Journal of Ethics in Antiquity and Christianity 2 (2020)

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Journal of Ethics in
Antiquity and
Christianity
2 (2020)

                 Herausgegeben vom Forschungsbereich
                 "Ethik in Antike und Christentum"

                 Raphaela Meyer zu Hörste-Bührer
                 Dorothea Erbele-Küster
                 Esther Kobel
ISSN 2627-6062   Michael Roth
                 Ulrich Volp
                 Ruben Zimmermann
Journal of Ethics in Antiquity and Christianity                                                                                                 Inhaltsverzeichnis
JEAC 2 (2020)

Inhalt: Emotionen und Ethik
Content: Emotions and Ethics

Editorial: Ethik nach Gefühl? .......................................................................................................................... 3
Editorial: Ethics according to Feelings? .......................................................................................................... 4
Artikel

Zorn und Sanftmut (Martin Fritz) .................................................................................................................... 6
Emotionen als formative Elemente neutestamentlicher Ethik am Beispiel des Paulus (Oda Wischmeyer).. 25
A Comparative Study of Anger in Antiquity and Christian Thought (Susan Wessel) .................................. 40
“Fear (not)!” – Emotion and Ethics in Deuteronomy (Sara Kipfer / Jacob L. Wright) ................................. 50

Dialog
Emotionen als Medium ethischer Erkenntnis (Christoph Ammann) ............................................................. 64
Ethische Bildung in und mit der Natan-David-Erzählung (2 Sam 12) (Friederike Schücking-Jungblut) ..... 67
Miszellen

Das vergessene ethische Stichwort: Eifer (Thiemo Breyer) .......................................................................... 72
Virtue Before Knowledge: Docilis as Vice in Jerome (Douglas Estes) ........................................................ 78
Rezensionen

Review of: Susan Wessel, On Compassion, Healing, Suffering, and the Purpose of the Emotional Life
(Reading Augustine series) (Adam Trettel) ................................................................................................... 84
Review of: Martha C. Nussbaum, The Monarchy of Fear. A Philosopher looks at our Political Crisis
(Tanja Smailus).............................................................................................................................................. 86
Rezension zu: Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie (Ulrike Peisker) ..................................... 88
Rezension von: Irmtraud Fischer u.a. (Hg.), Mitleid und Mitleiden (Jonathan Lachmann).......................... 90

Impressum ..................................................................................................................................................... 93

                                                                                     2
Journal of Ethics in Antiquity and Christianity                                                                            Editorial
JEAC 2 (2020)                                                                                                              deutsch

Editorial: Ethik nach Gefühl?
Ulrich Volp, Raphaela J. Meyer zu Hörste-Bührer
Esther Kobel, Dorothea Erbele-Küster, Michael Roth, Ruben Zimmermann
Forschungsbereich „Ethik in Antike und Christentum (e/αc)“
Evangelisch-Theologische Fakultät
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Deutschland

