Info Griechenland - OXI Blog
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i nfo Griechenland Im August endet das dritte Kredit- programm für Griechenland – aber die Krise ist noch längst nicht vorbei. Die Gläubiger haben bis weit in die Zukunft Auflagen festgeschrieben, die ökonomische und soziale Lage ist durch die Austeritäts- politik der vergangenen Jahre verschärft worden, die Staats- schulden sind immer noch dra- matisch hoch. Und auch wenn sich die wirtschaftliche Situation langsam bessert – die Heraus- forderungen bleiben groß, zumal für eine linke Regierung. Was ist seit dem ersten Kredit- programm von 2010 passiert? Und was lässt sich daraus lernen? Juli 2018
Inhalt
Tom Strohschneider
Über eine Ent-Täuschung und ein
Über eine Ent-Täuschung und
paar Lehren für Europas Linke
Vincent Körner
Es ging niemals um die Rettung
2
ein paar Lehren für Europas Linke
Griechenlands4
Als Anfang 2015 eine linksgeführte Koalition in Athen andere Mehrheiten am nötigsten waren, saßen die Ver-
i Privatisierung4 die Regierung übernahm, rollte eine Welle von Hoff- treter Griechenlands allein in der Eurogruppe. Als es da-
Maria Oshana nung und Solidarität durch Europa. SYRIZA war prak- rum hätte gehen können, die Fackel von Athen auch in
Was wir nicht sehen 5 tisch über Nacht zu dem geworden, wovon Linke immer andere Länder zu tragen, weil nur veränderte Kräftever-
Joachim Bischoff wieder gern träumen: Ausgangspunkt für einen Politik- hältnisse in Europa auch eine andere europäische Politik
„Klar, dass wir nicht wechsel, Gegenmodell zum Europa der Austerität. möglich machen, blieben Linke in den meisten Ländern
ins Jahr 2008 zurückwollen“ 6
Oder doch nicht? Es dämmerte angesichts der unmit- weit unter ihren Möglichkeiten.
i Ökonomie6 telbar eskalierenden Konflikte zwischen den Gläubigern Nun heißt es unter anderem aus Frankreich, SYRIZA
i Wachstumsstrategie8 und Athen vielen schnell, dass hier keine roten Teppiche und Tsipras seien „das Synonym für Austerität“. Wer so
für Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis ausgerollt wor- spricht, mag seine internen politischen Beweggründe ha-
Vincent Körner
Die Logik einer Hilfe, die keine war 9 den waren. Der institutionelle Beton einer EU, die nach ben, aus der Erfahrung der vergangenen Jahre will er aber
Berliner Kriterien konstruiert wurde und auf einem neo- nichts lernen. Die Frage ist doch nicht, ob SYRIZA von ih-
i Armut10
liberalen Fundament steht, ist hart – zumal dann, wenn ren Wahlversprechen abgerückt ist und ob sie die viel und
i Arbeitsmarkt11 die Hoffnung von einer kleinen linken Partei in einem zu recht kritisierten Auflagen der Gläubiger akzeptiert hat.
Aliki Kosyfologou ökonomisch und politisch als weniger bedeutend an- Das ist so, und man könnte klüger dadurch werden, dass
Das Geschlecht der Austerität 11 gesehenen Land getragen werden muss, weil größere man sich ansieht, welche bestehenden Spielräume nicht
Ska Keller linke Strömungen in als wichtiger geltenden Ländern genutzt oder wo unterhalb des ungewollten Dachs der
Eine Zäsur für die EU 12 gerade nichts zur Veränderung der Kräfteverhältnisse in Spardiktate falsche Prioritäten gesetzt wurden.
Christian Gengenbach und Europa beitragen können. Entscheidend aber ist die Frage, welche anderen Mög-
Stefan Herweg Der Autor dieser Zeilen formulierte sechs Wochen lichkeiten es für SYRIZA gab und welche Folgen es ge-
Ist linke Politik in der Eurozone nach Beginn des „Griechischen Frühlings“ im Jahr 2015: habt hätte, einen anderen Weg einzuschlagen. Grexit?
möglich? 13 „SYRIZA wird Fehler machen, es wird Diskussionen ge- Ausstieg aus der EU? Wo stünde Griechenland heute
Gerhard Bosch ben und auch Niederlagen. Kompromisse werden nötig – ein Land, das mit abgewerteter Währung nötige Im-
Es muss deutlich sein, die schmerzhaft sind.“ Und weiter: „Nein, das hier porte nicht zahlen könnte, das noch tiefer in soziale Ka-
nachkorrigiert werden 13
ist kein ›Schuldenstreit‹. Man wird nicht damit aufhören tastrophe rutschen würde, dessen zugrundereformier-
i SYRIZA14 dürfen, den Kern der Auseinandersetzung freizulegen: te Wirtschaft nicht viel zum Exportieren hätte, dessen
Axel Troost Am Exempel Griechenland geht es um die Zukunft Euro- Menschen zum ganz überwiegenden Teil zwar gegen
Kein Verrat, sondern pas – soll es eines der Menschen sein, oder eines des die Krisenpolitik der Gläubiger sind, aber nie für einen
verantwortliche Politik 14 Kapitals. Auch wir haben die Wahl.“ Ausstieg aus dem Euro, aus der EU waren?
Niels Kadritzke Dreieinhalb Jahre später ist dieses Europa ein ande- Wer vom Spielfeldrand aus auf die Entwicklung in
Ist das Streikrecht gefährdet? 15 res, aber die Herausforderung ist im Grunde immer noch Griechenland schaut, sollte sich die Antworten nicht zu
i Streikrecht15 dieselbe. Wer über den Rechtsruck, die autoritären Ten- leicht machen. Eine vielleicht noch größere Gefahr für
denzen, die Radikalisierung der öffentlichen Debatte, die progressive Kräfte aber wäre Desinteresse. Es hat sich
Sündenbockpolitik, die geschürte Ablehnung von Ge- mit Blick Griechenland auch unter Linken eine Haltung
flüchteten, das Erodieren der Solidarität reden will, kann des Abwinkens ausgebreitet, die aus verständlicher Ent-
Impressum über die ökonomischen Asymmetrien in Europa und täuschung gespeist wird, die aber das Paradigmatische
Info: Griechenland wird herausgegeben weltweit, die politisch beförderte Ungleichheit zwischen an dem Fall verkennt. Die europäische Politik gegen
von der common verlagsgenossenschaft Menschen, Ländern, Regionen, kann über das „befremd- Griechenland, die als europäische Politik für Griechen-
e.G. Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, liche Überleben des Neoliberalismus“ (Colin Crouch) im land verkauft wurde, ist der Knoten, den progressive
030 2978-4678, kontakt@common.berlin institutionellen Gebälk von Währungsunion und EU so- Kräfte lösen müssen, wenn sie – in ihren Ländern, in Eu-
V.i.S.d.P.: Axel Troost. Redaktion: Tom wie im Denken vieler Regierungen nicht schweigen. ropa ingesamt – über einen echten Kurswechsel nicht
Strohschneider. Layout und Produktion: Der Fall Griechenland war nie nur ein solcher, sondern bloß reden, sondern auch in die Lage kommen wollen,
Michael Pickardt. Druck: Eversfrank
immer und vor allem ein Fall Europa. Das soll nieman- diesen durchzusetzen. Was, wenn Jeremy Corbyn in
Berlin GmbH Ballinstraße 15, 12359 Berlin
den von Verantwortung freisprechen, die er trägt. Es soll Großbritannien die Wahlen gewinnt? Dann wird man
Info: Griechenland wird gefördert
von der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus
nur klarmachen, dass diese Verantwortung auf SYRIZA sehen, wie wirksam die institutionelle Schwerkraft der
den Mitteln des Auswärtigen Amtes abzuladen allenfalls zum Selbstfreispruch führen könn- EU-Regeln selbst noch für ein Land auf dem Weg in den
Exemplare von Info: Griechenland te, nicht zur Erkenntnis und schon gar nicht zum Bes- Brexit ist. Vor allem, wenn dort jemand einen linken
können über kontakt@common.berlin sermachen. Wir haben in den vergangenen Jahren hier Kurswechsel anpackt.
gegen Versandgebühr bestellt werden und da über das Dilemma einer Solidarität gesprochen, Griechenland hat die Symptome einer falschen Politik
die zu mehr als zu Appellen kaum in der Lage war. Als kenntlich gemacht, so gesehen ist vor allem die Zeit seit
2 Info: Griechenland, Juli 2018
Regierungsantritt von SYRIZA eine der Ent-Täuschung das eine Herausforderung, die nicht in einem Land oder
in dem Sinne des Wortes gewesen: Die Bewertung der von einer Partei zu bewerkstelligen sein wird.
