InforMationen zu bertolt brecHt - Dreigroschenheft
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Dreigroschenheft Informationen zu Bertolt Brecht 28. Jahrgang Heft 3/2021 F. Vassen über Brecht Material – Material Brecht (foto) Jan Knopf über Nazi-Folklore im „Dreigroschenfilm“ Felix Latendorf über Brecht und Werner Söllner XUE Song über Li Po in Gedichten von Brecht
BR E CHT Das gesamte Programm jetzt unter www.buchhandlung-am-obstmarkt.de Brechtshop in der KIGG Obstmarkt 11 86152 Augsburg Telefon 0821-518804 Fax 0821-39136 post@buchhandlung-am-obstmarkt.de www.buchhandlung-am-obstmarkt.de
Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Rezensionen Impressum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Desertieren, um zu leben. . . . . . . . . . . . 31 Florian Vaßen sammelt eigene Texte einer Theater mehr als ein halbes Jahrhundert währenden Befassung mit Brecht Brecht Material – Material Brecht. . . . . . . . 3 Dieter Henning Florian Vaßen Krenek und Weill; Novembergruppe: Lyrik Zwei Rezensionen. . . . . . . . . . . . . . . . 35 „Was erwartet man noch von mir?“ – Andreas Hauff Bertolt Brecht bei Werner Söllner. . . . . . . 14 Verwirrungen um Lotte Lenya. . . . . . . . . 44 Felix Latendorf Ein paar Notizen und ein neuer Roman Der chinesische Lyriker Li Po Ernst Scherzer in Brechts Gedichten . . . . . . . . . . . . . . 21 „Du verstehst, das Harte unterliegt“. . . . . . 46 XUE Song 81 Sprüche zur Enthärtung unserer Welt Film Alke Bauer „Hoppla“ – nur ein Versehen? . . . . . . . . . 27 Der Augsburger Nazi-Folklore im „Dreigroschenfilm“ von 2018 Brechts „Der Tsingtausoldat“: eine mögliche Jan Knopf Quelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Brechtkreis Michael Friedrichs Neuer Kreativwettbewerb . . . . . . . . . . . . 1 Zwei Brecht-Baustellen in Augsburg . . . . . . 45 Kreativwettbewerb für Augsburger Schülerinnen und Schüler: Post von Papa Der Bert Brecht Kreis Augsburg e.V. lädt zusammen mit dem Brechtfestival Augsburger Schülerinnen und Schüler ab Klasse 5 zum nächsten Kreativwettbewerb ein: Post von Papa. Im Mittelpunkt steht die Bildpostkarte aus dem British Museum in London, die Brecht 1934 an seinen zehnjährigen Sohn Stefan nach Svendborg schickte – die Karte zeigt Kinder beim Marionettentheater, ein Ausschnitt aus einem langen chinesischen Rollbild. Damit sind zahlreiche Themen angeschnitten: Brechts Gedichte für Kinder, das Leben der Familie in Svendborg, die Vater-Sohn-Beziehung, die Exilsituation, das chinesische Pup- pentheater. Alle künstlerischen Formen sind willkommen, Einreichschluss ist der 18. Ok- tober 2021. Der Brechtkreis hat einen „Toolkit“ mit Hintergrundinformationen für Interes- sierte vorbereitet, der per E-Mail abgerufen werden kann (friedrichs@wissner.com). Wie in den letzten Jahren auch wird eine Jury die Beiträge beurteilen, und die besten werden beim Brechtfestival im Februar gezeigt. (mf) ¶ Dreigroschenheft 3/2021
Editorial: „ü70“ – na Und? Impressum „ü70 – ist das ein Problem für dich?“ So Dreigroschenheft werde ich zwar nicht gefragt, es könnte Informationen zu Bertolt Brecht aber sein, zumal ich seit ein paar Jahren Gegründet 1994 Mitglied dieses Klubs bin. Meine Antwort Herausgeber 1994-2009: Kurt Idrizovic wäre: Nein und Ja. www.dreigroschenheft.de • Nein, weil für die Qualität unserer be- Erscheint vierteljährlich zu Quartalsbeginn Einzelpreis: 7,50 € scheidenen Vierteljahresschrift, die nun Jahresabonnement: 30,- € immerhin über ein Vierteljahrhundert besteht, sicherlich die engagierte, kun- Anschrift: dige und hartnäckige Recherche unserer Wißner-Verlag GmbH & Co. KG Autoren und (zu wenigen) Autorinnen Im Tal 12, 86179 Augsburg Telefon: 0821-25989-0 entscheidend ist. www.wissner.com • Ja, weil absehbar ist, dass dann leider redaktion@dreigroschenheft.de doch die eine oder der andere von uns im vertrieb@dreigroschenheft.de Laufe des nächsten Vierteljahrhunderts die Segel streichen, das Handtuch wer- Bankverbindung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG fen, den Löffel abgeben oder den Rechner Stadtsparkasse Augsburg Swift-Code: AUGSDE77 endgültig herunterfahren wird. IBAN: DE15 7205 0000 0000 0282 41 Es erstaunt auch mich immer wieder, wieviel Redaktionsleitung: Michael Friedrichs (mf) Neues über den vergleichsweise gründlich erforschten Brecht und sein Werk immer Wissenschaftlicher Beirat: Dirk Heißerer, Tom Kuhn, Joachim Lucchesi, Werner Wüthrich noch herauszufinden ist. Aber möglicher- weise kann man neue Hochschulkarrieren Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe: nicht mehr auf einem Brecht-Schwerpunkt Alke Bauer, Michael Friedrichs, Andreas Hauff, Dieter aufbauen? Das könnte ein Grund sein, wa- Henning, Jan Knopf, Felix Latendorf, Ernst Scherzer, rum wir relativ wenige (schmerzhaft weni- Florian Vaßen, Xue Song ge) Artikelangebote aus der Altersgruppe Titelbild: Baustelle Universität Augsburg 2011 (Foto: mf) „u40“ bekommen. Druck: WirmachenDruck GmbH, Backnang Umso mehr freut es mich, dass diesmal zwei Junge mit substanziellen Beiträgen ISSN: 0949-8028 vertreten sind: Felix Latendorf, der in Ber- lin studiert, ist schon zum zweiten Mal im Heft (vgl. 3gh 1/2021); Xue Song (ihre Diss. Gefördert durch die bei Prof. Detering erschien 2019) arbei- Stadt Augsburg tet inzwischen an der Shanghai Jiao Tong University. Möge das zum Trend werden! ¶ Gefördert durch den Bert Brecht Kreis Michael Friedrichs Augsburg e.V. Dreigroschenheft 3/2021
Brecht Material – Material Brecht Theater Florian Vaßen Florian Vaßen hat uns den erweiterten 1 Der Verwerter Brecht und sein Material und ausgearbeiteten Text zu seinem Im- Der Titel meines Vortrags „Brecht Materi- pulsvortrag „Brecht Material – Material al – Material Brecht“ bezieht sich auf einen Brecht“ zur Verfügung gestellt, den er im der zentralen Aspekte in Bertolt Brechts Ar- Berliner Ensemble im Rahmen der „Brecht- beitsweise: Alles, was für die künstlerische Gesprächsreihe ‚Und der Haifisch?