DOI 10.25784/jeac.v2i0.286

   Liebe Leserin, lieber Leser                                        drückt werden. Menschen können allerdings auch von ihren
„Although many of us may think of ourselves as thinking               Emotionen „überwältigt“ werden und „im Überschwang“
creatures that feel, biologically we are feeling creatures that       handeln. Solche Reaktionen sind oft individuell und damit
think.“ So schreibt Jill Bolte Taylor in dem Buch My Stroke           schwer verallgemeinerbar. So schwierig die Emotionen mit
of Insight. Gefühle sind den Menschen mit ihren Körpern               der vernünftigen Urteilsbildung zu vermitteln zu sein schei-
immer schon gegeben und lösen unmittelbar physiologische              nen, so wenig kann aber das ethische Nachdenken stattfin-
Prozesse aus: Freude setzt sich in Tanz oder Freudensprünge           den, ohne die Emotionen in den Blick zu nehmen.
um, Trauer lässt Tränen fließen, Zorn schüttelt den ganzen               Genau dies will diese Ausgabe unserer Zeitschrift „Jour-
Körper. Stehen sie damit im Gegensatz zur ethischen Refle-            nal of Ethics in Antiquity and Christianity“ unternehmen. Es
xion, weil sie möglicherweise Handeln auslösen können,                sollen dabei biblische Auffassungen von Emotionen genauso
ohne dass dies zunächst kritisch durchdacht wurde? Schon              thematisiert werden wie die antike Philosophie und Theolo-
der antike christliche Denker Clemens von Alexandrien ent-            gie, die sich ausführlich mit menschlichen Leidenschaften
warf in diesem Sinne das Ideal des vollkommenen Christen,             beschäftigte. Denn die Antike ist selbst bereits Entdeckungs-
den er „frei von jeder seelischen Erregung denken“ wollte.            raum des ethischen Nachdenkens, weil hier differenzierte
„Denn die [christliche] Erkenntnis bewirkt Selbstbeherr-              Überlegungen zum Verhältnis von Emotion und Ethik und
schung, die Selbstbeherrschung aber eine Haltung der Lei-             anderen Formen der reflektierten menschlichen Interaktion
denschaftslosigkeit: … die Frucht der vollständigen Ausrot-           angestellt wurden. Die folgende Ausgabe gibt nun dazu einen
tung der Begierden … sowie auch der guten Regungen“                   Einblick in verschiedene Fachperspektiven und Positionen
(Stromata 6,9,74). Oder verhält es sich vielleicht ganz an-           (die nicht unbedingt denen des Herausgeberkreises entspre-
ders? Haben nicht die „guten Regungen“ ihren eigenen Platz            chen müssen). Einige Beiträge nehmen dabei etwa die Emo-
und ihre Aufgabe gerade in der ethischen Reflexion? Sind sie          tionen Sanftmut, Zorn, Eifer, Ärger und Furcht genauer in
nicht unverzichtbarer Teil der für ethische Entscheidungen            den Blick. Die Herausgeberinnen und Herausgeber hoffen,
grundlegenden Wahrnehmung von Situationen? Kann oder                  dass die Lektüre positive Reflexionen aber vielleicht auch
muss sich die Ethik aber deswegen „nach Gefühl“ ausrichten,           „gute Regungen“ auslösen möge. Sollte dies in Impulsen
oder kommt sie lediglich in der menschlichen Reaktion erst            zum Weiterdenken münden, so ist es dem Herausgeberkreis
„nach“ der Emotion? Menschliche Entscheidungen und da-                jedenfalls ein Vergnügen, Beitragsangebote in allen Katego-
mit auch ethische Entscheidungen stehen jedenfalls immer in           rien der Zeitschrift (Artikel / Miszellen / Dialog / Thesenrei-
einem Verhältnis zur emotionalen Situation der Entscheiden-           hen / Rezensionen) entgegen zu nehmen.
den. Sie können von ihnen beeinflusst oder gar motiviert,
aber auch zum Zwecke der Entscheidung bewusst unter-                    Wir wünschen viel Freude beim Lesen!

                                                                  3
Journal of Ethics in Antiquity and Christianity                                                                              Editorial
JEAC 2 (2020)                                                                                                                 english

Editorial: Ethics according to Feelings?
Ulrich Volp, Raphaela J. Meyer zu Hörste-Bührer
Esther Kobel, Dorothea Erbele-Küster, Michael Roth, Ruben Zimmermann
Research Centre “Ethics in Antiquity and Christianity (e/αc)”
Evangelisch-Theologische Fakultät
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Germany

