Jahrbuch 2022 - Zentralverband des Deutschen Handwerks

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Jahrbuch 2022 - Zentralverband des Deutschen Handwerks
Jahrbuch 2022
Zentralverband des Deutschen Handwerks
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Zentralverband des
Deutschen Handwerks

JAHRBUCH 2022
Jahrbuch 2022 - Zentralverband des Deutschen Handwerks
S. 7

                Editorial
                Holger Schwannecke, Generalsekretär (ZDH)

FREUDE SCHMIEDEN
Kulturerbe. Neue Geschäftsideen. Kreativität.
S. 10                                                       S. 18

Orgelklang lebendig erhalten                                Glas ungewöhnlich verarbeiten
Konrad Scheffler, Orgelbauer                                Nico Schmid, Glasermeister

S. 14                                                       S. 22

Traditionshandwerk modern                                   Kindern Klangwelten eröffnen
interpretieren                                              Claudia Brömel und Anja Fromm, Hörakustikmeisterinnen
Björn Köhler, Drechslermeister

                S. 26

                Im Interview
                Hans Peter Wollseifer, Präsident (ZDH)

Visionen Teilen
Unternehmensideen. Betriebsnachfolge. Wiederaufbau.
S. 30                                                       S. 38
Vertrauen durch Seiltechnik sichern                         Unter Strom die Selbstständigkeit
Stephanie Kleisser, Inhaberin blauschnur seiltechnik        wagen
                                                            Matthias Thomas, Elektrotechnikmeister

S. 34                                                       S. 42
Wissen über Generationen hinweg                             Holz schwimmt immer oben
schweißen                                                   Maik Rönnefarth, Tischlermeister
Johanna Börgel, Kaufmännische Leiterin Metallbau
Laumann GmbH
Jahrbuch 2022 - Zentralverband des Deutschen Handwerks
S. 46

               Imagekampagne des Handwerks
               Kein Job, sondern Berufung; 3 Fragen an Sänger Benoby

ZUKUNFT BAUEN
Ausbildung. Klimaschutz. Nachhaltigkeit. Digitalisierung.
S. 52                                                       S. 60

Stuckateure auf schwäbische Art                             Sonnenschutz digitalisieren
ausbilden                                                   Martin Hurth, Maschinenbauingenieur
Hermann Blattner, Stuckateurmeister

S. 56                                                       S. 64

Am Klimaschutz schrauben                                    Fleisch digital regionalisieren
Sebastian Fuchs, Installateur- und Heizungsbauermeister     Frank Wegner, Geschäftsführer Torney Landfleischerei

               S. 68

               PLW: Zeig, was du kannst!
               Eindrücke aus Europas größtem Berufswettbewerb

               S. 70

               Berichte aus den ZDH-Fachabteilungen

               S. 74

               Das Jahr 2021 in Bildern

               S. 82

               Impressum

                                                                        Beileger
                                                                        Organisationsplan
                                                                        Ehren- & Hauptamt im Handwerk
                                                                        Geschäftsverteilungsplan
Jahrbuch 2022 - Zentralverband des Deutschen Handwerks
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    EDITORIAL
Jahrbuch 2022 - Zentralverband des Deutschen Handwerks
für die Zukunft erhalten wird, wie Mut auch in der
                                                         Krise Geschäftsideen zum Blühen bringt, wie der Zu-
                                                         sammenhalt und die Solidarität dabei helfen, Krisen
                                                         zu überstehen und erneut anzupacken. Und wie un-
                                                         sere Betriebe schon jetzt an der Zukunft bauen und
                                                         tun, was bleibt.

                                                         In den Wortpaaren „Freude schmieden“, „Visionen
                                                         teilen“ und „Zukunft bauen“ aus dem Handwerks-
                                                         song wird das auf den Punkt gebracht. Unsere bei-
                                                         spielhaft ausgewählten Betriebe im Jahrbuch machen
                                                         das besonders deutlich:

                                                         Da erhält zur Freude Zuhörender ein Orgelbauer den
                                                         Klang alter Instrumente lebendig, interpretiert ein
                                                         Holzspielzeugmacher erzgebirgisches Traditionshand-
                                                         werk modern, verarbeitet ein Glaser seinen Werkstoff
Ein turbulentes Jahr liegt hinter dem Handwerk: mit      auf ungewöhnliche Weise und eröffnen zwei Hörakus-
hoher Nachfrage nach handwerklichen Leistungen           tikerinnen Kindern Klangwelten.
einerseits und wirtschaftlichem Überlebenskampf
andererseits; mit einer Aufholjagd am Ausbildungs-       Visionen teilen die Seilmacherin, bei der es um ar-
markt und dramatischen Materialengpässen; mit            beitsschutzsichere Verknüpfungen geht, die junge
aufwendigen Anpassungen an immer neue Auflagen           Betriebsleiterin, die innovativ generationenübergrei-
und Hygieneregeln. Das alles vor dem Hintergrund         fend zusammenschweißt, der Elektromeister, der
einer Pandemie, die noch immer nicht aus unserem         sich von Corona nicht den Strom für die Vision der
Leben verschwunden ist.                                  eigenen Selbstständigkeit abklemmen lässt, und der
                                                         Tischlermeister, der sich nach der Flut getreu dem
Das Handwerk hat sich in dieser Situation als Stabi-     Prinzip, dass Holz immer oben schwimmt, nicht un-
litätsanker erwiesen. „Wir halten das Land am Lau-       terkriegen lässt.
fen.“ Das galt im vergangenen Jahr und das gilt auch
2022. Das Handwerk ist aber nicht nur Stabilitätsan-     Und wenn ein Stuckateur die eigene schwäbische
ker, sondern vor allem Zukunftsmacher. Das Hand-         Mundart gezielt einsetzt, um an die wichtigste Zu-
werk tut, was bleibt! Und was in die Zukunft trägt.      kunftsressource für unser Handwerk zu kommen, an
                                                         junge Menschen, die es für eine Ausbildung zu ge-
Nur mit unserem Know-how und mit unseren Fach-           winnen gilt, dann zeigt es, dass sich unsere Betriebe
kräften können Energie- und Mobilitätswende, Kli-        auf ihr Umfeld zugeschnitten daranmachen, an der
ma- und Umweltschutz, Infrastrukturausbau und            „Zukunft zu bauen“. Das macht auch der Installateur-
Versorgung der Bevölkerung künftig in Deutschland        und Heizungsbauermeister, dessen Klimaschutz über
gelingen. Vom Ausbildungsengagement des Hand-            den Einbau und die Modernisierung innovativer Hei-
werks profitieren nicht nur Betriebe, sondern Wirt-      zungen hinausgehend in der Pflanzung von Bäumen
schaft und Gesellschaft insgesamt. An dem über           seinen Ausdruck findet. Oder der Rollladenbauer, der
Jahrhunderte erworbenen Nachhaltigkeitswissen im         digitale Sonnenschutz- und Hitzeschutzsysteme ein-
Handwerk wird keiner vorbeikommen, wenn es da-           baut. Und nicht zuletzt ist die in vielen Betrieben des
rum geht, die Zukunft zu gestalten.                      Lebensmittelhandwerks vorangetriebene Regionali-
                                                         sierung und Nachhaltigkeit, die immer mehr auch in
Hinter Stabilität und Zukunftsgestaltung steckt ein      der Fleischproduktion zum Tragen kommt, ein Indiz
gemeinsames Handwerks-Ethos. Der neue Hand-              dafür, dass das Handwerk auf breiter Front das Mor-
werk-Song fängt dieses Ethos ein – indem er heraus-      gen im Blick hat.
stellt, wofür Handwerkerinnen und Handwerker je-
den Tag handeln. Sie erschaffen mit ihren Händen         Unsere Handwerkerinnen und Handwerker wissen,
das, was für immer bleibt. Dabei teilen sie ihr Glück,   was sie tun. Und sie tun, was bleibt!
ihre Freude und ihre Visionen. Und sie helfen sich
und anderen auch in und über schwere Zeiten. So
„zusammengeschweißt“ können sie alles erreichen.

Im Jahrbuch 2022 wird das besonders deutlich. Es
enthält keinen singulären Blick auf die Pandemie
oder die Flutkatastrophe. Stattdessen Geschichten,       Holger Schwannecke
die davon erzählen, wie Besonderes entsteht oder         Generalsekretär

                                                                                                             7
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8   Z D H J A H R B U C H 2 02 2
    FREUDE SCHMIEDEN
Jahrbuch 2022 - Zentralverband des Deutschen Handwerks
Kulturerbe.
Neue Geschäftsideen.
Kreativität.