‘ Digitale Arbeit brauchbar ist, dient Brecht als Ma- Podiumsdiskussion zur Aktualität Brechts“ terial – entsprechend seiner Theorie vom am 30. April 2021 gehalten hat. Die ge- „Materialwert“, die eine radikale Haltung samte Veranstaltung ist zu finden unter: zur Historie und Tradition der Literatur und https://www.berliner-ensemble.de/brecht- des Theaters beinhaltet. Schon lange bevor symposium. Der Beitrag ist auch in der e- er Ende der 1920er Jahre seine „Material- cibs (digitale Zeitschrift) der International wert“-Theorie entwickelte, benutzte Brecht Brecht Society erschienen, zugänglich unter fremde Texte aus Literatur, Philosophie und https://e-cibs.org/issue-20211/ (mf) Gesellschaftstheorie wie einen ‚Steinbruch‘. Respektlos, „ohne schädliche Ehrfurcht“ Abstract (BFA 21, 289), „schnoddrig“ (BFA 21, 288), wie er selbst formuliert, und vor allem „lax“ In the following, I examine Bertolt Brecht’s „in Sachen des geistigen Eigentums“ (BFA theory of material value, based on three 21, 315) bricht er sich – durchaus mit An- theses: Brecht uses world literature and a strengung und Überlegung – das Material variety of philosophical and political theo- aus der Weltliteratur heraus, das er verwen- ries and positions as material for his literary den kann. work and his theatrical practice; citation and montage are central aspects. With this Der Begriff Material hat, laut Duden, die approach, he simultaneously criticizes the Bedeutung „Rohstoff “, Arbeitsmittel, aber ‘heritage’ conception of socialist realism. auch „[schriftliche] Angaben, Unterlagen, Moreover, in a life-long working process, Belege, Nachweise“; er ist etymologisch ab- Brecht uses his own texts as material. A va- geleitet von spätlateinisch „materialia“, be- riety of drafts and text versions are the con- zogen auf lateinisch „materia“. In seinem sequence, while fragments and fragmen- Vgl. auch Günther Heeg (Hg.): Recycling Brecht. tarizations take on a special relevance in his Materialwert, Nachleben, Überleben. Berlin: Thea- process of “‘self-understanding’”. Brecht’s ter der Zeit 2018 und Florian Vaßen: „einfach zer- texts and theatrical concepts ultimately also schmeißen“. Brecht Material. Lyrik – Prosa – Theater become material for other, mostly younger – Lehrstück. Mit einem Blick auf Heiner Müller. Ber- lin/Milow/Strasbourg: Schibri 2021. writers and theater-makers. Thus, he is a Bertolt Brecht: Materialwert, In: ders.: Werke. Große ‘momentous’ classic and still has a great in- kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. fluence on contemporary theater, post-dra- von Werner Hecht u.a. Bd. 21. Schriften 2. Teil 2. matic theater, and today’s director’s theater. Berlin/Weimar/Frankfurt a. M.: Aufbau/Suhrkamp 1993, S. 285–286; im Folgenden steht die Sigle BFA mit Band- und Seitenzahl hinter dem Zitat; vgl. auch BFA 21, 288–289. Duden. Bd. 5. Fremdwörterbuch. Mannheim u.a.: Dreigroschenheft 3/2021
szenisch-theoretischen Text Der Messing- Frank Wedekind und Karl Valentin, später Theater kauf erläutert Brecht sein radikales Ver- Christopher Marlowe, John Gay, Komparu ständnis vom Material mit Hilfe der Sze- Zenchiku, Upton Sinclair, Friedrich Schiller ne eines „Messinghändler[s, der] zu einer und Johann Wolfgang von Goethe, schließ- Musikkapelle kommt und nicht etwa eine lich Maxim Gorki, Titus Livius, John Mil- Trompete, sondern bloß Messing kaufen lington Synge und Hans Jakob Christoffel möchte.“ (BFA 22.2, 778) In Bezug auf das von Grimmelshausen, Hella Wuolijoki, Ja- Theater stellt sich Brecht die Frage: „[Wie roslav Hašek und Nordahl Grieg, Jakob Mi- sollte man heute Klassiker spielen]“ (BFA chael Reinhold Lenz, William Shakespeare, 21, 181) und findet die Antwort im Materi- Molière und George Farquhar. al-Begriff: „Wirklich brauchen davon konn- te man nur mehr den Stoff. […] Was man Brecht verwendet darüber hinaus traditio- zur Anordnung und zum Wirksammachen nelle asiatische und mittelalterliche Thea- dieses Stoffes dann aber brauchte, das wa- terformen, er knüpft an den antiken Chor ren neue Gesichtspunkte. Und die konnte ebenso an wie an moderne Dramenstruktu- man nur aus der zeitgenössischen Produk- ren seit dem Sturm und Drang. Shakespeare tion beziehen.“ (BFA 21, 182) ist das große Vorbild für das Theater, Luther für die Sprache und die Naturwissenschaft- Kontrafaktur und Parodie, Gegenentwurf ler Francis Bacon und Galileo Galilei für das und Bearbeitung, die Erprobung und Ver- Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, mischung von literarischen Formen, das für ein „Theater im wissenschaftlichen Zeit- Experimentieren mit ‚Anti-Formen‘, z. B. alter“ (BFA 22.2, 695). Brechts programma- bei der Oper oder den Lehrstücken, be- tische Theaterschrift Kleines Organon für stimmen dementsprechend Brechts Ar- das Theater bezieht sich dementsprechend beitsweise. Besonders in seiner Dramen- mit ihrem Titel explizit auf Bacons Novum Produktion ist er der große ‚Verwerter‘: Organum, und die dialogische Form des anfangs François Villon und Arthur Rim- Messingkaufs, des anderen grundlegenden baud, Hanns Johst und Rudyard Kipling, theatertheoretischen Textes, übernimmt Brecht aus den Discorsi von Galilei. Dudenverlag, 8. Aufl. 2005, S. 639. „Materia“ bildet mit ihrer spätlateinischen adjektivischen Form „ma- Trotz des Aufgreifens und Verwendens von terialis“ auch den sprachlichen Ursprung des Be- Themen, Formen und Methoden, trotz in- griffs Materialismus. Es ist also durchaus denkbar, dass Brecht in seiner Vorliebe für den Material-Be- tertextueller Bezüge und Korresponden- griff den historischen und dialektischen Materialis- zen, z. B. zwischen Brechts Baal und Johsts mus von Marx und Engels immer mitdenkt. Ernst Der Einsame, der Dreigroschenoper und Bloch verweist in einer etwas eigenartigen Formu- Gays The Beggar’s Opera, dem Jasager und lierung darauf, „daß das Wort Materie von mater dem japanischen Nō-Spiel, Brechts Johan- herstammt, also von fruchtbarem Weltschoß und seinen durchaus experimentierten Formen, […].“ na-Stücken und Schiller, besteht in keiner Ernst Bloch: Das Materialismusproblem, seine Ge- Weise die Gefahr von Epigonalität. Alfred schichte und Substanz. In: ders.: Gesamtausgabe Kerr, einer der schärfsten Kritiker Brechts Bd. 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 17. in der Weimarer Republik, nennt ihn zwar Pointiert schreibt Brecht 1926: „Das Theater wird in absehbarer Zeit das verstaubte Repertoire eines „ein[en] schäumende[n] Epigone[n]“, aber Jahrhunderts einfach auf seinen Materialwert hin untersuchen, indem es die guten alten Klassiker wie Wie Brecht arbeiten auch die Naturwissenschaften alte Autos behandelt, die nach dem reinen Alteisen- in ihren Versuchen mit vorgefundenem, zum Teil Wert eingeschätzt werden.“ (BFA 21, 164) fremdem Material. Vgl. Florian Vaßen: Die ‚Verwerter‘ und ihr ‚Mate- Alfred Kerr: Toller und Brecht in Leipzig. In: Berliner rial‘ – Brecht und Baal. In: ders.: „einfach zerschmei- Tageblatt vom 11.12.1923; zit. nach Bertolt Brecht. ßen“, S. 174–199. Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Varianten, Dreigroschenheft 3/2021