DOI 10.25784/jeac.v2i0.287

   Dear readers,                                                       tions and act “in excitement.” Such reactions are often indi-
“Although many of us may think of ourselves as thinking                vidual and therefore difficult to generalize. As difficult as it
creatures that feel, biologically we are feeling creatures that        seems to convey emotions with reasonable judgement, ethi-
think,” writes Jill Bolte Taylor in the book My Stroke of              cal reflection cannot take place without a consideration of the
Insight. As bodily creatures, feelings have always accompa-            emotions.
nied people and directly trigger physiological processes: Joy             This is precisely what this issue of the “Journal of Ethics
often expresses itself in dance or leaps of joy, grief can cause       in Antiquity and Christianity” investigates. Biblical concep-
tears to flow, anger sometimes shake the whole body. Do                tions of emotions will be discussed as well as ancient philos-
these emotions stand in contrast to ethical reflection, since          ophy and theology dealing extensively with human passions.
they often trigger action devoid of initial, critical thought?         The ancient world makes room for reflections about ethics,
The ancient Christian thinker Clement of Alexandria in this            since here various considerations are made about the rela-
sense sketched the ideal of the perfect Christian, whom he             tionship between emotion, ethics, and other forms of human
considered “free from all emotions of the soul.” “Because              interaction. The following issue offers insights on this topic
[Christian] knowledge brings about self-control, and self-             from various disciplines and positions (which must not nec-
control brings about an attitude of absence of emotion: ... the        essarily align with the views of the editors). Some contribu-
fruit of the complete eradication of desires ... as well as of         tions take a closer look at emotions such as gentleness,
good affections” (Stromata 6.9.74). Or do they not perhaps             wrath, zeal, anger, and fear. The editors hope that the reading
behave quite differently? Do not the “good affections” have            may provoke positive reflections, and perhaps also “good
their own place and their own task precisely in ethical reflec-        impressions.” Should this provide stimulus for further
tion? Are they not an indispensable part of the perception of          thought, it would be a pleasure for the editors to receive
situations that are fundamental for ethical decisions? Can or          offers for contributions in all categories of the journal (arti-
must ethics therefore be oriented “according to feeling,” or           cles / miscellaneous / dialogue / theses / reviews).
does it come “after” the human response of emotion? In any
case, human decisions and thus ethical decisions are always              We wish you an enjoyable read!
related to the emotional situation of the one making the deci-
sion. They can be influenced or even motivated by them, but                                          (Translated by Andrew Bowden)
also consciously suppressed for the purpose of the decision.
People, however, can also be “overwhelmed” by their emo-

                                                                   4
Artikel

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Journal of Ethics in Antiquity and Christianity                                                                      Martin Fritz
JEAC 2 (2020)                                                                                                            Artikel

Zorn und Sanftmut
Erinnerung an ein exemplarisches Stück klassischer Tugendethik

Martin Fritz
E-mail: martin.fritz@augustana.de

DOI 10.25784/jeac.v2i0.288

Abstract
The „emotional turn“ that has taken place in philosophy and cultural studies since the 1980s has inspired a renaissance of
inquiry around the role of feeling in philosophical ethics. This development is partly intertwined with the renaissance of
study concerning the ethics of virtue. Both of these developments, however, have also been influenced by important contri-
butions from Classical and Enlightenment philosophy. While focusing on one specific issue in the psychology of morals,
namely the problem of how to negotiate the affect of anger, this essay demonstrates the broader contemporary relevance of
Classical ethics and its Enlightenment reception. The focus is on the extensive reflections on the virtue of „Sanftmut“ (gen-
tleness) in the largely forgotten ethical works of some of the most important representatives of German Enlightenment:
Christian Wolff, Alexander Gottlieb Baumgarten, and Georg Friedrich Meier.