Orgelklang lebendig erhalten
Konrad Scheffler, Orgelbauer

Traditionshandwerk modern interpretieren
Björn Köhler, Drechslermeister

Glas ungewöhnlich verarbeiten
Nico Schmid, Glasermeister

Kindern Klangwelten eröffnen
Claudia Brömel und Anja Fromm, Hörakustikmeisterinnen

                                 – das bleibt.

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Jahrbuch 2022 - Zentralverband des Deutschen Handwerks
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     FREUDE SCHMIEDEN
Konrad Scheffler
Orgelbauer aus Sieversdorf

Orgelklang lebendig
erhalten
               „Wer eine Orgel bauen will, braucht eine
               Handvoll Materialien – und die hand-
               werklichen Fähigkeiten von vor 150 Jah-
                                                                   Ihre Spezialität:
               ren.“ Konrad Scheffler sitzt in der Küche     die Restaurierung roman-
               seines Elternhauses und erklärt lächelnd        tischer Orgeln in einer
               seinen Beruf. Neben ihm hat sein Vater
               Christian Scheffler Platz genommen,           Weise, dass sie wieder so
               um über das Orgelbauer-Handwerk zu            klingen, wie ihre Erbauer
               sprechen. Auf dem Tisch dampft Kaffee
               in Tonbechern, in einer Keramikschale
                                                             sich das gedacht und ge-
               liegen Kekse. Orgelbauer, das ist ein sehr          wünscht haben.
               traditionelles Handwerk. Wer in eine Kir-
               che geht, in einen Dom oder ein Konzert-
               haus, hört das Instrument, wie es braust     Spezialität: die Restaurierung roman-
               und piept und flötet. Wie die Orgel aus-     tischer Orgeln in einer Weise, dass sie
               sieht und wer sie spielt, bekommen Be-       wieder so klingen, wie ihre Erbauer sich
               sucherinnen und Besucher oftmals noch        das gedacht und gewünscht haben. Und
               zu Gesicht. Aber wer sie gar gebaut oder     da haben die Schefflers und ihre zwölf
               restauriert hat – das wissen nur Einge-      Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viel zu
               weihte.                                      tun. Nach dem Zweiten Weltkrieg näm-
                                                            lich war es unter Kirchenmusikern Mode
               Zu den Eingeweihten gehört Konrad            geworden, den romantischen Orgeln ih-
               Scheffler. Anfang 30 ist der Orgelbau-       ren Schmelz wegzunehmen. Alles sollte
               er aus Brandenburg. Seit sieben Jahren       klarer, spitzer klingen, nach morgen statt
               führt er den Handwerksbetrieb sei-           nach gestern. Mittlerweile aber werden
               nes Vaters in zweiter Generation. Die        derlei Frevel an den Instrumenten wie-
               Schefflers restaurieren und rekonstru-       der zurückgebaut. Und genau darauf
               ieren mechanische und pneumatische           ist die Orgelwerkstatt Scheffler spezia-
               Orgeln des 19. und 20. Jahrhunderts. Ihre    lisiert.

                                                                                                 11
„Die historischen Instrumente
        sind meine wahren Lehrer, wenn
         es darum geht, Orgeln als hand-
         werkliche Zeugnisse ihrer jewei-
           ligen Epoche zu erhalten. Zum
       Schluss steht da etwas, was meh-
             rere Jahrzehnte Bestand hat.
               Und das ist es, was bleibt.“

         ORGELWERKSTATT              Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
CHRISTIAN SCHEFFLER GMBH             reisen von Brandenburg aus durch ganz
       ALTE PETERSHAGENER STR. 4     Europa und machen die alten sensib-
 15236 JACOBSDORF OT SIEVERSDORF     len Instrumente wieder flott. Schefflers
                                     Expertinnen und Experten haben die          den braucht eine Orgelreparatur. Quali-
                                     weltberühmte Orgel der Leipziger Tho-       tät setzt sich durch, davon war Christian
                                     maskirche restauriert und die im Bremer     Scheffler von Anfang an überzeugt.
                                     Dom. Ebenso Instrumente in Barcelona
                                     oder im rumänischen Hermannstadt, in        Gleich nach dem Mauerfall hat er sein ei-
                                     Trondheim in Norwegen oder im estni-        genes Unternehmen gegründet. Der stu-
                                     schen Tallinn. Was nicht vor Ort erledigt   dierte Restaurator für Musikinstrumente
                                     werden kann, wird von der kleinsten         hat einige Kolleginnen und Kollegen um
                                     Pfeife bis hin zu zentnerschweren Bla-      sich geschart, bis heute arbeiten sie hier
                                     sebälgen und Windladen in den weit-         zusammen. Auch sein Sohn Konrad legt
                                     läufigen Werkstätten in Sieversdorf         Wert darauf, dass das so bleibt. Als er
                                     restauriert. Beim Gang durch die Räume      sich mit Mitte 20 entschieden hat, in den
                                     entdeckt man Orgeln mit hohem Repa-         Betrieb einzusteigen, hat er gewusst:
                                     raturbedarf ebenso wie fertig sanierte      „Das ist auch gut für die Mitarbeiterin-
                                     Instrumente, an denen jede Pfeife, jede     nen und Mitarbeiter. Die wissen, dass
                                     Taste, jedes Pedal wie neu ausschaut.       ihr Job sicher ist bis zur Rente – weil ein
                                     Zwischen 1.000 und 13.000 Arbeitsstun-      Nachfolger da ist.“ Sein Vater nickt dazu.
                                                                                 Er und seine Frau Silvia haben sich wei-
                                                                                 testgehend aus dem Geschäft zurückge-
                                                                                 zogen. Jetzt ist es Konrad Scheffler, der
                                                                                 ständig ans Telefon gehen muss, der die

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                  FREUDE SCHMIEDEN
Schule hat er Orgelbauer gelernt, den Meisterbrief hat
                                                             er mittlerweile zur Hälfte in der Tasche. „Aber ich lerne
                                                             heute noch. Die historischen Instrumente sind meine
                                                             wahren Lehrer.“ Sein Vater bestätigt: „Ja, die haben uns
                                                             viel zu sagen.“

                                                               Mit ihrem seltenen Handwerk tut
                                                               die Familie Scheffler seit drei Jahr-
Aufträge und Ausschreibungen, die Beschäftigten und           zehnten sehr viel dafür, dass Orgeln
deren Arbeit überall in Europa im Blick behalten muss.
„Als ich mit 25 Jahren das Unternehmen übernommen              als handwerkliche Zeugnisse ihrer
habe, habe ich mich gefragt, wie ich das alles schaffen       jeweiligen Epoche erhalten bleiben.
soll“, erzählt Scheffler Junior und lacht. „Aber ich konn-
te mich von Anfang an auf alle im Betrieb verlassen
und es läuft bei uns richtig gut. Ich bin wirklich glück-    Mit ihrem seltenen Handwerk tut die Familie Scheffler
lich in meinem Beruf.“                                       seit drei Jahrzehnten sehr viel dafür, dass Orgeln als
                                                             handwerkliche Zeugnisse ihrer jeweiligen Epoche er-
Wer zu den Schefflers reist, weit ins östliche Branden-      halten bleiben. Die Spezialistinnen und Spezialisten aus
burg, findet sich in einer Idylle wieder. Der abgelegene     Sieversdorf wissen, was diese Instrumente brauchen.
Ort Sieversdorf ist beschaulich im besten Sinne. 300         „Das Schönste ist: Man verkauft Qualität und Langle-
Menschen leben zwischen dem alten Gutshaus, der              bigkeit – das ist so was Ehrliches“, sagt Konrad Scheffler.
Feldsteinkirche am Jakobsweg und dem kleinen Park.           Die Leistung entstehe durch die Mitarbeiterinnen und
Christian Scheffler hat hier 1990 seinen Handwerksbe-        Mitarbeiter, von denen viele an fremden Orten, oft in
trieb gegründet, die Familie hat das alte Pfarrhaus ge-      Kälte und Einsamkeit arbeiten. Jeder hier, sagt Konrad
kauft und ausgebaut. Sieversdorf ist Heimat im besten        Scheffler, diene dem Handwerk. Jeder habe sein Spe-
Sinne. Sohn Konrad hat schon als Kind in der Werkstatt       zialgebiet. „Zum Schluss steht da etwas, was mehrere
gespielt. „Das Friemeln, die Frage, warum funktioniert       Jahrzehnte Bestand hat. Und das ist es, was bleibt.“
etwas so und nicht anders – das hat für mich immer
den Reiz ausgemacht“, sagt er und lächelt. Nach der

                                                             WWW.ORGELWERKSTATT.DE

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     FREUDE SCHMIEDEN
Björn Köhler
Drechslermeister aus Eppendorf

