Afrika-bulletin - Afrika-Komitee

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                                                                        Nov. / Dez. 2016
Eritrea – was steckt hinter dem Flüchtlingsstrom?
                                                                                           afrika-bulletin

                                                                                            Nummer 164
Editorial

                                                                                                  Das Verhältnis des Westens zu Eritrea war immer
                                                                                              schon ambivalent. Die Eritreer und Eritreerinnen kämpf-
                                                                                              ten sich selbstständig von einem Gegner frei, der von
                                                                                              einer bröckelnden Sowjetunion unterstützt wurde und
                                                                                              verhinderten einen letzten Triumph des auslaufenden
                                                                                              Kalten Krieges. Doch dann wollten sich diese Habe-
                                                                                              nichtse vom Westen nicht helfen lassen, misstrauisch,
                                                                                              dass das einstige Versprechen der Alliierten, nach der
                                                                                              Zerschlagung der italienischen Okkupation Eritrea ei-
                                                                                              nen eigenen Staat zu gewähren, 1961 zugunsten von
                                                                                              Äthiopien gebrochen worden war. Nachdem im An-
                                                                                              schluss an den Sieg Eritreas das kommunistische Re-
2
                                                                   Susy Greuter ist Sozial-   gime in Äthiopien gestürzt war, und die neuen Macht-
                                                           anthropologin mit langjähriger     haber dort sich bereit erklärten, als verlässlicher Ver-
                                                            Afrikaerfahrung und Mitglied
                                                            des Afrika Komitees. Kontakt:     bündeter zu fungieren, befand sich Eritrea politisch
                                                                 susy.greuter@sunrise.ch.     endgültig im Off. Während die Tigray sich beraten lies-
                                                                                              sen, regelmässig Wahlen abhielten und ein vorzügli-
                                                                                              ches Investitionsklima bereit stellten, hielt die eritrei-
                                                                                              sche Führungsriege an einem Modell fest, das nach
                                                                                              Sozialismus und Maoismus riecht: Self-Reliance, Ein-
                                                                                              parteienstaat und Gleichheit, Militärdienst mit Arbeits-
                                                                                              brigaden zum Aufbau des Staates.
                                                                                                  Die Erfahrungen mit derartigen Systemen sind
                                                                                              nicht durchwegs gut, jede Variante davon ist hundert-
                                                                                              fach verschrien worden auch von den eigenen Dissi-
                                                                                              denten, die mehr individuelle Chancen suchen. Die Re-
                                                                                              sultate für die breite Bevölkerung sind hingegen nicht
                                                                                              unbedingt enttäuschend. Doch sind individuelle Ent-
     Impressum                                                                                wicklung und Verbesserung Verlockungen, denen we-
                                                                                              nig standhält. So haben sich in Eritrea Dissidenten und
                                                                                              die Jungen auf den Weg gemacht ins westliche Paradies,
                                                                                              wo die Arbeitsbrigaden des Nationaldiensts als Sklave-
    Ausgabe 164 | November / Dezember 2016
                                                                                              rei gelten, und die Intransigenz der Führungselite jedes
    ISSN 1661-5603
                                                                                              böse Gerücht glaubhaft macht.
    Das «Afrika-Bulletin» erscheint vierteljährlich im 41. Jahrgang.
    Herausgeber: Afrika-Komitee, Basel, und Zentrum für Afrikastudien Basel.                      Die Beiträge zu diesem Themenheft differenzieren
    Redaktionskommission: Veit Arlt, Susy Greuter, Elísio Macamo,
                                                                                              diesen Widerstreit weiter, welcher die Schweiz als gröss-
    Barbara Müller und Hans-Ulrich Stauffer                                                   tes Aufnahmeland für eritreische Migranten in beson-
    Das Afrika-Komitee im Internet: www.afrikakomitee.ch                                      derem Masse betrifft. Barbara Müller versucht abzuwä-
    Das Zentrum für Afrikastudien im Internet: www.zasb.unibas.ch                             gen, wie schief Medienbilder gestellt werden können,
    Redaktionssekretariat: Beatrice Felber Rochat                                             und Pablo Loosli wundert sich, dass all seine positiven
    Afrika-Komitee: Postfach 1072, 4001 Basel, Schweiz
                                                                                              Erfahrungen medial als Chimären abgetan werden.
    Telefon (+41) 61 692  51 88 | Fax (+41) 61 269  80  50
    E-Mail Redaktionelles: afrikabulletin@afrikakomitee.ch                                    Hans-Ulrich Stauffer sieht die Schweiz in der Sackgasse,
    E-Mail Abonnemente und Bestellungen: info@afrikakomitee.ch                                weil ein Ansatz der Neutralität im Falle Eritreas nicht
    Postcheck-Konto: Basel 40-17754-3                                                         möglich zu sein scheint, während Fana Asefaw die
    Für Überweisungen aus dem Ausland:                                                        Flucht als Sackgasse sieht, da der Weg in eine Integrati-
    in CHF: Migros Bank, IBAN CH95 0840 1016 1437 3770 7                                      on sehr problembehaftet ist. Hans Furrer schliesslich
    in Euro: Postkonto, IBAN CH40 0900 0000 9139 8667 9
    (Bic SwiftCode: POFICHBEXXX; Swiss Post, PostFinance, CH-3000 Bern)                       zeigt auf, wie spannend es im Jahr des Trade in Services
    Mitarbeitende dieser Ausgabe: Veit Arlt (Red.), Fana Asefaw, Gertrud Baud,
                                                                                              Agreement (TISA) und des Comprehensive Economic
    Elisa Fuchs, Hans Furrer, Susy Greuter (Red.), Caro van Leeuwen, Pablo Loosli,            and Trade Agreement (CETA) ist, das Konzept der Self-
    Barbara Müller (Red.), Pascal Schmid, Hans-Ulrich Stauffer (Red.).                        Reliance als Option für Länder in kritischen Phasen ih-
    Gestaltungskonzept: TypoHaller                                                            rer Entwicklung näher anzusehen.
    Layout: wernlis grafische gestalter

    Druck: Rumzeis-Druck, Basel                                                                   Wir wünschen eine spannende Lektüre.
    Inserate: Gemäss Tarif 5/99, Beilagen auf Anfrage
    Jahresabonnement: Fr. 30.–/Euro 30.–                                                          Susy Greuter
    Unterstützungsabonnement: Fr. 50.–/Euro 35.–
    Im Mitgliederbeitrag von Fr. 60.–/Euro 40.– ist das Abonnement enthalten.

    Redaktionsschluss Nummer 165: 30. Dezember 2016.
    Schwerpunktthema: Aktuelle Brennpunkte.
    Schwerpunktthemen der nächsten Ausgaben: Mobilität, US-Schützlinge in Afrika,
    Militarismus und Waffenindustrie, Musik, Frauen, Bevölkerungsmobilität.

    Interessenten und Interessentinnen an einer Mitarbeit sind eingeladen, mit der
    Redaktion Kontakt aufzunehmen.

    Unser Titelbild: Independence Avenue in Asmara, Eritrea (Bild: www.
    beyondtheheadlines.com 2014).
Foreign interests matter
    Eritrea im Raster geopolitischer Interessenspolitik

   Die Wahrnehmung Eritreas war schon immer geprägt durch die strategischen Interessen der globalen
   Mächte sowie durch die Bündnispolitik Äthiopiens, des starken Nachbarn, gegen den das Land vor

                                                                                                                                                        Schwerpunktthema
   23 Jahren seine Unabhängigkeit erstritt. Das Afrika-Komitee hat den Befreiungskampf des eritreischen
   Volkes während vieler Jahre unterstützt und war voller Bewunderung für den Durchhaltewillen der Eritrean
   People’s Liberation Front (EPLF) im scheinbar aussichtslosen Kampf gegen die äthiopische Übermacht.
   Hans-Ulrich Stauffer hat damals die Front und die befreiten Gebiete besucht und über diese Erfahrung
   berichtet. Wie anderswo auch, sollte die Problematik einer Befreiungsbewegung an der Macht die Entwick-
   lung der folgenden Jahre prägen, wie Barbara Müller ausführt.

