InforMationen zu bertolt brecHt - Dreigroschenheft

Die Seite wird erstellt Linus Wiese
 
WEITER LESEN
InforMationen zu bertolt brecHt - Dreigroschenheft
Dreigroschenheft
      Informationen zu Bertolt Brecht

28. Jahrgang                                    Heft 3/2021

F. Vassen über Brecht Material – Material Brecht (foto)
Jan Knopf über Nazi-Folklore im „Dreigroschenfilm“
Felix Latendorf über Brecht und Werner Söllner
XUE Song über Li Po in Gedichten von Brecht
InforMationen zu bertolt brecHt - Dreigroschenheft
BR E CHT
       Das gesamte Programm
       jetzt unter
       www.buchhandlung-am-obstmarkt.de

                    Brechtshop in der
KIGG

                    Obstmarkt 11
                    86152 Augsburg
                    Telefon 0821-518804
                    Fax 0821-39136
                    post@buchhandlung-am-obstmarkt.de
                    www.buchhandlung-am-obstmarkt.de
InforMationen zu bertolt brecHt - Dreigroschenheft
Inhalt

Editorial .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2   Rezensionen
Impressum.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2       Desertieren, um zu leben.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 31
                                                                               Florian Vaßen sammelt eigene Texte einer
Theater                                                                        mehr als ein halbes Jahrhundert währenden
                                                                               Befassung mit Brecht
Brecht Material – Material Brecht.  .  .  .  .  .  .  . 3
                                                                                      Dieter Henning
    Florian Vaßen
                                                                               Krenek und Weill; Novembergruppe:
Lyrik                                                                          Zwei Rezensionen.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 35
„Was erwartet man noch von mir?“ –                                                 Andreas Hauff
Bertolt Brecht bei Werner Söllner.  .  .  .  .  .  . 14
                                                                               Verwirrungen um Lotte Lenya.  .  .  .  .  .  .  .  . 44
    Felix Latendorf                                                            Ein paar Notizen und ein neuer Roman
Der chinesische Lyriker Li Po                                                         Ernst Scherzer
in Brechts Gedichten .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 21
                                                                               „Du verstehst, das Harte unterliegt“.  .  .  .  .  . 46
     XUE Song                                                                  81 Sprüche zur Enthärtung unserer Welt
Film                                                                                  Alke Bauer
„Hoppla“ – nur ein Versehen? .  .  .  .  .  .  .  .  . 27                      Der Augsburger
Nazi-Folklore im „Dreigroschenfilm“ von 2018
                                                                               Brechts „Der Tsingtausoldat“: eine mögliche
       Jan Knopf                                                               Quelle.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 48
Brechtkreis                                                                        Michael Friedrichs
Neuer Kreativwettbewerb .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 1
Zwei Brecht-Baustellen in Augsburg .  .  .  .  .  . 45

Kreativwettbewerb für Augsburger Schülerinnen und Schüler: Post von Papa
Der Bert Brecht Kreis Augsburg e.V. lädt zusammen mit dem Brechtfestival Augsburger
Schülerinnen und Schüler ab Klasse 5 zum nächsten Kreativwettbewerb ein: Post von
Papa. Im Mittelpunkt steht die Bildpostkarte aus dem British Museum in London, die
Brecht 1934 an seinen zehnjährigen Sohn Stefan nach Svendborg schickte – die Karte zeigt
Kinder beim Marionettentheater, ein Ausschnitt aus einem langen chinesischen Rollbild.
Damit sind zahlreiche Themen angeschnitten: Brechts Gedichte für Kinder, das Leben der
Familie in Svendborg, die Vater-Sohn-Beziehung, die Exilsituation, das chinesische Pup-
pentheater. Alle künstlerischen Formen sind willkommen, Einreichschluss ist der 18. Ok-
tober 2021. Der Brechtkreis hat einen „Toolkit“ mit Hintergrundinformationen für Interes-
sierte vorbereitet, der per E-Mail abgerufen werden kann (friedrichs@wissner.com). Wie in
den letzten Jahren auch wird eine Jury die Beiträge beurteilen, und die besten werden beim
Brechtfestival im Februar gezeigt. (mf) ¶

Dreigroschenheft 3/2021
InforMationen zu bertolt brecHt - Dreigroschenheft
Editorial: „ü70“ – na Und?                                                           Impressum

„ü70 – ist das ein Problem für dich?“ So       Dreigroschenheft
werde ich zwar nicht gefragt, es könnte        Informationen zu Bertolt Brecht

aber sein, zumal ich seit ein paar Jahren      Gegründet 1994
Mitglied dieses Klubs bin. Meine Antwort       Herausgeber 1994-2009: Kurt Idrizovic
wäre: Nein und Ja.                             www.dreigroschenheft.de

• Nein, weil für die Qualität unserer be-      Erscheint vierteljährlich zu Quartalsbeginn
                                               Einzelpreis: 7,50 €
  scheidenen Vierteljahresschrift, die nun     Jahresabonnement: 30,- €
  immerhin über ein Vierteljahrhundert
  besteht, sicherlich die engagierte, kun-     Anschrift:
  dige und hartnäckige Recherche unserer       Wißner-Verlag GmbH & Co. KG
  Autoren und (zu wenigen) Autorinnen          Im Tal 12, 86179 Augsburg
                                               Telefon: 0821-25989-0
  entscheidend ist.
                                               www.wissner.com
• Ja, weil absehbar ist, dass dann leider      redaktion@dreigroschenheft.de
  doch die eine oder der andere von uns im     vertrieb@dreigroschenheft.de
  Laufe des nächsten Vierteljahrhunderts
  die Segel streichen, das Handtuch wer-       Bankverbindung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG
  fen, den Löffel abgeben oder den Rechner     Stadtsparkasse Augsburg
                                               Swift-Code: AUGSDE77
  endgültig herunterfahren wird.               IBAN: DE15 7205 0000 0000 0282 41

Es erstaunt auch mich immer wieder, wieviel    Redaktionsleitung: Michael Friedrichs (mf)
Neues über den vergleichsweise gründlich
erforschten Brecht und sein Werk immer         Wissenschaftlicher Beirat: Dirk Heißerer, Tom Kuhn,
                                               Joachim Lucchesi, Werner Wüthrich
noch herauszufinden ist. Aber möglicher-
weise kann man neue Hochschulkarrieren         Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe:
nicht mehr auf einem Brecht-Schwerpunkt        Alke Bauer, Michael Friedrichs, Andreas Hauff, Dieter
aufbauen? Das könnte ein Grund sein, wa-       Henning, Jan Knopf, Felix Latendorf, Ernst Scherzer,
rum wir relativ wenige (schmerzhaft weni-      Florian Vaßen, Xue Song
ge) Artikelangebote aus der Altersgruppe
                                               Titelbild: Baustelle Universität Augsburg 2011 (Foto: mf)
„u40“ bekommen.
                                               Druck: WirmachenDruck GmbH, Backnang
Umso mehr freut es mich, dass diesmal
zwei Junge mit substanziellen Beiträgen        ISSN: 0949-8028
vertreten sind: Felix Latendorf, der in Ber-
lin studiert, ist schon zum zweiten Mal im
Heft (vgl. 3gh 1/2021); Xue Song (ihre Diss.                                        Gefördert durch die
bei Prof. Detering erschien 2019) arbei-                                            Stadt Augsburg

tet inzwischen an der Shanghai Jiao Tong
University. Möge das zum Trend werden! ¶                                            Gefördert durch den
                                                                                    Bert Brecht Kreis
                        Michael Friedrichs                                          Augsburg e.V.