Möglichkeiten für progressive Politik, die Auswahl von Drittens, die Frage der Solidarität. In Griechenland
Strategien, die Vorbereitung auf Herausforderungen un- und in vielen anderen Ländern sind Netzwerke der Ko-
ter den gegeben Verhältnissen wird heute anders aus- operation entstanden, deren gemeinsamer Geist darin
fallen, weil man sich nicht mehr über die tatsächliche besteht, das gesellschaftliche Interesse vor das private
Länge der politischen Hebel in einem Land täuscht. Dies Streben nach Profit zu stellen, neue Formen der Zusam-
geht nur, wenn man sich nicht mit einfachen Schuld- menarbeit und des Produzierens zu praktizieren. Man
zuweisungen aus der Affäre zieht. „Überwinden heißt wird nicht darauf setzen können, dass das allein reicht.
verstanden haben“, hat der italienische Marxist Anto- Aber ohne diese gelebte Solidarität bleibt auch das Re-
nio Labriola einmal gesagt. Das ist furchtbar lange her, den über transnationale Politik bloß leere Phrase.
stimmt aber immer noch: gerade auch in Sachen Grie- Viertens und lange noch nicht der letzte Punkt: Das Bei-
chenland. spiel Griechenland kann dabei helfen, progressive Politik
SYRIZAs Aufstieg war ein Produkt des Unmuts und wieder zu einer klügeren, differenzierteren Bearbeitung
des Widerstandes gegen die Auflagen der Gläubiger, von gesellschaftlichen Widersprüchen zu machen, die ja
die Athen immer neue Kredite aufzwangen, damit nicht schon deshalb verschwinden, dass man sie einfach
alte Verbindlichkeiten bezahlt werden konnten. Heu- ignoriert oder mit lauten Parolen über sie hinwegredet.
te wird, und es gibt Gründe dafür, gegen SYRIZA de- Die Wirklichkeit entspricht nicht einer einfachen Figuren-
monstriert, weil das Versprechen, es könnte einen ein- aufstellungen auf dem Schachbrett der politischen Kon-
fachen Ausweg geben, nicht eingehalten wurde. Der flikte. Die Guten da, die Bösen hier?
Sprung aus den real existierenden Verhältnissen – er Es ist komplizierter. Eine wirksame progressive Wen-
wird immer eine Fiktion bleiben, sicher auch ein Treiber de in Griechenland scheiterte zum Beispiel nicht nur an
von Hoffnung sein, aber letzten Endes doch eine ge-
fährliche Sache, weil mit dem Traum vom erlösenden
der EU, dem Internationalen Währungsfonds oder den
Gläubigern und ihren neoliberalen Bauchrednern in den
Es hat sich mit Blick
auf Griechenland auch
Sprung auch der Frust über sein Misslingen gleichsam Medien, sondern auch an Korruption, Steuerflucht, ei-
mitproduziert wird. ner teils unfähigen Bürokratie, mangelhaften öffentli-
unter Linken eine
Das ist keine Aufforderung, nicht trotzdem immer chen Strukturen sowie klientelistischen Traditionen, die Haltung des Abwinkens
wieder Anlauf zu nehmen. Gerade auch aufgrund der zu sozialen Asymmetrien und ökonomischen Dispro- ausgebreitet, die aus
Erfahrung aus acht Jahren europäischer Krisenpolitik ge- portionalitäen geführt haben. Diese Herausforderung – verständlicher Enttäuschung
gen Griechenland. eine grundlegende Reform des Staates – fand bei linken
gespeist wird, die
Erstens, die ökonomische Seite: Die schon immer fal- Beobachtern nicht so viel Berücksichtigung, wie es sinn-
sche Behauptung, man könne eine Ökonomie damit voll gewesen wäre. Eine wirksame progressive Wende aber das Paradigmatische
wieder auf die Beine bringen, indem man einer Gesell- in Griechenland scheiterte auch daran, dass in anderen an dem Fall verkennt.
schaft bleischwere Fesseln der Austerität anlegt, wird Ländern die Linken zu schwach blieben, um die Kräfte-
inzwischen selbst von früheren Befürwortern kritisiert. verhältnisse in Europa zu verschieben und den neolibe-
Nun ginge es darum, dies zur Grundlage europäischer ralen Beton in den Regeln und Strukturen der EU aufzu-
Wirtschafts- und Finanzpolitik zu machen. Dazu sind brechen.
radikale Reformen in der EU nötig, jeder Schritt in die- Und ist nun alles verloren? Keineswegs. Vielleicht ver-
se Richtung ist wichtig und wird denen, die sie fordern, suchen wir es mit etwas mehr dialektischer Gelassen-
nicht in den Schoß fallen. Zumal angesichts der aktuel- heit. Klar, es ist nicht einfach, die zu bewahren, wenn die
len EU-Krise. Gründe für Veränderung so dringlich sind und die Hür-
Zweitens, die demokratiepolitische Seite: Die EU und den, diese zu erreichen, so unüberwindlich hoch erschei-
in dieser vor allem Berlin haben sich angemaßt, Wahl- nen. Es wird dauern, es wird wieder Fehler geben, neue
entscheidungen in Griechenland über die Auflagen der Debatten, falsche Kursentscheidungen. Aber ist die radi-
„Anpassungsprogramme“ und die offene Drohung mit kale Pose ohne Wirkung denn wirklich besser, oder die
dem Rauswurf praktisch auszuhebeln. Damit kommen völlige Anpassung mit falscher Wirkung? Griechenland
sie nicht mehr so leicht durch, wie man nach den Wah- kann auch lehren, sich Zweifel zu erlauben, den Mut
len in Italien sehen konnte. Aber lag das nur an der rela- zum Bekenntnis eigener Schwäche, nicht immer schon
tiven ökonomischen Bedeutung des Landes? Gerade in endügltige, richtige Antworten parat zu haben.
Zeiten, in denen der nationalistische Rückzug als Alter-
native angepriesen wird, ist die Demokratisierung Euro- Tom Strohschneider arbeitet unter anderem
pas, die Europäisierung der Demokratie dringend – auch für die linke Wirtschaftszeitung „OXI“.