der ebenfalls sehr renommierte Kritiker Sonett zur Neuausgabe des François Villon Theater Herbert Ihering hält zu Recht dagegen: von 1930 heißt es wunderbar zweideutig in der letzten Zeile: „Ich selber hab mir was Die Produktivität eines Dichters erkennt man herausgenommen …“ (BFA 14, 99), und in an seinem Verhältnis zu alten Stoffen. Werfel einem Brief an Alfred Döblin vom 28. Sep- erfindet im ‚Schweiger‘ eine ‚nie dagewesene‘ tember 1938 schreibt Brecht: „Ich halte Ihre Fabel – und ist doch in jedem Zug epigonen Werke für eine Fundgrube des Genusses haft. Brecht entzündet sich an Marlowes und der Belehrung und hoffe, daß meine ‚Eduard II‘ – und ist doch in jedem Zug eigenen Arbeiten Funde daraus enthalten. schöpferisch. Daran, wie ein Dichter Vorgän- Ich glaube, ich kann mich in keiner würdi- ger übernimmt, wie er fremde Bestandteile geren Form als der des Exploiteurs [Hervor- einschmilzt, ja wie er geradezu die Probe der hebung – FV] bei Ihnen einstellen.“ (BFA Anlehnung besteht, sieht man seine Selbstän- 29, 112–113) digkeit. Gebrauchswert, handwerkliches Vorgehen Aus der Materialwert-Theorie folgt, dass und kollektives Arbeiten negieren jeglichen die Zitation als intertextuelles Verfahren Geniekult und stellen die Autonomie des eine der wichtigsten Vorgehensweisen von künstlerischen Subjekts in Frage, wie er be- Brecht ist. Entsprechend der Artefakt-Kri- sonders anschaulich in seiner Keuner-Ge- tik von Friedrich Nietzsche betont er, dass schichte Herr Keuner und die Originalität es sinnvoll ist, „die Stücke als Rohmaterial darlegt: [zu] verwenden“, d. h. „wegstreichen, Neu- es einfügen“ (BFA 22.2, 708), und im Buch Heute, beklagte sich Herr Keuner, gibt es un- der Wendungen „empfiehlt“ er, „Sätze von“ zählige, die sich öffentlich rühmen, ganz al- philosophischen „Systemen“ „voneinan- lein große Bücher verfassen zu können, und der [zu] trennen“, „damit sie erkannt wer- dies wird allgemein gebilligt. Der chinesische den“, sie also aus dem Zusammenhang zu Philosoph Dschuang Dsi verfaßte noch im reißen und „sie einzeln der Wirklichkeit Mannesalter ein Buch von hunderttausend gegenüber[zu]stellen“ (BFA 18, 95). Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand. Solche Bücher können bei uns nicht Um sich die fremden Texte anzueignen, mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt. muss er sie sich anverwandeln und ein- (BFA 18, 18) verleiben, muss sie sozusagen ‚fressen‘; pointiert könnte Brecht als ‚Xenophage‘ be- Brecht ist ein „‚Meister der Klebologie‘“,10 zeichnet werden. Dazu muss er sie jedoch er arbeitet bei der Herstellung seiner Ty- zerlegen, muss Teile „heraushacken“ (BFA poskripte mit „Schere und Klebstoff “11, so- 23, 285), wie er selbst formuliert. In dem dass sie „durch die vielen Schnittstellen und Materialien. Kritisch ediert und kommentiert von Überklebungen einen Objektcharakter“ er- Dieter Schmidt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968, S. 176–180, hier S. 177. 10 Hans-Joachim Bunge: Vorausbemerkungen zu einer Herbert Ihering: Toller und Brecht. In: ders.: Von historisch-kritischen Ausgabe der Schriften Ber- Reinhardt bis Brecht. Vier Jahrzehnte Theater und tolt Brechts. Sonderdruck aus: Mitteilungsblatt der Film. Bd. 1. 1990–1923. Berlin: Aufbau 1958, S. 356– Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 360, hier S. 358f. (1958), H. 1–3, S. 23–30, hier S. 25; zit. nach Ili- Mit einer anderen Akzentuierung spricht auch der ane Thiemann: Fragmente in laufenden Metern. brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade Ein [fragmentarischer] Streifzug durch das Bertolt- 1928 in dem antikolonialistischen und kulturrevolu- Brecht-Archiv. In: Astrid Oesmann / Matthias Rothe tionären Manifesto Antropófago (Antropophagisches (Hg.): Brecht und das Fragment. Berlin: Verbrecher Manifest) von dem Einverleiben und Fressen des Verlag 2020, S. 199–231, hier S. 220. Fremden. 11 Thiemann: Fragmente, S. 225. Dreigroschenheft 3/2021
halten, durch den das verarbeitete Material anderen, die „Techniken der Joyce und Theater und damit der „Entstehungsprozess sicht- Döblin“ seien „lediglich Verfallsprodukte“, bar“ bleibt.12 verteidigt Brecht trotz kritischer Distanz zu „diesen Dokumenten der Ausweglosig- Bestimmendes Strukturmerkmal von keit“ ihre „wertvolle[n] hochentwickelte[n] Brechts Drama und Theater ist folglich die technische[n] Elemente“, die da sind: „In- Montage13 des ‚erbeuteten‘ und ‚gefresse- nerer Monolog (Joyce), Stilwechsel (Joyce), nen‘ Materials. Sie vor allem hat ihm von Dissezierbarkeit der Elemente (Döblin, Dos Seiten des dogmatischen sozialistischen Passos), assoziierende Schreibweise (Joyce, Realismus den Vorwurf des „literarischen Döblin), Aktualitätenmontage (Dos Passos), Formalismus“ eingebracht, der – so Brecht Verfremdung (Kafka) [kursiv im Original].“ spöttisch – „simpel von der décadence“ ab- (BFA 22.2, 630) Kafka, mit dem er sich 1934 geleitet wird. „Die literarischen Avantgardi- in Svendborg nochmals intensiv in Gesprä- sten sind dekadente Bourgeois, fertig. Man chen mit Walter Benjamin auseinandersetzt, muß also von ihnen absehen und bei den hält Brecht „für einen großen Schriftsteller“, Klassikern lernen. […] Die Montage etwa bei dem „das Parabolische mit dem Visio- gilt als Kennzeichen der décadence. Weil nären in Streit“ liege und dessen „Genauig- durch sie die Einheit zerrissen wird, das keit“ „die eines Ungenauen, Träumenden“ Organische [kursiv im Original] abstirbt!“ sei; Brecht lobt den Prozeß, wie Benjamin (BFA 26, 328) Dementsprechend formuliert schreibt, als „ein prophetisches Buch“14. Brecht bitterböse und polemisch am 27. Juli 1938 in seinem Journal: „Die Moskauer Cli- Am deutlichsten orientiert Brecht sich je- que lobt jetzt Hays Stück ‚Haben‘ über den doch – trotz Kritik im Einzelnen – an Al- roten Klee. Das ist echter sozialistischer fred Döblins Konzeption einer epischen Realismus. Neu, weil alt. Hier schuf ein Schreibweise, insbesondere an seinem Ro- Genie, unberührt von Moden und Wirren man Berlin Alexanderplatz, den er nach der Zeit. Was ist Form? Hier ist Inhalt. Das Fritz Sternbergs Auskunft mehrmals inten- Stück ist ein trauriger Schund, Sudermann siv gelesen hat. In dem schon erwähnten ist dagegen ein Fortschritt.“ (BFA 26, 316) Brief an Döblin betont Brecht ausdrücklich den „Fleiß“, „mit dem er“ dessen „literari- Der Material-Begriff steht demnach in sche Werke studiert und sich die vielfachen deutlichem Widerspruch zur Erbe-Konzep- Neuerungen, die […] (Döblin) in die Be- tion des sozialistischen Realismus. Brecht trachtungs- und Beschreibungsweise […] wählt nicht aus nach Kriterien der Klas- (der) Umwelt und des Zusammenlebens senzugehörigkeit oder des Klassenkamp- der Menschen eingebracht“ hat, „zu eigen fes, die Kategorien auf- und absteigende gemacht“ hat. Brecht lobt explizit Döblins Gesellschaftsformationen bzw. sogenannte „bahnbrechende[ ] Beschreibungstechnik“, dekadente und progressive Literatur sind seine „völlig neuartige[n] Gesichtspunkte“ für ihn keine produktiven politischen oder und besonders die „Theorie von der Auto- ästhetischen Kategorien, wenn es darum nomie der Teile“ (BFA 29, 112). geht, was aus der Literatur der vergangenen Jahrhunderte zu gebrauchen ist. Auffällig ist, dass Brecht sich in der Regel nicht nur auf einen Bezugstext konzentriert, Gegen den Vorwurf von Georg Lukács und sich nicht monokausal an einem Autor ori- 12 Thiemann: Fragmente, S. 223. 14 Walter Benjamin: Notizen Svendborg Sommer 1934. 13 In Bezug auf die Verfremdung sieht Brecht sich In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiede- „beim Aufbauen einer Aufführung eher wie einen mann/Hermann Schweppenhäuser. Bd. VI. Frank- Monteur als wie einen Gärtner“ (BFA 25, 429). furt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 523–532. Dreigroschenheft 3/2021