                                                                           Dreigroschenheft 3/2021
InforMationen zu bertolt brecHt - Dreigroschenheft
Brecht Material – Material Brecht

                                                                                                             Theater
    Florian Vaßen

Florian Vaßen hat uns den erweiterten             1 Der Verwerter Brecht und sein Material
und ausgearbeiteten Text zu seinem Im-            Der Titel meines Vortrags „Brecht Materi-
pulsvortrag „Brecht Material – Material           al – Material Brecht“ bezieht sich auf einen
Brecht“ zur Verfügung gestellt, den er im         der zentralen Aspekte in Bertolt Brechts Ar-
Berliner Ensemble im Rahmen der „Brecht-          beitsweise: Alles, was für die künstlerische
Gesprächsreihe ‚Und der Haifisch?‘ Digitale       Arbeit brauchbar ist, dient Brecht als Ma-
Podiumsdiskussion zur Aktualität Brechts“         terial – entsprechend seiner Theorie vom
am 30. April 2021 gehalten hat. Die ge-           „Materialwert“, die eine radikale Haltung
samte Veranstaltung ist zu finden unter:          zur Historie und Tradition der Literatur und
https://www.berliner-ensemble.de/brecht-          des Theaters beinhaltet. Schon lange bevor
symposium. Der Beitrag ist auch in der e-         er Ende der 1920er Jahre seine „Material-
cibs (digitale Zeitschrift) der International     wert“-Theorie entwickelte, benutzte Brecht
Brecht Society erschienen, zugänglich unter       fremde Texte aus Literatur, Philosophie und
https://e-cibs.org/issue-20211/ (mf)              Gesellschaftstheorie wie einen ‚Steinbruch‘.
                                                  Respektlos, „ohne schädliche Ehrfurcht“
Abstract                                          (BFA 21, 289), „schnoddrig“ (BFA 21, 288),
                                                  wie er selbst formuliert, und vor allem „lax“
In the following, I examine Bertolt Brecht’s      „in Sachen des geistigen Eigentums“ (BFA
theory of material value, based on three          21, 315) bricht er sich – durchaus mit An-
theses: Brecht uses world literature and a        strengung und Überlegung – das Material
variety of philosophical and political theo-      aus der Weltliteratur heraus, das er verwen-
ries and positions as material for his literary   den kann.
work and his theatrical practice; citation
and montage are central aspects. With this        Der Begriff Material hat, laut Duden, die
approach, he simultaneously criticizes the        Bedeutung „Rohstoff “, Arbeitsmittel, aber
‘heritage’ conception of socialist realism.       auch „[schriftliche] Angaben, Unterlagen,
Moreover, in a life-long working process,         Belege, Nachweise“; er ist etymologisch ab-
Brecht uses his own texts as material. A va-      geleitet von spätlateinisch „materialia“, be-
riety of drafts and text versions are the con-    zogen auf lateinisch „materia“. In seinem
sequence, while fragments and fragmen-
                                                  	 Vgl. auch Günther Heeg (Hg.): Recycling Brecht.
tarizations take on a special relevance in his       Materialwert, Nachleben, Überleben. Berlin: Thea-
process of “‘self-understanding’”. Brecht’s          ter der Zeit 2018 und Florian Vaßen: „einfach zer-
texts and theatrical concepts ultimately also        schmeißen“. Brecht Material. Lyrik – Prosa – Theater
become material for other, mostly younger            – Lehrstück. Mit einem Blick auf Heiner Müller. Ber-
                                                     lin/Milow/Strasbourg: Schibri 2021.
writers and theater-makers. Thus, he is a         	 Bertolt Brecht: Materialwert, In: ders.: Werke. Große
‘momentous’ classic and still has a great in-        kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg.
fluence on contemporary theater, post-dra-           von Werner Hecht u.a. Bd. 21. Schriften 2. Teil 2.
matic theater, and today’s director’s theater.       Berlin/Weimar/Frankfurt a. M.: Aufbau/Suhrkamp
                                                     1993, S. 285–286; im Folgenden steht die Sigle BFA
                                                     mit Band- und Seitenzahl hinter dem Zitat; vgl. auch
                                                     BFA 21, 288–289.
                                                  	 Duden. Bd. 5. Fremdwörterbuch. Mannheim u.a.:

Dreigroschenheft 3/2021
InforMationen zu bertolt brecHt - Dreigroschenheft
szenisch-theoretischen Text Der Messing-                     Frank Wedekind und Karl Valentin, später
Theater

          kauf erläutert Brecht sein radikales Ver-                    Christopher Marlowe, John Gay, Komparu
          ständnis vom Material mit Hilfe der Sze-                     Zenchiku, Upton Sinclair, Friedrich Schiller
          ne eines „Messinghändler[s, der] zu einer                    und Johann Wolfgang von Goethe, schließ-
          Musikkapelle kommt und nicht etwa eine                       lich Maxim Gorki, Titus Livius, John Mil-
          Trompete, sondern bloß Messing kaufen                        lington Synge und Hans Jakob Christoffel
          möchte.“ (BFA 22.2, 778) In Bezug auf das                   von Grimmelshausen, Hella Wuolijoki, Ja-
          Theater stellt sich Brecht die Frage: „[Wie                  roslav Hašek und Nordahl Grieg, Jakob Mi-
          sollte man heute Klassiker spielen]“ (BFA                    chael Reinhold Lenz, William Shakespeare,
          21, 181) und findet die Antwort im Materi-                   Molière und George Farquhar.
          al-Begriff: „Wirklich brauchen davon konn-
          te man nur mehr den Stoff. […] Was man                       Brecht verwendet darüber hinaus traditio-
          zur Anordnung und zum Wirksammachen                          nelle asiatische und mittelalterliche Thea-
          dieses Stoffes dann aber brauchte, das wa-                   terformen, er knüpft an den antiken Chor
          ren neue Gesichtspunkte. Und die konnte                      ebenso an wie an moderne Dramenstruktu-
          man nur aus der zeitgenössischen Produk-                     ren seit dem Sturm und Drang. Shakespeare
          tion beziehen.“ (BFA 21, 182)                                ist das große Vorbild für das Theater, Luther
                                                                       für die Sprache und die Naturwissenschaft-
          Kontrafaktur und Parodie, Gegenentwurf                       ler Francis Bacon und Galileo Galilei für das
          und Bearbeitung, die Erprobung und Ver-                      Verhältnis von Kunst und Wissenschaft,
          mischung von literarischen Formen, das                       für ein „Theater im wissenschaftlichen Zeit-
          Experimentieren mit ‚Anti-Formen‘, z. B.                     alter“ (BFA 22.2, 695). Brechts programma-
          bei der Oper oder den Lehrstücken, be-                       tische Theaterschrift Kleines Organon für
          stimmen dementsprechend Brechts Ar-                          das Theater bezieht sich dementsprechend
          beitsweise. Besonders in seiner Dramen-                      mit ihrem Titel explizit auf Bacons Novum
          Produktion ist er der große ‚Verwerter‘:                    Organum, und die dialogische Form des
          anfangs François Villon und Arthur Rim-                      Messingkaufs, des anderen grundlegenden
          baud, Hanns Johst und Rudyard Kipling,                       theatertheoretischen Textes, übernimmt
                                                                       Brecht aus den Discorsi von Galilei.
             Dudenverlag, 8. Aufl. 2005, S. 639. „Materia“ bildet
             mit ihrer spätlateinischen adjektivischen Form „ma-       Trotz des Aufgreifens und Verwendens von
             terialis“ auch den sprachlichen Ursprung des Be-          Themen, Formen und Methoden, trotz in-
             griffs Materialismus. Es ist also durchaus denkbar,
             dass Brecht in seiner Vorliebe für den Material-Be-
                                                                       tertextueller Bezüge und Korresponden-
             griff den historischen und dialektischen Materialis-      zen, z. B. zwischen Brechts Baal und Johsts
             mus von Marx und Engels immer mitdenkt. Ernst             Der Einsame, der Dreigroschenoper und
             Bloch verweist in einer etwas eigenartigen Formu-         Gays The Beggar’s Opera, dem Jasager und
             lierung darauf, „daß das Wort Materie von mater           dem japanischen Nō-Spiel, Brechts Johan-
             herstammt, also von fruchtbarem Weltschoß und
             seinen durchaus experimentierten Formen, […].“            na-Stücken und Schiller, besteht in keiner
             Ernst Bloch: Das Materialismusproblem, seine Ge-          Weise die Gefahr von Epigonalität. Alfred
             schichte und Substanz. In: ders.: Gesamtausgabe           Kerr, einer der schärfsten Kritiker Brechts
             Bd. 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 17.             in der Weimarer Republik, nennt ihn zwar
          	 Pointiert schreibt Brecht 1926: „Das Theater wird
             in absehbarer Zeit das verstaubte Repertoire eines
                                                                       „ein[en] schäumende[n] Epigone[n]“, aber
             Jahrhunderts einfach auf seinen Materialwert hin
             untersuchen, indem es die guten alten Klassiker wie       	 Wie Brecht arbeiten auch die Naturwissenschaften
             alte Autos behandelt, die nach dem reinen Alteisen-          in ihren Versuchen mit vorgefundenem, zum Teil
             Wert eingeschätzt werden.“ (BFA 21, 164)                     fremdem Material.
          	 Vgl. Florian Vaßen: Die ‚Verwerter‘ und ihr ‚Mate-        	 Alfred Kerr: Toller und Brecht in Leipzig. In: Berliner
             rial‘ – Brecht und Baal. In: ders.: „einfach zerschmei-      Tageblatt vom 11.12.1923; zit. nach Bertolt Brecht.
             ßen“, S. 174–199.                                            Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Varianten,

                                                                                                 Dreigroschenheft 3/2021
InforMationen zu bertolt brecHt - Dreigroschenheft
der ebenfalls sehr renommierte Kritiker                   Sonett zur Neuausgabe des François Villon