1. Die Renaissance der Gefühle in der Ethik1                         Verbund mit dem radikalen Fichte’schen Pflichts- und Frei-
                                                                     heitspathos, der Hegel’schen Fokussierung sittlicher Institu-
   Es ist so trivial wie unbestreitbar, dass soziales Leben in       tionen und dem Schleiermacher’schen Votum für eine primär
hohem Maße von Gefühlen bestimmt wird. Liebe und Hass,               güter- und kulturethisch angelegte Sittenlehre, die Besinnung
Achtung und Verachtung, Bewunderung und Neid, Abscheu                auf die Dimension des Emotionalen innerhalb der Ethik weit-
und Mitleid, Stolz und Scham, Kränkung und Zorn – der                gehend an den Rand zu drängen.
generelle und der momentane Charakter zwischenmenschli-                 Am Rande des ethischen Diskurses immerhin blieb die
cher Beziehungen wird durch ihre jeweilige emotionale Tö-            Frage nach der moralischen Bedeutung und der rechten Ein-
nung maßgeblich geprägt, und als formende und treibende              stellung zu den Emotionen und Leidenschaften durchweg
Kräfte des Handelns sind derartige Gefühle ohne Zweifel              lebendig. Eine gänzliche „Gefühlsvergessenheit“ wurde
auch hochgradig relevant für die konkrete soziale Praxis.            schon durch die nachhaltige Präsenz der antiken Klassiker
   Weniger trivial ist die scheinbar naheliegende Schlussfol-        innerhalb der europäischen Bildung verhindert. Denn in der
gerung, die soziale Bedeutsamkeit von Gefühlen sei auch in           Philosophie der „Alten“ ist die ambivalente Macht der Ge-
der wissenschaftlichen Ethik, als der systematischen Refle-          fühle im Leben der Einzelnen wie der Gemeinschaft ein
xion der Formen und Prinzipien rechten (Zusammen-)Lebens             schlechthin zentrales Thema – man denke nur an den epiku-
und guten Handelns, eingehend zu bedenken. Denn insbe-               reischen Lobpreis der Lust oder die stoische Verwerfung
sondere im Wirkungsbereich der deutschen Klassiker der               jedweder Leidenschaft, an die Stellung der affektiven See-
Ethik hat jene Schlussfolgerung ihre vermeintliche Selbst-           lenschichten im platonischen Staat oder die Fassung der
verständlichkeit eingebüßt. So hallte das Kant’sche Verdikt          aristotelischen Charaktertugenden als „Vortrefflichkeiten“ im
über eine gefühlstheoretische Begründung der Ethik lange als         Affektumgang. Aufgrund der beständigen Klassikerpflege
Verdikt über jede Art von „Gefühlsmoral“ nach, um, im                konnten die besagten Fragestellungen niemals ganz aus dem
                                                                     Blick der ethischen Verständigung über das gute und richtige
1
   Diese Publikation erscheint im Kontext des vom LOEWE-Pro-         Leben geraten. Die griechische und römische Antike blieb
gramm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst         für die Moralsysteme der Moderne ein Faktor der Irritation –
geförderten Forschungsschwerpunkts „Religiöse Positionierung:        und der Neuinspiration.
Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und          Tatsächlich hat die Erinnerung an die Antike auch bei der
islamischen Kontexten“ an der Goethe-Universität Frankfurt und       jüngsten Renaissance der Gefühle innerhalb der Ethik eine
der Justus-Liebig-Universität Gießen.