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SOZIALISTISCHE TAGESZEITUNG
Info: Griechenland, Juli 2018 3
Privatisierung
„Privatisierungen können dazu beitra-
gen, die Wirtschaft effizienter zu gestal-
Es ging niemals
ten und die Staatsverschuldung zu ver-
ringern“, heißt es im letzten Überprü-
fungsbericht der europäischen Gläubiger
um die Rettung Griechenlands
vom Juni 2018. Die Wirklichkeit sieht
anders aus: Laut Zahlen des Bundesfi- Als vor wenigen Wochen im Bundestag erneut über chenland vor allem dabei, Ärzte und Polizei zu bezahlen,
nanzministeriums wurden aus der Ver- „Finanzhilfen zugunsten Griechenlands“ abgestimmt einen aufgeblähten Staatsapparat am Leben zu erhalten
äußerung öffentlichen Besitzes in Grie- wurde, forderte der Linkspartei-Abgeordnete Fabio De und Rentnern einen schicken Lebensabend zu ermögli-
chenland in den Jahren 2011 bis 2017
insgesamt 5,1 Milliarden Euro erlöst –
Masi, es sei „Zeit, sich ehrlich zu machen! 95 Prozent chen. Die Wahrheit ist: Athen steckt in diese Bereiche
nur ein Zehntel dessen, was als Zielmar- der Griechenland-Kredite in Höhe von 274 Milliarden nur einen Bruchteil der Finanzhilfen.“
ke der Privatisierungen galt. Schon 2011, Euro flossen in den Schuldendienst, auch an deutsche Damals lag eine Studie von Attac Österreich schon
dem Jahr, in dem der Hellenic Republic und französische Banken, nicht an griechische Kranken- rund zwei Jahre vor, in der die globalisierungskritische
Asset Development Fund – kurz: HRADF schwestern oder Rentner.“ Organisation bereits zu demselben Ergebnissen auch
– als Privatisierungsagentur gegründet
Wohin gingen also die Kredite, wem kamen sie zu- schon gekommen war: Ein großer Teil der „Hilfskredite“
wurde, hatte die EU-Kommission von
einem „Plan zur Privatisierung von Ver- gute, wo entfalteten sie ihre hauptsächliche Wirkung? floss in den Finanzsektor, um die Folgen privater Speku-
mögenswerten in Höhe von 50 Milliar- 2016 rechnete eine Studie der privaten Hochschule lation zu sozialisieren. Das Ziel sei „nicht die Rettung der
den Euro“ gesprochen. Die EU-Kommis- ESMT vor, dass „nur 9,7 Milliarden Euro und damit we- griechischen Bevölkerung, sondern die Rettung des Fi-
sion geht für 2018 von Erlösen von bis niger als fünf Prozent“ aller Kredite aus den „Rettungs- nanzsektors“ gewesen, so damals Lisa Mittendrein von
zu rund 4,5 Milliarden Euro aus. programmen“ im griechischen Haushalt landeten und Attac. „Sie haben Hunderte Milliarden an öffentlichen
Nach Ansicht vieler Experten war schon somit irgendwie den Bürgern, der Infrastruktur, den Re- Geldern eingesetzt, um Banken und andere Finanzak-
länger klar, dass die Ziele nicht erreicht gierungsvorhaben „direkt zugute“ kommen konnten. teure und vor allem deren Eigentümer vor den Folgen
werden. Und nicht wenige Kritiker wie-
ESMT-Präsident Jörg Rocholl, der bis heute dem Wissen- der von ihnen verursachten Finanzkrise zu retten.“
sen auch darauf hin, dass ein Kurs des
Verkaufs öffentlichen Eigentums grund- schaftlichen Beirat beim Bundesfinanzministerium an- Die Attac-Zahlen wurden 2013 bekannt, aber auch
sätzlich in die falsche Richtung geht. So gehört, wurde damals mit den Worten zitiert: „Mit den damals konnte man eigentlich nicht behaupten, dass die
ergab eine Studie des Transnational In- Hilfspaketen wurden vor allem europäische Banken ge- Botschaft völlig neu war. Selbst aus unerwarteter Rich-
stitute im Jahr 2016 „keinen Beleg da- rettet.“ Mit zu diesem Zeitpunkt 86,9 Milliarden Euro tung war schon länger Klartext gesprochen worden,
für, dass privatisierte Firmen effizienter wurden „alte Schulden abgelöst, 52,3 Milliarden Euro zum Beispiel von Hans-Werner Sinn in einer TV-Runde
arbeiten“. In fast allen untersuchten Fäl-
len seien „nur profitable Unternehmen
gingen für Zinszahlungen drauf und 37,3 Milliarden im Januar 2012. Der Ökonom verwies auf das seiner
zu unterbewerteten Preisen verkauft“ Euro wurden für die Rekapitalisierung der griechischen Meinung nach bestehende „Grundproblem“, sprach so-
worden. Und dies hatte soziale Folgen: Banken genutzt“. Die europäischen Steuerzahler hätten gar ausdrücklich von einem „harten Verteilungskampf“:
„Privatisierungen haben die Löhne un- „die privaten Investoren herausgekauft“. Die Finanzmärkte würden angesichts toxischer Staatsan-
tergraben, die Arbeitsbedingungen ge- Bereits im Juli 2015, also auf dem Höhepunkt des leihen „Druck machen und in Richtung der Notenban-
schwächt und die Einkommensungleich-
Streits zwischen der SYRIZA-geführten Regierung und ken sagen, ihr müsst jetzt Geld drucken und die Zen-
heit vergrößert.“
den Gläubigern, hatte Olivier Blanchard, der bis 2015 tralbank soll die toxischen Papiere kaufen, damit die
Auch die Konstruktion bestimmter grie-
Chefökonom des IWF war, deutliche Kritik daran ge- Steuerzahler Europas die Lasten übernehmen“, und,
chischer Privatisierungsprojekte stand in
der Kritik: So erfolgte der Verkauf der äußert, dass „die Finanzhilfe für Griechenland… zur auch das sagte der Ökonom klar und deutlich, „die jet-
gewinnbringenden Regionalflughäfen Bezahlung ausländischer Banken genutzt“ worden sei. zigen Vermögensbesitzer da fein rauskommen“.
an die deutsche Fraport AG bei nur ei- Blanchard pochte allerdings darauf, dass die Kredit- In der Sendung saß als Gesprächspartner auch der
nem Bieter und unter zeitlichem Druck. programme „nicht nur ausländischen Banken, sondern frühere EU-Kommissar Günter Verheugen. „Wir soll-
Die Privatisierung öffentlicher Vermö- auch griechischen Einlegern und Haushalten zugute“ ten uns mal keine Illusionen machen, worum es bei der
genswerte in einem Umfeld ökonomi-
gekommen seien, „da ein Drittel der Schulden von grie- Griechenland-Rettung wirklich geht“, sagte der Sozial-
scher Depression „ist wie Räumungsver-
kauf“, heißt es in der Linkspartei. Dem chischen Banken und anderen Finanzinstitutionen Grie- demokrat: „Der Begriff ist vollkommen falsch, es ging
griechischen Staat seien „sprudelnde chenlands gehalten wurde“. niemals um die Rettung Griechenlands, es ging immer
Einnahmequellen abhanden“ gekom- Ein paar Monate vorher hatte sich der griechische um die Rettung bestimmter europäischer Banken. Bis
men, „die Gewinne für die neuen priva- Ökonom Yanis Mouzakis die Geldflüsse genauer an- auf den heutigen Tag.“
ten oder staatlichen Eigner sind immens, gesehen und für den damaligen Zeitpunkt festgestellt:
die Verluste für den griechischen Staat
ebenso – und auch für die griechische
81,3 Milliarden Euro an Kreditzahlungen wurden für die Vincent Körner ist Autor unter anderem für
Bevölkerung“, konnte man in einer Stu- Ablösung von Altschulden und 40,6 Milliarden Euro für die Common Verlagsgenossenschaft.
die der Rosa-Luxemburg-Stiftung lesen. Zinszahlungen verwandt. 48,2 Milliarden Euro flossen
in die Bankenrettung und 34,6 Milliarden Euro in die
Finanzierung des Schuldenschnitts von 2012. Für staat-
liche Ausgaben, wie Gehälter von Beamten oder Inves-
titionen in die Infrastruktur, wurden nur rund 27 Milli-
arden Euro verwendet. Die „Zeit“ schrieb damals: „Das
Klischee geht so: Die Rettungsmilliarden helfen Grie-
4 Info: Griechenland, Juli 2018
Was wir nicht sehen
Fernab von den touristischen Zentren und den Hauptstädten der Proteste gegen Arbeitslosigkeit, Rentenkürzungen und Steuer-
erhöhungen kämpfen die Menschen auf dem Land stiller und weitgehend unbemerkt mit den Auswirkungen der Sparpolitik
in Griechenland. In manchen Gegenden liegt die Jugend- und Frauenarbeitslosigkeit bei 75 Prozent, wie in Aitoloakarnania im
Westen des Landes. Wer kann, sucht woanders nach Arbeit. In größeren Städten oder gleich im europäischen Ausland. Junge
Menschen sind hier kaum noch zu sehen – sie kommen nur zurück, um die Eltern und Großeltern zu besuchen.
Zum Beispiel das kleine Mädchen in Katohi, einer Ortschaft mit 3.000 EinwohnerInnen. Der Fotograf Dimitris Michalakis
will zeigen, was wir in den Medien nicht sehen. Seine Fotoreise führt ihn an Orte fernab der Medienberichterstattung,
in die ländlichen Regionen, die von der Krise besonders hart getroffen wurden, dorthin, wo Perspektivlosigkeit und Scham
zusammentreffen.
Von seiner ersten Reise, die ihn nach Mazedonien und Thraki geführt hat, berichtet Dimitris Michalakis über die Begegnungen:
„Es ist nicht leicht, an die Menschen heranzukommen. Manchmal musste ich zwei-, dreimal zurückkommen, bis die Leute
bereit waren, mit mir zu sprechen, Vertrauen gefasst hatten. Viele möchten nicht fotografiert werden, obwohl sie mir vertrauen.
Es fällt den Leuten schwer, ihre Armut und Arbeitslosigkeit offen zuzugeben. Sie empfinden Scham und fühlen sich schuldig
an ihrer Situation.“
Auf dem Titel dieses info: Griechenland ist die 62-jährige Eleni (Seite 1 oben) zu sehen, die mit ihrem Mann in Dioni lebt,
einem kleinen Dorf an der Nordseite des Achelos Flusses. Hier leben die Menschen von der Fischerei. Im Sommer verwandelt
sich die ansonsten ruhige Gegend in ein Wassersportparadies. Dann treffen am Fluss zwei Welten aufeinander: jene, in der sich
die Menschen Wassersport und Urlaub leisten können, und jene, in der ihnen der Fluss das Überleben in einer ansonsten
ressourcenarmen Gegend sichern muss.