                                                                                                                                                    3
     500 Tote bei Protesten in den letzten neun Mona-
ten in Äthiopien – und die Welt schaut weg. Im Gegen-
teil: bei seinem Besuch in Addis Abeba im Juni 2016
attestierte Barack Obama der äthiopischen Regierung,
sie sei «demokratisch gewählt». Dies, obwohl die seit
25 Jahren die Macht innehabende Tigray People’s Li-
beration Front (TPLF) sämtliche Parlamentsvertreter in
völliger Abhängigkeit hält, während die eigentlichen
Oppositionsbewegungen massiv unterdrückt werden.
Äthiopien ist gegen internationale Kritik gefeit, weil es
aus westlicher Optik ein Stützpunkt im «Krieg gegen
den Terror» darstellt und konkret den Kampf gegen die
al-Shabaab-Milizen in Somalia mitträgt. Berichte von
Amnesty International und Human Rights Watch bele-
                                                                                                                            Der Befreiungskampf ist
gen, dass die TPLF-Regierung seit Jahren die Men-                                                                           ein konstitutives Element
schenrechte auf gröbste Art und Weise verletzt. Ende                                                                        des eritreischen Staates.
                                                                                                                            Die Bevölkerung sehnt sich
August sind an einem Wochenende allein hundert Men-                                                                         jedoch nach einer zivilen
schen durch die Polizei getötet worden. UN-Menschen-                                                                        Denkweise (Bild: Ariam
rechtskommissar Zeid Ra’ad Al Hussein hat Äthiopien                                                                         Alula 2014).

aufgefordert, internationale Beobachter ins Land zu
lassen, was dieses jedoch ablehnte.                          lehnt jegliche Einmischung von Aussen ab und will
     Was hat das alles mit Eritrea zu tun? Eritrea ist ein   sich nicht von internationaler Hilfe abhängig machen.
kleines Land, das seine Unabhängigkeit von Äthiopien         Die Tätigkeit von NGOs wird exzessiv kontrolliert, was
in einem langen bewaffneten Kampf erkämpfen muss-            in der Welt der Entwicklungszusammenarbeit kaum
te. Es hat immer wieder erleben müssen, dass UNO-            Sympathien einbringt.
Resolutionen und Entscheide von internationalen Ge-
richten, die zu seinen Gunsten ausfielen, missachtet             Anhaltende militaristische Mentalität
wurden, und es auf sich allein gestellt blieb. So hat            Diese Politik des Misstrauens und des isolationisti-
Äthiopien 1961 Eritrea widerrechtlich annektiert, ohne       schen Alleingangs ist auch darauf zurück zu führen,
dass dies internationale Sanktionen nach sich gezogen        dass der Konflikt mit Äthiopien nicht bereinigt ist und
hätte. Im Befreiungskampf musste sich das Land auf           Eritrea sich zu Recht weiterhin in seiner Existenz be-
die eigenen Kräfte verlassen. In Afrika konnte Äthiopi-      droht fühlt. Zwar hat ein internationales Schiedsge-
en, das mit Addis Abeba den Sitz der Organisation der        richt den Grenzdisput zwischen den beiden Ländern
Afrikanischen Einheit einnahm, seine Position durch-         zu Gunsten Eritreas entschieden. Eritrea bleibt jedoch
setzen. Die internationale Solidaritätsbewegung hielt        alleine, wenn es darum geht, Äthiopien zu zwingen,
sich auch nach dem Sturz des amharischen Königtums           diesen Entscheid anzuerkennen. All dies trägt nicht da-
zurück, weil Äthiopien damals unter Mengistu eine so-        zu bei, dass sich die militaristische Mentalität der ehe-
zialistische Regierung hatte, die von der Sowjetunion        maligen Befreiungsbewegung zu einer zivilen Denkwei-
unterstützt wurde. Äthiopische Interessen prägen auch        se wandelt, nach welcher die Zivilgesellschaft lechzt.
heute noch die Wahrnehmung Eritreas auf internatio-          Dieser Aspekt der Bedrohung wird in den Medien aus-
naler Ebene.                                                 geblendet, wenn von Eritrea die Rede ist.
                                                                 Dass Eritrea durchaus Leistungen vorzuweisen hat
    Eine differenzierte Auseinandersetzung tut not           und auf seinem Weg der autonomen Entwicklung et-
    Eritrea hat in Bezug auf die Respektierung der Men-      was erreicht hat, geht in der Schwarz-Weiss-Zeichnung
schenrechte eine schlechte Presse und es ist unbestrit-      der Medien vollständig unter. Dieser einseitigen Dar-
ten, dass tatsächlich Defizite bestehen in der Regie-        stellung will diese Ausgabe des Afrika-Bulletins entge-
rungsführung. Was fehlt ist eine differenzierte Aus-         gen wirken in der Hoffnung, dass eine offenere Diskus-
einandersetzung mit dem Land, den Verhältnissen und          sion möglich wird.
Machtstrukturen in der Region. Aufgrund ihrer Ge-
                                                             Barbara Müller ist langjähriges Mitglied des Afrika-Komitees
schichte hütet die eritreische Regierung unter Isaias        und Koordinatorin der KEESA.
Afewerki die Unabhängigkeit des Landes eifersüchtig,         Kontakt: coordination@apartheid-reparations.ch.
Fakten, Bilder, Vorurteile
                                 Die Schweiz und Eritrea

                                 Mehr als 30 000 eritreische Staatsangehörige leben heute in der Schweiz. Sie sind in schweizerischen
                                 Städten und Dörfern nicht zu übersehen. Die überwiegende Zahl von ihnen hat in der Schweiz politisches
                                 Asyl erhalten, eine kleinere Zahl den fremdenpolizeilichen Status der «vorläufigen Aufnahme», welcher
                                 impliziert, dass eine Rückschiebung ins Herkunftsland vorerst nicht möglich ist. In Österreich sind
                                 erstaunlicherweise keine Eritreer gelandet. Was mag der Grund dazu sein? Von Hans-Ulrich Stauffer.