Traditionshandwerk
modern interpretieren
                             Abends, wenn alle seine Beschäftigten      Köhler – graues Haar, blaues Shirt, wei-
                             wieder zu Hause sind, geht Björn Köh-      ches Erzgebirgisch – hat schon immer
                             ler gerne noch mal zurück in die Werk-     gezeichnet, gerne Comics. Diese Leiden-
                             statt. „Wenn Ruhe ist, habe ich Zeit für   schaft sieht man seinen Holzfiguren bis
                             Entwurf, Entwicklung und Design“, sagt     heute an. Statt zackiger Bärte und ge-
                             der Mittfünfziger. In seinem Kunsthand-    raffter Mützen stechen sie durch run-
                             werksbetrieb stellen 46 Mitarbeiterin-     de glatte Formen hervor. Die Gesichter
                             nen und Mitarbeiter Drechselarbeiten       sind nur angedeutet, das Holz liegt ganz
                             aus dem Erzgebirge her. Wer da an tradi-   weich poliert in der Hand – es sind pu-
                             tionelle Räuchermännchen, Osterhasen       ristische, haptisch ansprechende Kunst-
                             und Krippenfiguren denkt, liegt richtig.   werke von höchster Qualität.
                             Aber eben nicht ganz.
                                                                        Seine wiederholt mit Designpreisen aus-
                                                                        gezeichneten Kreationen haben längst
                                   „Mir hat es nicht mehr               Fans in aller Welt. Wegen der großen
                                                                        Nachfrage und weil sein Betrieb aus
                                  gereicht, nach Vorgaben               allen Nähten platzte, hat Björn Köhler
                                 zu arbeiten. Da wollte das             deshalb vor einigen Jahren in Eppendorf
                                    Schöpferische raus.“                eine stillgelegte Spielzeugfabrik gekauft.
                                                                        „Die Leute haben gesagt: Diese Ruine?
                                                                        Ihr seid doch verrückt. Aber wir wollten
                             „Was wir machen, ist erzgebirgische        hier am Standort bleiben.“ Das Erzgebir-
                             Volkskunst“, sagt Björn Köhler, „aber      ge ist nun mal fest verbunden mit dem
                             neu interpretiert.“ Köhler, 1965 gebo-     Handwerk – und die Handwerkerinnen
                             ren, hat schon immer gern ein bisschen     und Handwerker mit ihrer Region.
                             in weiten Kreisen gedacht. Anfang der
                             1980er-Jahre hat er in einem traditio-     Als die Corona-Krise losging, sah es
                             nellen Handwerksbetrieb Holzdrechs-        erst einmal schlecht aus. Märkte waren
                             ler gelernt. Schon damals hat er nach      abgesagt, Einzelhandelsgeschäfte ge-
                             Feierabend zu Hause weiter an seiner       schlossen, die Leute igelten sich zu Hau-
                             selbst gebauten Drechselbank expe-         se ein. Die Weihnachtsmänner, Oster-
                             rimentiert. „Mir hat es nicht mehr ge-     hasen und Drehpyramiden kamen nicht
                             reicht, nach Vorgaben zu arbeiten. Da      zu den Kundinnen und Kunden. Der Auf-
                             wollte das Schöpferische raus, es wollte   tragseinbruch sei gravierend gewesen,
                             zumindest mehr Raum haben“, erinnert       erzählt Björn Köhler. Er und seine Frau
                             er sich an diese Zeit.                     Peggy haben schlecht geschlafen in die-

                                                                                                             15
„Was wir machen, ist erz-
       gebirgische Volkskunst,
        aber neu interpretiert.
     Wir bringen jahrhunderte-
       alte Technik in die neue
      Zeit und stellen Produk-
      te her, die Generationen
                  überdauern.“

KÖHLER KUNSTHANDWERK           ser Zeit. „An uns hängt ja auch die Exis-
         GMBH & CO. KG         tenz von unseren Mitarbeiterinnen und
             GOETHEWEG 4       Mitarbeitern. Die brauchen das Geld.“
           09575 EPPENDORF

                               Sie haben schließlich einen Kredit auf-      als Bausoldat den Gewerbeschein vorzu-
                               genommen und mit dem Geld die Lohn-          enthalten versuchte. Sei es der Meister-
                               lücke überbrückt. Und sie haben in ihren     brief, den er sich als junger Mann vom
                               Webshop und das Marketing investiert.        Mund abgespart hat. Schließlich die
                               Eine riskante Entscheidung in unsicherer     1990er-Jahre, in denen er mit seinen un-
                               Zeit war das. Aber: „Es hat sich gelohnt“,   gewöhnlichen, an die Bauhaus-Ästhetik
                               sagt Björn Köhler und lächelt. Inzwi-        erinnernden Entwürfen Klinken putzen
                               schen produziert der Betrieb wieder auf      musste. Anfangs seien die gar nicht so
                               Hochtouren. Die Leute ordern vor allem       gut angenommen worden, erinnert er
                               über den kundenfreundlich gestalteten        sich. „Aber letztlich war meine Art der
                               Webshop, sogar mehr als vor Corona,          Gestaltung ein Alleinstellungsmerkmal.“
                               erzählt der Drechslermeister. Man sieht
                               ihm die Freude über das Gelingen an.         Mitte der 1990er-Jahre gewann er erst-
                                                                            mals einen wichtigen Branchenpreis für
                               Schaut man zurück auf die letzten vier       eine Krippe. „Ab da fing das Ding an,
                               Jahrzehnte, erkennt man ein Muster.          selbst zu wachsen und zu blühen.“ Es
                               Björn Köhler hat immer wieder Neues          war mehr Arbeit da, als er alleine schaf-
                               versucht. Er hat Krisen erlebt und ist aus   fen konnte. Köhler begann, Mitarbei-
                               ihnen gestärkt hervorgegangen. Sei es in     terinnen und Mitarbeiter einzustellen
                               der DDR der 1980er-Jahre, als man ihm        und Lehrlinge auszubilden. Das Unter-

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            FREUDE SCHMIEDEN
Seine wiederholt mit Designpreisen
                                                           ausgezeichneten Kreationen haben
                                                                längst Fans in aller Welt.

                                                          Und dann ist da noch die Herkunft, die Tradition. „Wir
                                                          wollen ehrliche Handarbeit machen“, sagt Björn Köhler.
                                                          „Was unsere Vorfahren uns überliefert haben, wollen
                                                          wir erhalten.“ Konkret heißt das, dass in der Werkstatt
nehmen entwickelte sich so, dass es schließlich selbst    nicht mit Automaten gearbeitet wird, sondern mit
eine globale Pandemie meistern konnte. „Wir sind eine     Handdrechselbänken. So bringe man die jahrhunderte-
gesund gewachsene Manufaktur“, sagt er stolz.             alte Technik in die neue Zeit. Und wenn es dann Abend
                                                          ist und alle wieder daheim sind, dann geht Björn Köhler
Dass Björn Köhler und seine Mitarbeiterinnen und          gerne noch einmal in seine Werkstatt. Er probiert aus,
Mitarbeiter es bis hierhin geschafft haben, liegt auch    tüftelt, verwirft. Drechseln, sagt er, heiße, alles her-
am Prinzip des Bewahrens und Erhaltens. Das Drechs-       stellen zu können, was rund ist. „Manchmal sage ich im
ler- und Holzspielzeugmacher-Handwerk ist prägend         Scherz: Ich drehe gerade ein tolles Ding.“ Und was gut
für das Erzgebirge. Dass es erhalten bleibt, darum        wird, das bleibt dann.
kümmert er sich. Die Grundlage dafür haben er und
seine Frau Peggy selbst formuliert. „Wir wollen der
nächsten Generation die Erde nicht schlechter hinter-
lassen, als wir sie vorgefunden haben, wenn möglich
sogar besser“, erklärt er das Köhler‘sche Gedankenge-
rüst. „Wir stellen Produkte her, die Generationen über-
dauern.“ Wenn er Holz kauft, zählt er mit seinem Aus-
zubildenden die Jahresringe: „Der Baum hat 80 Jahre
im Wald gestanden. Es ist unsere Verantwortung, dass
wir damit das Bestmögliche machen: gestalterisch
und langlebig.“

                                                          WWW.BJOERN-KOEHLER.DE

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     FREUDE SCHMIEDEN
Nico Schmid
Glasermeister aus Rain am Lech