                                                                                                                    Theater
Herbert Ihering hält zu Recht dagegen:                    von 1930 heißt es wunderbar zweideutig in
                                                          der letzten Zeile: „Ich selber hab mir was
  Die Produktivität eines Dichters erkennt man            herausgenommen …“ (BFA 14, 99), und in
  an seinem Verhältnis zu alten Stoffen. Werfel           einem Brief an Alfred Döblin vom 28. Sep-
  erfindet im ‚Schweiger‘ eine ‚nie dagewesene‘           tember 1938 schreibt Brecht: „Ich halte Ihre
  Fabel – und ist doch in jedem Zug epigonen­             Werke für eine Fundgrube des Genusses
  haft. Brecht entzündet sich an Marlowes                 und der Belehrung und hoffe, daß meine
  ‚Eduard II‘ – und ist doch in jedem Zug                 eigenen Arbeiten Funde daraus enthalten.
  schöpferisch. Daran, wie ein Dichter Vorgän-            Ich glaube, ich kann mich in keiner würdi-
  ger übernimmt, wie er fremde Bestandteile               geren Form als der des Exploiteurs [Hervor-
  einschmilzt, ja wie er geradezu die Probe der           hebung – FV] bei Ihnen einstellen.“ (BFA
  Anlehnung besteht, sieht man seine Selbstän-            29, 112–113)
  digkeit.
                                                          Gebrauchswert, handwerkliches Vorgehen
Aus der Materialwert-Theorie folgt, dass                  und kollektives Arbeiten negieren jeglichen
die Zitation als intertextuelles Verfahren                Geniekult und stellen die Autonomie des
eine der wichtigsten Vorgehensweisen von                  künstlerischen Subjekts in Frage, wie er be-
Brecht ist. Entsprechend der Artefakt-Kri-                sonders anschaulich in seiner Keuner-Ge-
tik von Friedrich Nietzsche betont er, dass               schichte Herr Keuner und die Originalität
es sinnvoll ist, „die Stücke als Rohmaterial              darlegt:
[zu] verwenden“, d. h. „wegstreichen, Neu-
es einfügen“ (BFA 22.2, 708), und im Buch                   Heute, beklagte sich Herr Keuner, gibt es un-
der Wendungen „empfiehlt“ er, „Sätze von“                   zählige, die sich öffentlich rühmen, ganz al-
philosophischen „Systemen“ „voneinan-                       lein große Bücher verfassen zu können, und
der [zu] trennen“, „damit sie erkannt wer-                  dies wird allgemein gebilligt. Der chinesische
den“, sie also aus dem Zusammenhang zu                      Philosoph Dschuang Dsi verfaßte noch im
reißen und „sie einzeln der Wirklichkeit                    Mannesalter ein Buch von hunderttausend
gegenüber[zu]stellen“ (BFA 18, 95).                         Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten
                                                            bestand. Solche Bücher können bei uns nicht
Um sich die fremden Texte anzueignen,                       mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt.
muss er sie sich anverwandeln und ein-                      (BFA 18, 18)
verleiben, muss sie sozusagen ‚fressen‘;
pointiert könnte Brecht als ‚Xenophage‘ be-               Brecht ist ein „‚Meister der Klebologie‘“,10
zeichnet werden. Dazu muss er sie jedoch                 er arbeitet bei der Herstellung seiner Ty-
zerlegen, muss Teile „heraushacken“ (BFA                  poskripte mit „Schere und Klebstoff “11, so-
23, 285), wie er selbst formuliert. In dem                dass sie „durch die vielen Schnittstellen und
   Materialien. Kritisch ediert und kommentiert von       Überklebungen einen Objektcharakter“ er-
   Dieter Schmidt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968,
   S. 176–180, hier S. 177.                               10 Hans-Joachim Bunge: Vorausbemerkungen zu einer
	 Herbert Ihering: Toller und Brecht. In: ders.: Von        historisch-kritischen Ausgabe der Schriften Ber-
   Reinhardt bis Brecht. Vier Jahrzehnte Theater und         tolt Brechts. Sonderdruck aus: Mitteilungsblatt der
   Film. Bd. 1. 1990–1923. Berlin: Aufbau 1958, S. 356–      Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.
   360, hier S. 358f.                                        (1958), H. 1–3, S. 23–30, hier S. 25; zit. nach Ili-
	 Mit einer anderen Akzentuierung spricht auch der          ane Thiemann: Fragmente in laufenden Metern.
   brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade           Ein [fragmentarischer] Streifzug durch das Bertolt-
   1928 in dem antikolonialistischen und kulturrevolu-       Brecht-Archiv. In: Astrid Oesmann / Matthias Rothe
   tionären Manifesto Antropófago (Antropophagisches         (Hg.): Brecht und das Fragment. Berlin: Verbrecher
   Manifest) von dem Einverleiben und Fressen des            Verlag 2020, S. 199–231, hier S. 220.
   Fremden.                                               11 Thiemann: Fragmente, S. 225.

Dreigroschenheft 3/2021                                                                                       
InforMationen zu bertolt brecHt - Dreigroschenheft
halten, durch den das verarbeitete Material         anderen, die „Techniken der Joyce und
Theater

          und damit der „Entstehungsprozess sicht-            Döblin“ seien „lediglich Verfallsprodukte“,
          bar“ bleibt.12                                      verteidigt Brecht trotz kritischer Distanz
                                                              zu „diesen Dokumenten der Ausweglosig-
          Bestimmendes Strukturmerkmal von                    keit“ ihre „wertvolle[n] hochentwickelte[n]
          Brechts Drama und Theater ist folglich die          technische[n] Elemente“, die da sind: „In-
          Montage13 des ‚erbeuteten‘ und ‚gefresse-           nerer Monolog (Joyce), Stilwechsel (Joyce),
          nen‘ Materials. Sie vor allem hat ihm von           Dissezierbarkeit der Elemente (Döblin, Dos
          Seiten des dogmatischen sozialistischen             Passos), assoziierende Schreibweise (Joyce,
          Realismus den Vorwurf des „literarischen            Döblin), Aktualitätenmontage (Dos Passos),
          Formalismus“ eingebracht, der – so Brecht           Verfremdung (Kafka) [kursiv im Original].“
          spöttisch – „simpel von der décadence“ ab-          (BFA 22.2, 630) Kafka, mit dem er sich 1934
          geleitet wird. „Die literarischen Avantgardi-       in Svendborg nochmals intensiv in Gesprä-
          sten sind dekadente Bourgeois, fertig. Man          chen mit Walter Benjamin auseinandersetzt,
          muß also von ihnen absehen und bei den              hält Brecht „für einen großen Schriftsteller“,
          Klassikern lernen. […] Die Montage etwa             bei dem „das Parabolische mit dem Visio-
          gilt als Kennzeichen der décadence. Weil            nären in Streit“ liege und dessen „Genauig-
          durch sie die Einheit zerrissen wird, das           keit“ „die eines Ungenauen, Träumenden“
          Organische [kursiv im Original] abstirbt!“          sei; Brecht lobt den Prozeß, wie Benjamin
          (BFA 26, 328) Dementsprechend formuliert            schreibt, als „ein prophetisches Buch“14.
          Brecht bitterböse und polemisch am 27. Juli
          1938 in seinem Journal: „Die Moskauer Cli-          Am deutlichsten orientiert Brecht sich je-
          que lobt jetzt Hays Stück ‚Haben‘ über den          doch – trotz Kritik im Einzelnen – an Al-
          roten Klee. Das ist echter sozialistischer          fred Döblins Konzeption einer epischen
          Realismus. Neu, weil alt. Hier schuf ein            Schreibweise, insbesondere an seinem Ro-
          Genie, unberührt von Moden und Wirren               man Berlin Alexanderplatz, den er nach
          der Zeit. Was ist Form? Hier ist Inhalt. Das        Fritz Sternbergs Auskunft mehrmals inten-
          Stück ist ein trauriger Schund, Sudermann           siv gelesen hat. In dem schon erwähnten
          ist dagegen ein Fortschritt.“ (BFA 26, 316)         Brief an Döblin betont Brecht ausdrücklich
                                                              den „Fleiß“, „mit dem er“ dessen „literari-
          Der Material-Begriff steht demnach in               sche Werke studiert und sich die vielfachen
          deutlichem Widerspruch zur Erbe-Konzep-             Neuerungen, die […] (Döblin) in die Be-
          tion des sozialistischen Realismus. Brecht          trachtungs- und Beschreibungsweise […]
          wählt nicht aus nach Kriterien der Klas-            (der) Umwelt und des Zusammenlebens
          senzugehörigkeit oder des Klassenkamp-              der Menschen eingebracht“ hat, „zu eigen
          fes, die Kategorien auf- und absteigende            gemacht“ hat. Brecht lobt explizit Döblins
          Gesellschaftsformationen bzw. sogenannte            „bahnbrechende[ ] Beschreibungstechnik“,
          dekadente und progressive Literatur sind            seine „völlig neuartige[n] Gesichtspunkte“
          für ihn keine produktiven politischen oder          und besonders die „Theorie von der Auto-
          ästhetischen Kategorien, wenn es darum              nomie der Teile“ (BFA 29, 112).
          geht, was aus der Literatur der vergangenen
          Jahrhunderte zu gebrauchen ist.                     Auffällig ist, dass Brecht sich in der Regel
                                                              nicht nur auf einen Bezugstext konzentriert,
          Gegen den Vorwurf von Georg Lukács und              sich nicht monokausal an einem Autor ori-
          12 Thiemann: Fragmente, S. 223.                     14 Walter Benjamin: Notizen Svendborg Sommer 1934.
          13 In Bezug auf die Verfremdung sieht Brecht sich      In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiede-
             „beim Aufbauen einer Aufführung eher wie einen      mann/Hermann Schweppenhäuser. Bd. VI. Frank-
             Monteur als wie einen Gärtner“ (BFA 25, 429).       furt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 523–532.

