JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT - ORTE, TRADITIONEN, GESCHICHTEN

 
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JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT - ORTE, TRADITIONEN, GESCHICHTEN
JÜDISCHES
LEBEN IN
FRANKFURT
O RTE , TR A D ITI O N E N , G E SC H I C HTE N
JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT - ORTE, TRADITIONEN, GESCHICHTEN
JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

DAVID-STERNSCHE
KLINGT IRGENDWIE FRANKFURDERISCH?
                                                                                  GRUSSWORTE
                                                                                  Uwe Becker
                                                                                  Bürgermeister und Kirchendezernent              4
                                                                                  Prof. Dr. Salomon Korn
                                                                                  Vorstandsvorsitzender der
                                                                                  Jüdischen Gemeinde
                                                                                  Frankfurt am Main                               6

                                                                                  GEMEINSAME GESCHICHTE
                                                                                  Geschichte                                      8
                                                                                  Persönlichkeiten                               14
                                                                                  Die Jüdische Gemeinde                          22

                                                                                  ENTDECKEN
                                                                                  Besondere Orte                                 26
                                                                                  Das Jüdische Museum                            32
                                                                                  Der jüdische Friedhof                          36

                                                                                  ERLEBEN
                                                                                  Jüdisches Leben in Bildern                     40
                                                                                  Aktiv mit Makkabi                              44
                                                                                  Feiertage und Traditionen                      48

                                                                                  ERINNERN
                                                                                  Anne Frank. Morgen mehr.                       52
         ISS JA AACH FRANKFURT                                                    Frankfurter Stolpersteine                      56
         David-Sternsche, Kippa und          Damit ist Frankfurt auch die
         Schabbat klingen ein wenig          jüdischste Stadt in Deutschland.     Rundgang durch Frankfurt                      60
         „frankfurderisch“, denn jüdisches   Wir sind glücklich und stolz, dass
         Leben ist seit mindestens 900       dies so ist und jüdisches Leben
         Jahren Teil der Identität unserer   nach der schrecklichen Zäsur
                                                                                  Organisationen, Vereine, Einrichtungen         63
         Stadt. Viele der besonderen         des Holocaust unser Frankfurt
         Eigenschaften Frankfurts, von der   weiter mitprägt. Damit dies so
         Kultur über die Wissenschaft bis    bleibt, setzen wir uns gegen jede
         zur Wirtschaft, sind mit dem Wir-   Form des Antisemitismus ein und
         ken jüdischer Familien verbunden    stehen als Frankfurterinnen und
         – in Geschichte und Gegenwart.      Frankfurter zusammen.

                                                                                                                                          3
JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT - ORTE, TRADITIONEN, GESCHICHTEN
GRUSSWORT UWE BECKER                                                      JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

                       Liebe Frankfurterinnen und Frankfurter,
                       liebe Leserinnen und Leser,
                       Jüdisches Leben besitzt in Frankfurt am Main eine große und lange
                       Tradition. Dort, wo die historischen Wurzeln Frankfurts in der Altstadt liegen,
                       finden sich seit dem 12. Jahrhundert auch die ersten Spuren jüdischen
                       Gemeindelebens. Viele der besonderen Eigenschaften Frankfurts als Kultur-
                       und Wissenschaftsstadt bis hin zur Wirtschaftsmetropole sind mit dem
                         Wirken großer jüdischer Persönlichkeiten in Geschichte und Gegenwart
                          verbunden. Wichtige Institutionen wie die Goethe-Universität verdanken
                           ihre Existenz diesem Engagement.
                           Damit ist Frankfurt am Main auch die jüdischste Stadt in Deutschland
                         und jüdisches Leben ist ein fester Teil der Identität Frankfurts. Dennoch
                       haben jüdische Bürgerinnen und Bürger über die Jahrhunderte hinweg
                       immer wieder um ihre Gesundheit und ihr Leben fürchten müssen. Pogro-
                       me in der Zeit der Kreuzzüge, während der schwarzen Pest oder im Zeit-
                       fenster des Fettmilchaufstandes zeugen schon vor dem dunkelsten Kapitel
                       der deutschen Geschichte von der Diskriminierung und der Entrechtung,
                       denen Frankfurts Jüdinnen und Juden immer wieder ausgesetzt waren.
                       Die schreckliche Zäsur des Holocaust mit der Vertreibung und Ermordung
                       tausender jüdischer Frankfurterinnen und Frankfurter hat in unserer Stadt
                       gesellschaftlich tiefe Wunden geschlagen, deren Narben bis heute sichtbar
                       sind. Umso glücklicher sind wir darüber, dass jüdisches Leben vom TuS Mak-
                       kabi bis zur I. E. Lichtigfeld-Schule heute wieder ein deutlich sichtbarer Teil
                       unserer Stadtgesellschaft ist und die Jüdische Gemeinde Frankfurt als eine
                       der größten Gemeinden in Deutschland seit Jahrzehnten auch das gesamt-
                       gesellschaftliche Leben weit über die Stadtgrenzen hinaus intellektuell be-
                       reichert. Diese Broschüre soll Ihnen in übersichtlicher Form einen Eindruck
                       und Überblick über die jüdische Seite Frankfurts vermitteln, ohne die es
                       unsere Stadt, so wie wir Frankfurt kennen und lieben, überhaupt nicht gäbe.
                       Was ganze Buchbände nicht vollständig abbilden können, nämlich eine Ge-
                       samtschau des jüdischen Lebens unserer Stadt, können auch die folgenden
                       Seiten nicht leisten. Sie können Ihnen aber Geschichte und Gegenwart nä-
                       herbringen und neugierig machen auf noch viel mehr an jüdischen Tradi-
                       tionen, Geschichten und Persönlichkeiten unserer Stadt Frankfurt am Main.
                       Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre.

                       Uwe Becker
                       Bürgermeister und Kirchendezernent
4                                                                                                        5
JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT - ORTE, TRADITIONEN, GESCHICHTEN
G R U S S W O R T P R O F. D R . S A LO M O N KO R N                                                    JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

                                                       Sehr geehrte Damen und Herren,
                                                       liebe Frankfurter Freunde
                                                       und verehrte Gäste,
                                                       „Jüdisches Leben in Frankfurt“ – wo beginnt man und was erwähnt man
                                                       als Erstes? Glücklicherweise stellt sich diese Frage hier in unserer schönen
                                                       Stadt am Main. Spuren jüdischen Lebens finden sich nahezu überall! Denn
                                                         Frankfurt blickt auf eine lange Tradition jüdischen Wirkens zurück. Ohne
                                                           die jüdische Gemeinschaft wäre Frankfurt sicherlich nicht die Stadt, wie
                                                            wir sie heute kennen. Kultur, Wissenschaft, Politik sind nur einige der
                                                            Bereiche, die maßgeblich geprägt wurden von jüdischen Vertretern
                                                          und die Frankfurt über die Landesgrenzen hinweg bekannt gemacht
                                                        haben. Namen wie Horkheimer, Adorno und die „Frankfurter Schule“ oder
                                                       auch Anne Frank haben heute noch Weltgeltung.
                                                       Es ist eine Geschichte mit Höhen und Tiefen. Das Gedenken an die NS-
                                                       Zeit und Gedenkstätten, die an das Leid der verfolgten und ermordeten
                                                       Frankfurter Juden erinnern, gehören daher ebenfalls zum Stadtbild.
                                                       Die jüdische Gemeinschaft in Frankfurt spielte zudem eine wichtige
                                                       Rolle bei der Entwicklung eines neuen jüdischen Selbstbewusstseins
                                                       nach 1945. Für das Wohl der hiesigen Gemeinschaft einzustehen und
                                                       Herausforderungen anzunehmen, gehören seither zu den Hauptaufgaben
                                                       der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. Mit ihren ca. 6500 Mitgliedern
                                                       setzt sie sich darüber hinaus für das Wohl der gesamten Stadtgesellschaft
                                                       ein. Das Engagement für andere Minderheiten ist dabei ebenso wichtig wie
                                                       der Kampf gegen Antisemitismus, Geschichtsvergessenheit und Intoleranz.
                                                       Man kann guten Gewissens und mit historischer Gewissheit sagen,
                                                       dass jüdisches Leben zu Frankfurt gehört, wie die Paulskirche und das
                                                       Bethmännchen. Als fester Bestandteil dieser Stadt müssen wir daher keine
                                                       Brücken mehr bauen, sondern nur unsere Türen öffnen.
                                                       Sie sind herzlich eingeladen, einzutreten und die Vielfalt jüdischen Lebens
                                                       kennenzulernen.
                                                       Für ein Miteinander und Füreinander in unserer Stadt!