Savvas (Seite 1 unten), lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Xanthi, einer Stadt mit knapp 70.000 EinwohnerInnen im
Nord-osten Griechenlands. Seit viele Fabriken in der Region schließen mussten, haben 42 Prozent der lokalen Bevölkerung ihre
Arbeit verloren. Savvas hat Glück – er hat seine Arbeit als Lastwagenfahrer in einer Milchfabrik noch nicht verloren.
Die Texte zu den Fotos auf dieser und den nächsten Seiten sind von Maria Oshana, sie ist Leiterin des Athener Büros der
Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Info: Griechenland, Juli 2018 5
Ökonomie
Primärüberschuss
Die positive Differenz zwischen den Ein-
„Klar, dass wir nicht ins Jahr 2008
nahmen des Staates und den Ausgaben
ohne Zinslasten wird als Primärüber-
schuss bezeichnet. Um die Staatsschul-
zurückwollen“
den konstant zu halten oder zu senken,
ist ein Primärüberschuss erforderlich, Nach Beendigung der letzten Verhandlungsrunde zwi- Diese Lösung ist Wahnsinn. Sie führte direkt zu einer
der mindestens den Zinsausgaben ent- schen den europäischen Gläubigern und der griechi- gesellschaftlichen Verwüstung. Heute sagt sich leicht:
spricht. Ist der Primärüberschuss größer schen Regierung im Juni steht fest: Das dritte Kredit- Die Verarmung der Schwächsten kann nicht das euro-
als die Zinsausgaben, kann die Differenz programm für Griechenland endet im August. Der päische Ziel sein. Die gute Lösung wäre eine mutige
zum Abbau von Verbindlichkeiten ge-
politische Wermutstropfen für die von SYRIZA geführte Lösung gewesen: Die stärksten Mitgliedsstaaten, mit
nutzt werden.
Linksregierung: Im Rahmen eines Überwachungsmecha- Deutschland an der Spitze, investieren mehr, um das
Bruttofinanzierungsbedarf nismus wird weiterhin kontrolliert, ob sich Griechenland Wachstum zu unterstützen, und schaffen Haushalts-
Mit dem Bruttofinanzierungsbedarf an den Reform- und Sparkurs hält. Mit Schuldenerleich- ressourcen, um Innovationen und Investitionen in der
(gross financing needs) wird dargestellt, terungen soll sichergestellt werden, dass der griechische Eurozone zu fördern – im Dienste des Wohlstands aller.
wieviel Geld ein Land braucht, um Zin- Bruttofinanzierungsbedarf mittelfristig unter 15 Prozent Diesen Weg durchzusetzen, gab es aber in der Vergan-
sen, Schuldentilgung und das Haushalts- des Bruttoinlandsproduktes jährlich und danach unter genheit keine politischen Mehrheiten.
defizit zu bezahlen. Der Wert wird als 20 Prozent bleibt. Das Land soll auf diese Weise in die Wenn nun in Brüssel und Berlin von einem „erfolgrei-
Verhältnis zur Wirtschaftsleistung ange-
Lage versetzt werden, seine Schulden jederzeit bedie- chen Abschluss“ des Kreditprogramms die Rede ist, soll-
geben, er beträgt dann zum Beispiel 15
Prozent des Bruttoinlandsproduktes. nen zu können. te auch die Sichtweise von Tsakalotos nicht unterschla-
Die Berechnungen basieren darauf, dass Griechenland gen werden: „Wir sind die einzige Gesellschaft, die in
Schuldentragfähigkeit bis 2022 einen Primärüberschuss von 3,5 Prozent des Friedenszeiten 25 Prozent ihrer Wirtschaftskraft verloren
Gläubiger Griechenlands wie der IWF BIP und danach bis 2060 im Durchschnitt von 2,2 Pro- hat. Wie kann das ein Erfolg sein?“, fragte der Finanz-
operieren mit Analysen der Schulden- zent erreicht. Die Eurogruppe hat sich verpflichtet, zum minister in einem Interview. „Letztlich haben wir als Re-
tragfähigkeit, wobei die Prognosen Ende der Stundungsperiode im Jahr 2032 auf Basis einer gierung versucht, Reformen umzusetzen und die Gesell-
den aktuellen Schuldenstand, den an-
Analyse der Schuldentragfähigkeit zu prüfen, ob zusätz- schaft dafür zu gewinnen. Aber es wäre anmaßend, hier
zusetzenden Zinssatz und die erwarte-
ten künftigen Primärüberschüsse einbe- liche Schuldenerleichterungen nötig sind. Nach wie vor von einem Erfolg zu sprechen, angesichts des Elends
ziehen. Es wird die Regel verfolgt, dass bestreiten viele Kritiker dieser Konzeption, darunter der und der humanitären Krise. Andererseits war seit der
der Gegenwartswert der erwarteten Pri- Internationale Währungsfonds oder der frühere Finanz- Parteigründung von SYRIZA klar, dass wir nicht ins Jahr
märüberschüsse den aktuellen Schul- minister Yanis Varoufakis, dass Griechenland über einen 2008 zurückwollen. Und das ist auch der Kern unserer
denstand übersteigen muss, wenn die so langen Zeitraum einen solchen Primärüberschuss er- Wachstumsstrategie. Ein Rückschritt wäre das Letzte,
öffentlichen Schulden tragfähig sein
wirtschaften kann. das wir möchten.“
sollen. Ist das nicht der Fall, werden Ein-
nahmeerhöhungen oder Ausgabekür- Der Internationale Währungsfonds IWF wird zwar an Griechenland hatte die weltweite Wirtschaftskrise von
zungen verlangt – so genannte Anpas- der wirtschaftspolitischen Überwachung Griechenlands 2008ff. mit voller Kraft abbekommen. Und warum? Weil
sungsmaßnahmen. beteiligt bleiben, er wird sich aber nicht mehr finanziell sich hinter der Fassade des „ordentlichen Regierens“ in
engagieren. Die 2017 „im Grundsatz“ genehmigte Kre- den vorangegangenen Jahren in vielen Teilbereichen der
Innere Abwertung ditlinie wird nicht aktiviert. Der Währungsfonds hatte in Gesellschaft enorme wirtschaftlich-soziale Fehlentwick-
Haben Staaten eine eigene Währung, den letzten Monaten auf mehr Schuldenerleichterun- lungen ausgebreitet hatten: signifikante makroökono-
können sie versuchen, ihre Wettbe- gen gedrängt, als vor allem Deutschland zu gewähren mische und soziale Ungleichgewichte, die durch Schul-
werbsfähigkeit gegenüber anderen
bereit war. IWF-Chefin Christine Lagarde unterstrich, denaufnahmen überdeckt worden waren.
Volkswirtschaften durch Abwertung des
nominalen Wechselkurses zu verbessern. man sei angesichts der nun beschlossenen Maßnahmen Kredite und Haushaltsüberschüsse allein reichen nicht,
Innerhalb einer Währungsunion geht das zwar zuversichtlich bezüglich der mittelfristigen Tragfä- um eine solche Krise zu überwinden. Giannis Dragas-
nicht, hier kann über „Innere Abwer- higkeit der griechischen Schulden – in der sehr langen akis, der Vizepremier der Linksregierung, konstatiert
tung“ aber derselbe Effekt erzielt wer- Frist habe man aber Vorbehalte. rückblickend: Es habe die Auffassung vorgeherrscht,
den: Durch Maßnahmen zur Absenkung
Der griechische Finanzminister Efklidis Tsakalotos ver- mit günstigem Geld, mit Krediten, hätte man den da-
von Preisen und Löhnen relativ zum
Preisniveau anderer Länder werden Pro-
weist zu Recht auf die massiven gesellschaftlich-sozialen maligen Wohlfahrtsstaat verteidigen können. „In Grie-
dukte und Dienstleistungen eines Landes Folgen der unter dem Druck der Finanzgeber – also der chenland wurde das bis zum Exzess betrieben. Als das
im internationalen Vergleich billiger. so genannten Troika – erzwungenen „innere Abwer- Land der Euro-Zone beigetreten ist, wurde versäumt, die
tung“. Als Mitglied der Währungsunion ist Athen die Wirtschaft stärker auf die Produktion und den Export
Möglichkeit einer Währungsabwertung versperrt, mit auszurichten“, so Dragasakis.