Glas ungewöhn-
lich verarbeiten
„Ich liebe diesen Beruf, für mich hat es    Seine Firma baut und installiert alles,
nie was anderes gegeben.“ Glasermeister     was aus Glas ist. Dazu gehören natür-
Nico Schmid aus Rain am Lech hat sich       lich Fenster und Glastüren, aber auch
eine Stunde Zeit genommen, um über          Duschen und Trennwände, Geländer und
sein Handwerk zu sprechen. Dann muss        Küchenrückwände, Dächer und Spiegel.
er wieder los. Schmids Arbeitstage sind     Gerade sind stahlgerahmte Loftvergla-
enorm lang, von vier Uhr morgens bis        sungen schwer angesagt. Eine Spezialität
abends um sieben. Er braucht die Zeit,      von Schmid und seinen Mitarbeiterinnen
weil in seinem Betrieb, der Glas Lehmeier   und Mitarbeitern sind Treppengelän-
GmbH, so viel zu tun ist. Er muss Angebo-   der aus Glas. 2006 haben sie die ersten
te schreiben, zu Kundinnen und Kunden       konstruiert und eingebaut, mittlerweile
fahren und beraten, vor Ort im Betrieb      haben sie darin viel Erfahrung. Würde
ansprechbar sein. „Ich bin der Brandlö-     er für sich und die Familie heute noch
scher, wenn es irgendwo klemmt“, sagt       mal ein Haus bauen, würde er auch dort
Nico Schmid halb im Spaß.                   eine Glasbrüstung einbauen, sagt Nico

                                                                              19
GLAS LEHMEIER GMBH
                                    UNTERPEICHINGER STR. 7

                                          86641 RAIN/LECH

                                                             weile bei Lehmeier. Er hätte gerne noch mehr Personal.
         Eine 250 Meter lange                                Aber Glaserinnen und Glaser wie auch Metallbauerin-
                                                             nen und Metallbauer sind schwer zu finden. Auch des-
     Glaswand, stahlgerahmte                                 halb bildet Schmid selbst aus.
       Loftverglasungen: „Das
                                                 Die Lehmeier GmbH ist im Jahr 2022 komplett ausge-
     haben wir auch geschafft.                   bucht. Damit ist der Betrieb ein Paradebeispiel für die
     Das waren große Heraus-                     aktuelle Situation des Handwerks in Deutschland. Wer
                                                 Qualität liefert, wer gut berät und nachhaltig arbeitet,
        forderungen, doch am                     kann sich vor Aufträgen kaum retten. Der Bauboom
        Ende sind es Dinge, die                  sorgt für mehr Nachfrage denn je. „So etwas wie jetzt
                                                 habe ich in meinem Berufsleben noch nie erlebt“, sagt
                      bleiben.“                  Schmid. Aber es mangelt nicht nur an Fachkräften. We-
                                                 gen der Corona-Pandemie sind Rohstoffe knapper und
                                                 teurer geworden, das wirkt sich auf die Preise aus. China
                                                                zum Beispiel, erzählt Nico Schmid, liefe-
     Schmid. Er liebt den so vielfältigen Werkstoff Glas, sei- re aktuell kein Magnesium mehr nach
     ne Verarbeitungsmöglichkeiten, die Formbarkeit, das Europa. Das basische Oxid ist neben
     Gestalterische.                                            Quarzsand und anderen Stoffen Grund-
                                                                bestandteil zur Glasherstellung. Auch
     Wer ihn trifft, erlebt einen Handwerksmeister von An- Aluminium, das im Fensterbau viel ver-
     fang 40, der nicht nur in seinem Gewerk aufgeht. Nico wendet wird, ist teurer geworden. Ge-
     Schmid will auch immer Neues entwickeln und dabei baut wird dennoch.
     Bleibendes schaffen. „Ab 2005 sind wir langsam, aber
     kontinuierlich gewachsen“, blickt er zurück. Damals ist Hört man Nico Schmid eine Weile zu, er-
     der gelernte Glaser und studierte Glastechniker in die kennt man seinen Stolz auf das Erreichte.
     Geschäftsführung des Familienbetriebs eingestiegen. Er arbeitet hart und er schafft Dinge von
     „Ich war voller Elan von der Fachhochschule in den Be- Dauer. Dinge, die bleiben. Manchmal,
     trieb gekommen“, erinnert er sich. „Dort haben sie gro- erzählt er, fahre er mit dem Auto herum
     ßen Wert auf Gestaltung gelegt und hier konnte ich und schaue sich seine Arbeiten an. „Das
     mich dann ausleben.“                                       haben wir geschafft, das auch, denke
                                                                ich dann.“ Seine Augen leuchten, wenn
     Seit 2020 ist er nun der Senior. Was mal in der kleinen er davon erzählt. Schafft er auch mal et-
     Werkstatt des Urgroßvaters begonnen hat, ist heute was nicht? Schmid erzählt von seinem
     ein hochmodernes Unternehmen. Mehrfach wurden härtesten Job. Im Hauptsitz der Firma
     Hallen erweitert und angebaut, zuletzt eine eigene Siemens in München hat Lehmeier vor
     zur Aluminiumbearbeitung. Moderne Maschinen und Jahren eine 250 Meter lange Glaswand
     Fahrzeuge wurden angeschafft, Mitarbeiterinnen und eingebaut. „Das war von der Planung
     Mitarbeiter eingestellt. 22 Angestellte sind sie mittler- her eine große Herausforderung. Aber

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     FREUDE SCHMIEDEN
am Ende hat es uns natürlich auch wei-
tergebracht. Wir wissen jetzt, dass wir
das auch können.“ Man darf sich Nico
Schmid als einen glücklichen Menschen
vorstellen, jedenfalls solange er heraus-
gefordert ist.

 Er liebt den so vielfältigen
 Werkstoff Glas, seine Ver-
 arbeitungsmöglichkeiten,
     die Formbarkeit, das
        Gestalterische.

                                            WWW.GLASEREI-LEHMEIER.DE

                                                                       21
Wir sind Chefinnen zu
                                    gleichen Teilen. Das ist bei
                                    uns wie in einer guten Ehe.

22   Z D H J A H R B U C H 2 02 2
     FREUDE SCHMIEDEN
Claudia Brömel und Anja Fromm
Hörakustikmeisterinnen aus Lübeck

Kindern
Klangwelten
eröffnen
Wenn ein hörgeschädigt geborenes Kind      „Wir sind Chefinnen zu gleichen Teilen.
zum ersten Mal etwas hört, ist das ein     Das ist bei uns wie in einer guten Ehe.“
emotionaler Moment. „Bei den Eltern        Anja Fromm, Jahrgang 1985, lacht, als
fließen dann die Tränen.“ Claudia Brö-     sie das sagt. Aber tatsächlich ist gut zu
mel, Hörakustikmeisterin aus Lübeck,       spüren, wie vertraut die beiden Frauen
hat diesen Moment schon oft erlebt. Sie    zusammenarbeiten. Kennengelernt ha-
und ihre Mitinhaberin Anja Fromm sind      ben sie sich vor 20 Jahren in der Firma.
spezialisiert auf Sonderversorgungen.      Damals gehörte Auris Hörakustik noch
Dazu gehören Säuglings- und Kleinkind-     ihrem Vorgänger. Als der sich in den Ru-
versorgungen mit Hörgeräten, Implan-       hestand verabschieden wollte, hat er
tat- und Tinnitusversogungen sowie Au-     seinen Meisterinnen die Nachfolge an-
diotherapie.                               geboten.

Ihr Betrieb Auris Hörakustik liegt gar     Sie sei ein wenig überrumpelt gewesen,
nicht weit vom Lübecker Universitätskli-   als die Frage kam, erinnert sich Anja
nikum entfernt. Die Ärztinnen und Ärzte    Fromm. Angestellte Hörakustikmeiste-
dort wissen, wer ihren Patientinnen und    rin zu sein, schien ihr bis dahin ausrei-
Patienten nach der Entlassung zuver-       chend. Aber der Gedanke, bald einen an-
lässig helfen kann. Brömel und Fromm       deren Chef zu haben, behagte ihr auch
sitzen in ihrem Geschäft an der vielbe-    nicht. „Da müssen wir selber ran“, sagte
fahrenen Ratzeburger Allee. Draußen        sie sich. Claudia Brömel ergänzt: „Allein
tobt der Verkehr, drinnen herrscht eine    Chefin zu sein, kam für mich nicht in-
freundlich entspannte Atmosphäre. Die      frage. Ich hatte das Gefühl: Mit Anja, das
150 Quadratmeter sind hell gestrichen,     passt gut. Wir haben uns immer sehr gut
die Arbeitsbereiche durch Glaswände        verstanden.“ Im Januar 2016 war es dann
getrennt. Im Wartebereich gibt es für      so weit: Brömel und Fromm wurden ihre
die Kinder Spielzeug und Kaffee für ihre   eigenen Chefinnen.
Eltern, im Hörstudio warten klingende
Klötzchen auf die Kleinsten. Und im Pau-   Seit 1994 gibt es Auris Hörakustik bereits,
senraum steht neben der Küchenzeile        20 Jahre davon sind die beiden schon
eine Liege, damit die vier Angestellten    dabei. „Die Menschen, denen wir hel-
und die beiden Auszubildenden auch         fen – das ist es, was bleibt“, sagt Claudia
mal ihre Füße hochlegen können.            Brömel. Viele der Kinder, denen sie einst