                                  Der Zustrom junger Eritreer und Eritreerinnen in            Aber was treibt jemanden um, der in Eritrea war
                              die Schweiz setzte nach 2005 ein. Ein Deserteur der        und dann den Staat als «Land ohne Jugend» beschreibt,
                              eritreischen Armee war in die Schweiz eingereist und       obwohl tagsüber hunderte und gegen Abend tausende
                              hatte Asyl beantragt. Als Fluchtgrund machte er gel-       junger Menschen auf der Independence Avenue in As-
4
                              tend, er habe anlässlich eines Gefechts zwischen der       mara flanieren? Was mag die Motivation eines Journa-
                              eritreischen und der äthiopischen Armee während des        listen sein, von Pseudospitälern zu schreiben, nur weil
                              Krieges von 1998 – 2000 in der Nähe von Tessenei seine     er in manchen Räumen Staub auf Arbeitstischen be-
                              Einheit verlassen, sich in den Sudan durchgeschlagen,      merkte? Fünf Wochen nach der Reportage über das
                              dort seine Waffe abgegeben und Wohnsitz genommen.          «Pseudospital» in Barentu wurden dort – wie ich anläss-
                              Ein Fall von Desertion also. Jahre später brach er nach    lich eines Besuchs selber sehen konnte – sogar am
                              Europa auf. Im August 2004 ist er illegal in die Schweiz   Sonntag Kranke und Verunfallte behandelt. Dass La-
                              eingereist und hat Asyl beantragt. Erstinstanzlich wur-    mellenfester Staub nicht fernhalten, aber für die Durch-
                              de ihm dieses verweigert, wogegen er Beschwerde er-        lüftung wichtig sind, hat der Reporter wohl nicht be-
                              hob.                                                       merkt.
                                  Mit Urteil vom 20. Dezember 2005 hob die Eidge-             Wie soll eine Aussage über den Sklavenstaat ohne
                              nössische Asylrekurskommission das erstinstanzliche        Jugend gewertet werden: «Man hat in der Regierung
                              Urteil auf und entschied, dass der Deserteur Anspruch      durchaus eine Vision von Entwicklung, man baut Schu-
                              auf Asyl habe. Die Begründung: Eritrea sei bei der Be-     len, Strassen, Kliniken, Dämme, Colleges, man baut an
                              strafung von Dienstverweigerung und Desertion un-          der Zukunft und scheitert an der Gegenwart» (Stefan
                              verhältnismässig streng. Die Bestrafung sei als poli-      Klein 2015)? Weshalb sollten in einem Land ohne Ju-
                              tisch motiviert einzustufen. Personen, die begründet       gend Schulen und Colleges gebaut werden?
                              Furcht hätten, einer solchen Bestrafung ausgesetzt zu           Zur Berichterstattung über Eritrea lassen sich eini-
                              werden, seien als Flüchtlinge anzuerkennen.                ge Feststellungen machen: Allen voran, dass es Eritrea
                                                                                         während längerer Zeit Medienschaffenden nicht leicht
                                  In Windeseile verbreitete frohe Kunde                  machte, über das Land zu berichten. Ausländische
                                  Dieses Urteil schrieb Weltgeschichte. Die Kunde,       Journalisten waren – gelinde gesagt – nicht willkom-
                              dass alleine schon die Berufung auf Fahnenflucht ge-       men. Seit 2015 ist eine gewisse Öffnung festzustellen.
                              nügt, um in der Schweiz Asyl zu erhalten, verbreitete      Medienschaffende können sich in Asmara frei bewe-
                              sich rasch und flächendeckend. Kein Wunder, setzte in      gen – nach Einholen einer Reisegenehmigung auch in
                              der Folge ein steter Zustrom an Eritreern und Eritree-     weiten Teilen des Landes. Gespräche mit Eritreern und
   Die Auswahl an Schlag-
                              rinnen ein, die sich bis in die Schweiz durchschlugen,     Eritreerinnen sind ohne weiteres möglich. «Hier kann
 zeilen ist von Artikeln in   hier Asyl beantragten – und meist auch erhielten. Und      ich mitten in Asmara sitzen und mein Gesprächspart-
  folgenden Publikationen     wer kein Asyl erhielt, dem wurde der Status der «vor-      ner kritisiert die Regierung und verlangt lediglich, dass
              übernommen:
Stefan Klein, Süddeutsche     läufigen Aufnahme» zuerkannt.                              ich seinen Namen in der Zeitung nicht erwähne. Ein
        Zeitung 27.10.2015;       Erst Jahre später wurden die Voraussetzungen für       ‹Klima der Angst›, wie es in Eritrea herrschen soll, fühlt
       Wendekreis 5/2015;
                              die Gewährung von Asyl modifiziert. Fortan wurde zu-       sich anders an» beendet der Journalist Eugen Sorg sei-
   Philipp Hedemann, NZZ
    am Sonntag 2.11.2014;     sätzlich eine politische Gefährdung vorausgesetzt. So      ne Eritrea-Reportage vom Oktober 2015 in der Weltwo-
     Tagesanzeiger Zürich     stieg die Zugehörigkeit zur staatlich nicht zugelasse-     che.
 3.8.2015 und 26.10.2015;
         Patrik Wülser, NZZ
                              nen Glaubensgemeinschaft der Pfingstgemeinde zum
                 21.8.2015.   bevorzugten Zusatzargument auf. 2016 scheint sich               Urteile und Vorurteile
                              die Asylpraxis erneut etwas verschärft zu haben: Erit-          Die schweizerische Regierung tut sich schwer mit
                              reer, die nach Eritrea in «Heimaturlaub» gehen, sollen     Eritrea. Im Aussenministerium herrscht nahezu Funk-
                              weggewiesen werden.                                        stille. Das Justizdepartement unter Bundesrätin Som-
                                                                                         maruga, das dem Asylwesen vorsteht, hat sich jedoch
                                   Bilder der Medien                                     weit vorgewagt: Eritrea sei ein Unrechtsstaat und eine
                                   Wer aus Eritrea ausreist, hat seine Gründe. Medien-   Diktatur, weshalb keine Flüchtlinge dorthin zurückge-
                              mässig tönt dies so: «Land ohne Jugend – Sklaverei ist     schickt würden. Ganz anders lautet die Einschätzung
                              ein starkes Wort, aber wie soll man das hier sonst nen-    des Nachbarlandes Äthiopien: «Äthiopien ist ein Stabi-
                              nen?»; «Eritrea – das ‹Nordkorea Afrikas› »; «Land des     litätsanker in der Region», erklärte Frau Sommaruga.
                              Grauens»; «Zurück ins afrikanische Nordkorea?»; «Pa-       Da spielen ein paar Hundert erschossene Oppositio-
                              ranoia und Pseudospitäler in Eritrea»; «Im Land der        nelle keine Rolle. Denn: «Äthiopien ist derzeit der wich-
                              Hoffnungslosigkeit». Die Liste der Negativschlagzeilen     tigste Handelspartner in Ostafrika und eine der am
                              liesse sich beliebig verlängern. Sie prägen die Vorstel-   schnellsten wachsenden Volkswirtschaften Afrikas». So
                              lungen von Eritrea. Und das durch sie vermittelte Bild     die offizielle Verlautbarung.
                              ist alles andere als vorteilhaft.
Schwerpunktthema
                                                                                                                                                           5

                                                                                                                                Eritrea: Wohin rollt die
                                                                                                                                Kugel? Jugendliche in
                                                                                                                                Dekemhare (Bild: Hans-
                                                                                                                                Ulrich Stauffer 2016).

    Eritrea macht es staatlichen und privaten Organisa-    Parlamentariern und anderen Würdenträgern, die Men-
tionen nicht einfach, im Lande tätig zu sein. 1994 kün-    schenrechtslage in Eritrea zu beurteilen, äusserte sich
digte die Regierung an, dass ausländische Nichtregie-      der Mediensprecher der Schweizer Flüchtlingshilfe. Und
rungsorganisationen für ihre Arbeit und ihre Finanzen      dies, bevor die Reisegruppe auch nur in Eritrea ange-
rechenschaftspflichtig werden. Sie müssen fortan ihre      kommen war. «Unfair und frech» konterte denn auch
Bücher offen legen – eine nicht unverständliche Forde-     eine Teilnehmerin die Kritik. Geht es um die Durchset-
rung, stehen doch Entlöhnung und Lebenshaltung von         zung der Deutungshoheit? Muss die während Jahren
Angestellten der Hilfswerke oft in einem absurden Ver-     aufgebaute offizielle Schweizer Position um jeden Preis
hältnis zur Einkommenssituation der einheimischen Be-      verteidigt werden?
völkerung, Mitglieder der staatlichen Verwaltung und           Die offizielle Schweiz liess sich von den nuancier-
der Regierung eingeschlossen. Die Kosten für die Ad-       ten Betrachtungen der einzelnen Politiker nicht beein-
ministration dürfen maximal zehn Prozent betragen,         drucken. Eigene Abklärungen hätten ergeben, dass sich
darunter fallen nicht-projektbezogene Ausgaben wie         in Eritrea nicht viel geändert habe. Zudem sei es nicht
Saläre, Wagenpark, Unterkunft etc. Zudem darf das          möglich gewesen, Gefängnisse zu besuchen. Dass Mo-
eritreische Personal nicht höhere Löhne erhalten, als in   nate zuvor Vertreter der UN-Menschenrechtskommis-
vergleichbarer Tätigkeit in der einheimischen Wirt-        sion Zugang zu Gefangenen hatten, wurde ausgeblen-
schaft bezahlt werden. Falls in einem Projekt die Zehn-    det. Und so bleibt vorderhand alles beim Alten: Keine
Prozent-Limite überschritten wird, erachtet es die Re-     verstärkten diplomatischen Kontakte, keine Wiederauf-
gierung als nicht notwendig, jemanden in Asmara zu         nahme der Entwicklungszusammenarbeit. Die Idee, in
stationieren. Die Konsequenz: Zahlreiche NGOs und          Eritrea ein Projekt für eine duale Berufsbildung zu star-
staatliche Entwicklungsorganisationen zogen sich aus       ten, stiess auf kein Interesse. So erstaunt es nicht,
Eritrea zurück. UN-Organisationen wie auch das IKRK        wenn weiterhin junge Menschen aus Eritrea nach Euro-
verblieben im Lande.                                       pa und dabei vor allem in die Schweiz strömen.
                                                               Im September dieses Jahres forderten zwei Motio-
    Und die Schweiz?                                       nen des Nationalrats den Bundesrat dazu auf, in Eritrea
    Auch die Schweiz stellte jegliche Unterstützung        tätig zu werden. Zum einen soll die Schweiz ihre Bezie-
ein. Heute hat sich das Blatt gewendet: Die Europäi-       hungen zu Eritrea stärken, zum andern sollen in Ver-
sche Union genehmigte 2015 ein 200-Millionen-Ent-          bindung mit einem Rücknahmeabkommen Entwick-
wicklungspaket für erneuerbare Energien und gute           lungsprojekte aufgegleist werden. Darauf folgte das
Regierungsführung mit dem die Fluchtursachen be-           zu erwartendende bundesrätliche Lamento: Die Lage
kämpft werden sollen, und europäische Akteure keh-         in Eritrea sei schwierig, das IKRK habe keinen Zugang
ren ins Land zurück. Die Beziehungen zwischen der          zu den Gefängnissen. Aber – arbeitet die Schweiz denn
Schweiz und Eritrea sind die am wenigsten entwickel-       nur mit Ländern zusammen, in denen das IKRK Gefäng-
ten.                                                       nisse besuchen kann? Die heute verfahrene Situation
    Um sich ein Bild über die Lage zu machen, besuch-      bedarf neuer Strategien, und es ist zu hoffen, dass
ten Anfang 2016 Susanne Hochuli, Regierungsrätin des       Schritte in diese Richtung unternommen werden.
Kantons Aargau, die Nationalräte Thomas Aeschi (SVP),
Claude Bégle (CVP), Christian Wasserfallen (FDP) und
die Nationalrätin Yvonne Feri (SP) das Land. Kaum wur-
de deren Absicht bekannt, sich vor Ort im Rahmen ei-       Hans-Ulrich Stauffer besuchte in den Jahren 2014 – 2016 viermal
ner privaten Reise zu informieren, wurden sie als Naiv-    Eritrea und führte rund 100 Gespräche. Seine Eindrücke werden im
                                                           Frühjahr 2017 als Buch erscheinen. Das Newsportal onlinereports
linge angeprangert, die einer Propagandaaktion auf-        führte ein ausführliches Gespräch mit ihm. Kontakt: baud.stauffer@
gesessen seien. Es sei nicht Aufgabe von einzelnen         bluewin.ch. Link: http://tinyurl.com/InterviewStauffer.
Eritrea nach 25 Jahren Unabhängigkeit
                                    Eine persönliche Zeitreise