                                                       Prof. Dr. Salomon Korn
                                                       Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main

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JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT - ORTE, TRADITIONEN, GESCHICHTEN
GEMEINSAME GESCHICHTE                GESCHICHTE                                                                                                JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

                                                                                              1360 durften Juden sich erneut in       2
                                                                                              Frankfurt niederlassen. Das Herr-
                                                                                              schafts-, Besteuerungs- und Schutz-
                                                                                              recht über sie lag inzwischen wieder
                                                                                              beim Kaiser. Durch Verpfändun-
                                                                                              gen und politische Wendungen
                                                                                              gelangten diese Rechte 1372
                                                                                              abermals in den Besitz der
                                                                                              Stadt. Der Rat setzte seine

Jüdische Geschichte                                                                           die Juden mehr und mehr
                                                                                              einschränkende       und

in Frankfurt am Main                                                                          finanziell belastende
                                                                                              Politik fort. Trotzdem
E I N Ü B E R B LI C K                                                                        blieb die Stadt mit ihren
                                                                                              inzwischen zwei Messen
         Die Ersterwähnung jüdischer Prä-            nieder. Ihre Häuser befanden sich        in den folgenden Jahrzehn-
         senz in Frankfurt fällt in das Jahr 1150.   auch diesmal wieder entlang der          ten weiterhin für Juden als
         Wann sich genau eine Jüdische Ge-           Fahr- und der Saalgasse, ihre Sy-        Ansiedlungsort attraktiv. Das
         meinde bildete, ist unklar, ihre erste      nagoge und ihr Gemeindehaus              Verhältnis des Frankfurter Rats
         Auslöschung hat jedoch ein Datum.           zwischen Dom und Main. Das „Ju-          gegenüber den ansässigen Juden
         Am 22. Mai 1241, nicht ganz ein Jahr        denregal“, die Herrschafts- und Be-      war und blieb ambivalent. Dennoch
         nachdem Kaiser Friedrich II. den            steuerungsrechte über die Juden,         zögerte er, als Kaiser Friedrich III.
         Frankfurtern das Messeprivileg aus-         lag beim König. Dieser verpfändete       1450 die Vertreibung der Juden aus
                                                                                                                                       1 Alte Synagoge in
         gestellt hatte und fünf Jahre nach-         1349 seine Rechte an Frankfurts          ihren Häusern in der Nähe des Doms
         dem er sich zum Schutzherrn aller           Juden und ihrem Eigentum an den          forderte. Erst auf dessen Druck be-      der Judengasse
         Juden im Reich erklärt hatte, taten         Rat der Stadt. Er verzichtete in der     gann der Rat mit der Errichtung eines    2 Die Judengasse mit
         sich Frankfurter Bürger zusammen,           Urkunde auf Schadensersatz, falls        separaten Wohngebiets außerhalb
                                                                                                                                       Blick Richtung Süden
         überfielen und ermordeten 180 Ju-           den Juden der Stadt etwas zustoßen       der Stadt. 1462 wurden die Frank-
         den, um sich an ihrem Besitz zu             sollte. Im Falle ihres Todes würde ihr   furter Juden schließlich gezwungen,     Haushalte. Die Neuankömmlinge er-
         bereichern. 24 Juden konnten sich           Eigentum an die Stadt fallen. Kaum       ihre Häuser in der Stadt aufzugeben     richteten aus eigenen Mitteln neue
         durch Annahme der Taufe retten.             hatte der Kaiser die Stadt verlassen,    und in die vom Rat vor der nordöst-     Gebäude, so dass mit der Zeit eine
1                      Schon wenige Jah-             überfielen und ermordeten verschul-      lichen Stadtmauer errichteten Ge-       etwa 330 Meter lange Gasse mit zu
                      re später ließen sich          dete Frankfurter Bürger die Juden.       bäude umzuziehen. Um diese Zeit         beiden Seiten je 100 Häusern ent-
                        Juden wieder in der          Die Pest, mit der dieses Ereignis in     lebten 43 jüdische Familien in Frank-   stand. Die enge Judengasse wurde
                          wirtschaftlich flo-        Verbindung gebracht wurde, kam           furt. Durch Zuzug im Verlauf der        durch 3 Tore abends sowie an Sonn-
                            rierenden        Mes-    erst später in die Stadt, als schon      folgenden sechzig Jahre verzehn-        und christlichen Feiertagen von der
                           sestadt Frankfurt         keine Juden mehr hier lebten. Seit       fachte sich die Zahl der jüdischen      restlichen Stadt abgeschlossen.

8                                                                                                                                                                           9
JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT - ORTE, TRADITIONEN, GESCHICHTEN
GEMEINSAME GESCHICHTE            GESCHICHTE                                                                                            JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

                                                                                     1614 gestürmt und geplündert. Die        Auch eine Verbesserung gab es: An-
                                                                                     1.380 Frankfurter Juden mussten          ders als in den Jahrhunderten zuvor
                                                                                     in benachbarte Territorien fliehen.      mussten die jüdischen Haushalts-
                                                                                     Das Eingreifen des Kaisers beende-       vorstände ihre Aufenthaltserlaubnis
                                                                                     te den Aufstand. Seinen Anführern,       nun nicht mehr alle drei Jahre er-
                                                                                     allen voran dem Lebkuchenbäcker          neuern. Sie blieb, einmal gegeben,
                                                                                     Vinzenz Fettmilch, wurde der Pro-        dauerhaft bestehen. Das bezahlten
                                                                                     zess gemacht. Er und sechs weitere       sie allerdings mit hohen Abgaben
                                                                                     Aufrührer wurden öffentlich hinge-       und Steuern an sowohl den Rat als
                                                                                     richtet. Kaiserliche Soldaten geleite-   auch den Kaiser. Anfang des 18.
                                                                                     ten schließlich die Frankfurter Juden    Jahrhunderts ereigneten sich in-
                                                                                        zurück in die Stadt und die Juden-    nerhalb von zehn Jahren gleich
                                                                                          gasse. An deren Toren wurde         zwei Katastrophen in der Juden-
          2                                                                                 nun der Reichsadler als Zei-      gasse. Ausgelöst durch ein schnell
      1
                                                                                             chen des kaiserlichen Schut-     um sich greifendes Feuer innerhalb
                                                                                           zes angebracht. Den Jahrestag      der Gasse, brannte im Januar 1711
                                                                                         ihrer Rückführung nach Frank-        die gesamte Judengasse nieder.
                                                                                       furt begingen die Juden fortan als     Kaum waren die Häuser wiederauf-
                                                                                     Freudenfest, genannt „Vinz-Purim“,       gebaut, zerstörte im Januar 1721 ein
                                                                                     nach dem Vornamen Fettmilchs. Im         weiterer Großbrand im nördlichen
                                                                                     selben Jahr erließ der Kaiser eine       Teil der Gasse etwa 100 Häuser. Die
                                                                                     neue Ordnung für die Frankfurter         übrigen wurden während der Lösch-
                                                                                     Juden. Sie beinhaltete eine Vielzahl     arbeiten durch christliche Nachbarn
                                                                                     an restriktiven Paragraphen. Die An-     geplündert und beschädigt. Beide
                                                                                     zahl der jüdischen Familien in Frank-    Male durften bis nach Beendigung
                                                                                     furt wurde auf 500 beschränkt. Zu-       des Wiederaufbaus der Gasse die
                                                                                     künftig durften jährlich nur noch 12     obdachlos gewordenen Juden, die
                                                                                     jüdische Paare heiraten, davon nur       es sich noch leisten konnten, in der
              1 Hauptsynagoge, Inneres                                               6 Personen von auswärts stammen.         Stadt bei Christen zur Miete wohnen.
              2 Nördlicher Teil der Juden-    Anfang des 17. Jahrhun­derts führten   Der Einkauf auf dem Markt vor den        Die anderen und auch die, die keine
                                              soziale Spannungen zwischen Rat        Bürgern und das Berühren der Ware        Aufenthaltserlaubnis                   3
              gasse mit Hauptsynagoge,
                                              und Handwerkern zu Unruhen in der      wurden ihnen ebenso untersagt wie        hatten, mussten die
              1885 wurde die gesamte          Stadt und schließlich zum Aufstand     das Halten von offenen Läden und         Stadt     verlassen.
              Judengasse in Börnestraße       gegen den Rat. Der Zorn der aufstän-   der Kleinhandel in der Stadt. Aus-       Obwohl die bei-
                                              dischen Handwerker entlud sich ge-     drücklich gestattet waren hingegen       den      Brände
              umbenannt 3 Börneplatz­
                                              gen die jüdische Bevölkerung. Die      von nun an der Großhandel mit            zur Verarmung
              synagoge Innenraum, 1932        Judengasse wurde am 22. August         Pfandgütern und der Fernhandel.          eines Großteils

10                                                                                                                                                                   11
JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT - ORTE, TRADITIONEN, GESCHICHTEN
GEMEINSAME GESCHICHTE              GESCHICHTE                                                                                               JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