                                                                                         23
AURIS HÖRAKUSTIK
                              BRÖMEL & FROMM GBR
                                    RATZEBURGER ALLEE 40

                                            23562 LÜBECK

                                                           Seit langer Zeit ist Auris Hörakustik spezialisiert auf die
                                                           Bedürfnisse von Säuglingen und Kleinkindern. Aber na-
                                                           türlich sind sie hier für Menschen jeden Alters da. Ne-
                                                           ben dem Anpassen von Hörgeräten gehört zu Fromms
                                                           und Brömels Job auch die Tinnitusversorgung und die
                                                           Audiotherapie, ein Training für Menschen, die schon
                                                           lange unter Hörverlust leiden. Ebenso die hochmoder-
                                                           ne Implantatversorgung. Im nahen Uniklinikum wird
                                                           unter die Haut bis in die Hörschnecke ein sogenanntes
         „,Mama ich kann den                               Cochlea-Implantat eingesetzt, das den funktionstüch-
                                                           tigen Hörnerv stimuliert. Außen am Kopf sitzt dann der
      Wind hören‘, staunte ein                             Sprachprozessor mit Überträgerspule. „Wir betreuen
       Junge, als er sein erstes                           diese Patientinnen und Patienten mit der Nachsorge
                                                           und Folgeanpassungen“, erklärt Claudia Brömel das
         Hörgerät bekam. Den                               Prinzip. „So was machen Akustiker eher selten; bei uns
         Menschen, denen wir                               hier in der Gegend kaum einer.“

            helfen – das ist es,                      Es ist dieser Mix aus Technik, Handwerk und Kunden-
                   was bleibt.“                       kontakt, den die beiden Frauen an ihrer Arbeit so lieben.
                                                      Claudia Brömel, Jahrgang 1976, wollte eigentlich Au-
                                                      genoptikerin werden. Weil es in diesem Bereich damals
                                                                     keinen Ausbildungsplatz gab, sagte ein
                        zum Hören verholfen haben, sind längst Berufsberater: „Werd doch Akustikerin,
                        erwachsen. Sie kommen inzwischen mit das ist so ähnlich, nur für die Ohren.“ Mit
                        ihren Partnern und den Kindern in das Menschen zu tun zu haben und hand-
                        Geschäft an der Ratzeburger Allee. „Von werklich zu arbeiten, das gefiel ihr. Heute,
                        0 bis 100 Jahren Jahren ist bei uns alles sagt sie, sei nur noch wenig Handarbeit zu
                        dabei“, sagt Anja Fromm. Sie erinnert erledigen, dafür sei die Technik weit vor-
                        sich an einen Jungen, der im Kindergar- angeschritten. Statt wie früher die Ohr-
                        tenalter sein erstes Hörgerät bekommen abformungen per Post zu verschicken,
                        hat. „Mama, ich kann den Wind hören“, steht heute im Laden ein 3D-Scanner.
                        hat er damals gestaunt. Heute ist er Mit- „Die Daten verschicken wir übers Netz
                        te 20 und nach wie vor ihr Kunde.            und binnen drei, vier Werktagen fertigt
                                                                     das Labor die Plastik. Das ist schnell und
                                                                     kostengünstig.“

24   Z D H J A H R B U C H 2 02 2
     FREUDE SCHMIEDEN
Anja Fromm hingegen wollte schon als junges Mäd-
chen Akustikerin werden. Nach einem Schülerpraktikum
bei Auris Hörakustik mochte sie am liebsten gar nicht
mehr gehen. „Das Team und die Räume hier haben mir
gleich gefallen“, erinnert sie sich. Mittlerweile ist sie
Mitte 30 und die gute Atmosphäre ist geblieben. Es
gehe ja nicht nur ums Geschäftliche, sondern auch um
die Work-Life-Balance für alle, sagen die beiden Frau-
en. Ausschließlich Frauen arbeiten bei Auris Hörakustik,
alle in Teilzeit. Es habe sich irgendwie so ergeben. Das
klingt leichthin gesagt. Tatsächlich jedoch haben hier
zwei Frauen etwas Bleibendes aufgebaut, das ihnen
und allen anderen nützt.

     Es ist dieser Mix aus Technik,
    Handwerk und Kundenkontakt,
    den die beiden Frauen an ihrer
            Arbeit so lieben.

WWW.AURIS-HOERAKUSTIK.DE

                                                   25
Hans Peter Wollseifer
Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks

Im Interview
Ein turbulentes Jahr mit anhaltender Corona-Pande-           rität im Handwerk ausgelöst und einmal mehr gesell-
mie, einer schlimmen Flutkatastrophe und Material-           schaftliches Verantwortungsbewusstsein und Zusam-
engpässen liegt hinter uns. Wie ist das Handwerk durch       menhalt im Handwerk deutlich gemacht.
das Jahr gekommen?

2021 war ein weiteres Ausnahmejahr, das vielen Betrie-       Wie blicken Sie vor diesem Hintergrund in die Zukunft?
ben wieder alles abverlangt hat. Die Corona-bedingten
Einschränkungen haben einige Gewerke – etwa die im           Trotz aller Widrigkeiten bin ich zuversichtlich, denn
Messebau und Veranstaltungscatering tätigen Hand-            wie unverzagt die allermeisten unserer Handwerks-
werke – bis an den Rand der Existenz gebracht. Die Bau-      betriebe sich darangemacht haben, die schwierige Lage
und Ausbaugewerke sind zwar gut durch die Pandemie           im vergangenen Jahr anzugehen, wirklich anzupacken
gekommen, waren dafür aber anderen wirtschaftlichen          und sich beherzt den Herausforderungen zu stellen,
Belastungsproben ausgesetzt: zum einen, weil zeitweise       das stimmt mich hoffnungsvoll. Unsere Betriebe ha-
nahezu alle Baumaterialien nur sehr schwer zu beschaf-       ben einmal mehr ihre Flexibilität und ihre Fähigkeit,
fen waren, und zum anderen, weil historische Preisan-        sich auf neue Umstände einzustellen, unter Beweis ge-
stiege vielfach Kalkulationen über den Haufen geworfen       stellt. Das macht sie zum natürlichen Partner für den
haben. Und nicht vergessen dürfen wir die entsetzliche       Aufbruch und die Modernisierung, die sich die neue
Flutkatastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz, deren Fol-       Regierung vorgenommen haben. Wer sich große Ziele
gen bis heute massiv nachwirken. Diese Katastrophe           setzt, braucht starke Partner, um sie umzusetzen. Wir
hat viele Betriebe in der Region sehr hart getroffen, aber   im Handwerk haben das Know-how und die Tatkraft,
auch – und das macht mich stolz – beispiellose Solida-       um diese Zukunft zu gestalten.

26             Z D H J A H R B U C H 2 02 2
               INTERVIEW
Zukunftsmacherinnen und Zukunftsmacher zu wer-
                                                            den. Die zweite Botschaft dieser Zeile ist: Zukunft wird
                                                            nicht allein gemacht. Es ist eine Teamaufgabe, in der
                                                            Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenspielen
                                                            müssen, um das gemeinsame Ziel einer lebenswerten
                                                            und guten Zukunft zu erreichen.

                                                            Was sind denn die Voraussetzungen, die ein Team aus
                                                            Politik, Wirtschaft und Gesellschaft für eine gute Zu-
                                                            sammenarbeit schaffen muss?