                                    Im Frühsommer 2016 zur Unabhängigkeitsfeier            «Lichtblicken» erzählen, die mich in diesem jungen
                                    eingeladen, bereiste Pablo Loosli Eritrea erneut.      Land beeindruckten, welches ich schon vor seiner Un-
                                                                                           abhängigkeit – in schwierigster Zeit – kennenlernte.
                                    Vor über dreissig Jahren, in der Zeit des Unab-
                                    hängigkeitskrieges, hat er dort als IKRK Dele-             Menschenrechte
                                    gierter die von Dürre und Krieg bedrohte Bevöl-            Aus eritreischer Sicht sind Menschenrechte auch
                                                                                           als kollektive Rechte, wie zum Beispiel das Recht auf
                                    kerung mit Nahrungsmitteln versorgt. Nach der          eine eigene Nation oder das Recht auf Nahrungsmittel-
                                    Unabhängigkeit war er im Redaktionsteam für            sicherheit zu verstehen. Die Agenda der UNO, die die
                                    die erste nationale Landkarte, die 1995 fertigge-      angebliche Verletzung von individuellen Menschen-
                                                                                           rechten hochspielt, erscheint so betrachtet einseitig.
                                    stellt und in Bern gedruckt wurde. In den Jahren       So werden im neuesten Bericht der UNO die sozialen
 6                                  2000 und 2001 initiierte er Feldversuche zur För-      Grundrechte nicht erwähnt.
                                    derung der Tropfenbewässerung. Seit 2011 ist er
                                                                                               Niemand soll hungern müssen
                                    Präsident der Aktion Lichtblick, einer Stiftung zur        Aussenminister Osman Saleh hat vermutlich gera-
                                    Förderung der Ophthalmologie in Eritrea.               de diese Errungenschaft im Fokus, wenn er – wie sinn-
                                                                                           gemäss schon Brecht – sagt «Ernährungssicherheit
                                                                                           kommt vor der Moral». 1985 war das anders. Die länd-
                                     Über einen Zeitraum von dreissig Jahren durfte ich    liche Bevölkerung überlebte damals dank der grossen
                                 immer wieder Entwicklungsschritte dieses kleinen Lan-     Nahrungsmittelhilfe des IKRK. Mehrere hunderttau-
                                 des feststellen. Ein Land, das von unseren Medien nach    send Personen erhielten auf monatlicher Basis Überle-
                                 der Unabhängigkeit geradezu hochgejubelt (NZZ, Wink-      bensrationen. Tausende von Kindern konnten nur noch
                                 ler 1993), später aber, auch mit dem neusten UNO-Be-      mit Spezialernährung aufgepäppelt und so vor dem
                                 richt, als Nordkorea Afrikas diffamiert wurde. Auch       Hungertod bewahrt werden.
                                 von der internationalen Gemeinschaft wird Eritrea im-
                                 mer wieder masslos diskreditiert. So werden beispiels-        Bildung, Landwirtschaft, Wasserversorgung
                                 weise UN-Sanktionen aufrechterhalten, obwohl es kei-          In den achtziger Jahren haben Berner Geografen
                                 ne Evidenz dafür gibt, dass in Eritrea Shabab-Milizen     nördlich von Asmara die Forschungsstation Afdeyu
                                 ausgebildet wurden, wie dies die USA behaupten.           aufgebaut. Dort werden täglich präzise Klimadaten
                                                                                           aufgezeichnet, seit einigen Jahren teilweise automati-
                                      Eine schwere Dividende                               siert. Diese Daten sind eine wichtige Grundlage zur
                                      Der Angriffskrieg Äthiopiens 1998 – 2000 und der     Erarbeitung von Projekten in den Bereichen Wasserver-
                                 seither blockierte Friedensprozess haben das Land in      sorgung und Erosionsschutz. Die Wasserversorgung
                                 seiner Entwicklung massgeblich zurückgeworfen. Die        der schnell gewachsenen Hauptstadt Asmara ist gesi-
                                 UNO verhält sich bezüglich der Durchsetzung der aus-      chert.
                                 gehandelten Grenze gegenüber Äthiopien passiv.                Der neueste, letztes Jahr fertiggestellte Staudamm
                                      In den Jahren 2014 und 2015 sind über 15 000 vorab   ist derjenige von Gergera, 40 Kilometer südlich der
                                 junge Eritreer als Asylsuchende in der Schweiz ange-      Hauptstadt. Er speichert 500 Millionen Kubikmeter Was-
                                 kommen. Der ungelöste Grenzkonflikt, von Äthiopien        ser im obersten Einzugsgebiet des Mereb. Nahrungs-
                                 besetzte Gebiete und geostrategische Interessen füh-      mittelsicherheit und damit soziale Sicherheit sind für
                                 ren dazu, dass die Entmilitarisierung des auf der mili-   Präsident Isaias Afewerki eine Toppriorität. Bis zu drei-
                                 tärischen Zermürbung des vormaligen Besetzers beru-       mal jährlich können in Zukunft in dieser Region ange-
                                 henden Staates nur langsam vor sich geht. Als ehe-        pflanzt werden.
 Der neu erbaute Staudamm        maliger Delegierter des IKRK und als Präsident der
von Gergera sichert die Ver-     Stiftung Aktion Lichtblick will ich hier vorab von den        Landwirtschaftsausbildung in Hamelmalo
  sorgung der schnell wach-
 senden Hauptstadt Asmara                                                                      Am College von Hamelmalo werden acht verschie-
    (Bild: Pablo Loosli 2016).                                                             dene Ausbildungsgänge für rund 300 Studierende an-
                                                                                           geboten. Die landwirtschaftliche Entwicklung hat auf
                                                                                           der politischen Agenda der eritreischen Führung eine
                                                                                           hohe Priorität. In einem heissen und trockenen Land
                                                                                           wie Eritrea, mit wenigen aber heftigen Niederschlägen,
                                                                                           geht es darum, durch Aufforstung und Stauseen die
                                                                                           Landwirtschaft gerade in Zeiten des Klimawandels zu
                                                                                           sichern. Dazu braucht es ausgebildete Fachleute.

