Afrika-bulletin - Afrika-Komitee
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Fr. 5.–/ Euro 5.– Nov. / Dez. 2016 Eritrea – was steckt hinter dem Flüchtlingsstrom? afrika-bulletin Nummer 164
Editorial Das Verhältnis des Westens zu Eritrea war immer schon ambivalent. Die Eritreer und Eritreerinnen kämpf- ten sich selbstständig von einem Gegner frei, der von einer bröckelnden Sowjetunion unterstützt wurde und verhinderten einen letzten Triumph des auslaufenden Kalten Krieges. Doch dann wollten sich diese Habe- nichtse vom Westen nicht helfen lassen, misstrauisch, dass das einstige Versprechen der Alliierten, nach der Zerschlagung der italienischen Okkupation Eritrea ei- nen eigenen Staat zu gewähren, 1961 zugunsten von Äthiopien gebrochen worden war. Nachdem im An- schluss an den Sieg Eritreas das kommunistische Re- 2 Susy Greuter ist Sozial- gime in Äthiopien gestürzt war, und die neuen Macht- anthropologin mit langjähriger haber dort sich bereit erklärten, als verlässlicher Ver- Afrikaerfahrung und Mitglied des Afrika Komitees. Kontakt: bündeter zu fungieren, befand sich Eritrea politisch susy.greuter@sunrise.ch. endgültig im Off. Während die Tigray sich beraten lies- sen, regelmässig Wahlen abhielten und ein vorzügli- ches Investitionsklima bereit stellten, hielt die eritrei- sche Führungsriege an einem Modell fest, das nach Sozialismus und Maoismus riecht: Self-Reliance, Ein- parteienstaat und Gleichheit, Militärdienst mit Arbeits- brigaden zum Aufbau des Staates. Die Erfahrungen mit derartigen Systemen sind nicht durchwegs gut, jede Variante davon ist hundert- fach verschrien worden auch von den eigenen Dissi- denten, die mehr individuelle Chancen suchen. Die Re- sultate für die breite Bevölkerung sind hingegen nicht unbedingt enttäuschend. Doch sind individuelle Ent- Impressum wicklung und Verbesserung Verlockungen, denen we- nig standhält. So haben sich in Eritrea Dissidenten und die Jungen auf den Weg gemacht ins westliche Paradies, wo die Arbeitsbrigaden des Nationaldiensts als Sklave- Ausgabe 164 | November / Dezember 2016 rei gelten, und die Intransigenz der Führungselite jedes ISSN 1661-5603 böse Gerücht glaubhaft macht. Das «Afrika-Bulletin» erscheint vierteljährlich im 41. Jahrgang. Herausgeber: Afrika-Komitee, Basel, und Zentrum für Afrikastudien Basel. Die Beiträge zu diesem Themenheft differenzieren Redaktionskommission: Veit Arlt, Susy Greuter, Elísio Macamo, diesen Widerstreit weiter, welcher die Schweiz als gröss- Barbara Müller und Hans-Ulrich Stauffer tes Aufnahmeland für eritreische Migranten in beson- Das Afrika-Komitee im Internet: www.afrikakomitee.ch derem Masse betrifft. Barbara Müller versucht abzuwä- Das Zentrum für Afrikastudien im Internet: www.zasb.unibas.ch gen, wie schief Medienbilder gestellt werden können, Redaktionssekretariat: Beatrice Felber Rochat und Pablo Loosli wundert sich, dass all seine positiven Afrika-Komitee: Postfach 1072, 4001 Basel, Schweiz Erfahrungen medial als Chimären abgetan werden. Telefon (+41) 61 692 51 88 | Fax (+41) 61 269 80 50 E-Mail Redaktionelles: afrikabulletin@afrikakomitee.ch Hans-Ulrich Stauffer sieht die Schweiz in der Sackgasse, E-Mail Abonnemente und Bestellungen: info@afrikakomitee.ch weil ein Ansatz der Neutralität im Falle Eritreas nicht Postcheck-Konto: Basel 40-17754-3 möglich zu sein scheint, während Fana Asefaw die Für Überweisungen aus dem Ausland: Flucht als Sackgasse sieht, da der Weg in eine Integrati- in CHF: Migros Bank, IBAN CH95 0840 1016 1437 3770 7 on sehr problembehaftet ist. Hans Furrer schliesslich in Euro: Postkonto, IBAN CH40 0900 0000 9139 8667 9 (Bic SwiftCode: POFICHBEXXX; Swiss Post, PostFinance, CH-3000 Bern) zeigt auf, wie spannend es im Jahr des Trade in Services Mitarbeitende dieser Ausgabe: Veit Arlt (Red.), Fana Asefaw, Gertrud Baud, Agreement (TISA) und des Comprehensive Economic Elisa Fuchs, Hans Furrer, Susy Greuter (Red.), Caro van Leeuwen, Pablo Loosli, and Trade Agreement (CETA) ist, das Konzept der Self- Barbara Müller (Red.), Pascal Schmid, Hans-Ulrich Stauffer (Red.). Reliance als Option für Länder in kritischen Phasen ih- Gestaltungskonzept: TypoHaller rer Entwicklung näher anzusehen. Layout: wernlis grafische gestalter Druck: Rumzeis-Druck, Basel Wir wünschen eine spannende Lektüre. Inserate: Gemäss Tarif 5/99, Beilagen auf Anfrage Jahresabonnement: Fr. 30.–/Euro 30.– Susy Greuter Unterstützungsabonnement: Fr. 50.–/Euro 35.– Im Mitgliederbeitrag von Fr. 60.–/Euro 40.– ist das Abonnement enthalten. Redaktionsschluss Nummer 165: 30. Dezember 2016. Schwerpunktthema: Aktuelle Brennpunkte. Schwerpunktthemen der nächsten Ausgaben: Mobilität, US-Schützlinge in Afrika, Militarismus und Waffenindustrie, Musik, Frauen, Bevölkerungsmobilität. Interessenten und Interessentinnen an einer Mitarbeit sind eingeladen, mit der Redaktion Kontakt aufzunehmen. Unser Titelbild: Independence Avenue in Asmara, Eritrea (Bild: www. beyondtheheadlines.com 2014).
