Entscheidend ist, das Problem zu
einem kollek­tiven und gesellschaft­lichen zu machen.

Arbeit darf nicht krank machen und mensch-        sische tarifliche Auseinandersetzung. Es ging
liche Bedürfnisse müssen den Vorrang vor          auch um ein neues Verhältnis von Arbeit und
Profitinteressen haben. Daher braucht es drin-    Leben, um emanzipatorische Zukunftsent-
gend eine Anti-Stress-Verordnung, wie sie         würfe im Zusammenleben der Geschlechter,
auch von verschiedenen Gewerkschaften ge-         um die Definition von Lebensqualität. «Zeit-
fordert wird. Alle Beschäftigten müssen zum       wohlstand» brachte auf den Begriff, dass
Beispiel ein Recht auf Nichterreichbarkeit au-    mehr Zeit mehr Lebensqualität bedeutet.
ßerhalb der Arbeitszeit bekommen. Die Ar-         Der Vorschlag einer «kurzen Vollzeit» greift die
beitsmenge muss so bemessen sein, dass sie        verschiedenen Aspekte der Arbeitszeitdiskus-
in der vertraglichen Arbeitszeit geleistet wer-   sion auf und eröffnet eine «konkret utopische»
den kann. Das erfordert eine erweiterte Mitbe-    Perspektive. Die Zeit ist längst reif für eine
stimmung der Betriebsräte und direkte Veto-       neue, kürzere Normalarbeitszeit, die zwischen
rechte für Beschäftigte gegen unzumutbare         28 und 35 Stunden pro Woche für alle selbst-
Arbeitsbelastungen.                               bestimmter gestaltbar ist. Unser Vorschlag
Arbeit, die zum Leben passt 17

einer «kurzen Vollzeit» umfasst
unterschiedliche Säulen, die zu-      Weil kürzere Arbeit produktiver ist,
gleich Forderungen für Einstiege      muss es einen gesetzlich verpflich­
sein können:                          tenden Teillohnausgleich geben, der
1) Die «kurze Vollzeit» zwischen      tariflich ausgestaltet werden soll.
28 und 35 Stunden pro Woche
soll zur gesetzlichen Regelarbeitszeit werden, liche Wahlarbeitszeitabkommen» fördern.
zu einer Norm, an der sich gesetzliche Rege- Alle Unternehmen werden verpflichtet, min-
lungen und Tarifverträge orientieren. Der öf- destens alle zwei Jahre und vor jeder Tarifrun-
fentliche Sektor (unter anderem Gesundheits- de einen «Arbeitszeit-Check» durchzuführen,
und Bildungsberufe) sowie hoch produktive also eine Befragung der Beschäftigten, wel-
Bereiche wie die Metallindustrie könnten da- che Arbeitszeit sie sich wünschen. Fehlt es an
bei zum Vorreiter werden und die kurze Voll- einem betrieblichen Wahlarbeitszeitabkom-
zeit mit Lohn- und notwendigem Personalaus- men, werden die Anträge von Beschäftigten
gleich einführen. Das wollen wir durch eine auf Veränderung der Arbeitszeit Bestandteil
gesellschaftliche Mobilisierung für eine neue des Arbeits­vertrages.
gesetzliche Regulierung der Arbeitszeit und 4) Investieren in mehr Lebensqualität: Durch
staatlich geförderte Einstiege in die «kurze ein Investitionsprogramm in Höhe von
Vollzeit» für alle unterstützen.                120 Milliarden Euro können zwei Millionen
2) Alle Beschäftigten müssen das Recht auf neue Arbeitsplätze in kurzer Vollzeit zwischen
eine Mindeststundenzahl von 22 Stunden pro 28 und 35 Stunden in den Bereichen Bildung
Woche im Arbeitsvertrag erhalten. Die wö- und Weiterbildung, Gesundheitsversorgung
chentliche Höchstarbeitszeit soll von derzeit und Pflege, soziale Arbeit, Integration und
48 auf 40 Stunden begrenzt werden.              öffentliche Dienstleistungen für lebenswer-
3) Mit einem «Wahlarbeitszeitgesetz» und ei- te, barrierefreie und ökologisch zukunftsfähi-
ner Ausweitung der Mitbestimmung sollen al- ge Kommunen sowie im sozial-ökologischen
le Beschäftigten das Recht erhalten, innerhalb Umbau der Industrie geschaffen werden.
eines Korridors von 22 bis 35 Wochenstunden 5) Soziale Absicherung für gerechte Vertei-
ihre Arbeitszeit zu bestimmen, zeitweilig zu lung der Arbeit, Familien- und Weiterbildungs-
begrenzen und zu erhöhen. Alle Beschäftigten zeit: Lohnarbeit soll so geregelt werden, dass
sollen Anspruch auf eine zeitweilige Verringe- sie die Familien- und Sorgearbeit als gesell-
rung der wöchentlichen Arbeitszeit bis maxi- schaftlich notwendige Arbeit anerkennt und
mal 50 Prozent der tariflichen Arbeitszeit oder das Recht auf Weiterbildung für alle Beschäf-
auf eine Auszeit von einem Jahr (Sabbatical) tigten verwirklicht. Dazu braucht es einen teil-
haben. Die verkürzte Arbeitszeit gilt für mini- weisen Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkür-
mal ein Jahr und maximal sechs Jahre mit ga- zung im Rahmen von Familien-, Pflege- oder
rantiertem Rückkehrrecht zur ursprünglichen Weiterbildungszeit, der durch eine Abgabe
Arbeitszeit. Weil kürzere Arbeit produktiver von Unternehmen mit mehr als zehn Beschäf-
ist, muss es einen gesetzlich verpflichtenden tigten und durch begrenzte staatliche Zu-
Teillohnausgleich geben, der tariflich ausge- schüsse finanziert werden kann.
staltet werden soll. Die frei werdenden Stel-
lenteile werden verpflichtend besetzt. Statt Gesellschaftliche Kampagne
Zeitkonflikte weiter auf die Einzelnen zu ver- Wir sollten auch heute die Auseinanderset-
lagern, soll ein Wahlarbeitszeitgesetz mitbe- zung konsequent als eine gesellschaftspoli-
stimmte kollektive Lösungen durch «betrieb­ tische führen: In welcher Gesellschaft wollen
18 Arbeit, die zum Leben passt