                                                                                      Dreigroschenheft 3/2021
InforMationen zu bertolt brecHt - Dreigroschenheft
entiert, im Gegenteil, die Verwendung, Zi-           Dimension erhalten.16 Gleichwohl besteht

                                                                                                                    Theater
tation und Montage, von sehr unterschied-            auch für Brecht vor allem in seinen Tex-
lichen Prätexten ist charakteristisch für            ten zu Baal und im Fatzer der immanente
seine Arbeit. Bestes Beispiel ist schon das          Widerspruch vom „[S]treben nach dem
frühe Theaterstück „Baal“, das zwar als Ge-          Glück“, dem „Programm des Lustprinzips,
genentwurf zu Hanns Johsts idealistischem,           das den Lebenszweck setzt“,17 und den „so-
pseudosakralen Drama Der Einsame kon-                zialen Beziehungen“ sowie der Kultur als
zipiert ist, zugleich aber in einem engen            Gegengewicht zur „Willkür des Einzelnen“
intertextuellen Bezug zu Villon, Rimbaud             und seinen „Interessen und Triebregun-
und Verlaine, zum Alten Testament sowie              gen“, wie Freud es in seiner Schrift Das Un-
zu Nietzsche und Wedekind steht. Trotz               behagen in der Kultur dargelegt hat: „Diese
großem Interesse an Diderot ist Brecht kein          Ersetzung der Macht des Einzelnen durch
Aufklärer und den Symbolisten und Surrea-            die der Gemeinschaft ist der entscheidende
listen steht er, wie Walter Benjamin belegt,         kulturelle Schritt.“18
ambivalent gegenüber. Brecht ist auch kein
Hegel-Schüler und kein Nietzsche-Adept               Brechts Arbeit mit dem gesammelten „Roh-
– schon 1916 betont er, „daß er Nietzsche            material“ basiert auf seiner „großen Lei-
nicht mehr mag, während er sich für Spi-             denschaft des Produzierens“ (BFA 23, 73)
noza begeistert“.15 Mit seiner Kritik an der         „im weitesten Sinne“, wozu etwa auch die
Verelendungstheorie und seinem Ansatz                „Liebe“, „Schachzüge“ oder „Spiele“ (BFA
beim hedonistischen „Glücksverlangen“                26, 468)19 gehören, es besteht also ein be-
(BFA 23, 242) ist er auch kein dogmatischer
‚Marxist‘.                                           16 Vgl. Herbert Marcuse: Zur Kritik des Hedonismus.
                                                        In: ders.: Schriften. Bd. 3. Aufsätze aus der Zeitschrift
                                                        für Sozialforschung 1934-1941. Springe: zu Klampen
Seit seinen frühen Texten, vor allem dem                2004, S. 250-285. Neben Herbert Marcuse haben
Baal, betont Brecht Gebrauchen und Ver-                 sich auch Max Horkheimer und Theodor W. Ador­
brauchen als Genuss, auch die Theorie des               no mit der Frage des Glücks auseinandergesetzt.
Materialwerts gehört in den Kontext der                 Ähnlich wie Marcuse betonen sie, dass das „Ziel“
                                                        „das Glück aller Individuen“ sei und „daß kein in-
Konsumtion. Rückblickend sieht er in Baal               dividuelles Glück möglich sei, das nicht virtuell das
zwar „den Untergang eines nur Genießen-                 der Gesamtgesellschaft in sich beschließt.“ Theodor
den in der schließlichen Unfähigkeit zum                W. Adorno: Veblens Angriff auf die Kultur. In: ders.:
Genuß […]“ (BFA 22.1, 264), aber 1953 bei               Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leit-
                                                        bild. Bd. 10.1. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.
der Beschäftigung mit der Oper Die Reisen               M.: Suhrkamp 1977, S. 72-96; hier S. 87; vgl. Pola
des Glücksgotts betont er gleichwohl: „Es ist           Groß: Adornos Lächeln. Das „Glück am Ästhetischen“
unmöglich, das Glücksverlangen des Men-                 in seinen literatur- und kulturtheoretischen Essays.
schen ganz zu töten [Hervorhebung im Ori-               Berlin/Boston: de Gruyter 2020.
ginal].“ (BFA 23, 242) Wirkliche Potentiali-         17 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In:
                                                        ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscher-
tät sieht Brecht in der Verbindung von Kon-             lich/Angela Richards/James Strachey. Bd. 9. Fragen
sumtion und Produktion, im ästhetischen                 der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Frankfurt
Bereich sich manifestierend in dem Gebrau-              a. M.: Fischer 1974, S. 191-270, hier S. 208f.; vgl.
chen von Material und dessen Verarbeitung               auch Florian Vaßen: „Erst kommt das Fressen …“.
                                                        „Glücksverlangen“, Produktivität und „Material-
im literarischen und theatralen Arbeitspro-             wert“ – Nietzsches Antimoralismus, Spinozas Mate-
zess. Das individuelle Glücksstreben soll in            rialismus und Freuds Lustprinzip. In: ders.: „einfach
einen kollektiven Produktionsprozess ein-               zerschmeißen“, S. 200–223.
gebettet werden und könnte so eine soziale           18 Freud: Unbehagen, S. 225.
                                                     19 „Produktion muß natürlich im weitesten Sinn ge-
15 Hanns Otto Münsterer: Bert Brecht. Erinnerungen      nommen werden, und der Kampf gilt der Befreiung
   aus den Jahren 1917–22. Mit Photos, Briefen und      der Produktivität aller Menschen von allen Fesseln.
   Faksimiles. Zürich: Arche 1963, S. 9.                Die Produkte können sein Brot, Lampen, Hüte, Mu-

Dreigroschenheft 3/2021
InforMationen zu bertolt brecHt - Dreigroschenheft
sonders intensives Verhältnis von Konsum-     mit Lebenslauf des Mannes Baal unter dem
Theater

          tion und Produktion von Material. Diese       Einfluss der Neuen Sachlichkeit eine neue,
          Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit     deutlich veränderte Fassung, in der Baal aus
          beschreibt Heiner Müller treffend als „Ma-    der Natur in die Großstadt geht und dort als
          terialschlacht Brecht gegen Brecht“.20        Monteur arbeitet. 1929/30 experimentiert
                                                        Brecht unter dem Titel Der böse Baal der
          2 Brechts Eigenmaterial und                   asoziale mit kleinen Lehrstücken und 1955
                                                        stellt er schließlich eine letzte Fassung her.
          „‚Selbstverständigung‘“                                              Zuvor schreibt er 1953
          Viele Schriftsteller be-                                             rückblickend in dem
          arbeiten bekanntlich                                                 Aufsatz Bei Durchsicht
          immer wieder und über                                                meiner ersten Stücke im
          einen längeren Zeit-                                                 Kontext der Fragment
          raum ihre Texte, aber                                                gebliebenen Oper Die
          keiner, so meine zweite                                              Reisen des Glücksgotts:
          These, macht das so in-                                              „Zwanzig Jahre nach
          tensiv und so extensiv                                               der Niederschrift des
          wie Bertolt Brecht. Sei-                                             ‚Baal‘ bewegte mich ein
          ne Texte sind nie fertig,                                            Stoff (für eine Oper),
          das von ihm zu Papier                                                der wieder mit dem
          Gebrachte dient ihm                                                  Grundgedanken           des
          grundsätzlich als Ma-                                                ‚Baal‘ zu tun hatte.“
          terial für seine weitere                                             (BFA 23, 241) Auch von
          literarische Arbeit bzw.                                             vielen anderen Brecht-
          für seine Theaterpraxis.                                             Texten gibt es mehrere
          Es geht also zum einen                                               Entwürfe und unter-
          um verschiedene Text-                                                schiedliche Fassungen,
          Fassungen sowie me-                                                  von der Maßnahme
          diale Variationen und Drei Fassungen des „Galilei“: viel Material    z.B. fünf,21 vom Leben
          zum anderen um das                                                   des Galilei, um noch
          Verhältnis von Litera-                                               ein weiteres Beispiel zu
          tur und Theater, gerade auch bei der Lehr- nennen, kennen wir drei Fassungen, eine
          stück-Konzeption.                             frühe von 1938/39, die amerikanische von
                                                        1947 und schließlich eine letzte von 1955/57
          Für die lebenslange Beschäftigung mit ei- (vgl. BFA 5, 7–289).
          nem ästhetischen und thematischen Ma-
          terial ist erneut Brechts Baal ein besonders Beim Dreigroschen-Komplex finden wir
          prägnantes Beispiel: Die erste Fassung des eine andere Art der Material-Verwertung
          Baal datiert von 1918, die zweite von 1919, in Form medialer Vielfalt: Auf die Dreigro-
          1920 kommt eine Buchpublikation nicht zu- schenoper von 1928 folgt 1930 das Filmex-
          stande, die erste Veröffentlichung von 1922 posé Die Beule, aus dem für Brecht geschei-
          im Kiepenheuer-Verlag kritisiert Brecht
          als zu „glatt“ (BFA 26, 129). 1926 entsteht 21 Siehe Bertolt Brecht: Die Maßnahme. Kritische Aus-
                                                                    gabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg.
             sikstücke, Schachzüge, Wässerung, Teint, Charakter,    Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976; Steinweg erwähnt
             Spiele usw. usw.“ (BFA 26, 468)                        in seinem Nachwort „etwa 80 unterschiedliche
          20 Heiner Müller: Fatzer±Keuner. In: ders.: Werke. Hg.    Wortfolgen“ und betont ausdrücklich, dass Brecht
             v. Frank Hörnigk. Bd. 8. Schriften. Frankfurt a. M.:   seine Texte nicht als „Endprodukte“ ansieht, sondern
             Suhrkamp 2005, S. 223–231, hier S. 231.                als „in Entwicklung zu haltende Gefüge.“ (S. 484)