entiert, im Gegenteil, die Verwendung, Zi- Dimension erhalten.16 Gleichwohl besteht Theater tation und Montage, von sehr unterschied- auch für Brecht vor allem in seinen Tex- lichen Prätexten ist charakteristisch für ten zu Baal und im Fatzer der immanente seine Arbeit. Bestes Beispiel ist schon das Widerspruch vom „[S]treben nach dem frühe Theaterstück „Baal“, das zwar als Ge- Glück“, dem „Programm des Lustprinzips, genentwurf zu Hanns Johsts idealistischem, das den Lebenszweck setzt“,17 und den „so- pseudosakralen Drama Der Einsame kon- zialen Beziehungen“ sowie der Kultur als zipiert ist, zugleich aber in einem engen Gegengewicht zur „Willkür des Einzelnen“ intertextuellen Bezug zu Villon, Rimbaud und seinen „Interessen und Triebregun- und Verlaine, zum Alten Testament sowie gen“, wie Freud es in seiner Schrift Das Un- zu Nietzsche und Wedekind steht. Trotz behagen in der Kultur dargelegt hat: „Diese großem Interesse an Diderot ist Brecht kein Ersetzung der Macht des Einzelnen durch Aufklärer und den Symbolisten und Surrea- die der Gemeinschaft ist der entscheidende listen steht er, wie Walter Benjamin belegt, kulturelle Schritt.“18 ambivalent gegenüber. Brecht ist auch kein Hegel-Schüler und kein Nietzsche-Adept Brechts Arbeit mit dem gesammelten „Roh- – schon 1916 betont er, „daß er Nietzsche material“ basiert auf seiner „großen Lei- nicht mehr mag, während er sich für Spi- denschaft des Produzierens“ (BFA 23, 73) noza begeistert“.15 Mit seiner Kritik an der „im weitesten Sinne“, wozu etwa auch die Verelendungstheorie und seinem Ansatz „Liebe“, „Schachzüge“ oder „Spiele“ (BFA beim hedonistischen „Glücksverlangen“ 26, 468)19 gehören, es besteht also ein be- (BFA 23, 242) ist er auch kein dogmatischer ‚Marxist‘. 16 Vgl. Herbert Marcuse: Zur Kritik des Hedonismus. In: ders.: Schriften. Bd. 3. Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934-1941. Springe: zu Klampen Seit seinen frühen Texten, vor allem dem 2004, S. 250-285. Neben Herbert Marcuse haben Baal, betont Brecht Gebrauchen und Ver- sich auch Max Horkheimer und Theodor W. Ador brauchen als Genuss, auch die Theorie des no mit der Frage des Glücks auseinandergesetzt. Materialwerts gehört in den Kontext der Ähnlich wie Marcuse betonen sie, dass das „Ziel“ „das Glück aller Individuen“ sei und „daß kein in- Konsumtion. Rückblickend sieht er in Baal dividuelles Glück möglich sei, das nicht virtuell das zwar „den Untergang eines nur Genießen- der Gesamtgesellschaft in sich beschließt.“ Theodor den in der schließlichen Unfähigkeit zum W. Adorno: Veblens Angriff auf die Kultur. In: ders.: Genuß […]“ (BFA 22.1, 264), aber 1953 bei Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leit- bild. Bd. 10.1. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. der Beschäftigung mit der Oper Die Reisen M.: Suhrkamp 1977, S. 72-96; hier S. 87; vgl. Pola des Glücksgotts betont er gleichwohl: „Es ist Groß: Adornos Lächeln. Das „Glück am Ästhetischen“ unmöglich, das Glücksverlangen des Men- in seinen literatur- und kulturtheoretischen Essays. schen ganz zu töten [Hervorhebung im Ori- Berlin/Boston: de Gruyter 2020. ginal].“ (BFA 23, 242) Wirkliche Potentiali- 17 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscher- tät sieht Brecht in der Verbindung von Kon- lich/Angela Richards/James Strachey. Bd. 9. Fragen sumtion und Produktion, im ästhetischen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Frankfurt Bereich sich manifestierend in dem Gebrau- a. M.: Fischer 1974, S. 191-270, hier S. 208f.; vgl. chen von Material und dessen Verarbeitung auch Florian Vaßen: „Erst kommt das Fressen …“. „Glücksverlangen“, Produktivität und „Material- im literarischen und theatralen Arbeitspro- wert“ – Nietzsches Antimoralismus, Spinozas Mate- zess. Das individuelle Glücksstreben soll in rialismus und Freuds Lustprinzip. In: ders.: „einfach einen kollektiven Produktionsprozess ein- zerschmeißen“, S. 200–223. gebettet werden und könnte so eine soziale 18 Freud: Unbehagen, S. 225. 19 „Produktion muß natürlich im weitesten Sinn ge- 15 Hanns Otto Münsterer: Bert Brecht. Erinnerungen nommen werden, und der Kampf gilt der Befreiung aus den Jahren 1917–22. Mit Photos, Briefen und der Produktivität aller Menschen von allen Fesseln. Faksimiles. Zürich: Arche 1963, S. 9. Die Produkte können sein Brot, Lampen, Hüte, Mu- Dreigroschenheft 3/2021
sonders intensives Verhältnis von Konsum- mit Lebenslauf des Mannes Baal unter dem Theater tion und Produktion von Material. Diese Einfluss der Neuen Sachlichkeit eine neue, Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit deutlich veränderte Fassung, in der Baal aus beschreibt Heiner Müller treffend als „Ma- der Natur in die Großstadt geht und dort als terialschlacht Brecht gegen Brecht“.20 Monteur arbeitet. 1929/30 experimentiert Brecht unter dem Titel Der böse Baal der 2 Brechts Eigenmaterial und asoziale mit kleinen Lehrstücken und 1955 stellt er schließlich eine letzte Fassung her. „‚Selbstverständigung‘“ Zuvor schreibt er 1953 Viele Schriftsteller be- rückblickend in dem arbeiten bekanntlich Aufsatz Bei Durchsicht immer wieder und über meiner ersten Stücke im einen längeren Zeit- Kontext der Fragment raum ihre Texte, aber gebliebenen Oper Die keiner, so meine zweite Reisen des Glücksgotts: These, macht das so in- „Zwanzig Jahre nach tensiv und so extensiv der Niederschrift des wie Bertolt Brecht. Sei- ‚Baal‘ bewegte mich ein ne Texte sind nie fertig, Stoff (für eine Oper), das von ihm zu Papier der wieder mit dem Gebrachte dient ihm Grundgedanken des grundsätzlich als Ma- ‚Baal‘ zu tun hatte.