     1                  der jüdischen Haus-        Der wieder etablierte Frankfurter       kunft gerichtete offene lebenswerte     freikamen und noch über Mittel ver-
                         halte geführt hatten,     Rat entzog ihnen die Gleichstellung,    Stadt zu entwickeln.                    fügten, verließen Deutschland so
                            verlangte der Rat      gewährte aber verschiedene wirt-            Die Nationalsozialisten zerschlu-   schnell es ging. Anderen gelang
                              die Zahlung der      schaftliche Freiheiten. Diesen folgte   gen diese Entwicklung. Im Jahr 1933     es nur noch ihre Kinder über den
                                üblichen ho-       ab September 1824 die privatrecht-      lebten etwa 30.000 Juden in Frank-      „Kindertransport“ nach England
                                hen Abgaben.       liche Gleichstellung, was die Nieder-   furt, 6,3 % der Gesamtbevölkerung.      zu retten. Mit Beginn des 2. Welt-
                              Auch sonst setz-     lassung an jedem gewünschten Ort        Unter dem Druck von zunehmender         kriegs wurde es für Juden fast un-
                            te er in jeder Hin-    innerhalb der Stadt mit sich brachte.   Ausgrenzung, Entrechtung und Ver-       möglich, Deutschland zu verlassen.
                          sicht seine Politik      Fremden Juden blieb jedoch weiter-      folgung verließen viele von ihnen       Ab 1941 war ihnen dies verboten.
                        der Einschränkungen        hin der Zuzug nach Frankfurt ver-       Frankfurt und Deutschland, wäh-         Die in Frankfurt verbliebenen Juden
         gegenüber der Jüdischen Gemein-           wehrt. Das änderte sich erst 1848,      rend ihre Geschäfte und Unterneh-       wurden ab dem 19. Oktober 1941 in
         de fort.                                  als die deutsche Nationalversamm-       men arisiert wurden. Am 10. Novem-      die Konzentrations- und Todesla-
            Erst eine weitere Katastrophe          lung in der Paulskirche die Gleich-     ber 1938 plünderten, verwüsteten        ger verschleppt und ermordet. Von
         sollte die Lage der Frankfurter Ju-       stellung der Juden beschloss. Mit       und brandschatzten Nationalsozia-       den mehr als 12.000 jüdischen Ver-
         den verbessern. Als französische          dem Scheitern der Versammlung           listen auch Frankfurts Synagogen        schleppten kehrten nur 179 Perso-
         Truppen 1796 die Stadt belagerten         wurde auch den Frankfurter Juden        und ebenso überfielen, zerstörten       nen nach Frankfurt zurück.
         und beschossen, geriet die Frank-         ihre Gleichstellung wieder entzogen.    und plünderten sie jüdische Ge-            Im Jahr 1946 wurde die Gemein-
         furter Judengasse ein drittes Mal in          Erst 1864, als sich längst viele    schäfte und Privatwohnungen. Sie        de wiederbegründet. Während viele
         Brand. Wieder verloren viele jüdi-        Frankfurter Juden wirtschaftlich eta-   verschleppten über 3000 jüdische        überlebende Frankfurter Juden ins
         sche Familien Haus und Habe. Die-         bliert und zum Wohle ihrer Heimat-      Männer aus Frankfurt in die Kon-        Ausland auswanderten, zogen über-
         se Zerstörung markierte das Ende          stadt engagiert hatten, räumte ihnen    zentrationslager Buchenwald und         lebende Juden aus Polen, Russland
         der ersten und am längsten beste-         schließlich der Frankfurter Stadtrat    Dachau. Diejenigen, die wieder          und anderen Ländern aus verschie-
         henden Judengasse Europas. Die            die bürgerlich-rechtliche und politi-                                           denen ‚Displaced Persons‘ Lagern
         folgenden Jahre brachten Verbes-          sche Gleichstellung endgültig ein,                                      2       nach Frankfurt. Die nunmehr sehr
         serungen, aber auch immer wieder          was 1871 auch auf der Ebene des                                                 heterogene Jüdische Gemeinde
         Rückschläge für die Frankfurter Ju-       Deutschen Reichs zementiert wur-                                                  wuchs bis Ende der Achtziger
         den mit sich. Die erhoffte rechtliche     de. Juden engagierten sich in den                                                   Jahre des 20. Jahrhunderts auf
         Gleichstellung durch den 1806 von         unterschiedlichsten beruflichen und                                                   etwa 3000 Mitglieder an. Mit
         Napoleon eingesetzten Fürstprimas         gesellschaftlichen Richtungen. In                                                       der in den Neunziger Jahren
         Carl Theodor von Dahlberg erfolgte        Wirtschaft, Politik, Kultur und Wis-                                                      einsetzenden Zuwande-
         nicht von selbst. Erst als sie die Zah-   senschaft, im Stiftungswesen und                                                            rung der jüdischen Kon-
         lung der enorm hohen Summe von            in vielen anderen Bereichen trugen                                                           tingentflüchtlinge  aus
         440.000 Gulden an von Dahlberg            Juden dazu bei, ihre Heimatstadt                                                           den Nachfolgestaaten der
         geleistet hatten, erhielten die Frank-    Frankfurt in eine moderne in die Zu-                                                     ehemaligen      Sowjetunion
         furter Juden 1811 die Gleichstellung.                                                                                            hat die Jüdische Gemeinde
            Mit der Niederlage Napoleons            1 Ruine Börneplatzsynagoge, die                                                     Frankfurt heute 6.500 Mitglie-
         1813 floh von Dahlberg aus der Stadt.      1938 in der Pogromnacht in Brand                                                  der.
                                                    gesetzt wurde 2 Chanukka-Leuchter

                                                    vor der Alten Oper Frankfurt
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JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT - ORTE, TRADITIONEN, GESCHICHTEN
GEMEINSAME GESCHICHTE                   PERSÖNLICHKEITEN                                                                                               JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

                                                                                                     vielfältig und lebendig. Besonders       Was ist Ihr Lieblingsfeiertag?
                                                                                                     ist, dass bei uns zu fast jedem An-      Definitiv Pessach. Es beginnt mit
                                                                                                     lass gegessen wird. An manchen           dem Sederabend, eine zeremoniel-
                                                                                                     Feiertagen essen wir Fisch oder          le Mahlzeit. Wir sind alle zusammen,
                                                                                                     etwas Süßes, an anderen etwas Mil-       denn die Kinder und Enkel reisen
                                                                                                     chiges. Neben dem Essen spielen          meistens an. Das ist schon mal das
                                                                                                     bei uns Fragen eine große Rolle.         Schönste. Dann wird der Esstisch ge-
                                                                                                     Es heißt oft zwei Juden und drei Er-     dreht, damit alle Platz finden, denn
                                                                                                     klärungen (lacht). Fragen sind im Ju-    die Eltern meiner Schwiegerkinder
                                                                                                     dentum sehr wichtig, auch wichtiger      kommen auch. Wir sind oft mindes-

Im Gespräch                                                                                          als die Antworten.                       tens 25 Leute. Es ist wunderschön.
                                                                                                                                                 Es beginnt mit der Huldigung des
J Ü D I S C H E S L E B E N I N F R A N K F U R T – DA S S I N D N E B E N D E R J Ü D I S C H E N   Was ist Ihnen an Ihrer Religion          Tages und dem obligatorischen Be-
G E M E I N D E N AT Ü R L I C H VO R A L L E M D I E J Ü D I N N E N U N D J U D E N , D I E        wichtig?                                 cher Wein sowie der Einladung am
                                                                                                     Die Religion gibt mir einen gewissen     Mahl teilzunehmen, bei dem auch
H I E R I N F R A N K F U R T L E B E N U N D D I E S TA DT G E S TA LT E N . W I R H A B E N
                                                                                                     Halt. Im Judentum beginnt die Reli-      Andersgläubige und Bedürftige ein-
VIER FRANKFURTERINNEN UND FRANKFURTER GETROFFEN UND SIE
                                                                                                     gion mit der Geburt und endet mit        geladen sind. Allerdings muss der
H A B E N U N S VO N S I C H E R Z Ä H LT.
                                                                                                     dem Ableben. Es ist von Babytagen        Gast Geduld mitbringen, denn es
                                                                                                     bis ins hohe Alter alles geregelt. Ge-   geht nicht gleich los. Erst wird aus
            Sind Sie gläubig und wie würden Sie sich in Ihrem Glauben beschreiben?                   nauso wie dir die Religion übers Jahr    der Haggada vorgelesen. Das ist die
            In meinem Glauben bin ich sehr traditionell                                              einen gewissen Rhythmus vorgibt.         Geschichte des Auszuges aus Ägyp-
            mit dem Judentum verbunden. Es bedeu-                                                    Im Winter feiern wir unter anderem       ten. Anschließend stellen die Kinder
            tet, dass ich versuche alle Gebote einzu-                                                Chanukka, dann Pessach im Früh-          vier Fragen symbolisch an die Tisch-
            halten. Ich halte mich an die Speisege-                                                  ling und im Herbst die hohen Feier-      gesellschaft. Diese werden meis-
            setze und nach Möglichkeit auch an                                                       tage wie Rosch ha-Schana und Jom         tens singend vorgetragen. Nach
            alle anderen Regeln. Traditionen                                                         Kippur. Innerhalb der Woche haben        1 bis 1,5 Stunden sind die Fragen be-
                                                                                                     wir Stress und am Sabbat kommen          antwortet und dann wird gegessen,
                                                                                                     wir zur Ruhe. Dann steht die Familie     anschließend geht es weiter mit vor-
                                                                                                     im Mittelpunkt.                          tragen und beten.
                                                                                                        Darüber hinaus ist das Judentum          Das Beste an Pessach aber ist
                      F I S ZE L A J N WOJ N E R                                                     ja nicht nur eine Religion. Auch Karl    nicht das Essen oder der Wein, son-
                     lebt seit seinem 2. Lebensjahr in                                               Marx und Leo Trotzki waren bei-          dern dass wir die Freiheit feiern. Wir
                 Frankfurt und ist Aufseher und Gabbai in                                            spielsweise Juden ohne gläubig zu        waren ein Sklavenvolk in Ägypten
                der Westend-Synagoge. Ein Gabbai ist der                                             sein. Wir sind auch ein Volk, eine       und Moses hat uns herausgeführt
                 Laienvorsteher einer Synagoge, der den
                     betrieblichen Ablauf organisiert.        sind mir sehr wichtig. Sie be-         Nation, eine Schicksals- und Glau-       und von der Sklaverei befreit. Das
                     Der 65-Jährige ist seit 40 Jahren      stimmen meinen Alltag. Ge-               bensgemeinschaft. Es ist vieles, was     kenne ich von keiner anderen Reli-
                          verheiratet und hat vier        rade jüdische Traditionen sind             uns miteinander verbindet.               gion – ein Fest für die Freiheit.
                            erwachsene Kinder.