                                                            Zunächst einmal muss jedes Team Vertrauen zueinander
Das diesjährige ZDH-Jahrbuch steht unter dem Motto:         aufbauen. Wir als Gesellschaft müssen Vertrauen in die
„Wir tun, was bleibt.“ Das klingt eher nach Tradition als   Politik, Politik muss Vertrauen in die Kompetenz der
nach Gestaltung der Zukunft?                                Wirtschaft haben und unser Know-how nutzen. Und
                                                            schlussendlich müssen wir als Unternehmerinnen und
Es geht doch nicht um Tradition oder Zukunft. Nach-         Unternehmer der Politik vertrauen, dass sie Rahmen-
haltigkeit heißt für uns Handwerkerinnen und Hand-          bedingungen schafft, in der die Wirtschaft und somit
werker, das Bewahren mit der Zukunftsgestaltung zu          auch der Wohlstand unseres Landes sich nachhaltig
verbinden. Nehmen wir nur den Klimaschutz: Ob es            entwickeln können. Als gutes Team brauchen wir ein
darum geht, Heizanlagen zu modernisieren, E-Lade-           gemeinsames Ziel. Auf dieses müssen wir uns zwischen
stationen und Solarpanels zu installieren, Wohnungen        Gesellschaft, Politik und Wirtschaft verständigen. Da-
energieeffizient zu bauen und zu sanieren, um nur ei-       für braucht es einen ständigen Dialog und Erfahrungs-
nige wenige Beispiele zu nennen – das alles geht nur        austausch. Wir im ZDH verstehen uns als Bindeglied einer
mit dem Handwerk. Und das bleibt auch in Zukunft so.        solchen Verständigung. Denn als Spitzenverband der
Doch nachhaltiges, generationenübergreifendes Denken        deutschen Wirtschaft vertreten wir die Interessen von
und Handeln im Handwerk reicht über den Bereich             1 Million Handwerksbetrieben mit mehr als 5,62 Millio-
des Klima- und Umweltschutzes hinaus. Nachhaltig            nen Beschäftigten und 363.000 Auszubildenden.
Bleibendes hat im Handwerk viele Dimensionen, sei
es im Bereich der Aus- und Weiterbildung, bei der
Sicherung regionaler Versorgungsstrukturen, beim Er-        Welche Aufgaben muss die neue Bundesregierung aus
halt von Kulturerbe oder im sozialen Zusammenleben.         Sicht des Handwerks prioritär anpacken?
Meisterinnen und Meister bilden aus und sorgen so für
die Fachkräfte von morgen, sie geben Wissen an die          Die neue Regierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz
kommenden Generationen weiter und tragen so zum             hat große Ansprüche formuliert – jetzt muss sie liefern.
Erhalt wichtiger Kultur- und Fertigungstechniken bei.       Es braucht genügend Fachkräfte, um all das umzuset-
Das bleibt. Handwerkerinnen und Handwerker sind in          zen, was vereinbart wurde. Daher muss die Stärkung
besonderem Maße in ihr regionales Umfeld eingebun-          der beruflichen Bildung als dem zentralen Hebel zur
den und fühlen sich ihm verbunden. Viele bringen sich       Fachkräftesicherung höchste Priorität haben. Wir müs-
durch vielfältiges ehrenamtliches Engagement in die         sen alles daransetzen, so rasch wie möglich zu mehr
Gesellschaft ein und bewahren die sozialen Grundlagen,      Wertschätzung der beruflichen Ausbildung zu kom-
die es für eine gute Zukunft braucht.                       men, und konkret auch mehr finanzielle Mittel dafür
                                                            in die Hand nehmen, damit sich mehr junge Menschen
                                                            für den beruflichen Ausbildungsweg entscheiden und
Der Handwerk-Song von Benoby „Was für immer                 die Lücke von im Schnitt der vergangenen Jahre rund
bleibt“ zieht sich wie ein roter Faden durch das ZDH-       18.000 angebotenen, aber unbesetzten Ausbildungs-
Jahrbuch. Was ist Ihre Lieblingspassage aus dem Lied        plätzen schließen. Denn nur mit beruflich qualifizier-
und warum?                                                  ten Fachkräften des Handwerks ist das Erreichen der
                                                            Klimaschutzziele und aller anderen Zukunftsaufgaben
„Komm, wir bauen die Zukunft“ natürlich. Diese Zeile        möglich. Hier schließt sich der Kreis. Wenn die Ampel
beinhaltet gleich zwei zentrale Botschaften: Es ist die     tatsächlich mehr Fortschritt wagen will, wie sie es sich
Aufforderung an junge Menschen, mit an Bord des             auf die Fahnen geschrieben hat, dann muss sie vor al-
Handwerks zu kommen, Teil dieser Gemeinschaft der           lem auch eines: mehr Handwerk wagen.

                                                                                                              27
28   Z D H J A H R B U C H 2 02 2
     VISIONEN TEILEN
Unternehmensideen.
Betriebsnachfolge.
Wiederaufbau.

Vertrauen durch Seiltechnik sichern
Stephanie Kleisser, Inhaberin blauschnur seiltechnik

Wissen über Generationen hinweg schweißen
Johanna Börgel, Kaufmännische Leiterin Metallbau Laumann GmbH

Unter Strom die Selbstständigkeit wagen
Matthias Thomas, Elektrotechnikmeister

Holz schwimmt immer oben
Maik Rönnefarth, Tischlermeister

                                                   – das bleibt.

                                                                   29
Wie kommen die da hoch?
                                    Was sind das für Seile?
                                    Kann ich das auch?

30   Z D H J A H R B U C H 2 02 2
     VISIONEN TEILEN
Stephanie Kleisser
Inhaberin blauschnur seiltechnik aus Mainz

Vertrauen durch
Seiltechnik sichern
Wir schreiben das Jahr 1995. In einem Schwarzwalddorf sitzt eine jun-
ge Frau vor dem Fernseher und kann kaum glauben, was sie da sieht.
Das Reichstagsgebäude in Berlin wird im Auftrag des Künstlerpaars
Christo und Jeanne-Claude mit silbrig schimmernden Tüchern ver-
hüllt. Stephanie Kleisser, so heißt die Frau vor dem Fernseher, sieht
Menschen an Seilen befestigt an der Fassade hängen. Mit Seiltechnik
abgesichert, bringen sie die Stoffbahnen an, verschnüren das histo-
rische Gebäude so, dass es zur Skulptur wird. „Wie kommen die da
hoch? Was sind das für Seile? Kann ich das auch?“

Heute, mehr als ein Vierteljahrhundert später, weiß Stephanie Kleisser,
dass sie das kann. Sogar sehr gut kann. Seit 2014 führt sie ihr Ein-Frau-
Unternehmen blauschnur seiltechnik. Ihr Angebot: Industrieklettern,
Höhenarbeit, Gefährdungsbeurteilungen, Ausbildung. Ihre Arbeit:
Montage von Absturzsicherungen, Reinigen etwa von Silos oder Fassa-
den, Prüfung und Dokumentation für Architekten, Statiker und Restau-
ratoren, aber auch Gebäudeschutz und Werterhaltung. Ihr Motto: „Wir
schaffen Zugang und Lösungen.“

Was das für Lösungen sind? Stephanie Kleisser muss nicht lange nach-
denken. Die Frau mit den kurzen Haaren spricht präzise. Sie schätzt
es, fokussiert zu sein. Es ist ihr Beruf. „Stellen Sie sich vor, unter dem
Dach einer hohen Werkhalle sind Klimaschächte installiert. Die müs-
sen neu eingestellt werden, aber durch die enge Anlagenbebauung
kommt man mit Hubtechnik vom Boden aus nicht heran. Da schaffen
wir den Zugang. Eine Firma für Klimatechnik weist uns ein, erklärt uns
detailliert alle notwendigen Schritte, dann lösen wir das Problem.“
Und wenn es doch am technischen Know-how fehlt, bleibt sie mit den
Fachleuten über eine Livekamera verbunden und lässt sich unterwei-
sen. Im Team werden so Lösungen gefunden, damit bleibt, was gut ist,
und erfolgreich weitergearbeitet werden kann.

                                                                             31
BLAUSCHNUR SEILTECHNIK
                                                 NIKOLAUS-KOPERNIKUS-STR. 4

                                                 55129 MAINZ

                                                 brief, aber auch Höhentauglichkeit und dreidimensio-
                                                 nales Denken. Sie arbeite, sagt sie, gerne mit Menschen,
                                                 die sie mag. „Alle, mit denen ich zusammen schaff‘,
                                                 habe ich auf anderen Baustellen kennengelernt.“