                                                                                               Solidarität mit den Kriegsversehrten
                                                                                               Die mehreren zehntausend Kriegsversehrten der
                                                                                           letzten Kriege und ihre Familien werden von einer pa-
                                                                                           rastaatlichen Organisation (Eritrean National Disabled
                                                                                           War Veteran Association) unterstützt. Diese Organisa-
                                                                                           tion hat unter vielem anderen auch eine Brillenwerk-
                                                                                           statt aufgebaut. Aktion Lichtblick beteiligt sich am
Kauf von Linsenrohlingen, früher aus China und jetzt in
besserer Qualität aus Indien. In erster Linie sind die
Brillen für Kriegsversehrte gedacht. Mit dem Verkauf
an die Zivilbevölkerung kann die Organisation eine
Marktlücke füllen und dabei Einkommen generieren.
Ein guter Nebeneffekt sind die neuen Arbeitsplätze für
jungen Optometristen und Optometristinnen, die seit
kurzer Zeit am Eritrean Institute for Technology in Adi
Nefi ausgebildet werden. Auch die Zusammenarbeit der
Kriegsversehrten mit Velafrica (Bern) darf erwähnt wer-
                                                                                                                                   In der Augenklinik von
den. Der Vertrieb gebrauchter Velos aus der Schweiz                                                                                Barentu assistiert Alazar
bringt dieser Organisation ein willkommenes Einkom-                                                                                den beiden Ophthamo-
                                                                                                                                   logen Jonas und Zacha-
men.                                                        grundlegender Schritt. Für die weitere Umsetzung sind                  rias. Die 1996 von der
                                                            Projekte in Vorbereitung. Es braucht mehr ausgebil-                    Aktion Lichtblick eröff-
    Augenklinik Barentu                                     dete Richterinnen, es braucht mehr Rechtsanwälte,                      nete Augenklinik wurde
                                                                                                                                   dem Gesundheitsmini-
    Jonas, ein Ophthalmologe und ehemaliger Freiheits-      Staatsanwälte. Und Recht soll baldmöglichst als Schul-                 sterium übergeben (Bild:
kämpfer, und Zacharias operieren gleichzeitig und wer-      fach für alle eingeführt werden.                                       Pablo Loosli 2016).
den von Alazar assistiert. Das insgesamt zwanzigköp-
fige Team, Frauen (sie dürfen die Kleinkinder mit zur           Frauenarbeit als nationales Projekt
Arbeit nehmen!) und Männer (einige im Rahmen des                In allen Regionen entstehen Frauenzentren. Anfang
Nationaldienstes), arbeitet gut zusammen. Barentu hat       Juni durfte ich das neue Frauenzentrum in Mendefera
sich seit 1985 stark verändert. Wo im Krieg ein einziges    besuchen. Die Poster in tigrinischer Sprache, die ich im
Hotel stand, gibt es heute über ein Dutzend; in der         grossen Konferenzsaal vorfinde, sind aufschlussreich:
Stadt gibt es staatliche, kirchliche und auch private       «Wir kämpfen für Gerechtigkeit und Demokratie»; «Wir
Kindergärten etc. Die Reise von Asmara nach Barentu         kämpfen gegen die Beschneidung von Mädchen»; «Wir
war vormals in einem Tag nicht zu schaffen – nun lässt      kämpfen gegen Kinderhochzeiten (Mädchen unter acht-
sich Barentu bequem in vier Stunden Autofahrt errei-        zehn Jahren)». Beispiele, die zeigen, dass Eritrea vor
chen. Zu den Patienten der Augenklinik gehören auch         allem Unterstützung und Zeit braucht, um diese The-
Häftlinge der örtlichen Gefängnisse. Durchschnittlich       men weiter zu bearbeiten. Jedenfalls Lichtblicke!
30 Häftlinge werden pro Woche in die Klinik zur Unter-
suchung gebracht. Das ist kein Beweis, dass es keine            Einende Unabhängigkeit
Ungereimtheiten gäbe, aber ein Hinweis darauf, dass             Tausende von Eritreern und Eritreerinnen der Dias-
die medizinische Versorgung funktioniert.                   pora sind zu den Feierlichkeiten der 25-Jahrfeier nach
                                                            Hause gekommen. Nicht alle sind glücklich mit der
    Besuch der Blindenschule                                Regierung, aber alle stehen ein für ein unabhängiges
    Direktor Tezare erklärt mir bei meinem Besuch sei-      Eritrea. Da herrscht meiner Meinung nach breiter Kon-
nen Ansatz. Blinde Kinder können in der Abrahta Bahta       sens.
Schule mit der Brailleschrift innert acht bis zwölf Mona-       Die Diaspora spielt eine wichtige Rolle. Die Gelder,
ten lesen und schreiben lernen. Danach werden sie           die durch private Haushalte zurückgeschickt werden
zurück in ihre Familien geschickt, um sich mit ihrem        sind beträchtlich. Ich verstehe die jungen Eritreer, die
Handicap in der Gesellschaft zu integrieren. Die Schule     mit dem Kriegs- respektive Nationaldienst auf unbe-
hat zweckmässiges, ganz auf den Tastsinn ausgerich-         stimmte Zeit nicht glücklich sind. Das dürfte sich (hof-
tetes Lehrmaterial. Dreidimensionale Poster, Karten,        fentlich) bald ändern. Ich verstehe auch, dass sie für
geometrische Figuren etc. Direktor Tesare erzählt von       ihre Dienstzeit eine bessere Entschädigung möchten.
vielen erfolgreichen Integrationen. Drei blinde Juristen    Doch Flucht und Asylantrag sind keine guten Lösun-
dienen ihrem Land heute als Richter. Ausbildungs- und       gen. Übrigens entwickeln auch junge Eritreer ein politi-
Finanzministerium kommen für Basisschulmaterial und         sches Bewusstsein, respektive getrauen sich, sich zu
Lebenskosten der Kinder auf. Braille-Papier ist jedoch      äussern. Heute diskutiert man in Asmara doch häufi-
teuer und deshalb Mangelware. Auch ein Braille-Dru-         ger Angelegenheiten, über die man bis vor kurzem
cker wäre dringend nötig, da der einzige Drucker im         lieber nicht reden wollte.
Land seit geraumer Zeit am Ende seiner Lebensdauer              Nach den Ottomanen, den Ägyptern, den Italie-
angekommen ist. Aktion Lichtblick hat einen neuen           nern, den Briten, der Annektierung durch Kaiser Haile
Drucker bestellt. Einer der Leitsätze der Abrahta Bahta     Selassie und nach den Amerikanern – eine eigene Iden-
Blindenschule: «Vision, not sight, is the providence of     tität zu haben ist allen wichtig. Menschenrechte sind
hope.»                                                      wichtig. Das Recht auf Unabhängigkeit, für das Eritrea
                                                            jahrzehntelang gekämpft hat, bleibt es auch.
    Ein neues Zivilgesetzbuch
    Die Justizministerin erzählt mir nicht ohne Stolz
von ihren Gesetzgebungsprojekten. In jahrelanger Ar-
beit und vielen Diskussionen wurde traditionelles Recht,
Kolonialrecht aus äthiopischer und italienischer Zeit       Pablo Loosli hat als ehemaliger IKRK-Delegierter und Mitarbeiter der
                                                            Caritas über 30 Jahre enge Beziehungen mit Eritrea gehalten –
gesammelt, gesichtet, bewertet. Seit einem Jahr hat         auch während seiner Tätigkeit als Direktor der Justizvollzuganstalt
Eritrea ein umfassendes Zivilgesetzbuch. Das war ein        Solothurn. Kontakt: paul.loosli@quickline.ch.
Da gehen uns viele verloren …
                                    Ein Gespräch mit Fana Asefaw

                                     Fana Asefaw ist promovierte Kinderpsychiaterin eritreischer Herkunft. Ihre Eltern flohen in den 1980er
                                     Jahren vor der äthiopischen Repression der eritreischen Unabhängigkeitsbewegung und fanden in
                                     Deutschland Asyl. 2005 kam sie in die Schweiz, um im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst in
                                     Zürich zu arbeiten. In der Überzeugung, dass die Perspektiven der Bevölkerung in Eritrea selber verbes-
                                     sert werden müssen, wurde sie bald Mitglied des Schweizerischen Unterstützungskomitees für Eritrea
                                     (SUKE). Wie dieses lehnt sie den gegenwärtigen Exodus aus Eritrea in die Schweiz als einen tragischen
                                     Irrtum ab, der viele junge Patienten in ihre Sprechstunde bringt und diesen oft sehr teuer zu stehen
                                     kommt. Susy Greuter sprach mit Fana Asefaw zwischen zwei Konsultationen.