                                                                 6
Journal of Ethics in Antiquity and Christianity                                                                           Martin Fritz
JEAC 2 (2020)                                                                                                                 Artikel
beträchtliche Rolle gespielt. Ihren Ausgang nahm diese                 nitiven Werturteilen, das sowohl die spezifische Rationalität
Renaissance in der angelsächsischen Welt, in einer Sphäre, in          als auch die besondere motivationale Qualität des Emotio-
der die Philosophie weitaus ungebrochener als die durch                nalen zur Geltung bringt. Beide Aspekte zielen darauf ab, die
Kant und den Idealismus geprägte deutsche Tradition aus den            um ihrer irrationalen Gewalt willen notorisch diskreditierten
Bezügen zur europäischen Aufklärung lebt. Insofern aber das            Gefühle ethisch zu rehabilitieren und in ihrer Unverzichtbar-
Denken der Aufklärung wiederum fundamental vom antiken                 keit für die Realisierung des Guten zu würdigen. Besondere
Erbe imprägniert ist, machte sich bei der Wiederentdeckung             Aufmerksamkeit widmet Nussbaum dabei zwei verwandten
der Gefühle neben der unmittelbaren also auch eine mittel-             Gefühlen, denen sie für die Förderung des Gemeinwohls eine
bare Rezeption der antiken Ethik geltend, vermittelt vorwie-           Schlüsselbedeutung zuschreibt: dem Mitleid bzw. Mitgefühl
gend über die britische und französische Aufklärungsphilo-             (compassion) und der Liebe. Was sich hier schon andeutet,
sophie.                                                                wird in dem dezidiert sozialethischen und politikphilosophi-
   Diese mittelbare Rezeption dominiert bei dem Autor, von             schen Nachfolgewerk über die Politischen Emotionen dann
dem der wohl prominenteste Impuls für die Gefühlsrenais-               breit ausgeführt. Insbesondere das Mitgefühl rangiert dort als
sance in der Ethik ausging: bei John Rawls. So stellt er in            essentielle Quelle altruistischer Einstellungen und Handlun-
seinem Opus magnum zur politischen Philosophie, A Theory               gen und mithin als der emotionale Schlüssel zur Schaffung
of Justice (1971), in deutlichem Anklang an die schottische            einer gerechten Gesellschaft im Rawls’schen Sinne.
Moral-Sense-Philosophie heraus, dass in einer Gesellschaft                Nussbaums emphatisches Plädoyer für die ethische und
mit anspruchsvollen Grundsätzen von Gerechtigkeit auch ein             politische Berücksichtigung der Emotionen, nimmt, wie
entsprechendes „Gerechtigkeitsgefühl“2 und andere „morali-             gezeigt, Anstöße der Rawls’schen Politikphilosophie auf. Es
sche Gefühle“3 kultiviert werden müssen, vor allem „Ge-                steht aber auch in dem größeren Zusammenhang einer allge-
meinschaftsgefühle“4 wie Liebe und Freundschaft sowie                  meinen Hinwendung zu den Gefühlen in der Philosophie und
Scham- und Schuldgefühle. In seinem Spätwerk Political                 den Kulturwissenschaften, die etwa seit den 1980er-Jahren
Liberalism (1993) führt Rawls diesen Ansatz noch einmal                zu beobachten ist. Die genannten Werke Nussbaums nehmen
weiter und skizziert Grundlinien einer philosophischen „Mo-            innerhalb dieses „emotional turn“ einen herausgehobenen
ralpsychologie der Person“5 als notwendiges Fundament                  Platz ein, sei es was die kognitivistische Emotionskonzep-
politischer Philosophie.                                               tion, die ethische Ausrichtung oder die geistesgeschichtliche
   Diesen Faden hat die Rawls-Schülerin Martha C. Nuss-                Verwurzelung in der Antike angeht. Gleichwohl sind diese
baum aufgenommen und zu einer programmatischen Philo-                  Charakteristika keinesfalls Alleinstellungsmerkmale der
sophie „Politischer Emotionen“ ausgesponnen. 6 Nussbaum,               Nussbaum’schen Arbeiten, sondern – abgesehen von der ent-
von Hause aus Altphilologin, schöpft dabei nun nicht mehr              schieden politikphilosophischen Zuspitzung – eher exempla-
allein aus der Aufklärung (Adam Smith, Jean-Jacques                    risch für gewisse Trends innerhalb der neueren Emotions-
Rousseau), sondern auch dezidiert aus der Psychologie und              philosophie.8
Ethik des Altertums. Dies gilt ebenso für die Programm-                   Mit diesen Tendenzen konvergiert auch das Gefühlsden-
schrift Political Emotions. Why Love Matters for Justice               ken des amerikanischen Philosophen Robert C. Roberts, das
(2013) wie für das vorangehende Grundlagenwerk zur Emo-                in dieser einleitenden Sondierung des ethischen Diskurses
tionstheorie Upheavals of Thought. The Intelligence of Emo-            dennoch gesonderte Beachtung verdient. Auch Roberts
tions (2001), das bereits unübersehbar auf eine Ethik öffent-          schreibt den Emotionen eine kognitiv-intentionale Dimen-
lich wirksamer Gefühle ausgerichtet ist. 7 In stetigem Rekurs          sion ein, indem er sie als „concern based construals“ be-
auf die antiken Affektdebatten und die einschlägigen Auto-             stimmt: als intuitive Auffassungen (construals) von Situatio-
ren (Plato, Aristoteles, Chrysipp, Seneca u.a.) sowie in ein-          nen unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für das Wohl
gehender Auseinandersetzung mit aktuellen Theorien ent-                und Wehe, die Anliegen und Sorgen (concern) des Gefühls-
wirft Nussbaum darin ein Konzept von Emotionen als kog-                subjekts.9 Auch Roberts’ Interesse an den Gefühlen ist von
                                                                       moralphilosophischen Motiven geleitet, wie schon die Titel
2                                                                      seiner einschlägigen Werke unschwer erkennen lassen: Emo-
  RAWLS 1975, S. 519.
3
  RAWLS 1975, S. 522 u.ö.
4                                                                      8
  RAWLS 1975, S. 533.                                                    Vgl. dazu die Überblicksdarstellungen DÖRING 2002; DEMMER-
5
  RAWLS 1998, S. 166.                                                  LING/LANDWEER 2007, S. 1–34; DÖRING 2013; ferner    GOLDIE 2010.
6
  Bekannt geworden ist Nussbaum in erster Linie mit ihrem „capa-       9
                                                                         Im Gegensatz zu Nussbaum vermeidet Roberts in seiner Emoti-
bility approach“ in der politischen Ethik. Siehe dazu NUSSBAUM         onsdefinition aus verschiedenen Gründen den Begriff des ‚Urteils‘
2015; ferner z.B. ÖZMEN 2013, S. 90–99.                                (judgment), unter anderem weil ‚Urteilen‘ im normalen Sprachge-
7
  Vgl. zum Folgenden CATES 2003; FRITZ 2018; FRITZ 2019. Vorbe-        brauch Akte höherer Reflexivität bezeichnet, womit die spezifische
reitet sind Nussbaums systematische Werke zur Emotionsphiloso-         Unmittelbarkeit und Vorreflexivität der Emotionen gerade nicht
phie durch die historischen Arbeiten zum antiken Emotionsdenken;       getroffen wird. Siehe dazu die breite Auseinandersetzung mit Nuss-
siehe vor allem NUSSBAUM 2018 (11994).                                 baum und anderen ROBERTS 2003, S. 83–106.