                                                                                         Dreigroschenheft 3/2021
terten Filmprojekt des Dreigroschenfilms                Ökonomie von Karl Marx zitiert, in dem es

                                                                                                                     Theater
(1930/31) entsteht 1932 Der Dreigroschen-               heißt: „Wir überließen das Manuskript (der
prozess als Ein soziologisches Experiment.              Deutschen Ideologie ‒ F.V.) der nagenden
Hinzu kommt 1933/34 im Exil der Dreigro-                Kritik der Mäuse um so williger, als wir un-
schenroman, der in seiner Montageform                   sern Hauptzweck erreicht hatten – Selbst-
eine Vielzahl von sichtbaren, kursiv gesetz-            verständigung.“23
ten Zitaten enthält. Ergänzt man noch die
große Anzahl von sehr unterschiedlichen                 In diesem Zusammenhang steht auch die
Schallplatten mit den Songs der Dreigro-                Diskussion um Fragment und Fragmentari-
schenoper sowie Brechts im Kontext der                  sierung,24 also die Frage nach dem Scheitern
Dreigroschenoper veröffentlichte theoreti-              eines Arbeitsprozesses, respektive nach dem
sche Überlegungen zum epischen Theater,                 Status eines Entwurfs oder einer unfertigen
vor allem zur „Literarisierung“ (BFA 24,                Fassung, weiterhin die Erprobung eines
58) und zur „Trennung der Elemente“ (BFA                Textes und die bewusste Fragmentarisie-
22, 156), dann wird eine vielgestaltige und             rung, entsprechend eben dieser Arbeitswei-
heterogene mediale Materialverarbeitung                 se der „‚Selbstverständigung‘“25 bei Fatzer
sichtbar.                                               oder gemäß Heiner Müllers Überlegungen
                                                        zum ‚synthetischen Fragment‘.26 In einem
Seinen Schreibprozess beschreibt Brecht als             Brief an Helene Weigel erwähnt Brecht
„Selbstverständigung“, wie es im Kontext                1928 seinen „‚Urfatzer‘“ (BFA 28, 312) und
des Fatzer, seinem umfangreichsten und                  stellt damit sicherlich eine Verbindung zu
wichtigsten Fragment, heißt:                            Goethes Urfaust her, der neben „Kleists
                                                        ‚Guiskard‘ und Büchners ‚Wozzeck‘“– so
  das ganze stück, da ja unmöglich,                     Brecht – „zu einer eigentümlichen Gat-
  einfach zerschmeißen für experiment,                  tung von Fragmenten“ „gehört“, „die nicht
  ohne realität!                                        unvollkommen, sondern Meisterwerke
  zur „selbstverständigung“22                           sind, hingeworfen in einer wunderbaren
                                                        Skizzenform.“ (BFA 24, 431–432) Heiner
Brecht will „das ganze stück“ „zerschmei-               Müller greift diesen Vergleich der beiden
ßen“, d. h. wie die Prätexte der Weltliteratur          Theatertexte auf: Das „Fatzermaterial“ ist
wird auch sein eigener Text, ein Konvolut               „Brechts größte[r] Entwurf und einzige[r]
von ca. 550 Seiten, ‚zerlegt‘, sodass er ihn als        Text, in dem er (Brecht) sich, wie Goethe
„Rohmaterial“ weiter verwenden bzw. neu                 mit dem Fauststoff, die Freiheit des Expe-
zusammenstellen oder montieren kann.                    riments herausnahm, Freiheit vom Zwang
Der gesamte Arbeitsprozess dient vor al-                zur Vollendung […]. Ein inkommensurab-
lem „zur ‚selbstverständigung‘“ des Schrei-             les Produkt, geschrieben zur Selbstverstän-
benden. Das Wort Selbstverständigung hat                digung.“27
Brecht in dieser handschriftlichen Notiz                23 Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In:
durch doppelte Unterstreichung hervorge-                   ders./Friedrich Engels: Werke. Bd. 13. Berlin: Dietz
hoben und zudem in Anführungsstriche                       1969, S. 3-160; hier S. 10.
gesetzt und damit als Zitat gekennzeichnet.             24 Vgl. hierzu zuletzt Oesmann/Rothe (Hg.): Brecht
                                                           und das Fragment.
Es ist zu vermuten, dass Brecht hier aus                25 Vgl. Florian Vaßen: „Das utopische Moment ist in
dem „Vorwort“ Zur Kritik der politischen                   der Form“. „Selbstverständigung“, Schreibprozess
                                                           und theatrale Form – Heiner Müllers und Bertolt
22 BBA 109/56 (hs.); Textstellen, die nicht in BFA         Brechts Fatzer. In: ders.: „einfach zerschmeißen“,
   enthalten sind, werden nach dem Bertolt-Brecht-         S. 521–536.
   Archiv mit der Sigle BBA und den entsprechenden      26 Vgl. Heiner Müller: Ein Brief. In: ders.: Werke. Bd. 8,
   Nummern zitiert; siehe auch Günter Glaeser: Fatzer      S. 174–177, hier S. 175.
   [Kommentar]. In: BFA 10.2, 1120.                     27 Müller: Fatzer±Keuner, S. 229.

Dreigroschenheft 3/2021                                                                                        
Die Differenz zwischen der Schreib- und                Qualität, d. h. in seiner Brauchbarkeit, nicht
Theater

          der Anwendungsebene hat Brecht im Kon-                 überprüfbar, wie Brecht in seiner Exilzeit
          text der Lehrstück-Theorie besonders deut-             bei seinem äußerst unbefriedigenden Ar-
          lich angesprochen: Unter dem Titel „Ftz-               beiten für die Schublade erfahren hat.
          dok“, also Fatzerdokument, heißt es:
                                                                 Ausdruck dieses dialektischen Verhältnisses
                Der Zweck, wofür eine Arbeit gemacht wird,       sind die von Brecht entwickelten Modell-
                ist nicht mit jenem Zweck identisch, zu dem      bücher, die er seit den 1940er Jahren, vor
                sie verwertet wird. So ist das Fatzerdokument    allem nach dem Zweiten Weltkrieg, als er
                zunächst hauptsächlich zum Lernen des            in der SBZ/DDR endlich selber inszenieren
                Schreibenden gemacht.                            konnte, mit Unterstützung von Ruth Berlau
                                                                 konzipierte.28 Mit Beschreibungen, Kom-
                Wird es späterhin zum Lehrgegenstand,            mentaren und Analysen, mit Notaten und
                so wird durch diesen Gegenstand von den          Protokollen, Noten, Skizzen und Zeichnun-
                Schülern etwas völlig anderes gelernt, als der   gen, vor allem aber mit einer Vielzahl von
                Schreibende lernte. Ich, der Schreibende,        Bühnenfotos werden der Grundgestus des
                muß nichts fertigmachen. Es genügt, daß ich      jeweiligen Stückes sowie szenische Arran-
                mich unterrichte. Ich leite lediglich die Un-    gements, die Gliederung der Fabel, Tem-
                tersuchung und meine Methode dabei ist es,       po, Ablauf der Aufführung und Varianten
                die der Zuschauer untersuchen kann. (BFA         festgehalten. Brecht geht es dabei jedoch
                10.1, 514, BBA 109/14 + 520/07)                  nicht um Vorschriften, nicht einmal um
                                                                 Vorbilder, sondern um experimentelle Ent-
          Brecht zeigt hier, dass seine Lernprozes­              würfe als Theater-Material zwecks Weiter-
          se als Schreibender andere sind als die                entwicklung und Weitergabe seiner Thea-
          bei der ‚Verwertung‘ in Form eines „Lehr­              terarbeit mit Blick auf spätere Inszenierun-
          gegenstand[s]“, respektive Materials. Brecht           gen. In der umfangreichen großformatigen
          muss kein ‚fertiges‘ Werk schaffen, sein               Publikation Theaterarbeit von 1952, in der
          Schreibprozess muss nicht abgeschlossen                „6 Aufführungen des Berliner Ensembles“29
          sein, vielmehr „unterrichte[t]“ er sich selbst         versammelt sind, heißt es dazu:
          und macht dazu mit Hilfe des „Fatzerdo-
          kuments“ eine „Untersuchung“; „der Zu-                   Modelle zu benutzen ist eine eigene Kunst;
          schauer“ dagegen soll Brechts „Methode“                  so und so viel davon ist zu erlernen. Weder
          in der Anwendung, also in der Praxis, „un-               die Absicht, die Vorlage genau zu treffen,
          tersuchen“.                                              noch die Absicht, sie schnell zu verlassen,