                                     Susy Greuter: Frau Asefaw, Sie sind in Deutschland        eine Sprechstunde zu Migration und Trauma an. Da
                                 aufgewachsen, sind also selber kein Flüchtling – seit         kommen sehr viele Eritreer und Eritreerinnen aus der
                                 wann befassen Sie sich mit Flüchtlingen hier in der           ganzen deutschsprachigen Schweiz: Ich bin offensicht-
                                 Schweiz?                                                      lich die einzige Psychiaterin, die Tigrinia spricht. Es
                                     Fana Asefaw: Damals sind wir vor Krieg und Verfol-        gibt ganz viele Anfragen: Ganze Familien sind destabi-
                                 gung geflüchtet. Heute bin ich freiwillig in der Schweiz,     lisiert, viele Jugendliche sind völlig überfordert. Viele
                                 weil ich hier gerne arbeite und lebe. Seit ich bei beim       werden von Flüchtlingsheimen direkt angemeldet: «Hier
                                 Schweizerischen Unterstützungskomitee für Eritrea             ist jemand, der dekompensiert, jemand, der herum-
                                 (SUKE) bin, also seit 2006, haben wir die Themen Mig-         schreit». Auch von Schulen werden mir Kinder zuge-
                                 ration und Flucht in unsere Agenda aufgenommen,               wiesen, weil sie aufgrund von Verhaltensstörungen
                                 und ich habe im Sinne von Präventionsarbeit begon-            dort nicht mehr tragbar sind. Es ist vor allem ein gesell-
                                 nen, Vorträge darüber zu halten, wie traumatisierte           schaftspolitisches, kein rein psychiatrisches Problem:
                                 Flüchtlinge stabilisiert werden können. Ich befasse           Viele Patienten hausen unter sehr schlechten Bedin-
                                 mich also einerseits im Rahmen meiner Arbeit als Kin-         gungen, in grossen unterirdisch Hallen mit Kajütenbet-
                                 derpsychiaterin und andererseits im SUKE damit, sinn-         ten zusammengepfercht. Einige unbegleitete Minder-
                                 volle Strategien für die Flüchtlingsarbeit zu entwickeln.     jährige sind mit Erwachsenen untergebracht. Das pas-
                                     Vor allem baut SUKE in Eritrea Projekte auf, die          siert sogar Mädchen!
Die Psychiaterin Fana Asefaw
ist Oberärztin bei der Privat-   auch für die Jungen mehr Perspektiven bieten: Man
   klinik Clienia und eine ge-   muss die jungen Leute davon abbringen, in Europa ihr               Susy Greuter: Hängt das von den Kantonen oder
 fragte Vermittlerin im Asyl-
 bereich (Bild: Daniel Kellen-
                                 Paradies zu sehen, weil es sie viel zu viel kostet. Ich bin   Gemeinden ab?
                 berger 2014).   noch mit anderen Organisationen wie dem National                   Fana Asefaw: Das soll offenbar noch zunehmen
                                 Coalition Building Insitute NCBI Schweiz vernetzt – dies      und hat Abschreckungscharakter, der teilweise gewollt
                                 auch über das Thema Beschneidung, eines meiner Spe-           ist. Es wirkt wie eine Strategie: Diese Jugendlichen
                                 zialgebiete.                                                  kommen mit sehr viel Hoffnung auf ein menschenwür-
                                                                                               diges Leben, und dann sind sie hier in der Schweiz in
                                     Susy Greuter: Die Beschneidung wurde vielfach als         der bürokratischen Warteschlange gefangen und ver-
                                 Konfliktpotential im Umgang mit somalischen und eri-          lieren jede Perspektive. Für junge Menschen mit so viel
                                 treischen Flüchtlingen hochgespielt.                          Energie ist das schlimm, sie werden moralisch gebro-
                                     Fana Asefaw: Meine Expertise dazu beruht auf mei-         chen.
                                 ner Dissertation über dieses Thema. So konnte SUKE
                                 das Thema als Präventionsarbeit für die eritreische               Susy Greuter: In Ihrem Interview in der NZZ vom
                                 Diaspora entwickeln und weniger aufgrund schon be-            10. Juni 2015 wurde wiedergegeben, dass Sie die Flucht-
                                 stehender Konflikte. Dort wird oft ein einzelnes Vor-         erlebnisse als Ursache der Traumatisierung vieler Min-
                                 kommnis zum Regelfall gemacht und medienmässig                derjähriger sehen. Es gibt also auch Ursachen hier in
                                 hochgepeitscht, um dann Zwangsmassnahmen zu er-               der Schweiz?
                                 greifen. Es gibt in der Schweiz Fälle, in denen Zwangs-           Fana Asefaw: Die post-migratorischen Stressfakto-
                                 untersuchungen – also dass Mädchen jedes Jahr durch           ren sind bei vielen von mir behandelten unbegleiteten
                                 einen Gynäkologen untersucht werden – gefordert               Minderjährigen stärker ausgeprägt. Auf der Flucht ist
                                 wurden. Das wird oft reisserisch abgehandelt! Das ist         alles in Bewegung und die Jugendlichen können die
                                 nicht zielführend, weil diese Massnahme die Frauen            Strapazen einordnen: Sie wissen, dass sie hungern und
                                 abwertet und rassistisch ist: Auch in der Schweiz gibt        Durst leiden werden. Sie wissen, was sie erwartet. Es
                                 es schädliche Einflüsse auf junge Frauen wie z.B. der         gibt keine Diskrepanz, es gilt: «Wir müssen überle-
                                 Schlankheitswahn, der zur Magersucht führen kann.             ben!» Dass sie hingegen hier so viel Stress erwartet,
                                 Ich halte jetzt auch Vorträge z.B. im Auftrag von Cari-       auf das sind sie nicht vorbereitet, und das überwältigt
                                 tas. Wir mobilisieren Frauen für eine Weiterbildung –         sie dann. Sie denken: «Ich habe das Paradies erreicht,
                                 dazu habe ich auch ein Sachbuch geschrieben.                  hier sind sie nett zu uns», und all das trifft nicht ein. Sie
                                                                                               werden mit Skepsis empfangen und erfahren Ausgren-
                                     Susy Greuter: Jetzt sind wir bei den Frauen gelan-        zung und non-verbale Ablehnung. Oft erhalten sie nur
                                 det, aber Sie leisten auch einen allgemeinen Beistand?        ein vorläufiges Bleiberecht. Dies tut man jetzt und hier
                                     Fana Asefaw: Im Ambulatorium der Klinik Clienia           den Flüchtlingen an – ausgerechnet den Minderjähri-
                                 Krisenintervention Schweiz AG in Winterthur biete ich         gen. Das ist eine Menschenrechtsfrage.
Susy Greuter: Sie meinen, dass Störungen im We-             Fana Asefaw: Das weiss ich nicht, aber viele lebten
sentlichen hier entwickelt werden?                           schon jahrelang unter kriegsähnlichen Bedingungen.
     Fana Asefaw: Leute, die bereits psychische Störun-      Weil ihre Väter in die Armee rekrutiert wurden, waren

                                                                                                                                                         Schwerpunktthema
gen hatten, schaffen die Flucht gar nicht. Nur jene, die     ihre Mütter überfordert. Sie hatten nicht die nötige
in einem guten psychischen und physischen Zustand            Ruhe und Sicherheit, um Bildung zu geniessen.
sind, bewältigen die Herausforderungen und überwin-
den alle Hürden. Aber die vorläufige Aufnahme, die               Susy Greuter: Was bringen die Integrationsmass-
vielen gewährt wird (F-Status), heisst für sie: «Es dauert   nahmen, die vom Bund unterstützt werden?
noch viele Jahre, bis ich einen richtigen Status erhalte.»       Fana Asefaw: Es kann sein, dass jemand bestens
Wenn Sie einen Patienten trauma-therapeutisch behan-         klarkommt mit dieser Unterstützung, weil er bestimm-
deln wollen, muss er sich sicher fühlen können. Und          te Voraussetzungen mitbringt: Bildung, Gesundheit
viele meiner Patienten sagen: «Aber ich habe keine Si-       und so weiter. Nicht alle sind bildungsfern aufgewach-
                                                                                                                                                     9
cherheit, ich habe jeden Morgen Angst, dass die Polizei      sen, aber mit 16 kann man noch nicht sehr gebildet
klopft und mich mitnimmt.» Das wirkt sehr trauma-            sein. Wenn man aber fragt, wie die Jugendlichen im
tisierend und bedeutet ganz viel Stress, ganz viel           Durchschnitt profitieren von diesen Strukturen – es
Schmerz, mit dem sie nicht gerechnet haben. Es gibt          sind ja vor allem Deutschkurse – lässt sich feststellen,
viele Suizide – jemand kommt hier an und schmeisst           dass die wenigsten profitieren. Das sind nicht unbe-
sich unter den Zug. Letzte Woche hat sich ein 18-jähri-      dingt Jugendliche, die in ihrer Heimat theoretisches
ger Eritreer in einem Durchgangsheim erhängt! Keiner         Lernen erfahren haben, insbesondere nicht die Mäd-
konnte ihn schützen. Das passt nicht zu ihrem Welt-          chen. Doch hier wird erwartet, dass sie sofort wie hie-
bild, aber im Affekt dieser Verlorenheit kommt es            sig Jugendliche funktionieren. Sie aber funktionieren
dazu. Manche sagen, hätte man ihnen schon auf dem            eher im Praktischen. Sie wünschen sich, eine Beschäfti-
Weg erklärt, wie perspektivlos ihre Situation hier in der    gung als Mechaniker oder in der Kinderbetreuung, im
Schweiz sein werde, dann hätten sie ihr Geld nicht den       Krankenhaus oder im Haushalt zu erlangen, und dort
Menschenhändlern gegeben, sondern sich auf den               die Motivation für das Lernen der Sprache zu bekom-
Rückweg gemacht und das Geld, das sie gesammelt              men.
haben, nach Hause zurück gebracht.
                                                                 Susy Greuter: Gibt es in der Schweiz Zusammen-
    Susy Greuter: Warum wollen sie trotzdem nicht            schlüsse von Eritreern?
zurückkehren? Haben sie einen Auftrag der Familie zu             Fana Asefaw: Die gibt es, mit unterschiedlichsten
erfüllen?                                                    Grundlagen: Religiöse Netzwerke wie die Zeugen Jeho-
    Fana Asefaw: Rückkehr bedeutet einen Gesichts-           vas und die Pfingstgemeinden. Aber es gibt auch poli-
verlust: man hat es nicht geschafft! Ich hab von dem         tisch sehr aktive: gegen die Regierung oder für die Re-
Verdacht gehört, dass sie im Familienauftrag losgehen        gierung. Vielleicht ist es ein Versuch, seine Identität zu
würden, aber ich habe das noch nie angetroffen. Die          bewahren, aber es ist reiner Zeitvertreib. Ich halte gar
Familien wollen dem Kind eine bessere Zukunft geben,         nichts davon, weil diese Aktivitäten meist zu Lasten
bessere Chancen, aber ein Auftrag ist das nicht. Bei         der Kinder gehen. Wichtig ist, dass man hier seiner
den Eritreern ist es eher der Fall, dass Bekannte die        Verantwortung gerecht wird und seine Integration an-
Kinder für viel Geld mit ins Ausland nehmen, wenn die        gehen kann.
Eltern selber die Möglichkeit nicht haben, damit die
Kinder in Europa Perspektiven bekommen.                          Susy Greuter: Behindert dies das Konzept von so
                                                             genannten «Schlüsselpersonen», also länger hier le-
     Susy Greuter: Kommen die jetzigen Asylsuchen-           benden, integrierten Eritreern, die für eine Brücken-
den mehrheitlich aus den Städten oder vom Land?              funktion ausgebildet und eingesetzt werden? Gibt es
     Fana Asefaw: Viele kommen aus den Grenzgebie-           Feindschaften untereinander?
ten zum Sudan oder zu Äthiopien – hier ist die Verlo-            Fana Asefaw: Teilweise schon – aber dies wird in
ckung grösser, die Grenze zu überschreiten. Vielleicht       den Medien akzentuiert dargestellt. Das negative Bild
haben sie aus den sozialen Medien gehört, dass die           von Eritrea wird kultiviert, auch in den Ämtern. Einige
Schweiz ein Land ist, wo sozusagen Milch und Honig           die sich im Amt für Migration in Bern als Dolmetscher
fliessen und man schnell die Anerkennung erhält. Das         beworben haben, berichteten mir, sie seien ziemlich
ist auch der Grund, weshalb sie hier her kommen: Sie         am Anfang gefragt worden, ob sie Gegner oder Befür-
wollen sicher sein und arbeiten. Ich habe eigentlich nie     worter des Regimes seien. Es würden eher Gegner des
jemanden kennen gelernt, der gekommen ist, um von            Regimes eingestellt. Dies finde ich nicht sinnvoll. Da-
der Sozialhilfe und dem Staat zu leben. Sie kennen so        mit müssen wir aufhören – um der Sache willen müssen
etwas wie ein Sozialwesen gar nicht, ausser beim Mili-       die Menschenrechte im Vordergrund stehen.                    Susy Greuter ist Sozialanthro-
tär. Dort war für alles gesorgt, immerhin! Aber sie                                                                       pologin mit langjähriger
                                                                                                                          Afrikaerfahrung und Mitglied
mussten schon mit 16 Jahren unter einem strengen                 Susy Greuter: Frau Asefaw, ich danke Ihnen sehr          des Afrika Komitees. Kontakt:
Regime funktionieren: sie waren sicher – doch um nicht       für Ihre Auskünfte!                                         susy.greuter@sunrise.ch.
in diesen strengen Dienst zu müssen, sind sie geflo-
hen.