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JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT - ORTE, TRADITIONEN, GESCHICHTEN
GEMEINSAME GESCHICHTE                  PERSÖNLICHKEITEN                                                                                               JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

            Was gefällt Ihnen an Frankfurt?            das Feuerwerk losging, warfen sie
            Ich habe mein ganzes Leben hier            sich instinktiv auf den Boden. Sie
            gelebt, habe also keinen Vergleich.        wussten nicht, dass es ein Feuer-
            Das ist bei meinen Kindern schon           werk gibt. Die anderen Menschen
                                                                                                       BARBARA BIŠICKÝ-EHRLICH
            anders. Grundsätzlich bin ich gern         im Palmengarten schauten irritiert.             ist gebürtige Frankfurterin. Gemeinsam
            Frankfurter. Ich fühle mich hier wohl      Aber sie haben es halt von klein auf         mit ihren drei Kindern (Mädchen (18), Junge
                                                                                                     (16) und Mädchen (12)) lebt die 46-jährige
            und habe alles, was ich brauche.           gelernt, wenn es kracht, dann werft
                                                                                                    wieder im Stadtteil ihrer Kindheit. Sie hat in
            Es ist eine Großstadt, aber nicht so       ihr euch auf den Boden. Sie han-          Prag studiert sowie zwischenzeitlich in München,
            groß. Es gibt einen Flughafen und          delten instinktiv. So ist das. Das be-   Stuttgart und Baden-Baden gelebt. Sie arbeitet als
                                                                                                 Synchron- und Werbesprecherin, ist Autorin und
            einen großen Bahnhof. Ich habe ein         schreibt den Unterschied ganz gut.          leitet Kindertheatergruppen in der Jüdischen
            vielfältiges Kulturangebot mit Thea-       Und vielleicht ist es nicht einfach zu           Gemeinde. Gemeinsam mit ihrer acht-
            tern und der Alten Oper. Hier gibt es      verstehen, wenn man die Erfahrung                zehnjährigen Tochter Lyel, die kurz vor
                                                                                                           ihrem Abitur steht, erzählt sie uns
            ein gutes Sportangebot sowie Eis-          nicht gemacht hat. Aber wenn das                      von ihrem jüdischen Leben in
            hockey und Bundesligafußball. Wir          Kind unter Polizeischutz in den Kin-                            Frankfurt.
                                                       dergarten kommt und Panzerfenster
         DA S B ESTE A N P ES S AC H                   im Gebäude sind und es in der Schu-
      A B E R I ST N I C HT DA S ES S E N              le so weitergeht und in der Synago-       Sind Sie gläubig und wie würden
       O D E R D E R W E I N , SO N D E R N            ge auch, dann fragst du dich, was ist     Sie sich in Ihrem Glauben beschrei-
     DA S S W I R D I E F R E I H E IT F E I E R N .
                                                       eigentlich der Unterschied zu den         ben?
            haben mehrere kleine Synagogen             nicht jüdischen Frankfurterinnen          L. Ich bin Jüdin, aber nicht religiös
            und eine wunderschöne große Syn-           und Frankfurtern oder Offenbache-         aufgewachsen und wir feiern nicht
            agoge sowie ein koscheres Lebens-          rinnen oder Berlinern, bei denen          jeden Freitag Shabbat oder essen
            mittelgeschäft. Ich kann hier mein         kein Polizeiwagen vor dem Kinder-         koscher, aber was ich wirklich mag,
            Judentum ausleben. Es gibt einen           garten, der Schule und der Kirche         sind die Feiertage. Judentum ist für        B. Das geht mir genauso. Ich bin
            jüdischen Kindergarten und eine jü-        steht. Und dann merkst du, dass           mich nicht unbedingt der Glaube an          nicht religiös und wir leben nicht
            dische Schule. Also eigentlich alles,      du scheinbar doch anders bist. Ich        Gott, sondern die Gemeinschaft. Wir         religiös. Auch kann ich nicht einmal
            was ich brauche.                           hatte eigentlich mal gehofft, dass        sind ja eine Minderheit und deshalb         wirklich sagen, ob ich an Gott glau-
                                                       meine Enkelkinder nicht mehr unter        halten wir besonders zusammen.              be oder nicht. Trotzdem ist für mich
            Was wünschen Sie sich für die Zu-          Polizeischutz in den Kindergarten         Ich engagiere mich in meiner Frei-          das Judentum sehr wichtig. Es ist
            kunft für Frankfurt?                       oder die Schule gehen müssen und          zeit im jüdischen Jugendzentrum             ein wichtiger Teil meiner Identität
            Ich beschreibe es mal so: Als meine        ein sorgenfreieres Leben haben.           Amichai. Da zeigt sich zum einen die        und spielt in ganz vielen Schichten
                        Tochter mit 12, 13 Jahren      Das ist eigentlich mein Wunsch für        besondere Gemeinschaft und zum              meines Seins eine Rolle. Ich kann es
                         das erste Mal allein mit      die Zukunft, aber die Menschen ler-       anderen zeigt sie sich auch an den          gar nicht immer so in Worte fassen.
                           ihren Freundinnen in        nen bedauerlicherweise nichts und         Feiertagen. Wenn wir mit der Fami-          Es hat ganz viel mit meinen Sinnen
                             den Palmengarten          wir haben viel Routine damit.             lie und jüdischen sowie nicht-jüdi-         zu tun, mit Gefühlen und Gerüchen
                               zum     Rosenfest                                                 schen Freunden zusammen essen               genauso wie mit Gegenständen,
                              ging und am Ende         Vielen Dank für das Interview             und Lieder singen. Damit verbinde           die man sieht und denen man sich
                                                                                                 ich mein Jüdischsein.

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JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT - ORTE, TRADITIONEN, GESCHICHTEN
GEMEINSAME GESCHICHTE                PERSÖNLICHKEITEN                                                                                                JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

           verbunden fühlt. Es ist irgendwie         lerweise fliegen wir zusammen mit           nungen häufig sehr groß. Außerdem         resse an dem Fremden hätten und
           ein Zugehörigkeits- und Gemein-           meinem Vater jedes Jahr zu unserer          mag ich wirklich, dass irgendwie je-      dadurch ein größeres Verständnis
           schaftsgefühl. Wahrscheinlich ist         Familie nach Kanada. Das ist etwas          der jeden über irgendeinen ande-          füreinander gewinnen würden.
           es das Sammelsurium an Bräuchen           ganz besonderes, weil die ganze             ren Freund oder Bekannten kennt.
           und Traditionen und weniger die           Familie, die sich nur einmal im Jahr        So kommen viele unterschiedliche          L. Ich würde mir wünschen, dass ich
           Religion mit ihren religiösen Regeln      sieht, an einem Tisch zusammen-             Leute aus unterschiedlichen Kreisen       meine Davidsternkette einfach tra-
           und Vorschriften.                         kommt. Das finde ich schön. Außer-          zusammen.                                 gen könnte und sie nicht unter dem
                                                     dem dauert der Feiertag sehr lange.                                                   Pulli verstecken müsste, wie ich es
           Haben Sie denn einen Lieblings-           Es werden viele Lieder gesungen             Was wünschen Sie sich für die Zu-         beispielsweise in der U-Bahn aus
           feiertag?                                 und die ganze Familie feiert zusam-         kunft für Frankfurt?                      Angst mache. Wunderbar wäre es,
           B. Grundsätzlich mag ich jeden            men. Natürlich gibt es auch sehr le-        B. Ich würde mir wünschen, dass es        wenn ich mir darüber gar keine Ge-
           Feiertag, an dem wir alle zusammen        ckeres Essen.                               nicht mehr nötig wäre, jüdische Ein-      danken mehr machen müsste. Auch
           sind und lecker essen. Darauf freuen                                                  richtungen zu bewachen. Natürlich         wünsche ich mir, dass das Juden-
           wir uns auch immer sehr. Manchmal         Wie würden Sie Ihr Leben in Frank-          wäre es schön, wenn wir alle gene-        tum nicht mehr durch den Holocaust
           bereitet meine Mutter Böhmische           furt beschreiben?                           rell keine Angst mehr vor Terroran-       definiert wird. Er ist Teil unserer Ge-
                                                     B. Frankfurt ist mein Zuhause. An           schlägen, Ausgrenzung und Diskri-         schichte, aber er definiert nicht das
     I C H W Ü R D E M I R W Ü N SC H E N ,          Frankfurt liebe ich besonders die           minierung zu haben bräuchten. Es          Judentum.
   DA S S I C H M E I N E DAV I DSTE R N ­           Vielfalt. Schon immer herrscht hier         würde mich freuen, wenn wir alle
 K E T TE E I N FAC H TR AG E N KÖ N NTE             eine Multi-Kulti-Kultur, die auch ze-       vielleicht grundsätzlich mehr Inte-       Vielen Dank für das Interview
       U N D S I E N I C HT U NTE R D E M            lebriert wird. Ich glaube, dass viele
     PU LLI V E RSTEC K E N M Ü S STE ,
                                                     Frankfurterinnen und Frankfurter
W I E I C H ES B E I S P I E LSW E I S E I N D E R
                                                     darauf stolz sind. Das mag ich. Au-
     U - BA H N AU S A N G ST M AC H E .
                                                     ßerdem habe ich gern, dass Frank-
           Ente mit Kraut und Knödel zu und          furt eine Kleinstadt mit Großstadt-
                                                                                                                     CHEN JERUSALEM
           es gibt die klassische Hühnersuppe        flair ist. Von einem zum anderen
                                                                                                                 ist gebürtiger Frankfurter und 31 Jahre
           sowie traditionell jüdische Gerichte      Ende braucht man maximal 20 Minu-                          alt. Seit kurzem lebt er wieder in seiner
           wie gehackte Leber und viele an-          ten mit dem Auto und trotzdem hat                        Heimatstadt. Er hat Modedesign in München
           dere unglaublich leckere Gerichte.        man das Gefühl in einer Großstadt                       und Amsterdam studiert sowie unter anderem
                                                                                                                in Australien und Amerika gelebt. Chen
           Ich glaube, ich mag Rosch ha-Scha-        zu leben, die viel Kunst, Kultur und        Was ge-       Jerusalem arbeitet aktuell selbstständig
           na, das ist das jüdische Neujahr, am      unterschiedliche Möglichkeiten des          fällt Ihnen      als Kreativberater und unterrichtet an
           liebsten. Gemeinsam wird gegessen         Zusammenlebens bietet.                      an Frank- der Akademie für Mode und Design
                                                                                                                       München visuelle Strategien
           und man isst Äpfel mit Honig, die das                                                 furt und war-          und Content Management.
           kommende Jahr versüßen sollen.            L. Was ich auch an Frankfurt liebe          um sind Sie zu-
           Das habe ich sehr gerne.                  ist, dass meine Oma um die Ecke             rückgekommen?
                                                     lebt und mein Vater nur 20 Minuten          Ich finde es sehr angenehm, in Frankfurt
           L. Für mich ist Pessach, im Frühling,     entfernt ist. Das finde ich toll. In Ber-   zu sein und zu leben. Ich bin normalerweise
           immer besonders schön. Norma-             lin beispielsweise sind die Entfer-         beruflich viel unterwegs und freue mich, wenn