“ terial für seine weitere (BFA 23, 241) Auch von literarische Arbeit bzw. vielen anderen Brecht- für seine Theaterpraxis. Texten gibt es mehrere Es geht also zum einen Entwürfe und unter- um verschiedene Text- schiedliche Fassungen, Fassungen sowie me- von der Maßnahme diale Variationen und Drei Fassungen des „Galilei“: viel Material z.B. fünf,21 vom Leben zum anderen um das des Galilei, um noch Verhältnis von Litera- ein weiteres Beispiel zu tur und Theater, gerade auch bei der Lehr- nennen, kennen wir drei Fassungen, eine stück-Konzeption. frühe von 1938/39, die amerikanische von 1947 und schließlich eine letzte von 1955/57 Für die lebenslange Beschäftigung mit ei- (vgl. BFA 5, 7–289). nem ästhetischen und thematischen Ma- terial ist erneut Brechts Baal ein besonders Beim Dreigroschen-Komplex finden wir prägnantes Beispiel: Die erste Fassung des eine andere Art der Material-Verwertung Baal datiert von 1918, die zweite von 1919, in Form medialer Vielfalt: Auf die Dreigro- 1920 kommt eine Buchpublikation nicht zu- schenoper von 1928 folgt 1930 das Filmex- stande, die erste Veröffentlichung von 1922 posé Die Beule, aus dem für Brecht geschei- im Kiepenheuer-Verlag kritisiert Brecht als zu „glatt“ (BFA 26, 129). 1926 entsteht 21 Siehe Bertolt Brecht: Die Maßnahme. Kritische Aus- gabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg. sikstücke, Schachzüge, Wässerung, Teint, Charakter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976; Steinweg erwähnt Spiele usw. usw.“ (BFA 26, 468) in seinem Nachwort „etwa 80 unterschiedliche 20 Heiner Müller: Fatzer±Keuner. In: ders.: Werke. Hg. Wortfolgen“ und betont ausdrücklich, dass Brecht v. Frank Hörnigk. Bd. 8. Schriften. Frankfurt a. M.: seine Texte nicht als „Endprodukte“ ansieht, sondern Suhrkamp 2005, S. 223–231, hier S. 231. als „in Entwicklung zu haltende Gefüge.“ (S. 484) Dreigroschenheft 3/2021
terten Filmprojekt des Dreigroschenfilms Ökonomie von Karl Marx zitiert, in dem es Theater (1930/31) entsteht 1932 Der Dreigroschen- heißt: „Wir überließen das Manuskript (der prozess als Ein soziologisches Experiment. Deutschen Ideologie ‒ F.V.) der nagenden Hinzu kommt 1933/34 im Exil der Dreigro- Kritik der Mäuse um so williger, als wir un- schenroman, der in seiner Montageform sern Hauptzweck erreicht hatten – Selbst- eine Vielzahl von sichtbaren, kursiv gesetz- verständigung.“23 ten Zitaten enthält. Ergänzt man noch die große Anzahl von sehr unterschiedlichen In diesem Zusammenhang steht auch die Schallplatten mit den Songs der Dreigro- Diskussion um Fragment und Fragmentari- schenoper sowie Brechts im Kontext der sierung,24 also die Frage nach dem Scheitern Dreigroschenoper veröffentlichte theoreti- eines Arbeitsprozesses, respektive nach dem sche Überlegungen zum epischen Theater, Status eines Entwurfs oder einer unfertigen vor allem zur „Literarisierung“ (BFA 24, Fassung, weiterhin die Erprobung eines 58) und zur „Trennung der Elemente“ (BFA Textes und die bewusste Fragmentarisie- 22, 156), dann wird eine vielgestaltige und rung, entsprechend eben dieser Arbeitswei- heterogene mediale Materialverarbeitung se der „‚Selbstverständigung‘“25 bei Fatzer sichtbar. oder gemäß Heiner Müllers Überlegungen zum ‚synthetischen Fragment‘.26 In einem Seinen Schreibprozess beschreibt Brecht als Brief an Helene Weigel erwähnt Brecht „Selbstverständigung“, wie es im Kontext 1928 seinen „‚Urfatzer‘“ (BFA 28, 312) und des Fatzer, seinem umfangreichsten und stellt damit sicherlich eine Verbindung zu wichtigsten Fragment, heißt: Goethes Urfaust her, der neben „Kleists ‚Guiskard‘ und Büchners ‚Wozzeck‘“– so das ganze stück, da ja unmöglich, Brecht – „zu einer eigentümlichen Gat- einfach zerschmeißen für experiment, tung von Fragmenten“ „gehört“, „die nicht ohne realität! unvollkommen, sondern Meisterwerke zur „selbstverständigung“22 sind, hingeworfen in einer wunderbaren Skizzenform.“ (BFA 24, 431–432) Heiner Brecht will „das ganze stück“ „zerschmei- Müller greift diesen Vergleich der beiden ßen“, d. h. wie die Prätexte der Weltliteratur Theatertexte auf: Das „Fatzermaterial“ ist wird auch sein eigener Text, ein Konvolut „Brechts größte[r] Entwurf und einzige[r] von ca. 550 Seiten, ‚zerlegt‘, sodass er ihn als Text, in dem er (Brecht) sich, wie Goethe „Rohmaterial“ weiter verwenden bzw. neu mit dem Fauststoff, die Freiheit des Expe- zusammenstellen oder montieren kann. riments herausnahm, Freiheit vom Zwang Der gesamte Arbeitsprozess dient vor al- zur Vollendung […]. Ein inkommensurab- lem „zur ‚selbstverständigung‘“ des Schrei- les Produkt, geschrieben zur Selbstverstän- benden. Das Wort Selbstverständigung hat digung.“27 Brecht in dieser handschriftlichen Notiz 23 Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: durch doppelte Unterstreichung hervorge- ders./Friedrich Engels: Werke. Bd. 13. Berlin: Dietz hoben und zudem in Anführungsstriche 1969, S. 3-160; hier S. 10. gesetzt und damit als Zitat gekennzeichnet. 24 Vgl. hierzu zuletzt Oesmann/Rothe (Hg.): Brecht und das Fragment. Es ist zu vermuten, dass Brecht hier aus 25 Vgl. Florian Vaßen: „Das utopische Moment ist in dem „Vorwort“ Zur Kritik der politischen der Form“. „Selbstverständigung“, Schreibprozess und theatrale Form – Heiner Müllers und Bertolt 22 BBA 109/56 (hs.); Textstellen, die nicht in BFA Brechts Fatzer. In: ders.: „einfach zerschmeißen“, enthalten sind, werden nach dem Bertolt-Brecht- S. 521–536. Archiv mit der Sigle BBA und den entsprechenden 26 Vgl. Heiner Müller: Ein Brief. In: ders.: Werke. Bd. 8, Nummern zitiert; siehe auch Günter Glaeser: Fatzer S. 174–177, hier S. 175. [Kommentar]. In: BFA 10.2, 1120. 27 Müller: Fatzer±Keuner, S. 229. Dreigroschenheft 3/2021
Die Differenz zwischen der Schreib- und Qualität, d. h. in seiner Brauchbarkeit, nicht Theater der Anwendungsebene hat Brecht im Kon- überprüfbar, wie Brecht in seiner Exilzeit text der Lehrstück-Theorie besonders deut- bei seinem äußerst unbefriedigenden Ar- lich angesprochen: Unter dem Titel „Ftz- beiten für die Schublade erfahren hat. dok“, also Fatzerdokument, heißt es: Ausdruck dieses dialektischen Verhältnisses Der Zweck, wofür eine Arbeit gemacht wird, sind die von Brecht entwickelten Modell- ist nicht mit jenem Zweck identisch, zu dem bücher, die er seit den 1940er Jahren, vor sie verwertet wird. So ist das Fatzerdokument allem nach dem Zweiten Weltkrieg, als er zunächst hauptsächlich zum Lernen des in der SBZ/DDR endlich selber inszenieren Schreibenden gemacht. konnte, mit Unterstützung von Ruth Berlau konzipierte.28 Mit Beschreibungen, Kom- Wird es späterhin zum Lehrgegenstand, mentaren und Analysen, mit Notaten und so wird durch diesen Gegenstand von den Protokollen, Noten, Skizzen und Zeichnun- Schülern etwas völlig anderes gelernt, als der gen, vor allem aber mit einer Vielzahl von Schreibende lernte. Ich, der Schreibende, Bühnenfotos werden der Grundgestus des muß nichts fertigmachen. Es genügt, daß ich jeweiligen Stückes sowie szenische Arran- mich unterrichte. Ich leite lediglich die Un- gements, die Gliederung der Fabel, Tem- tersuchung und meine Methode dabei ist es, po, Ablauf der Aufführung und Varianten die der