Foreign interests matter Eritrea im Raster geopolitischer Interessenspolitik Die Wahrnehmung Eritreas war schon immer geprägt durch die strategischen Interessen der globalen Mächte sowie durch die Bündnispolitik Äthiopiens, des starken Nachbarn, gegen den das Land vor Schwerpunktthema 23 Jahren seine Unabhängigkeit erstritt. Das Afrika-Komitee hat den Befreiungskampf des eritreischen Volkes während vieler Jahre unterstützt und war voller Bewunderung für den Durchhaltewillen der Eritrean People’s Liberation Front (EPLF) im scheinbar aussichtslosen Kampf gegen die äthiopische Übermacht. Hans-Ulrich Stauffer hat damals die Front und die befreiten Gebiete besucht und über diese Erfahrung berichtet. Wie anderswo auch, sollte die Problematik einer Befreiungsbewegung an der Macht die Entwick- lung der folgenden Jahre prägen, wie Barbara Müller ausführt. 3 500 Tote bei Protesten in den letzten neun Mona- ten in Äthiopien – und die Welt schaut weg. Im Gegen- teil: bei seinem Besuch in Addis Abeba im Juni 2016 attestierte Barack Obama der äthiopischen Regierung, sie sei «demokratisch gewählt». Dies, obwohl die seit 25 Jahren die Macht innehabende Tigray People’s Li- beration Front (TPLF) sämtliche Parlamentsvertreter in völliger Abhängigkeit hält, während die eigentlichen Oppositionsbewegungen massiv unterdrückt werden. Äthiopien ist gegen internationale Kritik gefeit, weil es aus westlicher Optik ein Stützpunkt im «Krieg gegen den Terror» darstellt und konkret den Kampf gegen die al-Shabaab-Milizen in Somalia mitträgt. Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch bele- Der Befreiungskampf ist gen, dass die TPLF-Regierung seit Jahren die Men- ein konstitutives Element schenrechte auf gröbste Art und Weise verletzt. Ende des eritreischen Staates. Die Bevölkerung sehnt sich August sind an einem Wochenende allein hundert Men- jedoch nach einer zivilen schen durch die Polizei getötet worden. UN-Menschen- Denkweise (Bild: Ariam rechtskommissar Zeid Ra’ad Al Hussein hat Äthiopien Alula 2014). aufgefordert, internationale Beobachter ins Land zu lassen, was dieses jedoch ablehnte. lehnt jegliche Einmischung von Aussen ab und will Was hat das alles mit Eritrea zu tun? Eritrea ist ein sich nicht von internationaler Hilfe abhängig machen. kleines Land, das seine Unabhängigkeit von Äthiopien Die Tätigkeit von NGOs wird exzessiv kontrolliert, was in einem langen bewaffneten Kampf erkämpfen muss- in der Welt der Entwicklungszusammenarbeit kaum te. Es hat immer wieder erleben müssen, dass UNO- Sympathien einbringt. Resolutionen und Entscheide von internationalen Ge- richten, die zu seinen Gunsten ausfielen, missachtet Anhaltende militaristische Mentalität wurden, und es auf sich allein gestellt blieb. So hat Diese Politik des Misstrauens und des isolationisti- Äthiopien 1961 Eritrea widerrechtlich annektiert, ohne schen Alleingangs ist auch darauf zurück zu führen, dass dies internationale Sanktionen nach sich gezogen dass der Konflikt mit Äthiopien nicht bereinigt ist und hätte. Im Befreiungskampf musste sich das Land auf Eritrea sich zu Recht weiterhin in seiner Existenz be- die eigenen Kräfte verlassen. In Afrika konnte Äthiopi- droht fühlt. Zwar hat ein internationales Schiedsge- en, das mit Addis Abeba den Sitz der Organisation der richt den Grenzdisput zwischen den beiden Ländern Afrikanischen Einheit einnahm, seine Position durch- zu Gunsten Eritreas entschieden. Eritrea bleibt jedoch setzen. Die internationale Solidaritätsbewegung hielt alleine, wenn es darum geht, Äthiopien zu zwingen, sich auch nach dem Sturz des amharischen Königtums diesen Entscheid anzuerkennen. All dies trägt nicht da- zurück, weil Äthiopien damals unter Mengistu eine so- zu bei, dass sich die militaristische Mentalität der ehe- zialistische Regierung hatte, die von der Sowjetunion maligen Befreiungsbewegung zu einer zivilen Denkwei- unterstützt wurde. Äthiopische Interessen prägen auch se wandelt, nach welcher die Zivilgesellschaft lechzt. heute noch die Wahrnehmung Eritreas auf internatio- Dieser Aspekt der Bedrohung wird in den Medien aus- naler Ebene. geblendet, wenn von Eritrea die Rede ist. Dass Eritrea durchaus Leistungen vorzuweisen hat Eine differenzierte Auseinandersetzung tut not und auf seinem Weg der autonomen Entwicklung et- Eritrea hat in Bezug auf die Respektierung der Men- was erreicht hat, geht in der Schwarz-Weiss-Zeichnung schenrechte eine schlechte Presse und es ist unbestrit- der Medien vollständig unter. Dieser einseitigen Dar- ten, dass tatsächlich Defizite bestehen in der Regie- stellung will diese Ausgabe des Afrika-Bulletins entge- rungsführung. Was fehlt ist eine differenzierte Aus- gen wirken in der Hoffnung, dass eine offenere Diskus- einandersetzung mit dem Land, den Verhältnissen und sion möglich wird. Machtstrukturen in der Region. Aufgrund ihrer Ge- Barbara Müller ist langjähriges Mitglied des Afrika-Komitees schichte hütet die eritreische Regierung unter Isaias und Koordinatorin der KEESA. Afewerki die Unabhängigkeit des Landes eifersüchtig, Kontakt: coordination@apartheid-reparations.ch.
Fakten, Bilder, Vorurteile Die Schweiz und Eritrea Mehr als 30 000 eritreische Staatsangehörige leben heute in der Schweiz. Sie sind in schweizerischen Städten und Dörfern nicht zu übersehen. Die überwiegende Zahl von ihnen hat in der Schweiz politisches Asyl erhalten, eine kleinere Zahl den fremdenpolizeilichen Status der «vorläufigen Aufnahme», welcher impliziert, dass eine Rückschiebung ins Herkunftsland vorerst nicht möglich ist. In Österreich sind erstaunlicherweise keine Eritreer gelandet. Was mag der Grund dazu sein? Von Hans-Ulrich Stauffer. Der Zustrom junger Eritreer und Eritreerinnen in Aber was treibt jemanden um, der in Eritrea war die Schweiz setzte nach 2005 ein. Ein Deserteur der und dann den Staat als «Land ohne Jugend» beschreibt, eritreischen Armee war in die Schweiz eingereist und obwohl tagsüber hunderte und gegen Abend tausende hatte Asyl beantragt. Als Fluchtgrund machte er gel- junger Menschen auf der Independence Avenue in As- 4 tend, er habe anlässlich eines Gefechts zwischen der mara flanieren? Was mag die Motivation eines Journa- eritreischen und der äthiopischen Armee während des listen sein, von Pseudospitälern zu schreiben, nur weil Krieges von 1998 – 2000 in der Nähe von Tessenei seine er in manchen Räumen Staub auf Arbeitstischen be- Einheit verlassen, sich in den Sudan durchgeschlagen, merkte? Fünf Wochen nach der Reportage über das dort seine Waffe abgegeben und Wohnsitz genommen. «Pseudospital» in Barentu wurden dort – wie ich anläss- Ein Fall von Desertion also. Jahre später brach er nach lich eines Besuchs selber sehen konnte – sogar am Europa auf. Im August 2004 ist er illegal in die Schweiz Sonntag Kranke und Verunfallte behandelt. Dass La- eingereist und hat Asyl beantragt. Erstinstanzlich wur- mellenfester Staub nicht fernhalten, aber für die Durch- de ihm dieses verweigert, wogegen er Beschwerde er- lüftung wichtig sind, hat der Reporter wohl nicht be- hob. merkt. Mit Urteil vom 20. Dezember 2005 hob die Eidge- Wie soll eine Aussage über den Sklavenstaat ohne nössische Asylrekurskommission das erstinstanzliche Jugend gewertet werden: «Man hat in der Regierung Urteil auf und entschied, dass der Deserteur Anspruch durchaus eine Vision von Entwicklung, man baut Schu- auf Asyl habe. Die Begründung: Eritrea sei bei der Be- len, Strassen, Kliniken, Dämme, Colleges, man baut an strafung von Dienstverweigerung und Desertion un- der Zukunft und scheitert an der Gegenwart» (Stefan verhältnismässig streng. Die Bestrafung sei als poli- Klein 2015)? Weshalb sollten in einem Land ohne Ju- tisch motiviert einzustufen. Personen, die begründet gend Schulen und Colleges gebaut werden? Furcht hätten, einer solchen Bestrafung