          Brechts Theatertexte dienen im Zusammen-               28 Vgl. Bertolt Brecht: [„Katzgraben“-Notate 1953].
          spiel mit Musik, Bühnenbild und Schau-                    In: BFA 25, 399-490. „Während die Modellbücher
                                                                    Dokumente von Aufführungsergebnissen darstel-
          spielkunst aber auch als besonders wich-                  len, sind die „Katzgraben“-Notate 1953 der erste
          tiges Material für seine Theaterpraxis. Die               und einzige Versuch Brechts, einen Probenprozeß
          Texte müssen sich bei den Inszenierungen                  darzustellen, der zum Aufführungsmodell führt.“
          ‚bewähren‘ und werden – ausgehend von                     Werner Hecht: „Katzgraben“-Notate 1953. In: BFA
                                                                    25, 542–578, hier S. 545; vgl. auch Iliane Thiemann:
          der theatralen Praxis – immer wieder über-                Fragmente, S. 225.
          arbeitet und modifiziert, neu gelesen und              29 Berliner Ensemble/Helene Weigel (Hg.): Theaterar-
          ausprobiert. Ihrerseits bildet die jeweilige              beit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles. Dres-
          Theaterpraxis das Material für Verände-                   den: Dresdner Verlag 1952; vgl. BFA 5. Zu der oft
          rungen und Bearbeitungen der Texte. Ohne                  übersehenen Bedeutung von Brechts Theaterarbeit
                                                                    vgl. Detlev Schöttker: Brechts „Theaterarbeit“. Ein
          Aufführungsmöglichkeit ist der Theater-                   Grundlagenwerk und seine Ausgrenzungen. In:
          text in seiner ästhetischen und politischen               Weimarer Beiträge 53 (2007), H. 3, S. 438–451.

          10                                                                               Dreigroschenheft 3/2021
ist das Richtige. Bei dem Studium von Mo-            Überlegungen zur „Schauspielkunst“ (BFA

                                                                                                                 Theater
  dellen, von Erörterungen und Erfindungen             22.2, 618) explizit auch auf nichtprofes-
  beim Einprobieren eines Stücks, sollte man           sionelle Schauspieler*innen und arbeitet
  angesichts gewisser Lösungen von Proble-             mit Amateuren: „Von Anfang an wurden
  men hauptsächlich der Probleme ansichtig             Amateure mit ausgebildet.“ (BFA 22.1, 555)
  werden. Gedacht als Erleichterungen, sind            Ausdrücklich betont er, dass „es sich lohnt,
  die Modelle nicht leicht zu handhaben. Sie           vom Amateurtheater zu sprechen“ (BFA
  sind nicht gemacht, das Denken zu ersparen,          22.1, 593).
  sondern es anzuregen; nicht dargeboten, das
  künstlerische Schaffen zu ersetzen, sondern          Auch die Zuschauer*innen sehen sich in
  es zu erzwingen. Nicht nur zur Abänderung            Brechts epischem Theater nicht mit ei-
  der Vorlage, auch zur Annahme ist Phantasie          nem in sich geschlossenen Werk kon-
  nötig. (BFA 25, 398)                                 frontiert, Theaterautor, Regisseur*in und
                                                       Schauspieler*innen geben keine feste Be-
Diese Modellbücher sollen also „Vorlagen“,             deutung, keine fertige Interpretation vor.
d. h. Material, für die praktische Theaterar-          Das Publikum soll angesichts des dargebo-
beit sein.                                             tenen Materials vielmehr „eine Haltung“
                                                       entwickeln, „die auch in den Wissenschaf-
In einer anderen Weise spielt der Materi-              ten eingenommen werden muß“ − „eine
al-Begriff für Brecht auch auf den Proben              staunende, erfinderische und kritische“
eine auffällige Rolle. Von ihm und seinem              (BFA 26, 407), sodass ein Spannungsfeld
Theaterkollektiv werden dabei Materialien              zwischen Bühne und Publikum entsteht.
vorgestellt und ausgebreitet, untersucht und           Brecht lehnt es ab, „den Zuschauer in eine
geprüft, kritisiert und modifiziert. Die spe-          einlinige Dynamik hineinzuhetzen, wo er
zifische Form der Proben besteht aus dem               nicht nach rechts und links, nach unten und
„Ausprobieren [kursiv im Original]“ von                oben schauen kann“ (BFA 24, 59) – eine
„mehrere[n] Möglichkeiten“, wie Brecht                 Formulierung, die schon auf das postdra-
in dem Text Haltung des Probenleiters (bei             matische Theater vorausdeutet. Für dieses
induktivem Vorgehen) (BFA 22.1, 597–599)               „komplexe Sehen“ (BFA 24, 59) bedarf es
schreibt. Er versteht den „Probenleiter“               – so Brecht – neben der „Schauspielkunst“
(BFA 22.1, 597), wie er den Regisseur                  allerdings einer „Zuschaukunst“ (BFA 22.2,
nennt, nicht als genialen Künstler, der sei-           618).
nen Regieeinfall umsetzen und durchsetzen
will, sondern als Handwerker mit „induk-               In Brechts Lehrstück-Konzeption bilden
tivem Vorgehen“ in einem kollektiven Pro-              schließlich die komplexen poetischen Tex-
zess. Seine „Aufgabe ist es, die Produktivität         te in besonderer Weise das Material oder
der Schauspieler (Musiker und Maler usw.)              – wie es auch gelegentlich heißt – die Fo-
zu wecken und zu organisieren“ (BFA 22.1,              lie, das Dispositiv für den Spielprozess der
597), indem er ihnen den Theaterraum,                  Teilnehmenden und Agierenden, denn:
Bewegung und Geste, vor allem aber den                 „Die Form der Lehrstücke ist streng“, d. h.
Text und den sprachlichen Ausdruck als                 konzentriert und in gewisser Weise redu-
Material anbietet.30 Brecht bezieht seine
                                                         denen er ein wichtiges Tondokument zusammen-
30 Anschaulich präsentiert und erfahrbar wird neu-       gestellt hat. Brecht probt Galilei 1955/56. Ein Mann,
   erdings Brechts Probenarbeit durch 133 Tonbän-        der keine Zeit mehr hat. Originalaufnahmen. Ausge-
   der mit Aufzeichnungen von fast 100 Stunden von       wählt und zusammengestellt von Stephan Suschke.
   Brechts Proben des Galilei, seiner letzten Insze-     Berlin: speak low 2021. [3 CDs mit Booklet] [Siehe
   nierung im Jahr 1955/56, Tonbänder, die Stephan       auch die Besprechung von David Barnett in 3gh 2
   Suschke im Bertolt-Brecht-Archiv entdeckt und aus     (2021), S. 25–27.]