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GEMEINSAME GESCHICHTE              PERSÖNLICHKEITEN                                                                                         JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

           ich dann wieder hier bin. Die Stadt     jüdische Identität prägt auch heute      Deutschland. Ich freue mich jedes       klein und trotzdem so voller Pow-
           hat für mich eine gewisse Ruhe. Sie     meinen Alltag. Ich habe zwar keinen      Mal, wenn beispielsweise die jüdi-      er. Ich wünsche mir, dass die Stadt
           bietet auf kleinem Raum viel Kultur     Glatt-koscheren Haushalt, aber ich       schen Filmfesttage oder die jüdi-       sich mehr traut und mehr bewegt.
           und viele unterschiedliche Möglich-     esse kein Schweinefleisch und kei-       schen Kulturwochen sind, und finde      Der Vorteil von Frankfurt ist, dass es
           keiten. Im Vergleich zu vielen ande-    ne Meeresfrüchte. Ich halte mich an      vor allem, dass diese in den letzten    eine kleine Metropole ist. Frankfurt
           ren Metropolen, in denen ich gelebt     koschere Gesetze. Freitagabend           Jahren ihr Potenzial sehr viel besser   sollte daher selbstbewusster wer-
           habe, strahlt die Stadt trotzdem eine   feiere ich eigentlich immer mit mei-     genutzt haben. Ich genieße es total,    den und noch mehr diesen Trumpf
           gewisse Ruhe aus, die ich genieße.      nen Eltern und in der Regel auch mit     wenn hier etwas passiert. Es ist Teil   nutzen.
           Außerdem gefällt mir die kompakte       der erweiterten Familie den Sabbat.      dieser Kleinmetropole. Viele Leute         Für das jüdische Leben würde ich
           Größe. Häufig sind beispielsweise in    Selbst würde ich mich als liberal tra-   kommen dann wieder zusammen             mir wünschen, nein eigentlich gene-
           anderen Metropolen lange Strecken       ditionell beschreiben.                   und treffen sich. Mittlerweile kennt    rell, dass wir uns einander mit mehr
           zwischen Wohn- und Arbeitsort zu                                                 man innerhalb der Gemeinde sehr         Akzeptanz und Toleranz begegnen.
           überwinden. Hier in Frankfurt bin       Haben Sie einen Lieblingsfeiertag?       viele Leute, aber es kommen immer       In unserer Gesellschaft sollte mehr
           ich eigentlich nur mit dem Fahrrad      Chanukka finde ich immer am              neue Gesichter dazu. So wie wir         Platz für die unterschiedlichen Kul-
           unterwegs. Dadurch erlebe ich eine      schönsten. Man muss dazusagen,           weggezogen sind, sind auch viele        turen, Traditionen und Religionen
           ganz andere Atmosphäre. Mir gefällt     dass ich auch Weihnachten liebe          nach Frankfurt gezogen.                 sein und wir sollten die Traditionen
                                                   und es mag, wenn draußen die vie-           Es ist aber trotzdem nicht nur       voneinander kennen.
           A LS K I N D FA N D I C H               len Lichter leuchten und die Weih-       eitel Sonnenschein. Auch ich habe
PU R I M I M M E R TO LL . DA S I ST U N S E R     nachtsbäume die Stadt schmücken.         Erfahrungen mit Antisemitismus          Vielen Dank für das Interview
      FA SC H I N G . I N D E R SC H U LE
                                                   Es ist die gemütliche Jahreszeit und     gemacht. Glücklicherweise keine
H AT TE N W I R DA M A LS E I N R I ES I G ES
                                                   ich finde es schön, gemeinsam mit        körperliche Gewalt, aber auf dem
  F EST M IT V I E LE N STÄ N D E N U N D
       A LLE WA R E N V E R K LE I D E T.          Freunden, die in verschiedenen Kul-      Schulhof habe ich mehr als ein-
                                                   turen und Religionen zu Hause sind,      mal „du Jude“ als Schimpfwort
           das aktuell. Aber ich vermute, dass     oder der Familie zu feiern. Je länger    gehört oder wurde mit merk-
           ich auch irgendwann wieder weiter-      ich aber darüber nachdenke, fallen       würdigen Vorurteilen, dass
           ziehen werde.                           mir viele Lieblingsfeiertage ein. Als    Juden geizig oder un-
                                                   Kind fand ich Purim immer toll. Das      sportlich sind, konfron-
           Sind Sie gläubig und wie würden         ist unser Fasching. In der Schule        tiert. Beschimpfungen
           Sie sich in Ihrem Glauben beschrei-     hatten wir damals ein riesiges Fest      als Schüler sind lei-
           ben?                                    mit vielen Ständen und alle waren        der oft Alltag.
           Jüdisch zu sein, ist ein wichtiger      verkleidet.
           Teil meiner Identität. Ich bin sehr                                              Was würden Sie sich
           traditionell erzogen worden und bin     Wie ist es in Frankfurt jüdisch zu       für das jüdische Leben
           auch traditionell, würde ich sagen.     sein?                                    in Frankfurt wünschen?
           Meine Mutter unterrichtet an der        Ich finde, Frankfurt hat ein sehr in-    Frankfurt ist eigentlich
           jüdischen Schule und ich bin auch       teressantes jüdisches Leben. Die
           dort zur Schule gegangen. Meine         Gemeinde gehört zu den größten in                    Purim-Fest in einem

                                                                                                        jüdischen Kindergarten

 20                                                                                                                                                                          21
GEMEINSAME GESCHICHTE            DIE JÜDISCHE GEMEINDE                                                                                  JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

                                                                                        Gründung der Jüdischen Gemeinde        Beherbergung von Kinder- und Ju-
                                                                                        Frankfurt gab es nur noch wenige       gendeinrichtungen, eines kosheren
                                                                                        Ur-Frankfurter. Die meisten Mitglie-   Restaurants und eines Festsaals,
                                                                                        der waren aus anderen Städten und      vor allem zum Begegnungsort zwi-
                                                                                        Ländern zugezogen oder „strande-       schen jüdischen und nicht-jüdischen
                                                                                        ten“ hier als so genannte „Displaced   Frankfurtern geworden ist. Die Jü-
                                                                                        Persons“. Sie hatten fast alles ver-   dischen Kulturwochen, Konzerte
                                                                                        loren, nicht aber ihren Kampfgeist,
                                                                                        nicht ihre Hoffnung und nicht ihren
                                                                                        Lebensmut. Starke Persönlich-

Dynamisch, pulsierend,                                                                  keiten wie Ignatz Bubis, Dieter
                                                                                        Graumann und der amtieren-
zukunftsorientiert                                                                      de Gemeinde-Vorstands-
                                                                                        vorsitzende Prof. Dr. Salo-
D I E J Ü D I SC H E G E M E I N D E FR A N K FU RT A M M A I N                         mon Korn verhalfen der
I S T FE S TE R B E S TA N DTE I L D E S KU LTU R E LLE N U N D                         Jüdischen Gemeinde
SOZI A LE N LE B E N S I N FR A N K FU RT                                               seitdem nicht nur zu
                                                                                        Anerkennung und
        Die Anfänge jüdischen Lebens in         darunter weltbekannte Namen wie         einer festen Posi-
        der Mainmetropole gehen zurück          Erich Fromm, Theodor W. Adorno          tion in der Stadt,
        ins 12. Jahrhundert, im Jahr 1864 er-   oder Anne Frank. Die Frankfurter jü-    sondern auch zu bun-
        reichte die wechselvolle Geschichte     dische Gemeinschaft bestach schon       desweitem        Ansehen
        einen wichtigen Meilenstein: die        damals durch eine plurale Gemein-       und Gehör. Die Stimme
        bürgerliche Gleichstellung. Die Ge-     delandschaft, die maßgeblich zum        der Jüdischen Gemeinde
        meinde wuchs bis zum Jahr 1933          kulturellen, sozialen und wirtschaft-   Frankfurt ist seit Jahrzehnten
        auf mehr als 30.000 Mitglieder an,      lichen Wachstum der Stadt beitrug.      präsent, ob im Kampf gegen
          1
                                                Welche Zäsur der Holocaust bedeu-       Antisemitismus und Holocaust-
                                                tete, offenbaren Zahlen: 1949 zählte    relativierung oder beim Einsatz für
                                                                                                                                                                     2
                                                die Jüdische Gemeinde nur noch          andere Minderheiten und soziale
                                                rund 800 Mitglieder. 12.000 Frank-      Gerechtigkeit.                         sowie zahlreiche weitere Veranstal-
                                                furter Juden waren in der NS-Zeit           Heute hat die Jüdische Gemeinde    tungen laden ein, die Jüdische Ge-
                                                  deportiert, die meisten von ihnen     rund 6.500 Mitglieder – von ortho-     meinde kennenzulernen und das
                                                    ermordet worden. Bei der Neu-       dox bis liberal sind die Strömungen    Miteinander zu erleben.
                                                                                        des Judentums vertreten. Dreh- und        2020 wurde der im Westend
                                                 1 Blick ins Informations­
                                                                                        Angelpunkt des Gemeindelebens          befindliche Neubau der jüdischen
                                                 blatt des Zentralrats der              ist das 1986 erbaute Ignatz Bubis-     Grundschule eingeweiht, die ge-
                                                 Juden in Deutschland                   Gemeindezentrum, das neben der         meinsam mit dem Gymnasium im
                                                 2 Mit Kippa unterwegs in