                                                  Auffallend in der Branche sind die wenigen Frauen. Es
                                                  gebe immer noch zu wenige Handwerkerinnen, findet
                                                  sie. Auch deshalb engagiert sich Stephanie Kleisser eh-
       „Halt geben und Außer-                     renamtlich für das Netzwerk „FRAUEN unternehmen“,
      gewöhnliches tun, damit                     das vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert wird.
                                                  Gute, tragende Netzwerke sind für sie der Schlüssel zum
        Dinge erhalten bleiben,                   Erfolg. Höhenarbeitende können für andere Unterneh-
                           das ist es.“           men der verlängerte Arm, das kundige Auge sein. Sie
                                                  findet es großartig, mit Betrieben immer wieder zusam-
                                                  menzuarbeiten, etwa in der Baubranche, im Bauneben-
                                                                 gewerbe oder im Denkmalschutz. „Die
     Was relativ simpel klingt, basiert auf guter Ausbildung können das, wir können das – zusammen
     und jahrelanger Erfahrung. Und es fordert die ganze können wir uns aufeinander verlassen.“
     Person. „Was wir im Seil machen, ist Handwerk. Man
     muss das schon auch wollen“, sagt Stephanie Kleisser Technisch erinnert heute kaum noch et-
     und lacht, wenn sie von Überkopfarbeit in dunklen Röh- was an die Seiltechnikerinnen und Seil-
     ren oder Höhenarbeiten an spitzen Kirchtürmen erzählt. techniker damals am Reichstagsgebäude.
     Grundlage ist für sie „nachhaltige Sicherheit“ für die von „Wir werden immer weiter technisiert
     ihr projektbezogen engagierten Seiltechnikerinnen und und digitalisiert und das ist auch gut für
     Höhenarbeiter. Nachhaltige Sicherheit gebe es jedoch die Sicherheit und das Ergebnis“, sagt
     nur, wenn sie tatsächlich verstanden und gelebt wird. Kleisser. Als ausgebildete Schreinermeis-
     Übersetzt heißt das: Kleisser will so arbeiten, dass die terin und staatlich geprüfte Holztech-
     Auftraggeber von blauschnur seiltechnik „Bock auf uns nikerin weiß sie, worauf es für gute Er-
     haben. Wir überzeugen damit, dass es nicht länger dau- gebnisse ankommt. Immer schon haben
     ert als mit Maschinentechnik. Es ist nicht aufwendiger sie die Zugangsmöglichkeiten aller Art
     und nicht unsicherer und wir können es jederzeit wie- magisch angezogen, die andere nicht un-
     derholen.“                                                  bedingt für möglich hielten. Heute geht
                                                                 es ihr primär um gelebte Arbeitssicher-
     Ganz offensichtlich macht ihr dieser sehr besondere heit und die solide Planung ihrer Projek-
     und spannende Beruf Freude. Ihre Mitarbeiterinnen te. 2011 hat sie dann Urlaub genommen
     und Mitarbeiter findet Stephanie Kleisser in der über- und bei einem Unternehmen in der Nähe
     sichtlichen Branche der Höhenarbeiterinnen und Hö- ihre erste Fortbildung in Höhenarbeit ge-
     henarbeiter. Voraussetzung für eine Mitarbeit im „Team macht, das Level 1 nach Fisat-Standard. Da-
     blauschnur“ sei mindestens ein Gesellen- oder Meister- nach wusste sie: Das ist ihre Leidenschaft.

32   Z D H J A H R B U C H 2 02 2
     VISIONEN TEILEN
„Wir werden immer weiter
technisiert und digitalisiert
  und das ist auch gut für
   die Sicherheit und das
          Ergebnis.“

2014 hat sie schließlich blauschnur seil-   und Außergewöhnliches tun, damit Din-
technik gegründet, mittlerweile ein an-     ge erhalten bleiben, das ist es, was Ste-
erkannter Fachbetrieb, der mit schwäbi-     phanie Kleisser am liebsten macht und
scher Präzision und sicher ausgeführten     am besten kann.
Leistungen punktet. An Aufträgen man-
gelt es nicht. Der Kuchen, sagt sie, sei
groß genug für alle. Woher der unge-
wöhnliche Name ihres Betriebs kommt?
Stephanie Kleisser lächelt. Halt geben

                                            WWW.BLAUSCHNUR-SEILTECHNIK.DE

                                                                                        33
34   Z D H J A H R B U C H 2 02 2
     VISIONEN TEILEN
Johanna Börgel
Kaufmännische Leiterin Metallbau Laumann GmbH aus Hörstel

Wissen über
Generationen
hinweg schweißen
Wenn sie gefragt wird, was ihr Metallbau-     fünf Auszubildende und die Angestellten
Unternehmen Bleibendes bewirkt, muss          im technischen Bereich, in der Verwal-
Johanna Börgel nicht lange nachden-           tung und in der Leitung. Und die Leitung,
ken. Mit „Fortschritt, Funktionalität und     das ist Johanna Börgel selbst. Gemein-
Nachhaltigkeit“ umreißt die angehende         sam mit ihrer Mutter Claudia führt sie
Geschäftsführerin das Leitbild der Lau-       das münsterländische Metallbauunter-
mann GmbH & Co. KG. Und es fällt ein          nehmen. Mit erst 26 Jahren ist sie eine
weiterer Begriff: Ganzheitlichkeit. Für sie   junge Chefin, die die anstehenden Ver-
bedeutet das, dass der Betrieb in tatsäch-    änderungen mit modernem Wissen und
lich jedem einzelnen Bereich nachhaltig       zugleich mit Sinn für Beständigkeit ins
arbeitet. „Dazu gehören natürlich Um-         Werk setzt. Johanna Börgel formuliert es
weltschutz und Klimaschutz. Aber eben         so: „Wir machen als Unternehmen gerade
auch, dass mit der Ressource Mensch           einen Schritt in eine andere Größenord-
nachhaltig umgegangen wird.“                  nung – und dazu gehört auch, dass die
                                              nächste Generation am Start ist.“ Vier
Etwas mehr als 100 Mitarbeiterinnen           weitere Führungskräfte sind, wie sie, re-
und Mitarbeiter sind sie bei Laumann in       lativ jung, etwa Mitte 30. „Es hat sich so
Hörstel. Gut die Hälfte von ihnen arbei-      ergeben.“
tet in der Produktion, hinzu kommen

                                                                                           35
LAUMANN GMBH & CO. KG
                                        RODDER STR. 42

                                         48477 HÖRSTEL

                                                         Dass sie als Frau im Handwerk Karriere machen würde,
                                                         stand für sie seit Langem fest. Sie werde öfter danach
                                                         gefragt, erzählt sie. „Für mich war das kein Thema. Ich
                                                         war mit dem Studium fertig und habe einfach angefan-
                                                         gen: Vollzeit mit eigenem Schreibtisch. Meine Mutter
                                                         ist hier geschäftsführende Gesellschafterin, so kenne
                                                         ich das von klein auf.“ Opa Heinz hatte in den 1970er-
                                                         Jahren den Betrieb für Schweißtechnik und Landma-
                                                         schinenbau gegründet, Ende des Jahrzehnts wurde die
                                                         erste Produktionshalle gebaut. Als Claudia Börgel über-
                                                         nahm, gehörten 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
                                                         zum Unternehmen, noch heute arbeiten einige von ih-
                                                         nen hier.
       „Wir machen als Unter-
                                                         Die 1995 geborene Johanna Börgel wächst in und mit
         nehmen gerade einen                             dem Betrieb. Nach dem Abitur im nahen Rheine stu-
          Schritt in eine andere                         diert sie an der Bielefelder Fachhochschule des Mittel-
                                                         stands Betriebswirtschaftslehre, später sattelt sie in
         Größenordnung – und                             Kiel den Master mit dem Schwerpunkt Finanzen und
     dazu gehört auch, dass die                          Controlling drauf und sammelt praktische Erfahrun-
                                                         gen in einer Münsteraner Unternehmensberatung.
        nächste Generation am                            Sie habe, sagt sie, früh gewusst, wohin sie gehört. Das
      Start ist. Und weiter auf-                         Münsterland ist ihre Heimat. „Meine Eltern haben nie
                                                         gesagt, sie würden erwarten, dass ich den Betrieb über-
       baut, was Bestand hat.“                           nehme. Aber mir war eigentlich immer klar, dass ich das
                                                         machen will.“

                                                         Ihre Bachelorarbeit hat sie über nachhaltiges Wachs-
      Laumann stellt Bauteile für die Land-              tum geschrieben und dabei schon das Familienunter-
      wirtschaft, den Anlagenbau, die Wind-              nehmen im Hinterkopf gehabt. Ab einer gewissen Grö-
      energie und Flugzeuge her. Spezialisiert           ße nämlich sei so ein Betrieb weder Fisch noch Fleisch:
      sind sie in Hörstel auf Schweißkonstruk-           „Man ist keiner von den Großen, aber auch nicht mehr
      tionen im Dickblechbereich. Johanna                so klein, dass man alles auf einem DIN-A4-Blatt be-
      Börgel – kinnlanges Haar, weißes Blusen-           rechnen kann. Ab dann geht es um gut strukturiertes
      hemd – ist in den Familienbetrieb hin-
      eingewachsen. Sie sitzt am Schreibtisch
      in ihrem Büro und spricht kenntnisreich
      über Achsen für Gelenkbusse, Aufbau-
      vorrichtungen für Windräder oder klapp-
      bare Gerätschaften für landwirtschaftli-
      che Maschinen. „Die heavy Sachen halt.“
      Sie lächelt. „Für die feinen Sachen, also
      Teile aus dem Maschinen- und Anlagen-
      bau mit besonders hohem Qualitäts-
      anspruch, bauen wir gerade eine eigene
      Linie auf.“