                                                                   7
Journal of Ethics in Antiquity and Christianity                                                                           Martin Fritz
JEAC 2 (2020)                                                                                                                 Artikel
tions. An Essay in Aid of Moral Psychology (2003); Emoti-              Angeregt vom Beispiel Roberts’ wollen sie an diesem
ons in the Moral Life (2013). Und auch Roberts entwickelt              exemplarischen psychologisch-ethischen Komplex den Kon-
seine Gedanken in stetem Gespräch nicht nur mit der schotti-           nex von Gefühl und Tugend beleuchten, um damit eine terra
schen Aufklärung (Adam Smith, David Hume), sondern vor                 oblita der Ethik neu zu erkunden. Zwar ist der Zorn – ein
allem mit der Antike.                                                  hochprominentes Thema schon der antiken Psychologie und
   Gerade an seinen Altertumsbezügen lässt sich indes auch             Tugendethik – in der neueren emotionstheoretischen Litera-
ein markantes Spezifikum von Roberts’ Zugang zum Ge-                   tur verschiedentlich traktiert worden. 13 Ethische Beiträge zu
fühlssphänomen greifen. Denn anders als Nussbaum, die                  dem Tugendbegriff, der jenem Affekt in der Tradition zuge-
trotz aller Aristoteles-Referenzen in ihrer Emotionsphiloso-           ordnet war, sucht man hingegen vergebens – die Tugend der
phie eine gewisse Distanz zum erzaristotelischen Begriff der           ‚Sanftmut‘ ist aus dem Ethikdiskurs so gut wie verschwun-
‚Tugend‘ hält, stehen Roberts’ emotionstheoretische Bemü-              den.14 Führt man sich die zersetzende, „asoziale“ Wirkung,
hungen von vornherein in einem tugendethischen Rahmen:                 die gerade der Zorn in seinen heftigen, aber auch in den
Sie suchen den inneren Zusammenhang von Gefühlen und                   weniger heftigen Formen, dem flüchtigen Ärger oder dem
moralischen Haltungen oder Charakterzügen zu erhellen.                 bohrenden Unwillen über das Verhalten näherer und fernerer
Freilich ist dieses Leitinteresse, auch wenn es sich von der           Mitmenschen, innerhalb unserer Beziehungen entfalten kann,
Nikomachischen Ethik her nachgerade aufdrängt, wiederum                dann erweist sich das Problem, auf das sich der fragliche
nicht allein das Ergebnis selbstvergessener Klassikerlektüre.          Tugendbegriff bezieht, als ebenso alltagsbekannt wie -re-
Wie im Falle der Neuzuwendung zum Gefühlsthema ist of-                 levant. Umso erstaunlicher und bedenklicher erscheint die
fenkundig auch hier die Antikerezeption mit einer Entwick-             Missachtung der Sanftmut in der Ethik. Der tugendhafte
lung in der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts ver-            Umgang mit dem sozialdestruktiven Gefühl par excellence
woben, eben mit der allgemeinen Renaissance der Tu-                    verdient mehr Aufmerksamkeit.15
gendethik. Diese „Wiedergeburt“, die mit dem berühmten                    Um die Tugend der Sanftmut wieder in Erinnerung zu ru-
Aufsatz von Elizabeth Anscombe Modern Moral Philosophy                 fen, setzt die folgende Untersuchung nach dem Muster der
(1958) einsetzte und mit dem Erfolgsbuch von Alasdair Mac-             vorgestellten Emotionsphilosophie im Altertum ein und
Intyre After Virtue (1981) vollends zum Durchbruch kam,                skizziert die ethische Problematisierung des Zornes sowie die
verbindet sich bei Roberts mit den Einflüssen des emotional
turn. Das Resultat ist sein Projekt einer emotionstheoreti-
                                                                       unter anderem: aus dem Bereich der Philosophie DEMMERLING
schen Fundierung der Tugendethik.
                                                                       2004, SCHLOSSBERGER 2009, SEEL 2011, BREYER 2015, LOTTER