ausgesetzt zu Zur Berichterstattung über Eritrea lassen sich eini- werden, seien als Flüchtlinge anzuerkennen. ge Feststellungen machen: Allen voran, dass es Eritrea während längerer Zeit Medienschaffenden nicht leicht In Windeseile verbreitete frohe Kunde machte, über das Land zu berichten. Ausländische Dieses Urteil schrieb Weltgeschichte. Die Kunde, Journalisten waren – gelinde gesagt – nicht willkom- dass alleine schon die Berufung auf Fahnenflucht ge- men. Seit 2015 ist eine gewisse Öffnung festzustellen. nügt, um in der Schweiz Asyl zu erhalten, verbreitete Medienschaffende können sich in Asmara frei bewe- sich rasch und flächendeckend. Kein Wunder, setzte in gen – nach Einholen einer Reisegenehmigung auch in der Folge ein steter Zustrom an Eritreern und Eritree- weiten Teilen des Landes. Gespräche mit Eritreern und Die Auswahl an Schlag- rinnen ein, die sich bis in die Schweiz durchschlugen, Eritreerinnen sind ohne weiteres möglich. «Hier kann zeilen ist von Artikeln in hier Asyl beantragten – und meist auch erhielten. Und ich mitten in Asmara sitzen und mein Gesprächspart- folgenden Publikationen wer kein Asyl erhielt, dem wurde der Status der «vor- ner kritisiert die Regierung und verlangt lediglich, dass übernommen: Stefan Klein, Süddeutsche läufigen Aufnahme» zuerkannt. ich seinen Namen in der Zeitung nicht erwähne. Ein Zeitung 27.10.2015; Erst Jahre später wurden die Voraussetzungen für ‹Klima der Angst›, wie es in Eritrea herrschen soll, fühlt Wendekreis 5/2015; die Gewährung von Asyl modifiziert. Fortan wurde zu- sich anders an» beendet der Journalist Eugen Sorg sei- Philipp Hedemann, NZZ am Sonntag 2.11.2014; sätzlich eine politische Gefährdung vorausgesetzt. So ne Eritrea-Reportage vom Oktober 2015 in der Weltwo- Tagesanzeiger Zürich stieg die Zugehörigkeit zur staatlich nicht zugelasse- che. 3.8.2015 und 26.10.2015; Patrik Wülser, NZZ nen Glaubensgemeinschaft der Pfingstgemeinde zum 21.8.2015. bevorzugten Zusatzargument auf. 2016 scheint sich Urteile und Vorurteile die Asylpraxis erneut etwas verschärft zu haben: Erit- Die schweizerische Regierung tut sich schwer mit reer, die nach Eritrea in «Heimaturlaub» gehen, sollen Eritrea. Im Aussenministerium herrscht nahezu Funk- weggewiesen werden. stille. Das Justizdepartement unter Bundesrätin Som- maruga, das dem Asylwesen vorsteht, hat sich jedoch Bilder der Medien weit vorgewagt: Eritrea sei ein Unrechtsstaat und eine Wer aus Eritrea ausreist, hat seine Gründe. Medien- Diktatur, weshalb keine Flüchtlinge dorthin zurückge- mässig tönt dies so: «Land ohne Jugend – Sklaverei ist schickt würden. Ganz anders lautet die Einschätzung ein starkes Wort, aber wie soll man das hier sonst nen- des Nachbarlandes Äthiopien: «Äthiopien ist ein Stabi- nen?»; «Eritrea – das ‹Nordkorea Afrikas› »; «Land des litätsanker in der Region», erklärte Frau Sommaruga. Grauens»; «Zurück ins afrikanische Nordkorea?»; «Pa- Da spielen ein paar Hundert erschossene Oppositio- ranoia und Pseudospitäler in Eritrea»; «Im Land der nelle keine Rolle. Denn: «Äthiopien ist derzeit der wich- Hoffnungslosigkeit». Die Liste der Negativschlagzeilen tigste Handelspartner in Ostafrika und eine der am liesse sich beliebig verlängern. Sie prägen die Vorstel- schnellsten wachsenden Volkswirtschaften Afrikas». So lungen von Eritrea. Und das durch sie vermittelte Bild die offizielle Verlautbarung. ist alles andere als vorteilhaft.
Schwerpunktthema 5 Eritrea: Wohin rollt die Kugel? Jugendliche in Dekemhare (Bild: Hans- Ulrich Stauffer 2016). Eritrea macht es staatlichen und privaten Organisa- Parlamentariern und anderen Würdenträgern, die Men- tionen nicht einfach, im Lande tätig zu sein. 1994 kün- schenrechtslage in Eritrea zu beurteilen, äusserte sich digte die Regierung an, dass ausländische Nichtregie- der Mediensprecher der Schweizer Flüchtlingshilfe. Und rungsorganisationen für ihre Arbeit und ihre Finanzen dies, bevor die Reisegruppe auch nur in Eritrea ange- rechenschaftspflichtig werden. Sie müssen fortan ihre kommen war. «Unfair und frech» konterte denn auch Bücher offen legen – eine nicht unverständliche Forde- eine Teilnehmerin die Kritik. Geht es um die Durchset- rung, stehen doch Entlöhnung und Lebenshaltung von zung der Deutungshoheit? Muss die während Jahren Angestellten der Hilfswerke oft in einem absurden Ver- aufgebaute offizielle Schweizer Position um jeden Preis hältnis zur Einkommenssituation der einheimischen Be- verteidigt werden? völkerung, Mitglieder der staatlichen Verwaltung und Die offizielle Schweiz liess sich von den nuancier- der Regierung eingeschlossen. Die Kosten für die Ad- ten Betrachtungen der einzelnen Politiker nicht beein- ministration dürfen maximal zehn Prozent betragen, drucken. Eigene Abklärungen hätten ergeben, dass sich darunter fallen nicht-projektbezogene Ausgaben wie in Eritrea nicht viel geändert habe. Zudem sei es nicht Saläre, Wagenpark, Unterkunft etc. Zudem darf das möglich gewesen, Gefängnisse zu besuchen. Dass Mo- eritreische Personal nicht höhere Löhne erhalten, als in nate zuvor Vertreter der UN-Menschenrechtskommis- vergleichbarer Tätigkeit in der einheimischen Wirt- sion Zugang zu Gefangenen hatten, wurde ausgeblen- schaft bezahlt werden. Falls in einem Projekt die Zehn- det. Und so bleibt vorderhand alles beim Alten: Keine Prozent-Limite überschritten wird, erachtet es die Re- verstärkten diplomatischen Kontakte, keine Wiederauf- gierung als nicht notwendig, jemanden in Asmara zu nahme der Entwicklungszusammenarbeit. Die Idee, in stationieren. Die Konsequenz: Zahlreiche NGOs und Eritrea ein Projekt für eine duale Berufsbildung zu star- staatliche Entwicklungsorganisationen zogen sich aus ten, stiess auf kein Interesse. So erstaunt es nicht, Eritrea zurück. UN-Organisationen wie auch das IKRK wenn weiterhin junge Menschen aus Eritrea nach Euro- verblieben im Lande. pa und dabei vor allem in die Schweiz strömen. Im September dieses Jahres forderten zwei Motio- Und die Schweiz? nen des Nationalrats den Bundesrat dazu auf, in Eritrea Auch die Schweiz stellte jegliche Unterstützung tätig zu werden. Zum einen soll die Schweiz ihre Bezie- ein. Heute hat sich das Blatt gewendet: Die Europäi- hungen zu Eritrea stärken, zum andern sollen in Ver- sche Union genehmigte 2015 ein 200-Millionen-Ent- bindung mit einem Rücknahmeabkommen Entwick- wicklungspaket für erneuerbare Energien und gute lungsprojekte aufgegleist werden. Darauf folgte das Regierungsführung mit dem die Fluchtursachen be- zu erwartendende bundesrätliche Lamento: Die Lage kämpft werden sollen, und europäische Akteure keh- in Eritrea sei schwierig, das IKRK habe keinen Zugang ren ins Land zurück. Die Beziehungen zwischen der zu den Gefängnissen. Aber – arbeitet die Schweiz denn Schweiz und Eritrea sind die am wenigsten entwickel- nur mit Ländern zusammen, in denen das IKRK Gefäng- ten. nisse besuchen kann? Die heute verfahrene Situation Um sich ein Bild über die Lage zu machen, besuch- bedarf neuer Strategien, und es ist zu hoffen, dass ten Anfang 2016 Susanne Hochuli, Regierungsrätin des Schritte in diese Richtung unternommen werden. Kantons Aargau, die Nationalräte Thomas Aeschi (SVP), Claude Bégle (CVP), Christian Wasserfallen (FDP) und die Nationalrätin Yvonne Feri (SP) das Land. Kaum wur- de deren Absicht bekannt, sich vor Ort im Rahmen ei- Hans-Ulrich Stauffer besuchte in den Jahren 2014 – 2016 viermal ner privaten Reise zu informieren, wurden sie als Naiv- Eritrea und führte rund 100 Gespräche. Seine Eindrücke werden im Frühjahr 2017 als Buch erscheinen. Das Newsportal onlinereports linge angeprangert, die einer Propagandaaktion auf- führte ein ausführliches Gespräch mit ihm. Kontakt: baud.stauffer@ gesessen seien. Es sei nicht Aufgabe von einzelnen bluewin.ch. Link: http://tinyurl.com/InterviewStauffer.