der die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft verbes- Der frühere sozialdemokratische Ministerpräsident Gi-
sert werden könnte. Die von den Vorreitern einer har- orgos A. Papandreou hatte im Mai 2010, als das erste
ten Austeritätspolitik in Europa ausgegebene Strategie, Kreditprogramm startete, die griechische Mythologie
mit der Griechenland seine Wettbewerbsfähigkeit ent- beschworen, um den Ernst der Lage zu illustrieren. Grie-
wickeln solle, lautete: Löhne senken und Kaufkraft re- chenland stehe am Beginn einer neuen „Odyssee“, die
duzieren. es aber bestehen werde: „Wir kennen den Weg nach
6 Info: Griechenland, Juli 2018
Ptolemaida, Westmazedonien. Hier befindet
sich das ehemals staatliche Energie-
unternehmen Public Power Corporation
Ithaka.“ Dieser Hinweis auf die Irrfahrt des Odysseus be- soziale und ökonomische Irrfahrt ging weiter. Als das (PPC), das im Rahmen der „Rettungs-
deutete nichts Gutes. linke Bündnis SYRIZA dann Anfang 2015 die Aufgabe pakete“ privatisiert wurde. Die Gegend
ist von jahrzehntelangem Braunkohle-
Nach dem Sieg über Troja, dem zehn Jahre Krieg vo- übernahm, in Regierungsverantwortung Wirtschaft und
abbau gezeichnet. Aufgrund von Umwelt-
rangegangen waren, begab Odysseus sich mit seinen Staat zu reformieren, bestanden alle Herausforderungen verschmutzung, Bodenverlagerungen
zwölf Schiffen auf die Heimreise. Odysseus und seine immer noch: der Kampf gegen die Oberschicht, gegen und Erdrutschen wurden viele Dorfbewoh-
Mannschaft hatten auf ihrer Reise zahlreiche Abenteuer den Klientelismus, gegen die Korruption und die Steuer- ner vertrieben oder umgesiedelt, haben
gesundheitliche Probleme, die Krebsrate ist
zu bestehen und Unglücksschläge zu erleiden. Für eini- hinterziehung. hoch. Seit der Privatisierung des Unter-
ge waren sie selbst verantwortlich, andere hatten sie der Statt von den Vielen massive Opfer abzuverlangen, nehmens sind die Löhne auf drei Euro in
Feindseligkeit namentlich des Meeresgottes Poseidon zu sollte es andere Möglichkeiten geben. Die Vorstel- der Stunde gesunken, und viele haben
ihre Arbeitsplätze verloren. In Westmaze-
verdanken. Erst nach zehnjähriger Irrfahrt kehrte Odys- lung, dass „faule Griechen“ für die Krise verantwort- donien belegt die Arbeitslosenquote
seus nach Verlust aller Begleiter allein nach Ithaka zu- lich sind und nicht die Machtverhältnisse und die Poli- mit 27,3 Prozent landesweit einen Spitzen-
rück. tik, war falsch. Sie führte dazu, dass die Eliten aus der platz. Die wenigen übriggebliebenen
Papandreou führte das Land nicht nach Ithaka, er ver- Schusslinie verschwinden konnten. Das Land war von Felder und Obstanbaugebiete werden heute
weitgehend von Saisonarbeitern ohne
schwand wenig später samt der sozialdemokratischen zwei Parteilagern regiert worden, die wie Machtkartel- Maschinen bearbeitet (siehe auch Seite 9).
Partei Pasok von der politischen Bühne. Neuwahlen le funktionierten. Und Europas Politiker hatten weder
brachten den Konservativen Andonis Samaras von der den politischen Willen noch die Instrumente, um mit
Nea Dimokratia ins Ministerpräsidentenamt, aber die einer solchen Krise umzugehen. Griechenland wurde
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Info: Griechenland, Juli 2018 7
Wachstumsstrategie
zu einem Experiment, zur „Laborratte“ – so sieht es im traut Griechenland 2018 ein Wachstum von 2,0 Prozent
Wie soll es in Griechenland jetzt wei- Rückblick Dragasakis. zu, das 2019 sogar auf 2,3 Prozent steigen soll.
tergehen? Premier Alexis Tsipras hat im Griechenland hängt seit 2010 am Tropf der Allianz der Die SYRIZA-geführte Regierung hat die Einigung der
Frühjahr ein Wachstumsprogramm prä-
europäischen Staaten samt Europäischer Zentralbank Euroländer auf die Bedingungen für den Abschluss des
sentiert: „A Growth Strategy for the Fu-
ture“ fasst auf 97 Seiten die wirtschafts- EZB, der EU-Kommission und des IWF. Etliche kritische dritten Kreditprogramms begrüßt. Nach acht Jahren
und finanzpolitischen Pläne der SYRI- Ökonomen und linke Politiker rieten der linksgeführ- Reformen und Entbehrungen unter den Auflagen der
ZA-geführten Regierung zusammen. Das ten Regierung in Athen zu einem Kurs der Ablehnung Gläubiger müssten die Griechen „die Veränderung nun
Land könne sich nun neue Ziele setzen, der Memoranden, obwohl offensichtlich war, dass ohne in ihren Taschen spüren“, sagte Finanzminister Tsaka-
um aus der mehrjährigen Krise heraus- die Kredite dieser Allianz, im Gegenzug zu Sanierungs- lotos. Man selbst werde „niemals vergessen, was das
zukommen, hofft Tsipras. Das soll den
Anspruch unterstreichen, eine eigen-
maßnahmen und gesellschaftliche Strukturreformen griechische Volk in den vergangenen acht Jahren durch-
ständige Agenda ohne Gläubiger-Dikta- das Land, in einen Staatskonkurs gerutscht wäre. Ohne machen musste“. Damit „sich das lohnt, müssen wir
te zu verfolgen. Es geht dabei nicht zu- Aussicht auf weitere Kredite und Finanzdienstleistungen dafür sorgen“, dass nun die Bevölkerung „konkrete Er-
letzt um eine Korrektur der sozialen und sollte das Land seine Strukturreformen umsetzen: Aber gebnisse sieht“. Griechenland habe alle Voraussetzun-
ökonomischen Folgen der Auflagen. wie sollten Steuerreformen, die Beseitigung von Kliente- gen erfüllt, gespart und zahlreiche Reformen in die Tat
In der Strategie wird ein Wachstum an- lismus und Korruption, der Aufbau eines modernen öf- umgesetzt, so Regierungschef Tsipras. Er versprach eine
gepeilt, das eine nachhaltige Haushalts- fentlichen Sektors, eines solidarischen Gesundheitssys- Erhöhung des Mindestlohnes und Verbesserungen beim
politik ermöglicht, es sollen strukturelle
tems und eine grundlegende Renovierung der sozialen Sozialstaat, der wegen der Sparmaßnahmen vernachläs-
Voraussetzungen für eine ökonomische
Entwicklung geschaffen werden, die Sicherheitssysteme so möglich sein? Die reformorien- sigt wurde.
nicht von „Hilfsmaßnahmen“, äußeren tierte Mehrheit in SYRIZA lehnte einen solchen Kurs als Dabei wird sich in den nächsten Monaten zeigen, ob
Vorgaben oder Strohfeuerpolitik geprägt sozial und politisch unverantwortlich ab. Dagegen ver- die von Alexis Tsipras vorgestellte Wachstumsstrategie
ist. Und es geht um die Gewährleistung weisen linke Kritiker immer wieder darauf, dass SYRIZA umgesetzt werden kann. Das Land könne sich neue Zie-
eines fairen und inklusiven Wachstums, seine Versprechen preisgegeben habe. Zugespitzt wird le setzen, um aus der mehrjährigen Krise herauszukom-
das nicht die ohnehin bestehende Un-
der Partei und Alexis Tsipras vorgeworfen, die System- men, hatte der Ministerpräsident im Mai in Athen an-
gleichheit zu Lasten der Bevölkerungs-
mehrheit verstärkt. frage nicht gestellt zu haben. gekündigt. Hellas werde wieder ein normales Land im
SYRIZA will deshalb unter anderem sich In einer Gesellschaft, die bereits von einer sehr großen Kapitalismus werden.