Dreigroschenheft 3/2021                                                                                    11
Theater

          Auch eine Art von Materialverwertung: Brecht-Zitate zu Baustellenplanen! Universität Augsburg, 2011 (Foto: mf)

          ziert, „jedoch nur, damit Teile der eigenen                  lich drittens die These auf: Brecht ist im
          Erfindung und aktueller Art desto leichter                   deutschsprachigen Raum der wirkungs-
          eingefügt werden können.“ (BFA 22.1, 351)                    vollste Theater-‚Klassiker‘32 im 20. und 21.
          Die Lehrstücke stehen nicht für einen Lern-                  Jahrhundert und dient dementsprechend
          inhalt, sie sind vielmehr Lehrgegenstand in                  mit seinem epischen Theater und sogar
          Form von politisch-theatralem Material für                   mit seinen Lehrstücken als Material für
          den Lernprozess und die ästhetische Erfah-                   vielfältige Theaterprozesse. Als ‚Klassiker‘
          rungsproduktion der Beteiligten, denn: „Es                   kann Brecht bezeichnet werden, weil er
          handelt sich bei diesen Arbeiten um Kunst                    traditionelle theatrale Elemente, vorbild-
          für den Produzenten, weniger um Kunst für                    hafte Theater-Experimente und seine Zeit
          den Konsumenten“ (BFA 22.1, 167).                            überdauernde Theaterformen miteinander
                                                                       verbindet, und wirkungsvoll ist er immer
          3 Der folgenreiche ‚Klassiker‘ Brecht als                    noch, wenn auch nicht direkt politisch, so
                                                                       doch politisch-ästhetisch. Er ist keineswegs
          Material                                                     ein ‚toter Hund‘, wie er lange und immer
          Gegen Max Frischs Formulierung, Brecht                       wieder vor allem im Feuilleton betitelt wor-
          habe die „durchschlagende Wirkungslosig-                     den ist, vielmehr ist er seit vielen Jahren der
          keit eines Klassikers“31, stelle ich schließ-                meist gespielte Autor nach Shakespeare,
                                                                       und die heutige Theaterpraxis und viele ak-
          31 Max Frischs Diktum (1965) von der „durch­schla­
             gende[n] Wirkungslosigkeit eines Klassikers“ in           tuelle Inszenierungsstile sind ohne Brecht
             Bezug auf Brecht war vermutlich ironisch gemeint,         nicht denkbar.
             wurde aber in der Folgezeit zu einem zentralen As-
             pekt in der Kritik an Brecht. Max Frisch: Der Autor       Abgesehen von Brechts Regie-‚Schülern‘
             und das Theater. In: ders.: Öffentlichkeit als Partner.
             Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 68–89; hier S. 73;
             Vgl. auch Frischs Äußerungen zu Brecht in: Max               Werke. Bd. VI. 1968–1975, S. 5–404, zu Brecht be-
             Frisch: Tagebuch 1946–1949. In: ders.: Gesammelte            sonders S. 20–38.
             Werke in zeitlicher Folge. Sechs Bände. Bd. II 1944       32 Zu Brecht als Klassiker vgl. auch Hellmuth Karasek:
             –1949. Hg. v. Hans Mayer unter Mitwirkung von                Bertolt Brecht. Der jüngste Fall eines Theaterklassi-
             Walter Schmitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976,              kers. München: Kindler 1982; ders.: Vom Bürger-
             S. 347–750, zu Brecht besonders S. 593–603; Max              schreck zum Klassiker. Hamburg: Hoffmann und
             Frisch: Tagebuch 1966–1971. In: ders.: Gesammelte            Campe 1995.

          12                                                                                     Dreigroschenheft 3/2021
Pe­ter Palitzsch, Egon Monk, Benno Bes-                   sowie Die Maßnahme entstehen neu und

                                                                                                                    Theater
son und Manfred Wekwerth – später kann                    zugleich widerspruchsvoll weiterentwickelt
wohl auch Heiner Müller dazu gezählt                      als Der Horatier bzw. als Mauser sowie Der
werden – verwenden auch viele andere                      Auftrag; Die Schlacht bildet einen Kontra-
Regisseure*innen am traditionellen Stadt-                 punkt zu Furcht und Elend des III. Reiches.
theater ebenso wie an Freien Theatern oder                Besonders hervorzuheben sind Müllers ge-
bei den großen weltberühmten Häusern                      scheiterter Versuch, Brechts Fragment Die
Brechts theatrale Techniken und Theater-                  Reisen des Glücksgotts mit seinem Glücks-
formen, als zurzeit bekannteste sind wohl                 gott weiterzuschreiben, und seine Experi-
René Pollesch und Frank Castorf zu nen-                   mente mit Brechts Fatzer-Fragment.
nen. Brecht beeinflusst sowohl das Theater,
das in der realistischen Tradition steht, als             Es ist ungewiss, welchen Stellenwert in
auch das Regietheater, vor allem ist er ein               Zukunft das Brecht-Material in der Thea-
Ausgangspunkt des sogenannten Postdra-                    ter-Entwicklung haben wird, wie also ein
matischen Theaters. Selbst seine Schau-                   „Theater der Zukunft“,34 von dem Brecht
spieltheorie,33 die Jahrzehnte deutlich im                mit Blick auf Die Maßnahme spricht, und
Schatten von Konstantin S. Stanislawski,                  wie „der höchste Standard technisch“ (BFA
Lee Strasberg und Michail Tschechow                       26, 330), den er im Fatzer zu finden glaubt,
stand, beeinflusst in neuerer Zeit verstärkt              aussehen werden. Aber Brechts Theater,
die Schauspieler*innen etwa bei Castorf                   seine Texte, seine Theorie und seine Praxis,
und Milo Rau.                                             werden weiter als Material eine kritische
                                                          Verwendung finden. Brechts Materialwert-
Besonders sichtbar aber ist Brechts Wei-                  Theorie bildet, gerade auch auf ihn selbst
terwirken in der deutschsprachigen Dra-                   angewandt, heute noch einen produkti-
matik: In Auseinandersetzung mit Brecht                   ven Ausgangspunkt für die Theaterpraxis.
steht Max Frisch mit seinen ‚Lehrstücken                  Zurecht weist Müller darauf hin: „Brecht
ohne Lehre‘ und – wenn auch distanzierter                 gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist
– Friedrich Dürrenmatt mit seinen grotes-                 Verrat.“35 Aber dazu muss das Material
ken Komödien, weiterhin das Dokumen­tar­                  gebraucht und praktisch erprobt werden.
theater eines Heinar Kipphardt und Peter                  Deshalb ist Sebastian Kirschs Modifikati-
Weiss, aber auch jüngere dokumentarische                  on von Müllers Statement gleichermaßen
Experimente, das neue Volkstheater eines                  zutreffend: „Brecht zu kritisieren ohne ihn
Franz Xaver Kroetz, ganz zu schweigen von                 zu gebrauchen ist Verrat!“36 – also weiterhin
einer ganzen Generation von Dramatikern                   praktische Kritik und kritische Praxis des
aus der DDR; die bekanntesten sind Peter                  Brecht-Materials. ¶
Hacks, Volker Braun und Heiner Müller.
Letzterem diente Brecht außer Shakespeare,                  Florian Vaßen war von 1982 bis 2009 Pro-
Büchner, Kafka, Artaud, Beckett als bevor-                  fessor für neuere deutsche Literatur an der
zugtes Material: Neben Brechts Büsching-                    Universität Hannover und u.a. Leiter des
Entwurf steht Müllers Der Lohndrücker, die                  Studiengangs Darstellendes Spiel
Lehrstücke Die Horatier und die Kuriatier                   florian.vassen@germanistik.uni-hannover.de

33 In den „Katzgraben“-Notaten behauptet Brecht, dass
   das Theater in Bezug auf die Verfremdung „noch         34 Brecht referiert von Manfred Wekwerth. In: Brecht:
   nicht weit genug“ sei, und betont: „Ich müßte die         Die Maßnahme, S. 262–266, hier S. 265.
   Schauspieler völlig umschulen und würde bei ihnen      35 Heiner Müller: Fatzer±Keuner, S.231.
   und beim Publikum einen ziemlich hohen Bewußt-         36 Sebastian Kirsch. Brecht kritisieren ohne ihn zu ge-
   seinstand benötigen, Verständnis für Dialektik usw.“      brauchen ist Verrat! In: Theater der Zeit 67 (2012),
   (BFA 25, 430)                                             H. 3, S. 61.