Eritrea nach 25 Jahren Unabhängigkeit Eine persönliche Zeitreise Im Frühsommer 2016 zur Unabhängigkeitsfeier «Lichtblicken» erzählen, die mich in diesem jungen eingeladen, bereiste Pablo Loosli Eritrea erneut. Land beeindruckten, welches ich schon vor seiner Un- abhängigkeit – in schwierigster Zeit – kennenlernte. Vor über dreissig Jahren, in der Zeit des Unab- hängigkeitskrieges, hat er dort als IKRK Dele- Menschenrechte gierter die von Dürre und Krieg bedrohte Bevöl- Aus eritreischer Sicht sind Menschenrechte auch als kollektive Rechte, wie zum Beispiel das Recht auf kerung mit Nahrungsmitteln versorgt. Nach der eine eigene Nation oder das Recht auf Nahrungsmittel- Unabhängigkeit war er im Redaktionsteam für sicherheit zu verstehen. Die Agenda der UNO, die die die erste nationale Landkarte, die 1995 fertigge- angebliche Verletzung von individuellen Menschen- rechten hochspielt, erscheint so betrachtet einseitig. stellt und in Bern gedruckt wurde. In den Jahren So werden im neuesten Bericht der UNO die sozialen 6 2000 und 2001 initiierte er Feldversuche zur För- Grundrechte nicht erwähnt. derung der Tropfenbewässerung. Seit 2011 ist er Niemand soll hungern müssen Präsident der Aktion Lichtblick, einer Stiftung zur Aussenminister Osman Saleh hat vermutlich gera- Förderung der Ophthalmologie in Eritrea. de diese Errungenschaft im Fokus, wenn er – wie sinn- gemäss schon Brecht – sagt «Ernährungssicherheit kommt vor der Moral». 1985 war das anders. Die länd- Über einen Zeitraum von dreissig Jahren durfte ich liche Bevölkerung überlebte damals dank der grossen immer wieder Entwicklungsschritte dieses kleinen Lan- Nahrungsmittelhilfe des IKRK. Mehrere hunderttau- des feststellen. Ein Land, das von unseren Medien nach send Personen erhielten auf monatlicher Basis Überle- der Unabhängigkeit geradezu hochgejubelt (NZZ, Wink- bensrationen. Tausende von Kindern konnten nur noch ler 1993), später aber, auch mit dem neusten UNO-Be- mit Spezialernährung aufgepäppelt und so vor dem richt, als Nordkorea Afrikas diffamiert wurde. Auch Hungertod bewahrt werden. von der internationalen Gemeinschaft wird Eritrea im- mer wieder masslos diskreditiert. So werden beispiels- Bildung, Landwirtschaft, Wasserversorgung weise UN-Sanktionen aufrechterhalten, obwohl es kei- In den achtziger Jahren haben Berner Geografen ne Evidenz dafür gibt, dass in Eritrea Shabab-Milizen nördlich von Asmara die Forschungsstation Afdeyu ausgebildet wurden, wie dies die USA behaupten. aufgebaut. Dort werden täglich präzise Klimadaten aufgezeichnet, seit einigen Jahren teilweise automati- Eine schwere Dividende siert. Diese Daten sind eine wichtige Grundlage zur Der Angriffskrieg Äthiopiens 1998 – 2000 und der Erarbeitung von Projekten in den Bereichen Wasserver- seither blockierte Friedensprozess haben das Land in sorgung und Erosionsschutz. Die Wasserversorgung seiner Entwicklung massgeblich zurückgeworfen. Die der schnell gewachsenen Hauptstadt Asmara ist gesi- UNO verhält sich bezüglich der Durchsetzung der aus- chert. gehandelten Grenze gegenüber Äthiopien passiv. Der neueste, letztes Jahr fertiggestellte Staudamm In den Jahren 2014 und 2015 sind über 15 000 vorab ist derjenige von Gergera, 40 Kilometer südlich der junge Eritreer als Asylsuchende in der Schweiz ange- Hauptstadt. Er speichert 500 Millionen Kubikmeter Was- kommen. Der ungelöste Grenzkonflikt, von Äthiopien ser im obersten Einzugsgebiet des Mereb. Nahrungs- besetzte Gebiete und geostrategische Interessen füh- mittelsicherheit und damit soziale Sicherheit sind für ren dazu, dass die Entmilitarisierung des auf der mili- Präsident Isaias Afewerki eine Toppriorität. Bis zu drei- tärischen Zermürbung des vormaligen Besetzers beru- mal jährlich können in Zukunft in dieser Region ange- henden Staates nur langsam vor sich geht. Als ehe- pflanzt werden. Der neu erbaute Staudamm maliger Delegierter des IKRK und als Präsident der von Gergera sichert die Ver- Stiftung Aktion Lichtblick will ich hier vorab von den Landwirtschaftsausbildung in Hamelmalo sorgung der schnell wach- senden Hauptstadt Asmara Am College von Hamelmalo werden acht verschie- (Bild: Pablo Loosli 2016). dene Ausbildungsgänge für rund 300 Studierende an- geboten. Die landwirtschaftliche Entwicklung hat auf der politischen Agenda der eritreischen Führung eine hohe Priorität. In einem heissen und trockenen Land wie Eritrea, mit wenigen aber heftigen Niederschlägen, geht es darum, durch Aufforstung und Stauseen die Landwirtschaft gerade in Zeiten des Klimawandels zu sichern. Dazu braucht es ausgebildete Fachleute. Solidarität mit den Kriegsversehrten Die mehreren zehntausend Kriegsversehrten der letzten Kriege und ihre Familien werden von einer pa- rastaatlichen Organisation (Eritrean National Disabled War Veteran Association) unterstützt. Diese Organisa- tion hat unter vielem anderen auch eine Brillenwerk- statt aufgebaut. Aktion Lichtblick beteiligt sich am
Kauf von Linsenrohlingen, früher aus China und jetzt in besserer Qualität aus Indien. In erster Linie sind die Brillen für Kriegsversehrte gedacht. Mit dem Verkauf an die Zivilbevölkerung kann die Organisation eine Marktlücke füllen und dabei Einkommen generieren. Ein guter Nebeneffekt sind die neuen Arbeitsplätze für jungen Optometristen und Optometristinnen, die seit kurzer Zeit am Eritrean Institute for Technology in Adi Nefi ausgebildet werden. Auch die Zusammenarbeit der Kriegsversehrten mit Velafrica (Bern) darf erwähnt wer- In der Augenklinik von den. Der Vertrieb gebrauchter Velos aus der Schweiz Barentu assistiert Alazar bringt dieser Organisation ein willkommenes Einkom- den beiden Ophthamo- logen Jonas und Zacha- men. grundlegender Schritt. Für die weitere Umsetzung sind rias. Die 1996 von der Projekte in Vorbereitung. Es braucht mehr ausgebil- Aktion Lichtblick eröff- Augenklinik Barentu dete Richterinnen, es braucht mehr Rechtsanwälte, nete Augenklinik wurde dem Gesundheitsmini- Jonas, ein Ophthalmologe und ehemaliger Freiheits- Staatsanwälte. Und Recht soll baldmöglichst als Schul- sterium übergeben (Bild: kämpfer, und Zacharias operieren gleichzeitig und wer- fach für alle eingeführt werden. Pablo Loosli 2016). den von Alazar assistiert. Das insgesamt zwanzigköp- fige Team, Frauen (sie dürfen die Kleinkinder mit zur Frauenarbeit als nationales Projekt Arbeit nehmen!) und Männer (einige im Rahmen des In allen Regionen entstehen Frauenzentren. Anfang Nationaldienstes), arbeitet gut zusammen. Barentu hat Juni durfte ich das neue Frauenzentrum in Mendefera sich seit 1985 stark verändert. Wo im Krieg ein einziges besuchen. Die Poster in tigrinischer Sprache, die ich im Hotel stand, gibt es heute über ein Dutzend; in der grossen Konferenzsaal vorfinde, sind aufschlussreich: Stadt gibt es staatliche, kirchliche und auch private «Wir kämpfen für Gerechtigkeit und Demokratie»; «Wir Kindergärten etc. Die Reise von Asmara nach Barentu kämpfen gegen die Beschneidung von Mädchen»; «Wir war vormals in einem Tag nicht zu schaffen – nun lässt kämpfen gegen Kinderhochzeiten (Mädchen unter acht- sich Barentu bequem in vier Stunden Autofahrt errei- zehn Jahren)». Beispiele, die zeigen, dass Eritrea vor chen. Zu den Patienten der Augenklinik gehören auch allem Unterstützung und Zeit braucht, um diese The- Häftlinge der örtlichen Gefängnisse. Durchschnittlich men weiter zu bearbeiten. Jedenfalls Lichtblicke! 