Zuschauer untersuchen kann. (BFA festgehalten. Brecht geht es dabei jedoch 10.1, 514, BBA 109/14 + 520/07) nicht um Vorschriften, nicht einmal um Vorbilder, sondern um experimentelle Ent- Brecht zeigt hier, dass seine Lernprozes würfe als Theater-Material zwecks Weiter- se als Schreibender andere sind als die entwicklung und Weitergabe seiner Thea- bei der ‚Verwertung‘ in Form eines „Lehr terarbeit mit Blick auf spätere Inszenierun- gegenstand[s]“, respektive Materials. Brecht gen. In der umfangreichen großformatigen muss kein ‚fertiges‘ Werk schaffen, sein Publikation Theaterarbeit von 1952, in der Schreibprozess muss nicht abgeschlossen „6 Aufführungen des Berliner Ensembles“29 sein, vielmehr „unterrichte[t]“ er sich selbst versammelt sind, heißt es dazu: und macht dazu mit Hilfe des „Fatzerdo- kuments“ eine „Untersuchung“; „der Zu- Modelle zu benutzen ist eine eigene Kunst; schauer“ dagegen soll Brechts „Methode“ so und so viel davon ist zu erlernen. Weder in der Anwendung, also in der Praxis, „un- die Absicht, die Vorlage genau zu treffen, tersuchen“. noch die Absicht, sie schnell zu verlassen, Brechts Theatertexte dienen im Zusammen- 28 Vgl. Bertolt Brecht: [„Katzgraben“-Notate 1953]. spiel mit Musik, Bühnenbild und Schau- In: BFA 25, 399-490. „Während die Modellbücher Dokumente von Aufführungsergebnissen darstel- spielkunst aber auch als besonders wich- len, sind die „Katzgraben“-Notate 1953 der erste tiges Material für seine Theaterpraxis. Die und einzige Versuch Brechts, einen Probenprozeß Texte müssen sich bei den Inszenierungen darzustellen, der zum Aufführungsmodell führt.“ ‚bewähren‘ und werden – ausgehend von Werner Hecht: „Katzgraben“-Notate 1953. In: BFA 25, 542–578, hier S. 545; vgl. auch Iliane Thiemann: der theatralen Praxis – immer wieder über- Fragmente, S. 225. arbeitet und modifiziert, neu gelesen und 29 Berliner Ensemble/Helene Weigel (Hg.): Theaterar- ausprobiert. Ihrerseits bildet die jeweilige beit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles. Dres- Theaterpraxis das Material für Verände- den: Dresdner Verlag 1952; vgl. BFA 5. Zu der oft rungen und Bearbeitungen der Texte. Ohne übersehenen Bedeutung von Brechts Theaterarbeit vgl. Detlev Schöttker: Brechts „Theaterarbeit“. Ein Aufführungsmöglichkeit ist der Theater- Grundlagenwerk und seine Ausgrenzungen. In: text in seiner ästhetischen und politischen Weimarer Beiträge 53 (2007), H. 3, S. 438–451. 10 Dreigroschenheft 3/2021
ist das Richtige. Bei dem Studium von Mo- Überlegungen zur „Schauspielkunst“ (BFA Theater dellen, von Erörterungen und Erfindungen 22.2, 618) explizit auch auf nichtprofes- beim Einprobieren eines Stücks, sollte man sionelle Schauspieler*innen und arbeitet angesichts gewisser Lösungen von Proble- mit Amateuren: „Von Anfang an wurden men hauptsächlich der Probleme ansichtig Amateure mit ausgebildet.“ (BFA 22.1, 555) werden. Gedacht als Erleichterungen, sind Ausdrücklich betont er, dass „es sich lohnt, die Modelle nicht leicht zu handhaben. Sie vom Amateurtheater zu sprechen“ (BFA sind nicht gemacht, das Denken zu ersparen, 22.1, 593). sondern es anzuregen; nicht dargeboten, das künstlerische Schaffen zu ersetzen, sondern Auch die Zuschauer*innen sehen sich in es zu erzwingen. Nicht nur zur Abänderung Brechts epischem Theater nicht mit ei- der Vorlage, auch zur Annahme ist Phantasie nem in sich geschlossenen Werk kon- nötig. (BFA 25, 398) frontiert, Theaterautor, Regisseur*in und Schauspieler*innen geben keine feste Be- Diese Modellbücher sollen also „Vorlagen“, deutung, keine fertige Interpretation vor. d. h. Material, für die praktische Theaterar- Das Publikum soll angesichts des dargebo- beit sein. tenen Materials vielmehr „eine Haltung“ entwickeln, „die auch in den Wissenschaf- In einer anderen Weise spielt der Materi- ten eingenommen werden muß“ − „eine al-Begriff für Brecht auch auf den Proben staunende, erfinderische und kritische“ eine auffällige Rolle. Von ihm und seinem (BFA 26, 407), sodass ein Spannungsfeld Theaterkollektiv werden dabei Materialien zwischen Bühne und Publikum entsteht. vorgestellt und ausgebreitet, untersucht und Brecht lehnt es ab, „den Zuschauer in eine geprüft, kritisiert und modifiziert. Die spe- einlinige Dynamik hineinzuhetzen, wo er zifische Form der Proben besteht aus dem nicht nach rechts und links, nach unten und „Ausprobieren [kursiv im Original]“ von oben schauen kann“ (BFA 24, 59) – eine „mehrere[n] Möglichkeiten“, wie Brecht Formulierung, die schon auf das postdra- in dem Text Haltung des Probenleiters (bei matische Theater vorausdeutet. Für dieses induktivem Vorgehen) (BFA 22.1, 597–599) „komplexe Sehen“ (BFA 24, 59) bedarf es schreibt. Er versteht den „Probenleiter“ – so Brecht – neben der „Schauspielkunst“ (BFA 22.1, 597), wie er den Regisseur allerdings einer „Zuschaukunst“ (BFA 22.2, nennt, nicht als genialen Künstler, der sei- 618). nen Regieeinfall umsetzen und durchsetzen will, sondern als Handwerker mit „induk- In Brechts Lehrstück-Konzeption bilden tivem Vorgehen“ in einem kollektiven Pro- schließlich die komplexen poetischen Tex- zess. Seine „Aufgabe ist es, die Produktivität te in besonderer Weise das Material oder der Schauspieler (Musiker und Maler usw.) – wie es auch gelegentlich heißt – die Fo- zu wecken und zu organisieren“ (BFA 22.1, lie, das Dispositiv für den Spielprozess der 597), indem er ihnen den Theaterraum, Teilnehmenden und Agierenden, denn: Bewegung und Geste, vor allem aber den „Die Form der Lehrstücke ist streng“, d. h. Text und den sprachlichen Ausdruck als konzentriert und in gewisser Weise redu- Material anbietet.30 Brecht bezieht seine denen er ein wichtiges Tondokument zusammen- 30 Anschaulich präsentiert und erfahrbar wird neu- gestellt hat. Brecht probt Galilei 1955/56. Ein Mann, erdings Brechts Probenarbeit durch 133 Tonbän- der keine Zeit mehr hat. Originalaufnahmen. Ausge- der mit Aufzeichnungen von fast 100 Stunden von wählt und zusammengestellt von Stephan Suschke. Brechts Proben des Galilei, seiner letzten Insze- Berlin: speak low 2021. [3 CDs mit Booklet] [Siehe nierung im Jahr 1955/56, Tonbänder, die Stephan auch die Besprechung von David Barnett in 3gh 2 Suschke im Bertolt-Brecht-Archiv entdeckt und aus (2021), S. 25–27.] Dreigroschenheft 3/2021 11