   Dabei ist hinzuzufügen, dass es Roberts nicht vornehm-              2016; aus dem Bereich der Theologie FISCHER 2002, HÖHN 2014,
lich, um eine allgemeine ethische Theorie der fraglichen               KORFF/VOGT 2016, HUIZING 2016.
Zusammenhänge zu tun ist. Zu lange habe sich die neue                  13
                                                                           Siehe z.B. ROBERTS 2003, passim; ROBERTS 2013, S. 29–36;
Tugendethik, so Roberts, auf der Ebene abstrakter Moralthe-            DEMMERLING/LANDWEER 2007, S. 287–310; NUSSBAUM 2018, S.
orie bewegt: „To me it looks quite ironic how little of the            89–96 (Aristoteles). 239–279 (Epikur/Lukrez). 402–438 (Seneca).
                                                                       14
writing on virtue ethics in recent decades contains sustained              Ein Eintrag zum Lemma fehlt z.B. in den Lexika HWPh, TRE
reflection on particular virtues.“10 Demgegenüber hebt seine           und RGG4. Die Einträge in RGG1 (Otto Baumgarten; noch einmal
eigene Arbeit auf eine ausgeführte Darstellung konkreter               abgedruckt in RGG2) und RGG3 (Roger Mehl) sind ganz auf den
Tugenden ab, die in den genannten Büchern vorbereitet                  biblischen Befund beschränkt und bieten keinerlei Bezüge zur
wird.11 Eine derartige Tugendlehre gilt Roberts als zentraler          philosophischen Tugendethik.
                                                                       15
                                                                          Dieser Einsicht folgend hat Martha Nussbaum 2016 eine Mono-
Bestandteil einer deskriptiven Ethik, die nicht der Normen-
                                                                       graphie über „Zorn und Vergebung“ vorgelegt (deutsch NUSSBAUM
begründung, sondern der begrifflichen Durchklärung einer
                                                                       2017). Darin findet auch das „sanfte Gemüt“ (gentle temper) mehr-
gegebenen Moraltradition und ihres Ethos dient, um auf                 fach Erwähnung, ohne dass jedoch die Sanftmut insgesamt als die
diese Weise moralische Weisheit zu fördern und gelebtes                Schlüsseltugend im Umgang mit dem Zorn gewürdigt wird. Ausge-
moralisches Leben zu orientieren.                                      hend von ihrer kognitivistischen Emotionskonzeption und der dar-
   Mit diesen Schlaglichtern auf Entwicklungen der neueren             aus abgeleiteten Überzeugung von der kognitiven Umstrukturier-
Ethikgeschichte ist das Feld markiert, in dem die folgenden            barkeit des emotionalen Erlebens empfiehlt Nussbaum die Strategie
Ausführungen zu „Zorn und Sanftmut“ angesiedelt sind. 12               einer Überwindung des Zorns durch vernünftige Reflexion auf den
                                                                       illusionären Kern und die destruktiven Folgen seiner irrationalen
10
                                                                       Vergeltungslogik sowie durch die Überwindung „narzisstischer“
   ROBERTS 2013, S. 18.                                                Selbstbezogenheit. Es wäre reizvoll, Nussbaums Zornbewälti-
11
   Ein Seitenzweig dieser Arbeit und ein Vorgeschmack der noch         gungskonzeption im Einzelnen mit den im Folgenden dargelegten
ausstehenden Tugendlehre ist Roberts’ Buch Spiritual Emotions. A       Konzeptionen zu vergleichen und über sich von daher womöglich
Psychology of Christian Virtues (ROBERTS 2007).                        aufdrängende Korrekturen nachzudenken. Die augenfälligste Diffe-
12
   Die Resonanzen der emotions- und tugendtheoretischen Renais-        renz zwischen Nussbaum und den unten im Fokus stehenden deut-
sancen in der deutschen Ethik mussten im Rahmen dieser Einlei-         schen Aufklärern ist sicher in der Nähe der amerikanischen Philo-
tung ganz abgeblendet werden. Zu nennen wären aus jüngerer Zeit        sophin zur stoischen Generalabwertung des Zornes zu erblicken.