30 Häftlinge werden pro Woche in die Klinik zur Unter- suchung gebracht. Das ist kein Beweis, dass es keine Einende Unabhängigkeit Ungereimtheiten gäbe, aber ein Hinweis darauf, dass Tausende von Eritreern und Eritreerinnen der Dias- die medizinische Versorgung funktioniert. pora sind zu den Feierlichkeiten der 25-Jahrfeier nach Hause gekommen. Nicht alle sind glücklich mit der Besuch der Blindenschule Regierung, aber alle stehen ein für ein unabhängiges Direktor Tezare erklärt mir bei meinem Besuch sei- Eritrea. Da herrscht meiner Meinung nach breiter Kon- nen Ansatz. Blinde Kinder können in der Abrahta Bahta sens. Schule mit der Brailleschrift innert acht bis zwölf Mona- Die Diaspora spielt eine wichtige Rolle. Die Gelder, ten lesen und schreiben lernen. Danach werden sie die durch private Haushalte zurückgeschickt werden zurück in ihre Familien geschickt, um sich mit ihrem sind beträchtlich. Ich verstehe die jungen Eritreer, die Handicap in der Gesellschaft zu integrieren. Die Schule mit dem Kriegs- respektive Nationaldienst auf unbe- hat zweckmässiges, ganz auf den Tastsinn ausgerich- stimmte Zeit nicht glücklich sind. Das dürfte sich (hof- tetes Lehrmaterial. Dreidimensionale Poster, Karten, fentlich) bald ändern. Ich verstehe auch, dass sie für geometrische Figuren etc. Direktor Tesare erzählt von ihre Dienstzeit eine bessere Entschädigung möchten. vielen erfolgreichen Integrationen. Drei blinde Juristen Doch Flucht und Asylantrag sind keine guten Lösun- dienen ihrem Land heute als Richter. Ausbildungs- und gen. Übrigens entwickeln auch junge Eritreer ein politi- Finanzministerium kommen für Basisschulmaterial und sches Bewusstsein, respektive getrauen sich, sich zu Lebenskosten der Kinder auf. Braille-Papier ist jedoch äussern. Heute diskutiert man in Asmara doch häufi- teuer und deshalb Mangelware. Auch ein Braille-Dru- ger Angelegenheiten, über die man bis vor kurzem cker wäre dringend nötig, da der einzige Drucker im lieber nicht reden wollte. Land seit geraumer Zeit am Ende seiner Lebensdauer Nach den Ottomanen, den Ägyptern, den Italie- angekommen ist. Aktion Lichtblick hat einen neuen nern, den Briten, der Annektierung durch Kaiser Haile Drucker bestellt. Einer der Leitsätze der Abrahta Bahta Selassie und nach den Amerikanern – eine eigene Iden- Blindenschule: «Vision, not sight, is the providence of tität zu haben ist allen wichtig. Menschenrechte sind hope.» wichtig. Das Recht auf Unabhängigkeit, für das Eritrea jahrzehntelang gekämpft hat, bleibt es auch. Ein neues Zivilgesetzbuch Die Justizministerin erzählt mir nicht ohne Stolz von ihren Gesetzgebungsprojekten. In jahrelanger Ar- beit und vielen Diskussionen wurde traditionelles Recht, Kolonialrecht aus äthiopischer und italienischer Zeit Pablo Loosli hat als ehemaliger IKRK-Delegierter und Mitarbeiter der Caritas über 30 Jahre enge Beziehungen mit Eritrea gehalten – gesammelt, gesichtet, bewertet. Seit einem Jahr hat auch während seiner Tätigkeit als Direktor der Justizvollzuganstalt Eritrea ein umfassendes Zivilgesetzbuch. Das war ein Solothurn. Kontakt: paul.loosli@quickline.ch.
Da gehen uns viele verloren … Ein Gespräch mit Fana Asefaw Fana Asefaw ist promovierte Kinderpsychiaterin eritreischer Herkunft. Ihre Eltern flohen in den 1980er Jahren vor der äthiopischen Repression der eritreischen Unabhängigkeitsbewegung und fanden in Deutschland Asyl. 2005 kam sie in die Schweiz, um im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst in Zürich zu arbeiten. In der Überzeugung, dass die Perspektiven der Bevölkerung in Eritrea selber verbes- sert werden müssen, wurde sie bald Mitglied des Schweizerischen Unterstützungskomitees für Eritrea (SUKE). Wie dieses lehnt sie den gegenwärtigen Exodus aus Eritrea in die Schweiz als einen tragischen Irrtum ab, der viele junge Patienten in ihre Sprechstunde bringt und diesen oft sehr teuer zu stehen kommt. Susy Greuter sprach mit Fana Asefaw zwischen zwei Konsultationen. Susy Greuter: Frau Asefaw, Sie sind in Deutschland eine Sprechstunde zu Migration und Trauma an. Da aufgewachsen, sind also selber kein Flüchtling – seit kommen sehr viele Eritreer und Eritreerinnen aus der wann befassen Sie sich mit Flüchtlingen hier in der ganzen deutschsprachigen Schweiz: Ich bin offensicht- Schweiz? lich die einzige Psychiaterin, die Tigrinia spricht. Es Fana Asefaw: Damals sind wir vor Krieg und Verfol- gibt ganz viele Anfragen: Ganze Familien sind destabi- gung geflüchtet. Heute bin ich freiwillig in der Schweiz, lisiert, viele Jugendliche sind völlig überfordert. Viele weil ich hier gerne arbeite und lebe. Seit ich bei beim werden von Flüchtlingsheimen direkt angemeldet: «Hier Schweizerischen Unterstützungskomitee für Eritrea ist jemand, der dekompensiert, jemand, der herum- (SUKE) bin, also seit 2006, haben wir die Themen Mig- schreit». Auch von Schulen werden mir Kinder zuge- ration und Flucht in unsere Agenda aufgenommen, wiesen, weil sie aufgrund von Verhaltensstörungen und ich habe im Sinne von Präventionsarbeit begon- dort nicht mehr tragbar sind. Es ist vor allem ein gesell- nen, Vorträge darüber zu halten, wie traumatisierte schaftspolitisches, kein rein psychiatrisches Problem: Flüchtlinge stabilisiert werden können. Ich befasse Viele Patienten hausen unter sehr schlechten Bedin- mich also einerseits im Rahmen meiner Arbeit als Kin- gungen, in grossen unterirdisch Hallen mit Kajütenbet- derpsychiaterin und andererseits im SUKE damit, sinn- ten zusammengepfercht. Einige unbegleitete Minder- volle Strategien für die Flüchtlingsarbeit zu entwickeln. jährige sind mit Erwachsenen untergebracht. Das pas- Vor allem baut SUKE in Eritrea Projekte auf, die siert sogar Mädchen! Die Psychiaterin Fana Asefaw ist Oberärztin bei der Privat- auch für die Jungen mehr Perspektiven bieten: Man klinik Clienia und eine ge- muss die jungen Leute davon abbringen, in Europa ihr Susy Greuter: Hängt das von den Kantonen oder fragte Vermittlerin im Asyl- bereich (Bild: Daniel Kellen- Paradies zu sehen, weil es sie viel zu viel kostet. Ich bin Gemeinden ab? berger 2014). noch mit anderen Organisationen wie dem National Fana Asefaw: Das soll offenbar noch zunehmen Coalition Building Insitute NCBI Schweiz vernetzt – dies und