öffnende fiskalische Spielräume „zur Schattenwirtschaft geprägt war, und in einem Staat, in Die jetzt fixierte sanfte Landung – also die Beendi-
Senkung der Steuerlast und Erhöhung dem der Klientelismus tief verwurzelt ist, hätte ein Gre- gung des harten Aufsichts- und Auflagenprogramms
der Sozialausgaben“ nutzen, sie will xit das soziale Chaos verschärft und die Korruption auf der Troika – ermöglicht eine deutliche Normalisierung
dafür sorgen, dass „mehr und bessere ein Niveau gebracht, das selbst Griechenland bisher der Lage. Griechenland bleibt eine kapitalistische Gesell-
Jobs“ geschaffen werden, der Mindest-
noch nicht gekannt hatte. Dies wäre verbunden mit ei- schaft unter der Kontrolle der Finanzmärkte. Das wird
lohn soll mit den Erfordernissen einer
Ökonomie steigen, welche auf wieder ner sozialen, humanitären Katastrophe. von Kritikern als zu wenig angesehen. Die Frage ist, was
anziehende Binnennachfrage angewie- „Diejenigen, die sich auf das revolutionäres Erbe be- die durchsetzbaren Alternativen gewesen wären.
sen ist. Es soll integrative Bildung sicher- rufen und die Parteiführung von SYRIZA so lauthals Für die Zukunft hängt viel davon ab, dass erstens die
gestellt, der Sozialschutz ausgeweitet verdammen, weil sie“, wie damals zu Recht der kana- Konjunktur der Globalökonomie und Europas weiter-
sowie eine universelle und effektive Ge- dische Marxist Leo Panitch warnte, „nicht den Bruch ge- hin einen günstigen Rahmen für die Rekonstruktion der
sundheitsversorgung durchgesetzt wer-
wählt haben, müssten eigentlich wissen, dass weder in griechischen Ökonomie bildet; dass es dem progressiven
den.
Deutschland noch in Mittel- oder Nordeuropa in abseh- Lager sozialer Kräfte unter Führung von SYRIZA gelingt,
„Die ganzheitliche Wachstumsstrategie
zielt darauf ab, die Deindustrialisierung
barer Zeit für solch einen Bruch eine Aussicht besteht.“ den Rekonstruktions- und Transformationsprozess in
Griechenlands umzukehren“, heißt es Und der Politikwissenschaftler mahnte, „es wäre aber Griechenland in der Gesellschaft zu verankern und dass
in dem Papier. Dabei soll Wert auf eine besser, wenn Möchtegern-Revolutionäre, die zum Bruch es gelingt Mehrheiten, im politischen Raum zu sichern,
„Konzentration auf innovative Schlüssel- mit dem Kapitalismus beim schwächsten Kettenglied ru- um auch in der Etappe nach August, trotz härtere ge-
sektoren mit hoher Wertschöpfung und fen, ihre Fähigkeiten zur Geltung bringen würden, um sellschaftlicher Konflikter, das Land in Richtung einer
die Entwicklung einer starken Kultur des
zumindest dort, wo sie zu Hause sind, das Gleichge- Demokratisierung von Gesellschaft und Staat weiter aus
sozial und ökologisch verantwortlichen
Unternehmertums“ gelegt werden. Als wicht der Kräfte zu verschieben.“ zubauen.
wichtigste Branchen werden unter an- Mittlerweile ist Griechenland wieder auf Wachstums-
derem Transport und Logistik, Energie, kurs: Die Wirtschaft ist im ersten Quartal dank steigen- Joachim Bischoff ist Mitherausgeber der Zeitschrift
Kreislaufwirtschaft, Agrar- und Ernäh- der Exporte deutlich gewachsen. Das BIP legte von Janu- „Sozialismus“. Von ihm ist unter anderem „Isch over?
rungswirtschaft, Pharmazie, Gesundheit ar bis März 2018 im Vergleich zum Schlussquartal 2017 Griechenland und die Eurozone“ im Verlag VSA
und Umwelt, Tourismus und Kultur ge-
um 0,8 Prozent zu. Die Ökonomie wächst bereits seit Hamburg erschienen (gemeinsam mit Björn Radke).
nannt. „Wir wollen aber auch den ge-
nossenschaftlichen und sozialen Sek- fünf Quartalen ununterbrochen. Während die Warenex-
tor der Wirtschaft mobilisieren und den porte diesmal um 5,1 Prozent zulegten, nahm der Kon-
Wandel hin zu nachhaltigen Produkti- sum um 0,1 Prozent zu.
ons- und Konsummustern unterstüt- Im Vergleich zum Auftakt des Vorjahres expandier-
zen.“ te die Wirtschaftsleistung in den ersten drei Monaten
2018 um 2,3 Prozent. Das stützt die optimistischen Pro-
gnosen der Industriestaaten-Organisation OECD. Diese
8 Info: Griechenland, Juli 2018
Feldarbeiter in Amyntaio, Westmazedo-
nien. Gemeinsam mit der Journalistin
Die Logik einer Hilfe, die keine war
Eleni Pangkalia erstellt Dimitris Michalakis
ein fotografisches Archiv der sozialen
Folgen der Krisenpolitik. Ihr Ziel ist es,
sichtbar zu machen, was Zahlen nicht
auszudrücken vermögen: ein erfahrbares
Im August endet das dritte Kreditprogramm für Grie- brach ein: War das BIP noch 2006 um 5,7 Prozent und zeitgeschichtliches Dokument. Das
chenland. Die Logik der damit verbundenen „Anpas- 2007 um 3,3 Prozent gewachsen, fiel Griechenland bald von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Athen
sung“ lautete in etwa so: Vor allem mit drastischen in eine Rezession, unter anderem wegen der schlechter geförderte Foto-Essay „Blackholes“
Kürzungen der öffentlichen Ausgaben lasse sich der werdenden Lage in den wichtigen Branchen Schifffahrt (Arbeitstitel) wird voraussichtlich Ende
2018 als interaktive Landkarte und
Schuldenstand reduzieren und neue Wettbewerbsfähig- und Tourismus. in Zeitungsform erscheinen.
keit erreichen, die wiederum nötig ist, damit sich Athen Der damalige EU-Währungskommissar Joaquín Almu-
selbstständig und nachhaltig finanzieren kann. nia forderte „rigorose Maßnahmen, um die systema-
Entsprechend sahen die drei seit 2010 durchgesetzten tischen Budget-Entgleisungen zu beenden“. Brüssels
Kreditprogramme aus: Sozialabbau, Deregulierung, Pri- Vorgabe hieß: Bis 2010 müsse die Defizitquote wieder
vatisierung. Im Prinzip wurde eine Krisenpolitik mit Berli- unter drei Prozent gedrückt werden, also der die laufen-
ner Drehbuch verordnet: Dort glauben wichtige Akteure den Einnahmen übersteigende Betrag der Ausgaben der
bis heute, dass weniger Staat und mehr Markt eine Lö- öffentlichen Haushalte im Verhältnis zum BIP. Doch die
sung für wirtschaftliche Schwäche sein könnten. Dass es Krise konnte so nicht aufgehalten werden. Karamanlis
gravierende strukturelle Probleme in Griechenland gab ließ im September 2009 das Parlament auflösen und sei-
und bis heute gibt, soll hier keineswegs unterschlagen ne Nea Dimokratia verlor die im Oktober folgende Neu-
werden. wahl gegen die sozialdemokratische Pasok.
Ein Rückblick: Griechenland, seit 1981 Mitglied der Der neue Premier Georgios A. Papandreou muss-
Europäischen Union, hatte 2001 den Euro eingeführt. te dann die Daten zur Verschuldung noch nach oben
Ein Jahr vorher lag die Staatsverschuldung bei 104,4 korrigieren und weitere schlechte Wirtschaftsdaten be-
Prozent des Bruttoinlandsproduktes – jedenfalls offiziell. kanntgeben. Über die Gründe für die Korrekturen wur-
Das Land gab mehr Geld aus als es einnahm. de viel diskutiert, von methodischen Mängeln beim Sta-
Die 2007 beginnende Finanzkrise verschärfte die tistikamt ESYE war ebenso die Rede wie von politischer
Lage, nicht zuletzt, weil die konservative Regierung Kos- Einflussnahme. Das Land, so formulierte es damals die
tas Karamanlis ein teures Bankenrettungsprogramm „Frankfurter Allgemeine“, sei auch „nur wegen ge-
auflegen musste. Aber auch die Wirtschaft des Landes schönter Zahlen“ in den Euro aufgenommen worden.