                                                 Frankfurt
22                                                                                                                                                                       23
GEMEINSAME GESCHICHTE               DIE JÜDISCHE GEMEINDE                                                                                   JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

                                        2         weg, im Alten­zentrum der Jüdischen     Gremien vertreten, die sich um politi-   Eröffnung des Ignatz Bubis-Gemein-
                                                  Gemeinde sowie in der Henry und         sche und soziale Belange kümmern.        dezentrums. Die Gestaltung eines
                                                  Emma Budge-Stiftung. Reisende           Zivilgesellschaftliche Allianzen und     blühenden und vor allem sicheren
                                                  kennen vielleicht auch einen der drei   Kooperationen, wie das „Römer-           jüdischen Lebens gehört daher zu
     1
                                                  Gebetsräume im Frankfurter Flugha-      bergbündnis“ oder die Mitglied-          den Prioritäten. Dabei versteht sich
                                                  fen. Beim Rundgang durch Frankfurt      schaft im „Rat der Religionen“ sind      die Jüdische Gemeinde als integra-
                                                  gilt es aber auch die Leerstellen zu    dabei Zeichen des gemeinsamen,           ler Teil dieser Stadt. Dieses Selbst-
                                                  betrachten. Denn wo heute vielleicht    entschlossenen Engagements. In           verständnis der jüdischen Gemein-
                 1 Grundsteinlegung für das
                                                  „nichts“ steht, war früher vielleicht   der Arbeit, die nach außen gerichtet     schaft ist ausschlaggebend für ihr
                 Jüdische Gemeindezentrum         ein Ort lebendigen jüdischen Le-        ist, stellen tagespolitische Themen,     zukunftsorientiertes Handeln. Mit
                 2 Eingemauerte Kupfer­           bens. Die Erinnerungsstätte an der      aber auch die fortdauernden Aufga-       ihrer jahrhundertealten Tradition
                                                  Friedberger Anlage, die an die ehe-     ben, Antisemitismus entgegenzutre-       und ihrem enormen Beitrag für die
                 kassette mit Dokumenten
                                                  mals größte Frankfurter Synagoge        ten oder ein würdiges Gedenken zu        Stadtgesellschaft, möchte sie auch
                 als „Zeitkapsel“                 erinnert, ist ein solches Beispiel.     gewährleisten, Eckpfeiler dar. Darü-     weiterhin für ein gelebtes Miteinan-
                                                      Die Jüdische Gemeinde Frankfurt     ber hinaus bleibt die Förderung des      der und eine tolerante Gesellschaft
         Philanthropin die I. E. Lichtigfeld-     am Main gilt heute als Vorbild in der   interreligiösen Dialogs und das Wir-     wirken.
         Schule bildet und Kindern aller Re-      deutsch-jüdischen Gemeindeland-         ken für das Gemeinwohl der Stadt
         ligionen offensteht. Bildung hat im      schaft, da sie als einzige Gemeinde     Frankfurt stetige Herzenssache.
         Judentum einen besonderen Stel-          seit Jahrzehnten verschiedene De-           „Wer ein Haus baut, will bleiben,
                                                                                                                                                           Kontakt:
         lenwert, was sich auch im hohen Ni-      nominationen unter einem Dach ver-      und wer bleiben will, erhofft sich                         Jüdische Gemeinde
         veau der Schule wiederspiegelt. Zu-      eint und somit ein Zuhause für alle     Sicherheit.“ Dies sagte Prof. Dr.                      Frankfurt am Main K. d. ö. R.
         dem ist das lebenslange Lernen eine      jüdischen Menschen bietet. Der Zu-      Salomon       Korn                                         Westendstraße 43
         jüdische Tradition. Derjenige gilt als   sammenhalt, wie auch die Vermitt-       1986 bei der                                            60325 Frankfurt am Main
                                                                                                                                                 Telefon: 069 / 76 80 36 100
         weise, „der von jedermann lernt“         lung von Tradition und Werten sind                                                              E-Mail: mailto@jg-ffm.de
         (Talmud). Daher kommt der Erwach-        dabei einige der Hauptanliegen.
         senenbildung ebenfalls eine wichti-      Seit Anfang der 1990er Jahre gehört
         ge Rolle zu, die durch die Angebote      auch die Integration der Zugewan-
         der Jüdischen Volkshochschule der        derten aus den Nachfolgestaaten
                                                                                                3
         Gemeinde erfolgreich bedient wird.       der Sowjetunion dazu. Die Unter-
         Die bekannteste Synagoge liegt           stützung und Hilfeleistung für Zu-
         im Westend an der Freiherr-vom-          wanderer und Menschen, die sozial
         Stein-Straße. Sie hat die NS-Zeit,       geschwächt sind, sowie für Ältere
                                                                                                 3 Makkabi-Mitglieder
         wenn auch stark beschädigt, über-        bildet einen weiteren Teil des Herz-
         standen und feierte 2020 ihren 110.      stücks der Gemeindearbeit.                     symbolisieren gemeinsam
         Geburtstag sowie das 70. Jubiläum            Als politischer Ansprechpartner            den Davidstern
         der Wiedereröffnung. Weitere Sy-         für Stadt und Land ist die Jüdische
                                                                                                 4 Hebräisch-Unterricht in
         nagogen befinden sich im Baum-           Gemeinde Frankfurt zudem in vielen
                                                                                                 der I. E. Lichtigfeld-Schule

                                                                                                                                             4
24                                                                                                                                                                               25
ENTDECKEN       BESONDERE ORTE                                                                                     JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

                                                                               Kundin im koscheren

                                                                               Supermarkt Migdal

Jüdische Orte –
                                                                                  MIT ALLEN
                                                                   SINNEN GENIESSEN

in Geschichte und Gegenwart                                        Die jüdischen Traditionen sind viel-
                                                                   fältig und lebendig. Beispielsweise
                                                                   ist es Brauch, an Chanukka Speisen,
M E H R A L S 9 0 0 JA H R E
                                                                   die in Öl gebacken sind, wie Latkes
TE I L D E R I D E NTITÄT FR A N K FU RTS
                                                                   (Kartoffelpuffer) oder Sufganiyot
                                                                   (Krapfen), und an Rosch ha-Scha-
                                                                   na Honigkuchen und in Honig ge-         Innenansicht
       I D E N T I TÄT D E R S TA DT                               tauchte Äpfel zu essen. Essen spielt    Westend-Synagoge
       Frankfurt am Main gehört zu den jü-                         im Judentum eine große Rolle. Fast
       dischsten Städten Deutschlands.                             bei jedem Anlass wird gemeinsam
       Jüdisches Leben besitzt in                                  gegessen. Auch in Frankfurt kann
       Frankfurt am Main eine große                                jüdisches Leben natürlich auch
       und lange Tradition. Viele                                  kulinarisch erfahren werden. Bei-      SCHÖN , SCHÖNE R – BESONDE RS
       der besonderen Eigen-                                       spielsweise im Flow­deli, im neuen     Einige behaupten, dass die West-
       schaften Frankfurts, die                                    Lichtbau des Jüdischen Museums,        end-Synagoge die schönste Synago-
       die Rolle und Position                                      in der Makkabi Sports Bar in der       ge in Deutschland ist. Auf jeden Fall
       der Mainmetropo-                                            Ginnheimer Landstraße oder im          ist sie ein Frankfurter Wahrzeichen
       le heute ausma-                                             „Sohar‘s“ Restaurant direkt im Jüdi-   und glücklicherweise hat sie das No-
       chen, vom Wirt-                                             schen Gemeindezentrum. Die Res-        vemberpogrom und die Bombenan-
       schaftszentrum bis                                          taurants bereiten koschere Speisen     griffe des Zweiten Weltkriegs, wenn
       zur Kulturstadt, sind                                       entsprechend jüdischer Gebräuche       auch stark beschädigt, überstanden.
       mit dem Wirken gro-                                         manchmal traditionell aber auch ori-   1910 wurde sie eingeweiht. Damals
       ßer jüdischer Familien                                      entalisch oder modern zu. Koschere     war sie die vierte große Synagoge
       in Frankfurt verbunden, in                                  Lebensmittel können im Migdal in       in Frankfurt und nach der Synagoge
       der Geschichte und in der                                   Bornheim sowie im Edeka Scheck-in      in der Friedberger Anlage die zweit-
       Gegenwart.                                                  Center im Ostend gekauft werden.       größte in Frankfurt. Sie wurde im Ju-