wir leben? Wie wollen wir arbeiten und leben? um, Reichtum, Arbeit und Zeit radikal umzu-
Der Konflikt um die Zeit dreht sich auch um die verteilen. So könnten Einstiege in ein neues
richtigen Weichenstellungen für die Zukunft: Wohlstandsmodell aussehen, das mehr Le-
Durch die Digitalisierung, den Wandel der bensqualität, mehr Zeit zum Leben und sinn-
Dienstleistungen und den Übergang zu Elek­ volle Arbeit für alle ermöglicht, statt blindem
tromobilität werden viele Arbeitsplätze wegfal- Wachstum und Profitstreben zu folgen.
len. Führen diese Umbrüche zu mehr Arbeits- Wie die Durchsetzung des Mindestlohns
losigkeit und prekärer Arbeit? Oder nutzen wir zeigt, ist die Schaffung gesellschaftlicher
die wachsende Produktivität, um Arbeit ge- Mehrheiten entscheidend. Dazu braucht
rechter zu verteilen und endlich Wirtschaft und es einen langen Atem, beharrliche Arbeit an
Arbeitswelt menschlicher zu gestalten?           breiten gesellschaftlichen Bündnissen und
Angesichts der sich verschärfenden Klimakri- die Verknüpfung zivilgesellschaftlicher Auf-
se bleibt nicht viel Zeit. Notwendig ist ein ra- klärung und Mobilisierung mit parlamentari-
dikaler Umbau unserer Gesellschaft, der Wirt- schen Initiativen. Eine Herausforderung für
schaft und Infrastruktur.                                         die Zukunft besteht darin,
Das bedeutet auch: eine                                           betriebliche Auseinander-
andere Arbeitsgesellschaft        Es geht auch darum,             setzungen und Tarifpolitik
und neue Lebensweisen,            Reichtum, Arbeit                um Arbeitszeitregelungen
ein anderes Verhältnis von        und Zeit radikal                mit einer gesellschaftli-
Arbeit, Konsum und ge-            umzuver­teilen.                 chen Kampagne der Ge-
meinsam gestalteter Zeit.                                         werkschaften und zivilge-
Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit sellschaftlicher Bündnispartner aus sozialen
werden nur zusammen funktionieren.               Bewegungen und Parteien zu verbinden.
Die Alternative zu einem «grünen Kapitalis- Die Perspektive der «kurzen Vollzeit» und die
mus» und zum neoliberalen Exportmodell mit Einbettung in eine Initiative «Arbeit, die zum
wachsender sozialer Ungleichheit und auto- Leben passt» bieten eine gute Grundlage, um
ritär abgesicherten Wohlstandsinseln lautet: eine gesellschaftliche Debatte loszutreten und
den Wohlstand für die überwältigende Mehr- eine politische Kampagne aufzubauen. Träger
heit der Menschen in Deutschland auf eine einer politischen Initiative wären deshalb nicht
neue Grundlage stellen. Mit einem ökologi- nur die Gewerkschaften. Feministische Initia-
schen Umbau der Industrie. Gerechte Über- tiven, Erwerbsloseninitiativen, Sozialverbän-
gänge statt Strukturwandel auf Kosten der de, Attac, kirchliche Initiativen und sogar Teile
Beschäftigten, mit Wirtschaftsdemokratie der SPD und der Grünen könnten dafür sor-
und Arbeitszeitverkürzung mit Einkommens- gen, dass sie große Wellen schlägt, wenn erst
garantien. Mit massiven Investitionen in öf- einmal der Stein ins Wasser geworfen wird.
fentlichen Reichtum, der allen zugutekommt,
in Form kostenfreier Bildung, guter Gesund- Literatur
heitsversorgung und Pflege, bezahlbarer und Riexinger, Bernd/Becker, Lia (2017): For the
ökologisch gebauter Wohnungen in genos- many, not the few: Gute Arbeit für alle! Vor-
senschaftlichem Eigentum, mit kostenfreiem schläge für ein neues Normalarbeitsverhält-
öffentlichem Nahverkehr. Es geht auch dar- nis, Supplement Sozialismus 9/2017.
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