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Info: Griechenland, Juli 2018 9Armut
Die Finanzmärkte reagierten auf die Korrektur mit er- im Jahr 2016 ab. Das heißt – selbst wenn man einrech-
In Griechenland ist ein Drittel der Bevöl- heblichen Risikoaufschlägen, die öffentliche Finanzie- net, dass tatsächliche Fehlausgaben gestrichen wurden
kerung von Armut bedroht, berichtete die
rung wurde immer schwieriger. – weniger Gesundheitsfürsorge und weniger öffentli-
griechische Statistikbehörde ELSTAT Ende
Juni 2018. 34,8 Prozent der Menschen
Athen brauchte Unterstützung. Die Regierungen in che Bildung. Und hier haben wir noch nicht einmal an-
leben unter Bedingungen deutlicher ma- Paris und in Berlin „verlangten, dass Griechenland ent- gefangen über Einkommen, Renten, Erwerbslosigkeit,
terieller Entbehrung, die mit sozialer Aus- weder die Kreditbedingungen“ akzeptiere „oder die Armutsgefährdung oder den Anstieg der notleidenden
grenzung einhergeht. Die Zahl der Betrof- Eurozone verlasse“, schrieb damals die „Zeit“. Die Re- Kredite zu sprechen, der auch ein Indikator für die an-
fenen liegt bei 3,7 Millionen und ist im gierung Papandreou beantragte im April 2010 offiziell haltende Krise ist: Deren Anteil explodierte förmlich von
Vergleich zu den Vorjahren leicht rückläu- Finanzhilfe. Nicht nur, dass Berlin vehement einen Aus- 12,6 Milliarden Euro 2009, was damals 7 Prozent des
fig – der negative Höhepunkt lag im Jahr
2012, damals waren 36 Prozent von Ar-
teritätskurs verfolgte – die Kanzlerin verzögerte auch Bruttokreditbestands entsprach, auf 103,8 Milliarden
mut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. den Start des Kreditprogramms und verschärfte so die Euro 2017 (45,6 Prozent).
Ohne soziale Leistungen würde die Ar- Lage in Griechenland aus rein innenpolitischen Grün- Das Bundesfinanzministerium verteidigt den bisheri-
mutsbedrohung noch höher liegen: bei den: der damals anstehenden Landtagswahlen in Nord- gen Kurs der Krisenpolitik dennoch. Die aus Athen ge-
50 Prozent. Dies zeigt die Bedeutung rhein-Westfalen wegen. meldeten besseren Zahlen zur Wirtschaftsentwicklung
von solchen Transfers, die aber unter Anfang Mai 2010 wurde das erste Kreditprogramm und zum Haushalt werden zum Beleg dafür gemacht,
dem Druck der Gläubiger gekürzt wur- geschnürt. Zwei weitere sollten folgen. Griechenland was „im Zuge der Programme“ erreicht wurde. Und in
den. So haben griechische Rentner in
wurde „gerettet“, so die Losung. Was die Bilanz nach der Zukunft? Tragfähigkeitsanalysen der Schulden wür-
den vergangenen acht Jahren bis zu 60
Prozent ihrer Bezüge verloren. Ab Januar über acht Jahren angeht, spricht der Linkspartei-Politiker den zeigen, „dass es Griechenland gelingen kann, seine
2019 sollen die Altersbezüge laut Gläu- Fabio De Masi allerdings von „verheerenden ökonomi- Staatsverschuldung gemessen am BIP in den nächsten
biger-Auflagen erneut gekürzt werden – schen und sozialen Auswirkungen“. Die Bundesregie- Jahren deutlich zu reduzieren. Dafür ist eine Fortfüh-
für einige Bezieher um bis zu 18 Prozent. rung selbst hat dafür Anfang Juli noch einmal Zahlen- rung des eingeschlagenen Reformkurses inklusive der
Laut dem unternehmensnahen Insti- material zusammengestellt – in einer Antwort auf eine von Griechenland entwickelten Wachstumsstrategie
tut der deutschen Wirtschaft in Köln ist Anfrage der Linksfraktion. Man kann die Malaise mit und eine Beibehaltung der nachhaltigen Haushaltspoli-
Griechenland innerhalb Europas „größ- wenigen Kerndaten zeigen: tik notwendig.“
ter Verlierer“ in Sachen Armut. Die sozi-
Die Staatsschuldenquote, die eigentlich per „Anpas- Fabio De Masi hält das mindestens für Schönfärberei:
ale Entbehrung habe in den Jahren 2008
bis 2015 um mehr als 40 Prozent zuge- sung“ gedrückt werden sollte, ist von 2009 bis 2017 „Das Überschuldungsrisiko Griechenlands bleibt sehr
nommen. Der Autor der 2017 erschie- von 126,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf hoch, nach Annahmen des Internationalen Währungs-
nenen Studie, Christoph Schröder, sagt: 178,6 Prozent gestiegen. Die rund 289 Milliarden Euro fonds weit über den Grenzwerten der Schuldentrag-
„Natürlich liegt das auch am Sparkurs an Kreditzahlungen, die Athen seit 2010 erhalten hat, fähigkeit. Die Nachprogrammüberwachung hält Grie-
und an den Auflagen der Geldgeber.“ flossen vor allem in den Schuldendienst, von 95 Prozent chenland nach Angaben der Bundesregierung für die
Ein Indikator für Ungleichheit ist der Gi- der „Hilfsgelder“ ist die Rede. nächsten 30 Jahre unter verstärkter Kontrolle der EU-In-
ni-Koeffizient, der meist als Wert zwi- Die öffentliche Schuldenquote stieg aber auch des- stitutionen“, heißt es in einer Auswertung der Antwort
schen null und eins angegeben wird, wo-
bei die Verteilung umso ungleicher ist, je
halb an, weil die „Anpassung“ gravierend die griechi- des Bundesfinanzministeriums. Dabei ist vereinbart, dass
höher er liegt. In Griechenland lag der sche Ökonomie schwächte – die mit den Krediten ver- diese Nachprogrammüberwachung, die wiederum mit
Gini-Koeffizient 2008 laut der EU-Statis- bundenen Auflagen setzten auf Austerität und die harschen Auflagen einhergeht, bis zur Rückzahlung von
tikbehörde Eurostat bei 0,33 Punkten – senkte die Nachfrage, ließ Investitionen einbrechen. Die 75 Prozent der Kredite andauert – das heißt, man muss
und 2017 ebenfalls. Das heißt aber nicht, privaten Bruttoanlageninvestitionen sanken von 35,8 damit rechnen, dass Athen noch etwa 30 Jahre auf dem
dass die Ungleichheit unverändert blieb. Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 14,4 Milliarden Euro Radar der Gläubiger bleibt.
Auch Kürzungen bei öffentlichen Ausga-
ben wirken sich aus: „Die Staatsausga-
im Jahr 2017; bei den öffentlichen Bruttoanlageninves- Und das Ganze ist auch noch mit einer sehr wacke-
ben für Gesundheit, Behinderung, Kinder titionen war es ein Absturz von 13,6 Milliarden Euro im ligen Prognose verbunden. „Die Schuldenanalyse von
und Familie, Arbeitslosigkeit und sozia- Jahr 2009 auf 8,1 Milliarden Euro im Jahr 2017. Was Berlin und Brüssel ist ein schlechter Witz, um ein ab-
le Ausgrenzung gingen zwischen 2008 das bedeutet? In der privaten Wirtschaft und im öffent- surdes Kürzungsprogramm zu rechtfertigen“, sagt De
und 2014 von insgesamt 28,7 Milliar- lichen Sektor wurde Substanz aufgezehrt. Masi. „Bereits 0,2 Prozent weniger Wachstum als unter-
den Euro auf 20,4 Milliarden Euro zurück Wie daraus eine selbsttragende ökonomische Ent- stellt, führen zum Kollaps der Prognose.“ Es sei kaum
(minus 29 Prozent)“, so eine Studie der
wicklung werden soll? Sicher, Athen konnte zuletzt so- denkbar, dass eine Volkswirtschaft über einen so langen
Hans-Böckler-Stiftung. Dies habe zur Fol-
ge gehabt, „dass die Haushalte zusätz- wohl ein leichtes Anziehen des Wirtschaftswachstums Zeitraum permanente Haushaltüberschüssen vor Zinsen
liche Teile ihres Einkommens für solche vermelden, auch der öffentliche Haushaltssaldo, also von 1,5 Prozent erreicht.
Dienstleistungen ausgeben mussten.“ das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben, hat sich
Laut Eurostat vom Juli 2018 haben 64,4 verbessert – weil teils mehr eingenommen und vor allem Vincent Körner
Prozent der Griechen im Jahr 2016 keine weniger ausgegeben wird. Aber mit welchen Folgen?