Theater Auch eine Art von Materialverwertung: Brecht-Zitate zu Baustellenplanen! Universität Augsburg, 2011 (Foto: mf) ziert, „jedoch nur, damit Teile der eigenen lich drittens die These auf: Brecht ist im Erfindung und aktueller Art desto leichter deutschsprachigen Raum der wirkungs- eingefügt werden können.“ (BFA 22.1, 351) vollste Theater-‚Klassiker‘32 im 20. und 21. Die Lehrstücke stehen nicht für einen Lern- Jahrhundert und dient dementsprechend inhalt, sie sind vielmehr Lehrgegenstand in mit seinem epischen Theater und sogar Form von politisch-theatralem Material für mit seinen Lehrstücken als Material für den Lernprozess und die ästhetische Erfah- vielfältige Theaterprozesse. Als ‚Klassiker‘ rungsproduktion der Beteiligten, denn: „Es kann Brecht bezeichnet werden, weil er handelt sich bei diesen Arbeiten um Kunst traditionelle theatrale Elemente, vorbild- für den Produzenten, weniger um Kunst für hafte Theater-Experimente und seine Zeit den Konsumenten“ (BFA 22.1, 167). überdauernde Theaterformen miteinander verbindet, und wirkungsvoll ist er immer 3 Der folgenreiche ‚Klassiker‘ Brecht als noch, wenn auch nicht direkt politisch, so doch politisch-ästhetisch. Er ist keineswegs Material ein ‚toter Hund‘, wie er lange und immer Gegen Max Frischs Formulierung, Brecht wieder vor allem im Feuilleton betitelt wor- habe die „durchschlagende Wirkungslosig- den ist, vielmehr ist er seit vielen Jahren der keit eines Klassikers“31, stelle ich schließ- meist gespielte Autor nach Shakespeare, und die heutige Theaterpraxis und viele ak- 31 Max Frischs Diktum (1965) von der „durchschla gende[n] Wirkungslosigkeit eines Klassikers“ in tuelle Inszenierungsstile sind ohne Brecht Bezug auf Brecht war vermutlich ironisch gemeint, nicht denkbar. wurde aber in der Folgezeit zu einem zentralen As- pekt in der Kritik an Brecht. Max Frisch: Der Autor Abgesehen von Brechts Regie-‚Schülern‘ und das Theater. In: ders.: Öffentlichkeit als Partner. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 68–89; hier S. 73; Vgl. auch Frischs Äußerungen zu Brecht in: Max Werke. Bd. VI. 1968–1975, S. 5–404, zu Brecht be- Frisch: Tagebuch 1946–1949. In: ders.: Gesammelte sonders S. 20–38. Werke in zeitlicher Folge. Sechs Bände. Bd. II 1944 32 Zu Brecht als Klassiker vgl. auch Hellmuth Karasek: –1949. Hg. v. Hans Mayer unter Mitwirkung von Bertolt Brecht. Der jüngste Fall eines Theaterklassi- Walter Schmitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, kers. München: Kindler 1982; ders.: Vom Bürger- S. 347–750, zu Brecht besonders S. 593–603; Max schreck zum Klassiker. Hamburg: Hoffmann und Frisch: Tagebuch 1966–1971. In: ders.: Gesammelte Campe 1995. 12 Dreigroschenheft 3/2021
Peter Palitzsch, Egon Monk, Benno Bes- sowie Die Maßnahme entstehen neu und Theater son und Manfred Wekwerth – später kann zugleich widerspruchsvoll weiterentwickelt wohl auch Heiner Müller dazu gezählt als Der Horatier bzw. als Mauser sowie Der werden – verwenden auch viele andere Auftrag; Die Schlacht bildet einen Kontra- Regisseure*innen am traditionellen Stadt- punkt zu Furcht und Elend des III. Reiches. theater ebenso wie an Freien Theatern oder Besonders hervorzuheben sind Müllers ge- bei den großen weltberühmten Häusern scheiterter Versuch, Brechts Fragment Die Brechts theatrale Techniken und Theater- Reisen des Glücksgotts mit seinem Glücks- formen, als zurzeit bekannteste sind wohl gott weiterzuschreiben, und seine Experi- René Pollesch und Frank Castorf zu nen- mente mit Brechts Fatzer-Fragment. nen. Brecht beeinflusst sowohl das Theater, das in der realistischen Tradition steht, als Es ist ungewiss, welchen Stellenwert in auch das Regietheater, vor allem ist er ein Zukunft das Brecht-Material in der Thea- Ausgangspunkt des sogenannten Postdra- ter-Entwicklung haben wird, wie also ein matischen Theaters. Selbst seine Schau- „Theater der Zukunft“,34 von dem Brecht spieltheorie,33 die Jahrzehnte deutlich im mit Blick auf Die Maßnahme spricht, und Schatten von Konstantin S. Stanislawski, wie „der höchste Standard technisch“ (BFA Lee Strasberg und Michail Tschechow 26, 330), den er im Fatzer zu finden glaubt, stand, beeinflusst in neuerer Zeit verstärkt aussehen werden. Aber Brechts Theater, die Schauspieler*innen etwa bei Castorf seine Texte, seine Theorie und seine Praxis, und Milo Rau. werden weiter als Material eine kritische Verwendung finden. Brechts Materialwert- Besonders sichtbar aber ist Brechts Wei- Theorie bildet, gerade auch auf ihn selbst terwirken in der deutschsprachigen Dra- angewandt, heute noch einen produkti- matik: In Auseinandersetzung mit Brecht ven Ausgangspunkt für die Theaterpraxis. steht Max Frisch mit seinen ‚Lehrstücken Zurecht weist Müller darauf hin: „Brecht ohne Lehre‘ und – wenn auch distanzierter gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist – Friedrich Dürrenmatt mit seinen grotes- Verrat.“35 Aber dazu muss das Material ken Komödien, weiterhin das Dokumentar gebraucht und praktisch erprobt werden. theater eines Heinar Kipphardt und Peter Deshalb ist Sebastian Kirschs Modifikati- Weiss, aber auch jüngere dokumentarische on von Müllers Statement gleichermaßen Experimente, das neue Volkstheater eines zutreffend: „Brecht zu kritisieren ohne ihn Franz Xaver Kroetz, ganz zu schweigen von zu gebrauchen ist Verrat!“36 – also weiterhin einer ganzen Generation von Dramatikern praktische Kritik und kritische Praxis des aus der DDR; die bekanntesten sind Peter Brecht-Materials. ¶ Hacks, Volker Braun und Heiner Müller. Letzterem diente Brecht außer Shakespeare, Florian Vaßen war von 1982 bis 2009 Pro- Büchner, Kafka, Artaud, Beckett als bevor- fessor für neuere deutsche Literatur an der zugtes Material: Neben Brechts Büsching- Universität Hannover und u.a. Leiter des Entwurf steht Müllers Der Lohndrücker, die Studiengangs Darstellendes Spiel Lehrstücke Die Horatier und die Kuriatier florian.vassen@germanistik.uni-hannover.de 33 In den „Katzgraben“-Notaten behauptet Brecht, dass das Theater in Bezug auf die Verfremdung „noch 34 Brecht referiert von Manfred Wekwerth. In: Brecht: nicht weit genug“ sei, und betont: „Ich müßte die Die Maßnahme, S. 262–266, hier S. 265. Schauspieler völlig umschulen und würde bei ihnen 35 Heiner Müller: Fatzer±Keuner, S.231. und beim Publikum einen ziemlich hohen Bewußt- 36 Sebastian Kirsch. Brecht kritisieren ohne ihn zu ge- seinstand benötigen, Verständnis für Dialektik usw.“ brauchen ist Verrat! In: Theater der Zeit 67 (2012), (BFA 25, 430) H. 3, S. 61. Dreigroschenheft 3/2021 13