hat Abschreckungscharakter, der teilweise gewollt auch über das Thema Beschneidung, eines meiner Spe- ist. Es wirkt wie eine Strategie: Diese Jugendlichen zialgebiete. kommen mit sehr viel Hoffnung auf ein menschenwür- diges Leben, und dann sind sie hier in der Schweiz in Susy Greuter: Die Beschneidung wurde vielfach als der bürokratischen Warteschlange gefangen und ver- Konfliktpotential im Umgang mit somalischen und eri- lieren jede Perspektive. Für junge Menschen mit so viel treischen Flüchtlingen hochgespielt. Energie ist das schlimm, sie werden moralisch gebro- Fana Asefaw: Meine Expertise dazu beruht auf mei- chen. ner Dissertation über dieses Thema. So konnte SUKE das Thema als Präventionsarbeit für die eritreische Susy Greuter: In Ihrem Interview in der NZZ vom Diaspora entwickeln und weniger aufgrund schon be- 10. Juni 2015 wurde wiedergegeben, dass Sie die Flucht- stehender Konflikte. Dort wird oft ein einzelnes Vor- erlebnisse als Ursache der Traumatisierung vieler Min- kommnis zum Regelfall gemacht und medienmässig derjähriger sehen. Es gibt also auch Ursachen hier in hochgepeitscht, um dann Zwangsmassnahmen zu er- der Schweiz? greifen. Es gibt in der Schweiz Fälle, in denen Zwangs- Fana Asefaw: Die post-migratorischen Stressfakto- untersuchungen – also dass Mädchen jedes Jahr durch ren sind bei vielen von mir behandelten unbegleiteten einen Gynäkologen untersucht werden – gefordert Minderjährigen stärker ausgeprägt. Auf der Flucht ist wurden. Das wird oft reisserisch abgehandelt! Das ist alles in Bewegung und die Jugendlichen können die nicht zielführend, weil diese Massnahme die Frauen Strapazen einordnen: Sie wissen, dass sie hungern und abwertet und rassistisch ist: Auch in der Schweiz gibt Durst leiden werden. Sie wissen, was sie erwartet. Es es schädliche Einflüsse auf junge Frauen wie z.B. der gibt keine Diskrepanz, es gilt: «Wir müssen überle- Schlankheitswahn, der zur Magersucht führen kann. ben!» Dass sie hingegen hier so viel Stress erwartet, Ich halte jetzt auch Vorträge z.B. im Auftrag von Cari- auf das sind sie nicht vorbereitet, und das überwältigt tas. Wir mobilisieren Frauen für eine Weiterbildung – sie dann. Sie denken: «Ich habe das Paradies erreicht, dazu habe ich auch ein Sachbuch geschrieben. hier sind sie nett zu uns», und all das trifft nicht ein. Sie werden mit Skepsis empfangen und erfahren Ausgren- Susy Greuter: Jetzt sind wir bei den Frauen gelan- zung und non-verbale Ablehnung. Oft erhalten sie nur det, aber Sie leisten auch einen allgemeinen Beistand? ein vorläufiges Bleiberecht. Dies tut man jetzt und hier Fana Asefaw: Im Ambulatorium der Klinik Clienia den Flüchtlingen an – ausgerechnet den Minderjähri- Krisenintervention Schweiz AG in Winterthur biete ich gen. Das ist eine Menschenrechtsfrage.
Susy Greuter: Sie meinen, dass Störungen im We- Fana Asefaw: Das weiss ich nicht, aber viele lebten sentlichen hier entwickelt werden? schon jahrelang unter kriegsähnlichen Bedingungen. Fana Asefaw: Leute, die bereits psychische Störun- Weil ihre Väter in die Armee rekrutiert wurden, waren Schwerpunktthema gen hatten, schaffen die Flucht gar nicht. Nur jene, die ihre Mütter überfordert. Sie hatten nicht die nötige in einem guten psychischen und physischen Zustand Ruhe und Sicherheit, um Bildung zu geniessen. sind, bewältigen die Herausforderungen und überwin- den alle Hürden. Aber die vorläufige Aufnahme, die Susy Greuter: Was bringen die Integrationsmass- vielen gewährt wird (F-Status), heisst für sie: «Es dauert nahmen, die vom Bund unterstützt werden? noch viele Jahre, bis ich einen richtigen Status erhalte.» Fana Asefaw: Es kann sein, dass jemand bestens Wenn Sie einen Patienten trauma-therapeutisch behan- klarkommt mit dieser Unterstützung, weil er bestimm- deln wollen, muss er sich sicher fühlen können. Und te Voraussetzungen mitbringt: Bildung, Gesundheit viele meiner Patienten sagen: «Aber ich habe keine Si- und so weiter. Nicht alle sind bildungsfern aufgewach- 9 cherheit, ich habe jeden Morgen Angst, dass die Polizei sen, aber mit 16 kann man noch nicht sehr gebildet klopft und mich mitnimmt.» Das wirkt sehr trauma- sein. Wenn man aber fragt, wie die Jugendlichen im tisierend und bedeutet ganz viel Stress, ganz viel Durchschnitt profitieren von diesen Strukturen – es Schmerz, mit dem sie nicht gerechnet haben. Es gibt sind ja vor allem Deutschkurse – lässt sich feststellen, viele Suizide – jemand kommt hier an und schmeisst dass die wenigsten profitieren. Das sind nicht unbe- sich unter den Zug. Letzte Woche hat sich ein 18-jähri- dingt Jugendliche, die in ihrer Heimat theoretisches ger Eritreer in einem Durchgangsheim erhängt! Keiner Lernen erfahren haben, insbesondere nicht die Mäd- konnte ihn schützen. Das passt nicht zu ihrem Welt- chen. Doch hier wird erwartet, dass sie sofort wie hie- bild, aber im Affekt dieser Verlorenheit kommt es sig Jugendliche funktionieren. Sie aber funktionieren dazu. Manche sagen, hätte man ihnen schon auf dem eher im Praktischen. Sie wünschen sich, eine Beschäfti- Weg erklärt, wie perspektivlos ihre Situation hier in der gung als Mechaniker oder in der Kinderbetreuung, im Schweiz sein werde, dann hätten sie ihr Geld nicht den Krankenhaus oder im Haushalt zu erlangen, und dort Menschenhändlern gegeben, sondern sich auf den die Motivation für das Lernen der Sprache zu bekom- Rückweg gemacht und das Geld, das sie gesammelt men. haben, nach Hause zurück gebracht. Susy Greuter: Gibt es in der Schweiz Zusammen- Susy Greuter: Warum wollen sie trotzdem nicht schlüsse von Eritreern? zurückkehren? Haben sie einen Auftrag der Familie zu Fana Asefaw: Die gibt es, mit unterschiedlichsten erfüllen? Grundlagen: Religiöse Netzwerke wie die Zeugen Jeho- Fana Asefaw: Rückkehr bedeutet einen Gesichts- vas und die Pfingstgemeinden. Aber es gibt auch poli- verlust: man hat es nicht geschafft! Ich hab von dem tisch sehr aktive: gegen die Regierung oder für die Re- Verdacht gehört, dass sie im Familienauftrag losgehen gierung. Vielleicht ist es ein Versuch, seine Identität zu würden, aber ich habe das noch nie angetroffen. Die bewahren, aber es ist reiner Zeitvertreib. Ich halte gar Familien wollen dem Kind eine bessere Zukunft geben, nichts davon, weil diese Aktivitäten meist zu Lasten bessere Chancen, aber ein Auftrag ist das nicht. Bei der Kinder gehen. Wichtig ist, dass man hier seiner den Eritreern ist es eher der Fall, dass Bekannte die Verantwortung gerecht wird und seine Integration an- Kinder für viel Geld mit ins Ausland nehmen, wenn die gehen kann. Eltern selber die Möglichkeit nicht haben, damit die Kinder in Europa Perspektiven bekommen. Susy Greuter: Behindert dies das Konzept von so genannten «Schlüsselpersonen», also länger hier le- Susy Greuter: Kommen die jetzigen Asylsuchen- benden, integrierten