                                             Thoraschrein in der

                                             Westend-Synagoge
26                                                                                                                                                27
ENTDECKEN       BESONDERE ORTE                                                                                                                   JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

       gendstil mit assyrisch-ägyptischen             ierte Säule und ein Säulenfragment
       Anklängen nach Plänen des Archi-               des Eingangsportals der zerstörten        E I N E I N Z I G A R T I G E R B AU    Johann Wolfgang Goethe Universität
       tekten Franz Roeckle, einem späte-             Synagoge erinnern an die Geschich-        Der weltweit größte Chemiekon-
                                                                                                                                        – Gebäude im Westend
       ren NSDAP-Mitglied, gebaut. Nach               te des Ortes. Der Verein „Initiative 9.   zern IG-Farben beauftragte den
       dem Wiederaufbau nach dem Krieg                November“ macht im Hochbunker             Architekten Hans Poelzig, einen re-
       wurde die Westend-Synagoge von                 mit seinen Ausstellungen jüdisches        präsentativen Firmensitz zu entwer-
       1988 bis 1994 teilrekonstruiert. Die           Leben im Ostend sichtbar und enga-        fen. 1928 entstand nach nur zwei
       gesamte Geschichte der Synagoge                giert sich seit über 30 Jahren, einen     Jahren das modernste und größte
       ist bewegend und es lohnt sich, an             lebendigen Ort des Gedenkens zu           Verwaltungsgebäude Europas.
       einer Führung teilzunehmen.                    gestalten.                                   Die jüdischen Mitarbeiter und
                                                                                                Vorstände des Chemiekonzerns,
                                                                                                darunter die Brüder Arthur und Carl
       D I E E I N S T G R Ö S S T E S Y N AG O G E                                             von Weinberg, Kurt Oppenheim,          GESCHICHTE SPÜREN
       In der Friedberger Anlage stand                                                          Max Warburg, Alfred Merton, Otto       A M B Ö R N E P L AT Z
       einmal eine eindrucksvolle, Frank-                                                       von Mendelssohn Bartholdy und          Am Börneplatz, der nach dem Erzäh-
       furts größte Synagoge und einer                                                          Ernst von Simson wurden nach 1933      ler und Chronisten Ludwig Börne
       der größten jüdischen Sakralbauten                                                       entlassen und verfolgt. Der IG Far-    benannt wurde, welcher auch hier
       Europas. Sie wurde am 29. August                                                         ben-Konzern produzierte auch das       geboren wurde, stand einst eine der
       1907 eingeweiht. Die Synagoge hat-                                                       tödliche Gift Zyklon B, ursprünglich   vier größten Synagogen. Sie wurde
       te mehr als 1600 Sitzplätze. Wäh-                                                        ein Schädlingsbekämpfungsmittel,       am 9. November 1938 vollständig
       rend der Novemberpogrome wurde                  Ausgrabungen der                         das zur Vernichtung von Millionen      zerstört.
       sie zerstört. 1942 entstand auf ihren                                                    Juden eingesetzt wurde.                   Kaum ein Ort in Frankfurt ist so
                                                       Höchster Synagoge
       Grundmauern ein Hochbunker. Ein                                                             Heute befinden sich einige          geschichtsträchtig. Es ist ein ein-
       Gedenkstein sowie eine rekonstru-              V I R T U E LL E R LE B E N               Fachbereiche der Johann-Wolfgang-      drucksvoller Ort jüdischen Lebens
                                                      Die Synagoge in Höchst lässt sich         Goethe-Universität in diesem wun-      in Frankfurt. Bei Bauarbeiten wurde
                                                      virtuell erleben. Gleich neben            derschönen Gebäude. Die Johann-        das südliche Ende der Judengas-
                                                      dem Marktplatz, dem Ettinghausen          Wolfgang-Goethe-Universität     war    se mit historischen Überresten von
                                                      Platz, sind zwei Fernrohre installiert    übrigens 1914 die erste Stif-                    Häusern, Ritualbädern und
                                                      worden. Damit wird die Außenan-           tungsuniversität Deutsch-                         Brunnen gefunden. Doch
                                                      sicht und der Innenraum der Syn-          lands. Viele Bürgerin-                               um ihren Erhalt brach
                                                       agoge, die 1905 erbaut und am            nen und Bürger, vor                                    1987 ein heftiger
                                                          10. November 1938 zerstört wur-       allem auch jüdischer                                     Streit aus, der zwar
                                                           de, sichtbar gemacht. Die Familie    Herkunft, gehören                                        mit einem Kompro-
                                                        Ettinghausen prägte durch ihr En-       zu den Stiftern.                                        miss endete, aber
                                                      gagement das Leben der Jüdischen                                                                eine vielleicht einma-
                                                      Gemeinde in Höchst. Aus diesem             Das Mahnmal als symbolisches                      lige Möglichkeit, Ge-
                                                      Grund trägt der Platz ihren Namen.         Grab erinnert an die deportierten               schichte zu erhalten und

                               Die Synagoge an der Friedberger Anlage, die                       und ermordeten Frankfurter
                               1938 in der Pogromnacht zerstört wurde                            Jüdinnen und Juden
28                                                                                                                                                                              29
ENTDECKEN     BESONDERE ORTE                                                                                                               JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

       erlebbar zu machen, verstreichen          nalsozialisten den Keller, um unter                                              Aber natürlich beschränkt sich jüdi-
       ließ. Einige Funde der Ausgrabun-         anderem jüdische Frankfurterinnen                                                sches Leben in Frankfurt nicht auf
       gen konnten jedoch gerettet wer-          und Frankfurter von hier aus mit                                                 das Ignatz Bubis-Gemeindezent-
       den und sind in das Verwaltungs-          Zügen in die Konzentrations- und                                                 rum, die Westend-Synagoge oder
       gebäude der Stadt als Dependance          Vernichtungslager zu bringen. Über                                                 die koscheren Restaurants. Jü-
       des Jüdischen Museums integriert.         12.000 Menschen wurden zwangs-                                                       disches Leben findet überall in
           In den Räumen des Museums Ju-         deportiert.                                                                            Frankfurt statt.
       dengasse befindet sich zudem auch            Ein Bereich der Erinnerungs-
       ein Lernzentrum, das nach Oskar           stätte entlang des Bahndamms ist
       und Emilie Schindler benannt ist,         öffentlich begehbar (Philipp-Holz-
       den Rettern von 1200 Juden. Übri-         mann-Weg). Der andere Teil in den
       gens hat Oskar Schindler, der durch       Kellergewölben befindet sich auf
       den Hollywoodfilm „Schindler΄s Lis-       dem Gelände der Europäischen            Ignatz Bubis-
       te“ weltberühmt wurde, von 1957 bis       Zentralbank (EZB) und ist aus-
                                                                                         Gemeindezentrum
       zu seinem Tod 1974 in Frankfurt ge-       schließlich im Rahmen von Führun-
       lebt. An seinem ehemaligen Wohn-          gen zugänglich, die über das Jüdi-
       sitz „Am Hauptbahnhof 4“ ist eine         sche Museum buchbar sind.              der Architektur genauso wie die
       Gedenktafel angebracht.                                                          Hoffnung als Teil der jüdischen
           Direkt hinter dem Verwaltungs-                                               Tradition.
       gebäude am Börneplatz liegt ein           „W E R E I N H AU S B AU T,               Der langjährige Vorstandvorsit-
       beeindruckender und bedrü-                W I L L B LE I B E N .“                zende der Jüdischen Gemeinde
       ckender Erinnerungsort der                Dieser Gedanke des Architekten         Ignatz Bubis war Initiator des nach
       Judenverfolgung in Frank-                 Prof. Dr. Salomon Korn steht hinter    ihm benannten jüdischen Gemein-
       furt. Das Mahnmal erinnert als            dem Bau des Jüdischen Gemein-          dezentrums.
       symbolisches Grab an die de-              dezentrums Ignatz Bubis, das 1986         Im Gemeindezentrum selbst be-
       portierten und ermordeten Frank-          eröffnet wurde. Gemeinsam mit der      finden sich ein Teil der I. E. Lichtig-
       furter Jüdinnen und Juden.                Architektengemeinschaft von Ger-       feld-Schule, eine Krippe, ein Kin-
                                                 hard Balser konzeptionierte er die     dergarten, ein Jugendzentrum, ein
                                                 Architektur des Gemeindezentrums.      Festsaal und ein Seniorentreffpunkt
                 DIE EHEMALIGE                   Die Andeutung eines siebenarmi-        sowie das koschere Restaurant                        App Unsichtbare Orte und TCF
                                                                                                                                            www.frankfurt-tourismus.de/
                   G RO S S M A R K TH A LLE     gen Leuchters in der Glasfassade       „Sohar‘s“. Der große Festsaal und
                                                                                                                                             Entdecken-und-Erleben/
                     Ausgangspunkt der           und der Bruch in der Mittelsäule,      das Foyer werden häufig für unter-                        Sehenswertes/
                      Deportation   war          die an den Davidstern erinnert, zei-   schiedliche Veranstaltungen und                       Juedisches-Frankfurt
                     von 1941 bis 1945           gen auf den ersten Blick die Bedeu-    Feiern genutzt. Beispielsweise Ver-
                   die ehemalige Groß-           tung des Gebäudes. Aber auch der       anstaltungen der Jüdischen Kultur-
                 markthalle. Als Sammel-         Zivilisations­
                                                              bruch der deutsch-jü-     wochen oder der beliebte WIZO Ba-
               platz nutzten die Natio-          dischen Ge­schichte spiegelt sich in   sar finden hier für gewöhnlich statt.