„Was erwartet man noch von mir?“ – Bertolt Brecht Lyrik bei Werner Söllner Felix Latendorf I Man erwartet noch etwas von mir ist „an „Es brechtete in den siebziger Jahren au- bert brecht“ gewidmet. genfällig von Temeswar über Klausenburg und Hermannstadt bis Bukarest.“ Damit Dieses Gedicht soll nachfolgend im Mittel- diagnostizierte Peter Motzan für die jüngste punkt der Untersuchung Bertolt Brecht bei Generation rumäniendeutscher Schriftstel- Werner Söllner stehen (II). Abschließend ler:innen eine intensive Auseinanderset- werden exemplarisch zwei weitere Ausei- zung mit dem Werk Bertolt Brechts. Pa- nandersetzungen des rumäniendeutschen noramatisch stellt er die Dialogverfahren Schriftstellers mit dem Brechtschen Oeuvre rumäniendeutscher Schriftsteller:innen wie beleuchtet (III). u. a. Richard Wagner, Anemone Latzina, Rolf Bossert, Johann Lippet und Werner In der Forschung wurde Söllners Werk be- Söllner dar. sonders häufig in Beziehung zu intertextu- ellen Strategieverfahren gesetzt. Er selbst Der letztgenannte Söllner wurde 1951 in verweist – jedoch weniger offensichtlich Neupanat/Horia im Banat geboren und starb – auf diese Verfahren, indem er sich auf 2019 in Frankfurt am Main. Sein schmales den Traditionslinien von Heinrich Heine, Werk, das einige Lyrikbände, noch weniger Georg Trakl, Gottfried Benn oder Fried- verstreute Prosa-Schriften sowie Essayis- rich Hölderlin, Peter Huchel, Ingeborg tisches beinhaltet, steht bereits mit seinem Bachmann, Paul Celan, Johannes Bobrow- Debütband wetterberichte (gedichte. Klau- ski positioniert. Einen dezidierten Verweis senburg 1975) unter dem Einfluss Brechts. Söllners, ebenfalls in der Tradition Brechts Doch erst ein Jahr später tritt Söllner expli- zu stehen, gibt es indes nicht. Dafür setzt zit in den Dialog mit Brecht – sein Gedicht er sich implizit in ein Verhältnis zu dessen „mündigen Nachfahren aus der DDR“ und Motzan (1999, 146). beschreibt zugleich das Lebensgefühl in Hiermit wird die Generation an Schriftsteller:innen den 1970er Jahren in Rumänien: verstanden, die in den 1970er Jahren begannen, erste Publikationen vorzulegen. Im Kontrast dazu Einen so selbstverständlichen Umgang mit steht die Einteilung der gesamten rumäniendeut- den Büchern moderner Autoren wie er hier- schen Literatur in Epochen. Wilhelm Solms schreibt im Vorwort des plakativ betitelten Bandes Nachruf zulande [in der BRD, F.L.] möglich ist, konnte auf die rumäniendeutsche Literatur: „So war die jüngste Epoche der rumäniendeutschen Literatur, Sowohl in Söllner (1976a, 74f.) als auch in ders. die etwa von 1972 bis 1985 gedauert hat, nicht nur (1976b, 24f.). ihr künstlerischer Höhepunkt, sondern zugleich ihr U. a. wird von seinem „intertextuellen Erinnerungs- Endpunkt.“ (S. 11) projekt“ (Vgl. Schau [2003, Kap. 2]), seiner „ausge- Vgl. einführend zu Werner Söllners Leben und prägten und auffälligen Intertextualität“ (Tudorica Werk: Detering: Art.: „Söllner, Werner“. [1997], zit. n. Schau [2003, 97, Anm. 95]) oder einer Vgl. bspw. das Eröffnungsgedicht Ausspruch eines „teleskopartigen Intertextualität“ (Campbell [2017, Baumes (S. 5), das sich in den Diskurs des „Ge- 66]) gesprochen. sprächs über Bäume“ einschreibt. Vgl. dazu Brecht: Vgl. Söllner (1994b, 12). An die Nachgeborenen. In: ders. (1988, Bd. 12, 85- Vgl. Söllner (2017a, 47). 87) u. Rduch (2017). Motzan (1976, 97) u. vgl. ders. (1999, 145f.). 14 Dreigroschenheft 3/2021
man zwar nicht pflegen; aber die relativ libe- von mir14 in eine augenscheinliche Bezie- Lyrik rale Informationspolitik machte es ein paar hung zu dem gewidmeten setzt, ist jedoch Jahre lang möglich, in den Universitätsbiblio- bereits der Titel als Anspielung zu lesen, theken Hugo Friedrich und Levi-Strauss in der als Umformulierung der Brechtschen Fra- richtigen Reihenfolge zu lesen; wenn in den ge: „Was erwartet man noch von mir?“ Der Literaturseminaren von Trakl und Werfel die Titel als Intertext bezieht sich auf Brechts Rede war, weil gerade der deutsche Expressi- Poem Der 4. Psalm.15 Aus der Kombination onismus „dran“ war, brüteten die Interessier- von paratextueller Widmung und intertex- testen unter den Studenten außerhalb der Uni tueller Anspielung konstruiert sich das ar- auch über Hans Henny Jahnn oder Carl Stern- chitextuelle Formprinzip des Söllnerschen heim. Und in den Buchhandlungen kauften Gedichts: in Bezug auf Ersteres als Dialog die Literaturbesessenen unterm Ladentisch mit dem Zugeeigneten, in Bezug auf Letzte- und für relativ viel Geld Taschenbuchausga- res als Gattungstransfer des Psalms. ben von Hans Magnus Enzensberger ebenso wie von Ernst Jandl, Neuerscheinungen von Die Beschäftigung in der expressionis- Günter Kunert ebenso wie von Volker Braun tischen Dichtung mit den Psalmen der oder Karl Mickel.10 Bibel und deren Stilmerkmalen (Prosage- dicht, Parataxe, Dialogstruktur, usf.) bildete Um zu vermeiden, dass der Intertextuali- für Brecht die Grundlage seiner Auseinan- täts-Begriff überstrapaziert wird – wie im dersetzung mit dieser Form.16 Für Söllner Querschnitt durch die Forschung skizziert wiederum ist allein Brechts Der 4. Psalm wurde –, soll auf Gérard Genettes Theorie grundlegend – erst durch dieses Gedicht, der „Transtextualität“11 zurückgegriffen erst durch den Dialog mit Brecht entsteht werden. Mit Transtextualität ist nach Ge- sein Text.17 nette alles das gemeint, was einen Text in eine „geheime oder manifeste Beziehung Formal übernimmt Söllner Brechts nume- zu anderen Texten bringt“12. Die Einteilung risches Prinzip und gliedert seinen Text in in fünf Typen von Transtextualität (Inter- vier Abschnitte. Brechts Gedicht hingegen textualität, Paratextualität, Metatextualität, ist lediglich in drei Abschnitte aufgeteilt. Architextualität und Hypertextualität)13 Daher kommt dem vierten und letzten Part erlaubt es, die komplexen transtextuellen (S, V. 25f.) des Söllnerschen Gedichts eine Strategieverfahren Söllners differenzierter besondere Aufgabe zu, nämlich eine repeti- zu erfassen und zu beschreiben. tive. Die Frage „warum ist also nicht ruhe?“ (S, V. 25) ist ebenfalls ein Zitat aus dem II Brechtschen Psalm-Gedicht (B, V. 7). Das abschließende „man erwartet noch etwas Während die Widmung „an bert brecht“ von mir“ (S, V. 26) wiederholt den Titel, Söllners Gedicht Man erwartet noch etwas 14 Im Folgenden werden die Verse des Gedichts im Text 10 Söllner (1990, 134). mit der Sigle „S, V. #“ zitiert – die Strophennumme- 11 Genette (1993). rierungen und Leerzeilen werden dabei nicht be- 12 Ebd., S. 9. rücksichtigt. 13 Genettes terminologische Einteilung verlangt eine 15 In: Brecht (1988, Bd. 11, 32f.). Im Folgenden wer- gleichartige Fusion der Begriffe Transtextualität den die Verse des Gedichtes mit der Sigle „B., V. #“ (Paratextualität usw.) und Text, wie sie das bereits zitiert – die Strophennummerierungen und Leerzei- existierende Wort des „Intertextes“ mit den Begrif- len werden dabei nicht berücksichtigt. fen Intertextualität und Text unternommen hat. Für 16 Vgl. Mautner (2001, 84-96). Genette sind Intertexte demnach eine Unterkatego- 17 Insofern lässt sich Söllners Man erwartet noch etwas rie von Transtexten. Solche Intertexte treten als Zi- von mir als Hypertext von Brechts Der 4. Psalm ver- tat, Plagiat und Anspielung auf. Vgl. ebd., S. 10. stehen. Vgl. Genette (1993, 14f.). Dreigroschenheft 3/2021 15
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