    Susy Greuter: Ist die Dienstpflicht in Frontnähe
strenger?
Von Korsika nach Eritrea
        Die Geschichte der Self-Reliance

        Die Idee der Self-Reliance, also der wirtschaftli-         Abkopplung vom Weltmarkt zur Förderung der
        chen und politischen Eigenständigkeit, wird heu-           nationalen Entwicklung
                                                                   Die politischen Werke Fichtes fanden zu seiner Zeit
        te fast nur noch mit der Entwicklung in Eritrea        wenig Beachtung. Während die dominierende ökono-
        verbunden. Doch diese Idee ist keine eritreische       mische Theorie des 19. Jahrhunderts unter dem Ein-
        Erfindung, im Gegenteil: ihre Wurzeln reichen          fluss der englischen Ökonomen den Freihandel favori-
                                                               sierte, hat sich der deutsche Ökonom Friedrich List im
        weit zurück. Hans Furrer zeichnet die Entwick-         Interesse der damaligen Peripherie (USA und Deutsch-
        lung der Idee von der Aufklärung über den Anti-        land) den vorherrschenden Theorien entgegengestellt.
        kolonialismus bis in die jüngste Zeit nach.            1827 begründete er die Notwendigkeit eines zeitweili-
                                                               gen Schutzzolles für die nach Unabhängigkeit streben-
                                                               de amerikanische Industrie. Er entwickelte ein Protek-
10
         Eine der wichtigsten Quellen zur Self-Reliance ist    tionssystem, das den Übergang Amerikas von einer
     das Werk Jean-Jaques Rousseaus. In seinem ganzen          agrarischen zur industriellen Produktion ermöglichen
     Werk ist Rousseau von selbstversorgenden und selbst-      sollte. Nur durch eine zeitweise und beschränkte Ab-
     bestimmten Individuen ausgegangen. Indem er die ur-       kopplung vom Weltmarkt sei der Aufbau einer ameri-
     sprünglichen Wurzeln des Menschen und der Gesell-         kanischen Industrie gegen die diesen Weltmarkt domi-
     schaft idealisierte, entwickelte er drei Elemente, die    nierende englische Industrie möglich. In einer Preis-
     dieses Individuum und die zu ihm passende Gesell-         schrift für die französische Akademie hat er 1837 sein
     schaft konstituierten:                                    «Système naturel de l’économie politique» entwickelt.
         – der autarke Bauer oder Handwerker, der nur für      Darin geht er insbesondere auf die Beziehungen zwi-
     		 seine Familie produziert und                           schen der landwirtschaftlichen und der industriellen
         – der ohne Geld                                       Produktion ein. Er zeigt dabei eine industrielle Ent-
         – fern vom verderbenden Einfluss der Städte auf       wicklung auf, die sich auf den Fortschritt in der Land-
     		 dem Land lebte.                                        wirtschaft zu stützen hat.
                                                                   Lists Theorie geriet in der fortschrittlichen Bewe-
         Ein visionärer Verfassungsentwurf für Korsika         gung des 19. und 20. Jahrhunderts bald in Vergessen-
         Als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in     heit und wurde, wie wir noch sehen werden, erst wie-
     Korsika die Unabhängigkeitsbewegung unter Pascal          der von jungen Ökonomen aus der Dritten Welt, die an
     Paoli die Unabhängigkeit von Genua erlangte, schrieb      der Sorbonne in Paris studierten, neu entdeckt und
     dieser an Rousseau, ob er ihm nicht eine Verfassung       aufgenommen.
     ausarbeiten könne. Rousseau sah in Korsika einen der
     letzten Flecken in Europa, wo die Gesellschaft noch in        Self-Reliance als Instrument auf dem Weg zur
     einem weitgehend natürlichen, agrarisch geprägten             Unabhängigkeit
     Zustand lebe, also unverdorben und noch zu autono-            Der Gedanke einer unabhängigen Entwicklung der
     mer Gesetzgebung fähig sei. Die Entwicklung müsse         Länder der Dritten Welt erhielt von einer ganz anderen
     autark geschehen und der Aussenhandel auf ein Mini-       Seite neuen Auftrieb. Im Kampf gegen die englische
     mum beschränkt und von der Regierung kontrolliert         Kolonialmacht entwickelte Mahatma Gandhi in Indien
     werden. So legte er dies 1768 in seinem Entwurf zu ei-    ein wirtschaftliches Konzept, das viele Gedanken Rous-
     ner Verfassung fest, der aber nie umgesetzt wurde.        seaus wieder aufnahm und für die Situation des Befrei-
     Rousseau bleibt aber bis heute interessant für die Idee   ungskampfes adaptierte.
     der Self-Reliance, denn er nimmt viele Gedanken vor-          Für Gandhi bestand die ökonomische Theorie in
     weg, welche Mitte des 20. Jahrhunderts von Ökono-         erster Linie aus einer ethischen Grundhaltung und
     men aus der Dritten Welt entwickelt wurden.               setzte daher beim Individuum an. Sein Konzept der
         Aber schon kurz nach Rousseau betonte der deut-       Self-Reliance basierte auf Selbsthilfe und «Self-Suffi-
     sche Philosoph Johann Gottlieb Fichte in seinem 1800      ciency», und im Zentrum standen die Bedürfnisse des
     erschienenen Werk «Der geschlossene Handelsstaat»         einzelnen Individuums, sowohl hinsichtlich Konsum
     die Wichtigkeit der Abschottung und des Verunmögli-       wie auch Produktion. Das heisst, es ging ihm nicht ein-
     chens des Aussenhandels. Der Staat habe von einer         fach darum, die Konsumbedürfnisse der Massen zu
     Rangordnung der Zwecke auszugehen und zudem zu            befriedigen, sondern ebenso wichtig war es ihm, den
     versuchen, die Importe allmählich durch Landespro-        Bedürfnissen nach produktiver Tätigkeit nachzukom-
     dukte zu substituieren. Dazu schlägt er vor, die vor-     men.
     handenen Ressourcen des Landes neu zu prospektie-             Gandhi war sich im Klaren darüber, dass eine sol-
     ren und neue Rohstoffe und Verfahren zu entwickeln.       che, nicht in erster Linie auf Effizienz ausgerichtete
     Als konkretes Beispiel führt er die Substituierung der    Gesellschaft nur in einem unabhängigen Land errichtet
     Baumwolle durch einheimische Pflanzen- oder Tierfa-       werden konnte. Darum war für ihn «Swaraj» (politische
     sern an. Produkte, die aus klimatischen oder andern       Unabhängigkeit) stets mit «Swadesh» (ausschliessli-
     Gründen nicht substituiert werden können, dürften         cher Konsum von einheimischen Produkten) verknüpft.
     unter der Aussenhandelskontrolle der Regierung wei-       Konkreter Ausdruck dieser Strategie war es, entgegen
     ter eingeführt werden, aber nur soweit, als einheimi-     den englischen Kolonialgesetzen, die indische Baum-
     sche Produkte dafür ausgeführt werden. Auch hier sei      wolle selbst zu verarbeiten. So wollte er das Spinnrad
     eine genaue Bedürfnisabklärung und eine «Rangord-         wieder in jedem Haus einführen und organisierte gleich-
     nung der Zwecke» zu beachten.                             zeitig einen Boykott ausländischer Stoffe. Kurzfristig
führte diese Strategie in Indien denn auch zum Erfolg           – Ablehnung des «verderbten» Luxuslebens in den
und die englische Kolonialmacht musste sich aus Indi-        		Städten
en zurückziehen. In der Folge gelang es jedoch nicht            – Bergbau und Handwerk als Zuliefersektoren für