Urlaubsreise unternommen – der höchs- Die öffentlichen Ausgaben für den Gesundheitssektor
te Wert in der EU (Durchschnitt 37,9).
sind von 16,2 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 8,6 Mil-
Zum Vergleich: In der Bundesrepublik lag
der Anteil bei knapp 24,6 Prozent. 74,6 liarden Euro im Jahr 2016 gesunken, der Anteil am Brut-
Prozent der Betroffenen in Griechenland toinlandsprodukt nahm von 6,8 Prozent auf 4,9 Prozent
gaben finanzielle Gründe an. ab. Die öffentlichen Bildungsausgaben nahmen von 9,8
Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 7,5 Milliarden Euro
10 Info: Griechenland, Juli 2018Arbeitsmarkt
Das Geschlecht der Austerität Die Arbeitslosigkeit in Griechenland ge-
hört zu den höchsten in Europa. Im Jah-
resschnitt 2017 lag die offizielle Quote bei
Die von 2010 bis heute ergriffenen Maßnahmen zur Be- nellere Geschlechterarrangements gestärkt werden und
21,5 Prozent. 2010 lag sie noch bei 12,7
wältigung der griechischen Finanz- und Staatsschulden- viele erwerbstätige Frauen ihrer Möglichkeiten beraubt Prozent. Aktuellste von der Statistikbehör-
krise hatten neben dem Verlust von Arbeitsplätzen auch wurden, ihr Berufs- und Privatleben miteinander zu ver- de Eurostat vorgelegte und innerhalb der
den Abbau von Institutionen und Infrastruktureinrich- einbaren. Und es zeigt sich ein oft weniger sichtbarer EU vergleichbare Zahlen stammen vom
tungen zur Förderung der Gleichstellung der Geschlech- Aspekt der griechischen Sozialstaatskrise: der anhaltend Februar: Die Erwerbslosenquote ist dem-
ter zur Folge. hohe Anteil von unangemeldeter und unversicherter Ar- nach weiter auf 20,8 Prozent gesunken,
rund 978.000 Griechen sind arbeitssu-
Besonders krass treten die negativen Auswirkungen beit insbesondere von Migrantinnen im häuslichen Be-
chend gemeldet. Die Jugendarbeitslosig-
der Austeritätspolitiken zulasten von Frauen im Be- reich. keit (unter 25 Jahren) war mit 45,4 Pro-
reich der Erwerbsarbeit und im Beschäftigungssystem Unter dem Strich hat der in Griechenland weiterhin zent die höchste in Europa.
zu Tage. Die Deregulierung der unbefristeten Beschäf- vorherrschende Zustand der Austerität und der damit Der Anteil der Niedrigverdiener ist in Grie-
tigung und die Zunahme der Arbeitslosigkeit haben die verbundenen Politik sowohl auf institutioneller als auch chenland enorm gestiegen. Mehr als ein
Stellung der Frauen in weit höherem Maße untergraben auf gesellschaftlicher Ebene einschneidende Verände- Drittel aller Beschäftigten im Privatsektor
als diejenige der Männer. rungen herbeigeführt, die Geschlechterungleichheit be- verdient nicht mehr als 700 Euro netto
Laut Daten der Griechischen Statistikbehörde belief günstigen und Frauenrechte unter Druck setzen. pro Monat. Im Jahr 2009, vor Ausbruch
der Wirtschaftskrise, lag der Anteil nur
sich im März 2018 die Arbeitslosenquote bei Männern Es gibt aber auch eine unerwartet positive Entwick-
bei rund 13 Prozent. Lediglich 17 Prozent
auf 16,3 Prozent, während die Arbeitslosigkeit unter lung: die Zunahme der politischen Beteiligung von der Beschäftigten verdienten 2017 bis zu
den erwerbsfähigen Frauen bei 25 Prozent lag. Die dras- Frauen und Jugendlichen. Die kollektive Erfahrung des 1.300 Euro. In der Privatwirtschaft lagen
tische Stellenreduzierung im Öffentlichen Sektor – in der Widerstands gegen die Sparpolitik sowie der Aufbau die Durchschnittsverdienste 2013 noch
Größenordnung von 26,5 Prozent – schränkt die beruf- solidarischer Strukturen haben zu einem bedeutenden bei 1.113 Euro – schon 2016 waren es
lichen Perspektiven von Frauen, insbesondere der jün- Potenzial der Selbstorganisation und gesellschaftlichen nur noch knapp 960 Euro. Laut Daten der
Sozialversicherung EFKA erhielten rund
geren, ebenfalls nachhaltig ein, da sich arbeitssuchende Kooperation beigetragen – das nicht zuletzt von Frauen
30 Prozent der Beschäftigten im priva-
Frauen nunmehr verstärkt am privaten Arbeitsmarkt ori- getragen wird. ten Sektor sogar nur 385 Euro brutto im
entieren müssen, wo geschlechtsspezifische Diskriminie- Monat, nach Abzug der Sozialbeiträge
rungen in größerer Häufigkeit auftreten. Aliki Kosyfologou ist Autorin der von der blieben so weniger als die monatliche Er-
Ins Fadenkreuz der verschiedenen Sparprogramme Rosa-Luxemburg-Stiftung in Auftrag gegebenen werbslosenhilfe von 365 Euro.
der letzten Jahre ist ebenfalls der Sozialstaat gerückt. Studie „Gendered Aspects of the Austerity Ein Grund: Über die Hälfte der 2017
Mit den einschneidenden Kürzungen der öffentlichen Regime in Greece: 2010 – 2017“. Diese und acht neu unterzeichneten Arbeitsverträ-
Ausgaben gingen institutionelle Veränderungen in allen weitere Länderstudien zu den Auswirkungen ge waren Teilzeit- oder Schichtarbeits-
verträge (54,9 Prozent) – 2009 lag der
Bereichen der sozialen Sicherheit und der Daseinsfür- des Spardiktats in Europa auf Geschlechterverhältnisse
Anteil noch bei einem Fünftel, wie das
sorge einher, die auf die Schrumpfung des Sozialstaats können Sie unter www.rosalux.de nachlesen. Arbeitsinstitut des Griechischen Arbei-
schlechthin abzielten. Die Kosteneinsparungen hatten Übersetzung aus dem Griechischen: Theo Votsos. terverbunds GSEE vorrechnet. Hundert-
geschlechterspezifische Folgen. Die Reform des Renten- tausende Teilzeitbeschäftigte würden
systems, die Rentenkürzungen und die Anhebung des tatsächlich aber Vollzeitjobs machen,
Renteneintrittsalters auch für Mütter umfasst, sowie die den staatlichen Kassen entgehen so hö-
here Sozialbeiträge.
Verknüpfung der Sozialversicherung mit der Erwerbsbe-
teiligung, wirken sich äußerst negativ auf Frauen aus. Ein großes Problem für den Arbeitsmarkt
ist die anhaltende Abwanderung von gut
Die Abhängigkeit der Sozialversicherung und des Zu-
ausgebildeten Griechen. Laut Zahlen der
gangs zu den Leistungen des Gesundheitssystems von deutschen Außenwirtschaftsagentur GTAI
der Erwerbsarbeit hat zur Folge, dass arbeitslose oder in haben seit 2008 rund sieben Prozent al-
Teilzeitarbeit beschäftigte Frauen über keine Sozial- und ler Erwerbspersonen das Land verlassen
Krankenversicherung mehr verfügen. – mehr als 450.000 Menschen zwischen
Nicht selten wird dadurch die reproduktive Gesund- 20 und 60 Jahren. Das hat rein rechne-
risch die Ungleichheit verringert (weil
heit der Frauen in Mitleidenschaft gezogen oder be-
vergleichsweise gut verdienende Perso-
droht. Die Weltbevölkerungskonferenz von 1994 hat nen überproportional wegziehen), stellt
diese als „Zustand des vollständigen seelischen, körper- aber „in der Tat eine neue substanzielle
lichen und sozialen Wohlbefindens im Hinblick auf Se- und wachsende Form der Ungleichheit“
xualität und Fortpflanzung“ definiert. Der Fortschritt, dar, so die 2018 erschienene Studie „Cri-
der in den letzten Jahrzehnten in Griechenland in die- sis Management in Greece. The Shaping
of New Economic and Social Balances“.
sem Bereich und durch die Verankerung von Frauen-
Brain Drain sei „selbst eine Folge der gro-
rechten erzielt wurde, ist durch die Austeritätspolitik ßen Ungleichheiten in der heutigen grie-
unterminiert worden. chischen Gesellschaft und eine Quelle
Eine weitere Folge der durch Sparzwänge untergrabe- künftiger langfristiger Ungleichheiten“.
nen sozialen Infrastrukturen besteht darin, dass traditio-
Info: Griechenland, Juli 2018 11Sie können auch lesen