Eritreern, die für eine Brücken- den mehrheitlich aus den Städten oder vom Land? funktion ausgebildet und eingesetzt werden? Gibt es Fana Asefaw: Viele kommen aus den Grenzgebie- Feindschaften untereinander? ten zum Sudan oder zu Äthiopien – hier ist die Verlo- Fana Asefaw: Teilweise schon – aber dies wird in ckung grösser, die Grenze zu überschreiten. Vielleicht den Medien akzentuiert dargestellt. Das negative Bild haben sie aus den sozialen Medien gehört, dass die von Eritrea wird kultiviert, auch in den Ämtern. Einige Schweiz ein Land ist, wo sozusagen Milch und Honig die sich im Amt für Migration in Bern als Dolmetscher fliessen und man schnell die Anerkennung erhält. Das beworben haben, berichteten mir, sie seien ziemlich ist auch der Grund, weshalb sie hier her kommen: Sie am Anfang gefragt worden, ob sie Gegner oder Befür- wollen sicher sein und arbeiten. Ich habe eigentlich nie worter des Regimes seien. Es würden eher Gegner des jemanden kennen gelernt, der gekommen ist, um von Regimes eingestellt. Dies finde ich nicht sinnvoll. Da- der Sozialhilfe und dem Staat zu leben. Sie kennen so mit müssen wir aufhören – um der Sache willen müssen etwas wie ein Sozialwesen gar nicht, ausser beim Mili- die Menschenrechte im Vordergrund stehen. Susy Greuter ist Sozialanthro- tär. Dort war für alles gesorgt, immerhin! Aber sie pologin mit langjähriger Afrikaerfahrung und Mitglied mussten schon mit 16 Jahren unter einem strengen Susy Greuter: Frau Asefaw, ich danke Ihnen sehr des Afrika Komitees. Kontakt: Regime funktionieren: sie waren sicher – doch um nicht für Ihre Auskünfte! susy.greuter@sunrise.ch. in diesen strengen Dienst zu müssen, sind sie geflo- hen. Susy Greuter: Ist die Dienstpflicht in Frontnähe strenger?
Von Korsika nach Eritrea Die Geschichte der Self-Reliance Die Idee der Self-Reliance, also der wirtschaftli- Abkopplung vom Weltmarkt zur Förderung der chen und politischen Eigenständigkeit, wird heu- nationalen Entwicklung Die politischen Werke Fichtes fanden zu seiner Zeit te fast nur noch mit der Entwicklung in Eritrea wenig Beachtung. Während die dominierende ökono- verbunden. Doch diese Idee ist keine eritreische mische Theorie des 19. Jahrhunderts unter dem Ein- Erfindung, im Gegenteil: ihre Wurzeln reichen fluss der englischen Ökonomen den Freihandel favori- sierte, hat sich der deutsche Ökonom Friedrich List im weit zurück. Hans Furrer zeichnet die Entwick- Interesse der damaligen Peripherie (USA und Deutsch- lung der Idee von der Aufklärung über den Anti- land) den vorherrschenden Theorien entgegengestellt. kolonialismus bis in die jüngste Zeit nach. 1827 begründete er die Notwendigkeit eines zeitweili- gen Schutzzolles für die nach Unabhängigkeit streben- de amerikanische Industrie. Er entwickelte ein Protek- 10 Eine der wichtigsten Quellen zur Self-Reliance ist tionssystem, das den Übergang Amerikas von einer das Werk Jean-Jaques Rousseaus. In seinem ganzen agrarischen zur industriellen Produktion ermöglichen Werk ist Rousseau von selbstversorgenden und selbst- sollte. Nur durch eine zeitweise und beschränkte Ab- bestimmten Individuen ausgegangen. Indem er die ur- kopplung vom Weltmarkt sei der Aufbau einer ameri- sprünglichen Wurzeln des Menschen und der Gesell- kanischen Industrie gegen die diesen Weltmarkt domi- schaft idealisierte, entwickelte er drei Elemente, die nierende englische Industrie möglich. In einer Preis- dieses Individuum und die zu ihm passende Gesell- schrift für die französische Akademie hat er 1837 sein schaft konstituierten: «Système naturel de l’économie politique» entwickelt. – der autarke Bauer oder Handwerker, der nur für Darin geht er insbesondere auf die Beziehungen zwi- seine Familie produziert und schen der landwirtschaftlichen und der industriellen – der ohne Geld Produktion ein. Er zeigt dabei eine industrielle Ent- – fern vom verderbenden Einfluss der Städte auf wicklung auf, die sich auf den Fortschritt in der Land- dem Land lebte. wirtschaft zu stützen hat. Lists Theorie geriet in der fortschrittlichen Bewe- Ein visionärer Verfassungsentwurf für Korsika gung des 19. und 20. Jahrhunderts bald in Vergessen- Als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in heit und wurde, wie wir noch sehen werden, erst wie- Korsika die Unabhängigkeitsbewegung unter Pascal der von jungen Ökonomen aus der Dritten Welt, die an Paoli die Unabhängigkeit von Genua erlangte, schrieb der Sorbonne in Paris studierten, neu entdeckt und dieser an Rousseau, ob er ihm nicht eine Verfassung aufgenommen. ausarbeiten könne. Rousseau sah in Korsika einen der letzten Flecken in Europa, wo die Gesellschaft noch in Self-Reliance als Instrument auf dem Weg zur einem weitgehend natürlichen, agrarisch geprägten Unabhängigkeit Zustand lebe, also unverdorben und noch zu autono- Der Gedanke einer unabhängigen Entwicklung der mer Gesetzgebung fähig sei. Die Entwicklung müsse Länder der Dritten Welt erhielt von einer ganz anderen autark geschehen und der Aussenhandel auf ein Mini- Seite neuen Auftrieb. Im Kampf gegen die englische mum beschränkt und von der Regierung kontrolliert Kolonialmacht entwickelte Mahatma Gandhi in Indien werden. So legte er dies 1768 in seinem Entwurf zu ei- ein wirtschaftliches Konzept, das viele Gedanken Rous- ner Verfassung fest, der aber nie umgesetzt wurde. seaus wieder aufnahm und für die Situation des Befrei- Rousseau bleibt aber bis heute interessant für die Idee ungskampfes adaptierte. der Self-Reliance, denn er nimmt viele Gedanken vor- Für Gandhi bestand die ökonomische Theorie in weg, welche Mitte des 20. Jahrhunderts von Ökono- erster Linie aus einer ethischen Grundhaltung und men aus der Dritten Welt entwickelt wurden. setzte daher beim Individuum an. Sein Konzept der Aber schon kurz nach Rousseau betonte der deut- Self-Reliance basierte auf Selbsthilfe und «Self-Suffi- sche Philosoph Johann Gottlieb Fichte in seinem 1800 ciency», und im Zentrum standen die Bedürfnisse des erschienenen Werk «Der geschlossene Handelsstaat» einzelnen Individuums, sowohl hinsichtlich Konsum die Wichtigkeit der Abschottung und des Verunmögli- wie auch Produktion. Das heisst, es ging ihm nicht ein- chens des Aussenhandels. Der Staat habe von einer fach darum, die Konsumbedürfnisse der Massen zu Rangordnung der Zwecke auszugehen und zudem zu befriedigen, sondern ebenso wichtig war es ihm, den versuchen, die Importe allmählich durch Landespro- Bedürfnissen nach produktiver Tätigkeit nachzukom- dukte zu substituieren. Dazu schlägt er vor, die vor- men. handenen Ressourcen des Landes neu zu prospektie- Gandhi war sich im Klaren darüber, dass eine sol- ren und neue Rohstoffe und Verfahren zu entwickeln. che, nicht in erster Linie auf Effizienz ausgerichtete Als konkretes Beispiel führt er die Substituierung der Gesellschaft nur in einem unabhängigen Land errichtet Baumwolle durch einheimische Pflanzen- oder Tierfa- werden konnte. Darum war für ihn «Swaraj» (politische sern an. Produkte, die aus klimatischen oder andern Unabhängigkeit) stets mit «Swadesh» (ausschliessli- Gründen nicht substituiert werden können, dürften cher Konsum von einheimischen Produkten) verknüpft. unter der Aussenhandelskontrolle der Regierung wei- Konkreter Ausdruck dieser Strategie war es, entgegen ter eingeführt werden, aber nur soweit, als einheimi- den englischen Kolonialgesetzen, die indische Baum- sche Produkte dafür ausgeführt werden. Auch hier sei wolle selbst zu verarbeiten. So wollte er das Spinnrad eine genaue Bedürfnisabklärung und eine «Rangord- wieder in jedem Haus einführen und organisierte gleich- nung der Zwecke» zu beachten. zeitig einen Boykott ausländischer Stoffe. Kurzfristig