Dreigroschenheft 3/2021                                                                                      13
„Was erwartet man noch von mir?“ – Bertolt Brecht
Lyrik

        bei Werner Söllner
              Felix Latendorf

                              I                                  Man erwartet noch etwas von mir ist „an
        „Es brechtete in den siebziger Jahren au-                bert brecht“ gewidmet.
        genfällig von Temeswar über Klausenburg
        und Hermannstadt bis Bukarest.“ Damit                   Dieses Gedicht soll nachfolgend im Mittel-
        diagnostizierte Peter Motzan für die jüngste             punkt der Untersuchung Bertolt Brecht bei
        Generation rumäniendeutscher Schriftstel-                Werner Söllner stehen (II). Abschließend
        ler:innen eine intensive Auseinanderset-                werden exemplarisch zwei weitere Ausei-
        zung mit dem Werk Bertolt Brechts. Pa-                   nandersetzungen des rumäniendeutschen
        noramatisch stellt er die Dialogverfahren                Schriftstellers mit dem Brechtschen Oeuvre
        rumäniendeutscher Schriftsteller:innen wie               beleuchtet (III).
        u. a. Richard Wagner, Anemone Latzina,
        Rolf Bossert, Johann Lippet und Werner                   In der Forschung wurde Söllners Werk be-
        Söllner dar.                                             sonders häufig in Beziehung zu intertextu-
                                                                 ellen Strategieverfahren gesetzt. Er selbst
        Der letztgenannte Söllner wurde 1951 in                  verweist – jedoch weniger offensichtlich
        Neupanat/Horia im Banat geboren und starb                – auf diese Verfahren, indem er sich auf
        2019 in Frankfurt am Main. Sein schmales                den Traditionslinien von Heinrich Heine,
        Werk, das einige Lyrikbände, noch weniger                Georg Trakl, Gottfried Benn oder Fried-
        verstreute Prosa-Schriften sowie Essayis-                rich Hölderlin, Peter Huchel, Ingeborg
        tisches beinhaltet, steht bereits mit seinem             Bachmann, Paul Celan, Johannes Bobrow-
        Debütband wetterberichte (gedichte. Klau-                ski positioniert. Einen dezidierten Verweis
        senburg 1975) unter dem Einfluss Brechts.               Söllners, ebenfalls in der Tradition Brechts
        Doch erst ein Jahr später tritt Söllner expli-           zu stehen, gibt es indes nicht. Dafür setzt
        zit in den Dialog mit Brecht – sein Gedicht              er sich implizit in ein Verhältnis zu dessen
                                                                 „mündigen Nachfahren aus der DDR“ und
        	 Motzan (1999, 146).
                                                                 beschreibt zugleich das Lebensgefühl in
        	 Hiermit wird die Generation an Schriftsteller:innen   den 1970er Jahren in Rumänien:
           verstanden, die in den 1970er Jahren begannen,
           erste Publikationen vorzulegen. Im Kontrast dazu        Einen so selbstverständlichen Umgang mit
           steht die Einteilung der gesamten rumäniendeut-         den Büchern moderner Autoren wie er hier-
           schen Literatur in Epochen. Wilhelm Solms schreibt
           im Vorwort des plakativ betitelten Bandes Nachruf       zulande [in der BRD, F.L.] möglich ist, konnte
           auf die rumäniendeutsche Literatur: „So war die
           jüngste Epoche der rumäniendeutschen Literatur,       	 Sowohl in Söllner (1976a, 74f.) als auch in ders.
           die etwa von 1972 bis 1985 gedauert hat, nicht nur       (1976b, 24f.).
           ihr künstlerischer Höhepunkt, sondern zugleich ihr    	 U. a. wird von seinem „intertextuellen Erinnerungs-
           Endpunkt.“ (S. 11)                                       projekt“ (Vgl. Schau [2003, Kap. 2]), seiner „ausge-
        	 Vgl. einführend zu Werner Söllners Leben und             prägten und auffälligen Intertextualität“ (Tudorica
           Werk: Detering: Art.: „Söllner, Werner“.                 [1997], zit. n. Schau [2003, 97, Anm. 95]) oder einer
        	 Vgl. bspw. das Eröffnungsgedicht Ausspruch eines         „teleskopartigen Intertextualität“ (Campbell [2017,
           Baumes (S. 5), das sich in den Diskurs des „Ge-          66]) gesprochen.
           sprächs über Bäume“ einschreibt. Vgl. dazu Brecht:    	 Vgl. Söllner (1994b, 12).
           An die Nachgeborenen. In: ders. (1988, Bd. 12, 85-    	 Vgl. Söllner (2017a, 47).
           87) u. Rduch (2017).                                  	 Motzan (1976, 97) u. vgl. ders. (1999, 145f.).

        14                                                                                 Dreigroschenheft 3/2021
man zwar nicht pflegen; aber die relativ libe-          von mir14 in eine augenscheinliche Bezie-

                                                                                                                       Lyrik
     rale Informationspolitik machte es ein paar             hung zu dem gewidmeten setzt, ist jedoch
     Jahre lang möglich, in den Universitätsbiblio-          bereits der Titel als Anspielung zu lesen,
     theken Hugo Friedrich und Levi-Strauss in der           als Umformulierung der Brechtschen Fra-
     richtigen Reihenfolge zu lesen; wenn in den             ge: „Was erwartet man noch von mir?“ Der
     Literaturseminaren von Trakl und Werfel die             Titel als Intertext bezieht sich auf Brechts
     Rede war, weil gerade der deutsche Expressi-            Poem Der 4. Psalm.15 Aus der Kombination
     onismus „dran“ war, brüteten die Interessier-           von paratextueller Widmung und intertex-
     testen unter den Studenten außerhalb der Uni            tueller Anspielung konstruiert sich das ar-
     auch über Hans Henny Jahnn oder Carl Stern-             chitextuelle Formprinzip des Söllnerschen
     heim. Und in den Buchhandlungen kauften                 Gedichts: in Bezug auf Ersteres als Dialog
     die Literaturbesessenen unterm Ladentisch               mit dem Zugeeigneten, in Bezug auf Letzte-
     und für relativ viel Geld Taschenbuchausga-             res als Gattungstransfer des Psalms.
     ben von Hans Magnus Enzensberger ebenso
     wie von Ernst Jandl, Neuerscheinungen von               Die Beschäftigung in der expressionis-
     Günter Kunert ebenso wie von Volker Braun               tischen Dichtung mit den Psalmen der
     oder Karl Mickel.10                                     Bibel und deren Stilmerkmalen (Prosage-
                                                             dicht, Parataxe, Dialogstruktur, usf.) bildete
Um zu vermeiden, dass der Intertextuali-                     für Brecht die Grundlage seiner Auseinan-
täts-Begriff überstrapaziert wird – wie im                   dersetzung mit dieser Form.16 Für Söllner
Querschnitt durch die Forschung skizziert                    wiederum ist allein Brechts Der 4. Psalm
wurde –, soll auf Gérard Genettes Theorie                    grundlegend – erst durch dieses Gedicht,
der „Transtextualität“11 zurückgegriffen                     erst durch den Dialog mit Brecht entsteht
werden. Mit Transtextualität ist nach Ge-                    sein Text.17
nette alles das gemeint, was einen Text in
eine „geheime oder manifeste Beziehung                       Formal übernimmt Söllner Brechts nume-
zu anderen Texten bringt“12. Die Einteilung                  risches Prinzip und gliedert seinen Text in
in fünf Typen von Transtextualität (Inter-                   vier Abschnitte. Brechts Gedicht hingegen
textualität, Paratextualität, Metatextualität,               ist lediglich in drei Abschnitte aufgeteilt.
Architextualität und Hypertextualität)13                     Daher kommt dem vierten und letzten Part
erlaubt es, die komplexen transtextuellen                    (S, V. 25f.) des Söllnerschen Gedichts eine
Strategieverfahren Söllners differenzierter                  besondere Aufgabe zu, nämlich eine repeti-
zu erfassen und zu beschreiben.                              tive. Die Frage „warum ist also nicht ruhe?“
                                                             (S, V. 25) ist ebenfalls ein Zitat aus dem
                            II                               Brechtschen Psalm-Gedicht (B, V. 7). Das
                                                             abschließende „man erwartet noch etwas
Während die Widmung „an bert brecht“                         von mir“ (S, V. 26) wiederholt den Titel,
Söllners Gedicht Man erwartet noch etwas
                                                             14 Im Folgenden werden die Verse des Gedichts im Text
10   Söllner (1990, 134).                                       mit der Sigle „S, V. #“ zitiert – die Strophennumme-
11   Genette (1993).                                            rierungen und Leerzeilen werden dabei nicht be-
12   Ebd., S. 9.                                                rücksichtigt.
13   Genettes terminologische Einteilung verlangt eine       15 In: Brecht (1988, Bd. 11, 32f.). Im Folgenden wer-
     gleichartige Fusion der Begriffe Transtextualität          den die Verse des Gedichtes mit der Sigle „B., V. #“
     (Paratextualität usw.) und Text, wie sie das bereits       zitiert – die Strophennummerierungen und Leerzei-
     existierende Wort des „Intertextes“ mit den Begrif-        len werden dabei nicht berücksichtigt.
     fen Intertextualität und Text unternommen hat. Für      16 Vgl. Mautner (2001, 84-96).
     Genette sind Intertexte demnach eine Unterkatego-       17 Insofern lässt sich Söllners Man erwartet noch etwas
     rie von Transtexten. Solche Intertexte treten als Zi-      von mir als Hypertext von Brechts Der 4. Psalm ver-
     tat, Plagiat und Anspielung auf. Vgl. ebd., S. 10.         stehen. Vgl. Genette (1993, 14f.).

Dreigroschenheft 3/2021                                                                                         15
Sie können auch lesen