                                                                                                                                                    Schwerpunktthema
das Erreichte zu konsolidieren und Indien geriet erneut      		 landwirtschaftliche Produktion
in wirtschaftliche Abhängigkeit.                                – Weitgehende, zeitlich beschränkte Abkoppelung
    Eher anekdotisch war die Dschutsche-Bewegung in          		 vom externen Markt
Korea, die beispielsweise jede Fabrik, die im Besitze           – Kontrolle des verbleibenden Aussenhandels durch
einer Drehbank war, verpflichtete, diese auseinander-        		 den Staat
zunehmen, Pläne davon zu zeichnen und eine Kopie                – zumindest zeitweise Unbedeutsamkeit des Gel-
der Maschine herzustellen. Es wäre zwar einfacher ge-        		des
wesen eine neue Maschine aus der Sowjetunion zu im-             Diese Prinzipien standen denn auch hinter den bei-
portieren, doch sollte dadurch die Eigenständigkeit          den Versuchen in Afrika eine eigenständige Entwick-
                                                                                                                                               11
Koreas und zudem das Bewusstsein der Arbeiter ge-            lung anzustreben, der Kujitegemea-Bewegung in Tan-
stärkt werden.                                               zania und dem erfolgreichen Versuch, im eritreischen
                                                             Unabhängigkeitskampf eine von den beiden Super-
    Rezeption durch die jungen Ökonomen aus der              mächten unabhängige Entwicklung voranzutreiben.
    Dritten Welt
    All diese Erfahrungen wurden in den Fünfzigerjah-            Umsetzung des Gedankens in Afrika
ren von einigen Ökonomiestudenten aus der Dritten                In Tanzania wurde die anfänglich erfolgreiche Be-
Welt erkannt, die sich an der Sorbonne zu autonomen          wegung durch den Krieg mit Uganda, die damit zusam-
Seminaren zusammenfanden, in welchen sie die chine-          menhängende Isolierung innerhalb der Organisation
sischen, koreanischen, indischen und andere Erfahrun-        für Afrikanische Einheit (OAU) und die zunehmende
gen vor dem Hintergrund von Lists Theorie reflektier-        Abhängigkeit von der Weltbank abgeblockt. Nach Aus-
ten. Aus diesen Seminaren sind vor allem zwei be-            sagen eines deutschen Soziologen, der seit längerer
kannte Ökonomen hervorgegangen, Samir Amin und               Zeit in Tanzania arbeitet, hat sich die Lohnschere in
Khieu Samphan.                                               Tanzania seit der Intervention der Weltbank um mehr
    In seiner Dissertation griff Khieu Samphan explizit      als das zwanzigfache vergrössert, von etwa 1:3 auf
auf die Theorien von Friedrich List zurück und zeigte        1:70. Der Gedanke der Self-Reliance ist heute quasi
auf, wie sich sowohl Deutschland als auch die USA            vergessen.
durch vorübergehende Abschliessung vom Weltmarkt                 Die eritreische Regierung hatte nach dem Sieg im
rasant entwickelten. Interessanterweise verwies er da-       Befreiungskampf die einmalige Möglichkeit, das im
bei auch auf die Schweiz, die den bedeutendsten wirt-        Programm der Befreiungsbewegung von 1982 prokla-
schaftlichen und technologischen Schub ihrer Ge-             mierte Konzept der Self-Reliance umzusetzen. Die wirt-
schichte während der durch die Kontinentalsperre             schaftlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen, die
erzwungenen Abkoppelung durchlaufen hat. Noch wich-          während des Unabhängigkeitskrieges in den befreiten
tiger war für ihn aber der Fakt, dass die einzige Perio-     Gebieten gemacht worden waren, wurden nach der
de, in denen in den Ländern der Dritten Welt eine ge-        Unabhängigkeit 1993 umgesetzt. Durch eine klar auf
wisse Industrialisierung vollzogen wurde, die Phase          die innere Entwicklung ausgerichtete Politik wurde der
während der beiden Weltkriege war, während der we-           Aufbau im Gesundheits- und Bildungswesen vorange-
gen des Krieges kein ausländisches Kapital mehr in die       trieben und damit beachtliche Erfolge erzielt. So hat
Länder floss.                                                Eritrea als einziges Land Afrikas mehrere Milleniums-
    Dem ägyptischen Wirtschaftswissenschafter Samir          ziele der WHO erreicht. Dank einer auf die Bedürfnisse
Amin ging es in seiner Analyse der Situation in Afrika       der Bevölkerung ausgerichteten Landwirtschaftspoli-
darum, aufzuzeigen, wie während der Kolonisation –           tik ist heute die Ernährungslage in Eritrea gesichert.
und der Neokolonisation nach Erlangung der Unabhän-          Auch herrscht heute in Eritrea – ganz im Gegensatz zu
gigkeit – der innere Markt zerstört wurde. Auch für ihn      Äthiopien – trotz der Dürre in den letzten zwei Jahren
ist wirtschaftlicher Aufschwung nur durch eine auto-         keine Hungersnot. Der Abbau der gewaltigen Boden-
zentrierte Entwicklung und vorübergehende wirtschaft-        schätze Eritreas wird durch faire Abkommen mit aus-
liche Abkoppelung möglich.                                   ländischen Partnern ermöglicht.
    Der Gedanke der autozentrierten Entwicklung wur-             Diese Entwicklung wurde jedoch durch den Grenz-
de in den Sechzigerjahren auch durch die Forscher-           krieg mit Äthiopien (1998 – 2000) um Jahre zurückge-
gruppe um Dieter Senghaas aufgenommen und in ver-            worfen, und da Äthiopien bis heute die vom internatio-
schiedenen Detailstudien differenziert.                      nalen Gerichtshof bestimmten Grenzen nicht anerkennt
                                                             und Eritrea immer wieder angreift (zuletzt im Juni
    Bedeutung im Kontext der Globalisierung                  2016), sind grosse Kräfte der eritreischen Armee an der
    So verschieden die zitierten Quellen bezüglich ih-       Grenze gebunden.                                          Hans Furrer ist seit den
                                                                                                                       1970er Jahren im Schweize-
rer theoretischen und praktischen Hintergründe auch              Wie sich die wirtschaftliche und soziale Lage seit    rischen Unterstützungs-
sind, zeigen sie einige Konstanten einer Politik der Self-   Anfang dieses Jahrtausends entwickelt hat und wie die     komitee für Eritrea (SUKE)
Reliance auf, die in der heutigen entwicklungspoliti-        Idee der Self-Reliance weiter verfolgt wurde, kann in     tätig und setzt sich heute
                                                                                                                       für duale Berufsbildung in
schen Debatte vor dem Hintergrund der Globalisierung         dem demnächst erscheinenden Buch von Hans-Ulrich          Eritrea ein. Kontakt:
neu überdacht werden müssten:                                Stauffer nachgelesen werden.                             furrerboll@bluewin.ch.
    – Betonung der Landwirtschaft und des ländlichen
 		 Lebensstils
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