führte diese Strategie in Indien denn auch zum Erfolg – Ablehnung des «verderbten» Luxuslebens in den und die englische Kolonialmacht musste sich aus Indi- Städten en zurückziehen. In der Folge gelang es jedoch nicht – Bergbau und Handwerk als Zuliefersektoren für Schwerpunktthema das Erreichte zu konsolidieren und Indien geriet erneut landwirtschaftliche Produktion in wirtschaftliche Abhängigkeit. – Weitgehende, zeitlich beschränkte Abkoppelung Eher anekdotisch war die Dschutsche-Bewegung in vom externen Markt Korea, die beispielsweise jede Fabrik, die im Besitze – Kontrolle des verbleibenden Aussenhandels durch einer Drehbank war, verpflichtete, diese auseinander- den Staat zunehmen, Pläne davon zu zeichnen und eine Kopie – zumindest zeitweise Unbedeutsamkeit des Gel- der Maschine herzustellen. Es wäre zwar einfacher ge- des wesen eine neue Maschine aus der Sowjetunion zu im- Diese Prinzipien standen denn auch hinter den bei- portieren, doch sollte dadurch die Eigenständigkeit den Versuchen in Afrika eine eigenständige Entwick- 11 Koreas und zudem das Bewusstsein der Arbeiter ge- lung anzustreben, der Kujitegemea-Bewegung in Tan- stärkt werden. zania und dem erfolgreichen Versuch, im eritreischen Unabhängigkeitskampf eine von den beiden Super- Rezeption durch die jungen Ökonomen aus der mächten unabhängige Entwicklung voranzutreiben. Dritten Welt All diese Erfahrungen wurden in den Fünfzigerjah- Umsetzung des Gedankens in Afrika ren von einigen Ökonomiestudenten aus der Dritten In Tanzania wurde die anfänglich erfolgreiche Be- Welt erkannt, die sich an der Sorbonne zu autonomen wegung durch den Krieg mit Uganda, die damit zusam- Seminaren zusammenfanden, in welchen sie die chine- menhängende Isolierung innerhalb der Organisation sischen, koreanischen, indischen und andere Erfahrun- für Afrikanische Einheit (OAU) und die zunehmende gen vor dem Hintergrund von Lists Theorie reflektier- Abhängigkeit von der Weltbank abgeblockt. Nach Aus- ten. Aus diesen Seminaren sind vor allem zwei be- sagen eines deutschen Soziologen, der seit längerer kannte Ökonomen hervorgegangen, Samir Amin und Zeit in Tanzania arbeitet, hat sich die Lohnschere in Khieu Samphan. Tanzania seit der Intervention der Weltbank um mehr In seiner Dissertation griff Khieu Samphan explizit als das zwanzigfache vergrössert, von etwa 1:3 auf auf die Theorien von Friedrich List zurück und zeigte 1:70. Der Gedanke der Self-Reliance ist heute quasi auf, wie sich sowohl Deutschland als auch die USA vergessen. durch vorübergehende Abschliessung vom Weltmarkt Die eritreische Regierung hatte nach dem Sieg im rasant entwickelten. Interessanterweise verwies er da- Befreiungskampf die einmalige Möglichkeit, das im bei auch auf die Schweiz, die den bedeutendsten wirt- Programm der Befreiungsbewegung von 1982 prokla- schaftlichen und technologischen Schub ihrer Ge- mierte Konzept der Self-Reliance umzusetzen. Die wirt- schichte während der durch die Kontinentalsperre schaftlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen, die erzwungenen Abkoppelung durchlaufen hat. Noch wich- während des Unabhängigkeitskrieges in den befreiten tiger war für ihn aber der Fakt, dass die einzige Perio- Gebieten gemacht worden waren, wurden nach der de, in denen in den Ländern der Dritten Welt eine ge- Unabhängigkeit 1993 umgesetzt. Durch eine klar auf wisse Industrialisierung vollzogen wurde, die Phase die innere Entwicklung ausgerichtete Politik wurde der während der beiden Weltkriege war, während der we- Aufbau im Gesundheits- und Bildungswesen vorange- gen des Krieges kein ausländisches Kapital mehr in die trieben und damit beachtliche Erfolge erzielt. So hat Länder floss. Eritrea als einziges Land Afrikas mehrere Milleniums- Dem ägyptischen Wirtschaftswissenschafter Samir ziele der WHO erreicht. Dank einer auf die Bedürfnisse Amin ging es in seiner Analyse der Situation in Afrika der Bevölkerung ausgerichteten Landwirtschaftspoli- darum, aufzuzeigen, wie während der Kolonisation – tik ist heute die Ernährungslage in Eritrea gesichert. und der Neokolonisation nach Erlangung der Unabhän- Auch herrscht heute in Eritrea – ganz im Gegensatz zu gigkeit – der innere Markt zerstört wurde. Auch für ihn Äthiopien – trotz der Dürre in den letzten zwei Jahren ist wirtschaftlicher Aufschwung nur durch eine auto- keine Hungersnot. Der Abbau der gewaltigen Boden- zentrierte Entwicklung und vorübergehende wirtschaft- schätze Eritreas wird durch faire Abkommen mit aus- liche Abkoppelung möglich. ländischen Partnern ermöglicht. Der Gedanke der autozentrierten Entwicklung wur- Diese Entwicklung wurde jedoch durch den Grenz- de in den Sechzigerjahren auch durch die Forscher- krieg mit Äthiopien (1998 – 2000) um Jahre zurückge- gruppe um Dieter Senghaas aufgenommen und in ver- worfen, und da Äthiopien bis heute die vom internatio- schiedenen Detailstudien differenziert. nalen Gerichtshof bestimmten Grenzen nicht anerkennt und Eritrea immer wieder angreift (zuletzt im Juni Bedeutung im Kontext der Globalisierung 2016), sind grosse Kräfte der eritreischen Armee an der So verschieden die zitierten Quellen bezüglich ih- Grenze gebunden. Hans Furrer ist seit den 1970er Jahren im Schweize- rer theoretischen und praktischen Hintergründe auch Wie sich die wirtschaftliche und soziale Lage seit rischen Unterstützungs- sind, zeigen sie einige Konstanten einer Politik der Self- Anfang dieses Jahrtausends entwickelt hat und wie die komitee für Eritrea (SUKE) Reliance auf, die in der heutigen entwicklungspoliti- Idee der Self-Reliance weiter verfolgt wurde, kann in tätig und setzt sich heute für duale Berufsbildung in schen Debatte vor dem Hintergrund der Globalisierung dem demnächst erscheinenden Buch von Hans-Ulrich Eritrea ein. Kontakt: neu überdacht werden müssten: Stauffer nachgelesen werden. furrerboll@bluewin.ch. – Betonung der Landwirtschaft und des ländlichen Lebensstils
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