        Sammelstelle zur Deportation im Keller

        der ehemaligen Großmarkthalle
30                                                                                                                                                                          31
ENTDECKEN   DA S J Ü D I S C H E M U S E U M                                                                      JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

                                               Wir sind jetzt –   Bereits von Weitem erstrahlt das
                                                                  aufwendig restaurierte Rothschild-
                                                                                                         das Alltagsleben von Jüdinnen und
                                                                                                         Juden in der frühen Neuzeit, das

                                               Jüdisches          Palais mit seiner Erweiterung, dem
                                                                  sogenannten Lichtbau. Hier nun
                                                                                                         Leben im ersten jüdischen Ghetto
                                                                                                         Europas konzentriert. Die thema-

                                               Museum             ist die neue Dauerausstellung „Wir
                                                                  sind jetzt. Jüdisches Frankfurt von
                                                                                                         tisch strukturierte neue Daueraus-
                                                                                                         stellung schildert, wie Jüdinnen und
                                               Frankfurt          der Emanzipation bis zur Gegen-
                                                                  wart“ zu sehen, die auf rund 1.500
                                                                                                         Juden die kulturelle, wirtschaftliche
                                                                                                         und soziale Entwicklung der Stadt
                                                                  Quadratmetern im Rothschild-Palais     Frankfurt prägten und thematisiert
                                                                  die Geschichte jüdischen Lebens        die jüdische Erfahrung von Exil,
                                                                  von der Aufklärung und Emanzipa-       Gewalt und Gegenwehr in einer eu-
                                                                  tion bis zur Gegenwart in Frankfurt    ropäischen Dimension. Die Wech-
                                                                  multimedial, anschaulich, interaktiv   selausstellungsräume im Lichtbau
                                                                  und, mit einer eigenen Kinderspur,     ergänzen mit (Kunst-) Ausstellungen
                                                                         auch kindgerecht erzählt. Da-   die Präsentation.
                                                                             mit führt sie die Präsen-
                                                                                  tation im Museum       Über die neue Dauerausstellung
                                                                                     Judengasse fort,    Die Ausstellung beginnt mit der
                                                                                        die sich auf     jüdischen Gegenwart und nimmt

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ENTDECKEN        DA S J Ü D I S C H E M U S E U M                                                                                                JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

         während des Rundgangs mehrfach             sowie interaktive Mehr-Kanal-Video-       Das Jüdische Museum – ein Ort
         Bezug auf aktuelle Themen. Dabei           Installationen. Für junge Besucherin-     zum Verweilen
         spielen insbesondere Fragen des            nen und Besucher hält die Ausstel-        Im neuen Lichtbau können die Besu-
         Zusammenlebens, des Umgangs                lung mehrere Hands-On-Stationen           cherinnen und Besucher auch ohne
                                                                                                                                            4
         mit Traditionen und das familiäre Ge-      mit Objekten zum Spielen bereit. Ein      Ticket im Foyer verweilen                 3
         dächtnis eine zentrale Rolle. Auf drei     Mitmachheft mit dem Hausgeist Levi        und kostenfrei das Wlan
         Etagen werden jeweils unterschied-         und seiner Freundin Fanny lädt zu         benutzen. Hier hat auch
         liche Perspektiven auf die jüdische        Entdeckungstouren ein. Das neue           die Bibliothek ihr neu-
         Geschichte und Kultur Frankfurts           „Studio Alef“ dient mit seiner Werk-      es Zuhause. Neben
         der letzten 200 Jahre geworfen.            statt und einem „Denkraum“ als Ort        ruhigen Arbeitsplät-
         Fokussiert werden dabei zentrale           für kreatives Werken und Kochen           zen für Forscherin-
         geschichtliche Ereignisse und Kon-         und kann darüber hinaus auch für          nen und Forscher bie-
                                                    Geburtstagsfeiern gebucht werden.         tet das jüdische Museum
     1
                                                    Hier findet auch der Joffi Club, das      mit einer gemütlichen                                         Jüdisches Museum
                                                      Kinderprogramm des Jüdischen            Lese­ ecke Platz für Gäste,                              der Stadt Frankfurt am Main
                                                                                                                                                         Telefon: 069-212-35000
                                                        Museums, statt, in dem kleine         die speziell an den Beständen der
                                                                                                                                                   E-Mail: info@juedischesmuseum.de
                                                          Museumsbesucherinnen und            Bibliothek interessiert sind. Herzlich            Das Jüdische Museum Frankfurt ist eine
                                                            Besucher ab 3 Jahren mit          willkommen sind auch Kinder und                   Einrichtung der Stadt Frankfurt am Main.
                                                              allen Sinnen die Vielfalt jü-   Jugendliche. Für sie stehen Bilder-                     www.juedischesmuseum.de
                                                                discher Kultur entdecken      bücher, Romane, Comics, Graphic
                                                                  können.                     Novels und Spiele rund um das The-
                                                                                              ma Judentum bereit.
                                                                  2                               Im Lichtbau des Jüdischen Mu-
                                                                                              seums ist auch der Museumsshop
                                                                                              untergebracht, der von der 1982 von
                                                                                                                                       1 Das neue Jüdische Museum
                                                                                              Rachel Salamander gegründeten
                                                                                              Literaturhandlung betrieben wird.        Frankfurt, links neuer Lichtbau
                                                                                              Zu finden sind hier Publikationen        von Staab Architekten, rechts his-
                                                                                                des Jüdischen Museums und Aus-
                                                                                                                                       torisches Rothschild-Palais 2 Das
                                                                                                   stellungskataloge, spannende
                                                                                                     Literatur zu jüdischen Themen,    Museums­café Flowdeli im Jüdi-

         flikte, religiöse Fragestellungen so-                                                      Merchandise und Judaica.           schen Museum 3 Blick in die Aus-
         wie die Geschichte und Erfahrungen                                                      Einzigartig ist auch das Museums-     stellung: Moritz Daniel Oppenheim
         einzelner jüdischer Familien. Neben                                                   café FLOWDELI, das erste milchig-
                                                                                                                                       „Moses mit den Gesetzestafeln“,
         der Präsentation von Kunst und Kunst-                                                koschere Deli in Frankfurt mit köst-
         handwerk, persönlichen Aufzeichnungen,                                               lichen Delikatessen und einer tollen     Öl auf Leinwand 1817/18 4 Histori-
         Fotografien und Filmen, historischen Doku-                                           Terrasse mit Blick auf die Skulptur      scher Rauchsalon im Stil Louis XIV.
         menten und Alltagsgegenständen umfasst                                               „Untitled“ des in Berlin lebenden
                                                                                                                                       im Rothschild-Palais während der
         der Ausstellungsrundgang mediale Rauminsze-                                          israelischen Künstlers Ariel Schle-
         nierungen, Schattenspiel- und Film-Projektionen                                      singer.                                  jüngsten Renovierung
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ENTDECKEN      DER JÜDISCHE FRIEDHOF                                                                                                  JÜDISCHES LEBEN IN FRANKFURT

                                                                                       50 jüdischen Gefallenen des Ersten    ganz der Formenstrenge des „Neu-
                                                                                       Weltkriegs. Hier – an der Rat-Beil-   en Frankfurt“ verhaftete an der
                                                                                       Straße, sind mehr jüdische Gelehr-    Eckenheimer Landstraße, auf dem
                                                                                       samkeit, Frankfurter Bürgersinn und   bis heute beerdigt wird. Der Philo-
                                                                                       deutscher Patriotismus versammelt     soph Franz Rosenzweig, der Histo-
                                                                                       als irgend sonst in der Stadt. Auf    riker Arno Lustiger, auch Stefanie
                                                                                       74.000 Quadratmetern lässt sich       Zweig, die Schriftstellerin, liegen
                                                                                       Geschichte des alten deutschen        hier begraben. Drumherum, ins
                                                                                       Judentums studieren: von den          Weichbild der Stadt hineingetüpfelt

Von Abel bis Zweig                                                                     hoffnungsvollen Anfängen der
                                                                                       gesellschaftlichen Gleichstel-
                                                                                                                                                              3

                                                                                       lung im frühen neunzehnten
E I N G A N G DU RC H
                                                                                       Jahrhundert bis zu seinem
S TA DT- R AU M U N D ZE IT
                                                                                       Untergang im Deutsch-
                                                                               1
       Wer etwas erfahren möchte über                                                  land des Nationalsozia-
       die jüdischen Friedhöfe in Frank-                                               lismus.
       furt am Main, dem bieten sich Mög-                                                 Schließlich der
       lichkeiten. Die erste und fraglos                                               „Neue“, 1929 er-
       eindrücklichste ist der Besuch der                                              öffnete      und
       insgesamt zwölf jüdischen Begräb-
       nisorte, die es in der Stadt gibt. Wir
       waren dort.
           Da sind zunächst die drei größ-
       ten, recht eigentlich frankfurteri-
       schen: Der „Alte“ an der Batton-
       straße, dessen Anlage auf das Jahr
                                                Gegen das Vergessen:
       1180 zurückgeht und der zugleich
                                                1 und 2 Namenstäfelchen der
       der zweitälteste noch existierende
       jüdische Friedhof in Deutschland         in der Schoah ermordeten
       ist. Dann der „Große“, 1828 ange-        Frankfurter Juden an der
       legte, welcher genaugenommen
                                                Außenmauer des jüdischen
       aus drei Friedhöfen besteht: jenem                                                                                    wie Apfelbäumchen auf einer Streu-
       der überwiegend liberalen Israeliti-     Friedhofs Battonstraße                                                       obstwiese, liegen neun weitere,
       schen Gemeinde, dem der orthodo-         3 Schüler an den Gräbern                                                     ihrem Zuschnitt nach eher ländliche
       xen Israelitischen Religionsgesell-                                                                                   jüdische Friedhöfe. Sie gehörten
                                                jüdischer deutscher Soldaten
       schaft sowie einem kleinen, 1925                                                                                      einst zu den Dörfern und Land-
       eingeweihten Soldatenfriedhof mit        des Ersten Weltkriegs                                                        städtchen rund um Frankfurt; im

                                                                                   2
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