36    Z D H J A H R B U C H 2 02 2
      VISIONEN TEILEN
„Für mich ist wichtig zu vermitteln,                     mich ist wichtig zu vermitteln, dass ein
                                                          Unternehmen, genauso wie die gesamte
dass ein Unternehmen, genauso wie                         Gesellschaft, davon lebt, dass jeder sein
  die gesamte Gesellschaft, davon                         Bestes gibt.“ Darunter versteht die jun-
                                                          ge Geschäftsführerin auch, dass es kein
  lebt, dass jeder sein Bestes gibt.“                     Nebeneinander gibt. Ebenso, dass Ju-
                                                          gendliche aus schwierigen Verhältnissen
Wachstum.“ Als sie im Sommer 2019 zurück nach Hörstel     ausgebildet werden. „Es gibt bei uns kei-
gekommen ist, hat sie von der Mutter ihren eigenen        nen Bereichs-Egoismus, wichtig ist das
Arbeitsbereich bekommen: Finanzen und Controlling.        gemeinsame Ziel.“ Wer Johanna Börgel
„Das ist dann Schritt für Schritt immer mehr gewor-       aufmerksam zuhört, versteht, dass hier
den. Das Tempo hat angezogen.“ Johanna Börgel lacht,      eine neue Generation in den Handwerks-
wenn sie davon erzählt. „Inzwischen würde ich sagen:      betrieben Verantwortung übernimmt.
Ich habe einen guten Rundumblick auf das ganze Un-        Und zwar so, dass das, was sie aufbaut,
ternehmen, ein Standing.“ Und wenn es doch mal Kon-       tatsächlich Bestand hat.
flikte zwischen Alt und Jung gibt, ist da eine erprobte
Streitkultur. „Wenn einem was nicht passt, dann spre-
chen wir das aus und finden eine Lösung.“

Zum nachhaltigen Wachstum gehört bei der Laumann
GmbH & Co. KG schon seit Langem die Diversität. Viel-
falt und Vielstimmigkeit bedeuten hier Zukunft. „Für

                                                          WWW.H-LAUMANN.DE

                                                                                                      37
Wenn ich kurz innehalte und
                           zurückschaue auf die letzten
                           zwei Jahre, dann ist da schon
                           ein kleines Schulterklopfen.

38   Z D H J A H R B U C H 2 02 2
     VISIONEN TEILEN
Matthias Thomas
Elektrotechnikmeister aus Villenbach

Unter Strom
die Selbstständig-
keit wagen
Es ist noch sehr früh am Morgen, als        Der Schwabe aus Villenbach hat 2019
Matthias Thomas Zeit für ein Gespräch       Elektro Thomas gegründet. Nach seiner
findet. Der 28 Jahre alte Elektrotechnik-   Berufsausbildung und während seiner
meister hat sich in die „Lounge“ seiner     Festanstellung als Instandhaltungsme-
Firma zurückgezogen, bevor es rausgeht      chaniker hat er festgestellt, dass es für
zu den Kunden. Oben im Materiallager        ihn in der Industrie nichts wird mit der
hat er aus Holzpaletten ein Sofa gebaut;    Selbstverwirklichung. Noch während sei-
zwischen den orangefarbenen Polstern        ner Meisterausbildung hat er sich des-
findet er die Ruhe, zu reflektieren. Mat-   halb als Einzelkämpfer selbstständig
thias Thomas ist ein junger, ein selbst-    gemacht. „Mittlerweile sind wir vier
bewusster Handwerker. Einer, der vor        Personen, Tendenz steigend.“ Thomas
allem das Potenzial seines Gewerks          freut sich, als er davon erzählt. Wenn er
sieht, nicht die Schwierigkeiten. „Wenn     sein aktuelles Lebensgefühl beschrei-
ich kurz innehalte und zurückschaue auf     ben sollte, dann fühle er sich so wie der
die letzten zwei Jahre“, sagt er, „dann     Musiker Benoby, der in diesem Jahr als
ist da schon ein kleines Schulterklopfen.   Hommage an das Handwerk einen Song
Und wenn ich gucke, was noch kommen         aufgenommen hat, der genau dieses
kann, dann sehe ich da vor allem Span-      Selbstverständnis zum Ausdruck bringt.
nendes. Neue Technologien erkunden,         „Komm, wir bauen die Zukunft, das, was
auch mal um die Ecke denken, weg vom        uns vereint – lasst uns tun, was für immer
Standard – dafür ist jetzt die Zeit.“       bleibt.“

                                                                                39
„Neue Technologien erkun-
        den, auch mal um die Ecke
     denken, weg vom Standard –
        dafür ist jetzt die Zeit. Der
      Handwerk-Song beschreibt’s
       treffend: Komm, wir bauen
        die Zukunft, lasst uns tun,
            was für immer bleibt.“

      ELEKTRO THOMAS          Die Energiewende kommt für Matthias
       ST. LEONHARD-STR. 2    Thomas gerade zum richtigen Zeitpunkt.
         86637 VILLENBACH     „Wir Elektriker sind ganz klar ein Teil da-
                              von. Mit der Ladeinfrastruktur können
                              wir die Energiewende schaffen. Jeder be-      allem das Potenzial. „Wir sind eben ein
                              schafft und tankt seinen eigenen Strom –      Betrieb, der neue Technologien mit Neu-
                              wenn wir das den Kunden nicht verkau-         gier und einem offenen Blick angeht.“
                              fen können, wer dann?“ Das elektrische
                              Fahren ist aber nur einer von mehreren        In seinem Handwerker-Alltag geht es
                              Schwerpunkten, die der rotblonde Mann         auch ganz zeitgemäß um das, was schon
                              mit der Brille und dem Kinnbart im Blick      heute möglich und erprobt ist. Zum ei-
                              hat. Für ihn gehört auch das Hyperchar-       nen ist Elektro Thomas auf smarte Ge-
                              ging dazu, das ultraschnelle Aufladen         bäudeinstallationen spezialisiert, also
                              gleich mehrerer Wagen mit extrem ho-          effiziente Heizsteuerung, intelligenten
                              her Kilowattleistung. Noch ist das Zu-        Energieverbrauch, aber auch auf leicht
                              kunftsmusik, aber Thomas sieht vor            handhabbare Anwendungen für Men-
                                                                            schen, die trotz Beeinträchtigungen
                                                                            selbstbestimmt leben möchten. Und
                                                                            dann ist da noch das Großthema Photo-
                                                                            voltaik. „Hier haben wir uns in unserer
                                                                            Region schon einen Namen gemacht“,
                                                                            erzählt der Meister. Der Bedarf für so-
                                                                            genannte PV-Anlagen sei groß und er
                                                                            wachse ständig.

40         Z D H J A H R B U C H 2 02 2
           VISIONEN TEILEN
„Wir sind eben ein Betrieb, der neue
Immer mehr Menschen wünschten sich sowohl eine in-          Technologien mit Neugier und einem
selfähige, also autarke Stromversorgung bei gleichzei-              offenen Blick angeht.“
tiger Reduzierung der Energiekosten. Für das Aufmaß
und den Kostenvoranschlag hat Matthias Thomas eine
Profidrohne angeschafft. „Bei schnellen Anfragen kön-       Vor gerade einmal zwei Jahren ist Matthias Thomas ge-
nen wir innerhalb von 24 Stunden die Planung und das        startet. Man spürt, wie zufrieden ihn sein Handwerk
Angebot abliefern“, sagt er stolz. Ursprünglich hat ihn     macht, wie positiv er in die Zukunft blickt, wie die Ideen
die Drohne als Hobby interessiert, mittlerweile kommt       nur so sprudeln. Gleich muss er los zu den Kunden, der
sie auch zum Einsatz, um bestehende Anlagen mit ei-         elektrisch betriebene Monteurbus wartet im Hof. Wo
ner Wärmebildkamera zu inspizieren und Fehler festzu-       sieht sich einer wie er in, sagen wir, zehn Jahren? Er
stellen. „Das ist ein Service, den unsere Kundinnen und     muss gar nicht lange über eine Antwort nachdenken.
Kunden gerne wahrnehmen.“                                   Er wünsche sich, sagt er fröhlich, dass die Firma dann
                                                            in einem großen schönen Gebäude angesiedelt ist, mit
Im Frühsommer des letzten Jahres hat Matthias Tho-          Halle und Büro. Dass dann alle elektrisch fahren. „Und
mas wieder einmal um die Ecke gedacht und mit der           dass wir ein wichtiger Player in der Region sind, wenn
Drohne die Jägerschaft in seiner Heimat unterstützt. Weil   es um die Energiewende geht und um all die neuen
bei der Mahd immer wieder Rehkitze angemäht wer-            Technologien, die noch auf uns zukommen.“
den, hat er frühmorgens seine Drohne losgeschickt und
mit der Wärmebildkamera nach ihnen gesucht. 20 Tiere
konnten mit seiner und der Hilfe von zwei Jägern an
nur einem Tag gerettet werden. „Da stehe ich um vier
auf und fliege über die Felder. Das hilft allen und es
macht mich froh“, erzählt Matthias Thomas mit leuch-
tenden Augen. Klein wie Hasen seien die, eingehüllt in
einen Kokon aus Gras – „die kannst du nicht sehen.“ Mit
der Drohne ging es eben doch.

                                                            WWW.THOMAS-ELEKTRO.COM

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