                                                                   8
Journal of Ethics in Antiquity and Christianity                                                                                      Martin Fritz
JEAC 2 (2020)                                                                                                                            Artikel
alternativen Bewältigungsstrategien der antiken Psychologie                 hat, bleibt das Zornsubjekt allen rationalen Erwägungen
und Ethik. Daraufhin verfolgt sie die Rezeption und Fortfüh-                gegenüber verschlossen und ignoriert sowohl die eigenen
rung der antiken Konzeptionen in der Aufklärung. Dabei                      elementaren Interessen als auch die objektiven Notwendig-
wird nicht die britische, sondern die deutsche, genauer: die                keiten der Umstände (necessitudo) oder des moralisch Rech-
hallische Aufklärung im Blickpunkt stehen. Denn gerade                      ten (decorum).18 Es ist folglich geradezu eine Frage der
dieser Zweig der europäischen Geistesbewegung hat auf dem                   Selbsterhaltung, diese „kurzte Raserei“19 schnellstmöglich
Feld der Sitten- und Tugendlehre große systematische Leis-                  besänftigen zu können oder, besser noch, sie gar nicht erst
tungen erbracht. Sie wurden im Zuge der Neubegründung der                   entstehen zu lassen, weil die destruktive Energie des Zorn-
Ethik durch Kant und den nachkantischen Idealismus weithin                  ausbruchs nicht nur ihr eigentliches Ziel, den anderen, son-
aus dem ethikgeschichtlichen Gedächtnis gelöscht. 16 Sie sind               dern auch den Zürnenden selbst ins „Verderben“ zu stürzen
es aber wert, wiederentdeckt zu werden.                                     droht.
                                                                               Zieht man diese Beschreibung des Stoikers Seneca in Be-
2. Die antike Grundkonstellation in der ethischen                           tracht, die den Zorn als Paradefall des affektiven Selbstver-
Behandlung des Zornes                                                       lusts zeichnet, so wird auch die stoische Generallinie im
                                                                            Umgang mit den Affekten verständlich: Um derart „ab-
   „Du hast, werther Novatus, von mir verlanget, daß ich dir                scheulichen“ Ausbrüchen unkontrollierter Zerstörungsener-
schreiben sollte, wie man den Zorn stillen könnte. Es scheint,              gie zu wehren, deren Anlässe kontingent und mithin eben-
als ob du dich nicht ohne Ursache, sonderlich vor dieser                    falls unkontrollierbar sind, soll sich die moralische Person
Gemüths-Bewegung fürchtest, als die vor allen andern rasend                 möglichst der affektiven Erregbarkeit generell begeben und
und abscheulich ist. Alle andere Gemüths-Bewegungen ha-                     den Zustand der „Ataraxie“ oder „Apathie“ anstreben. Sie
ben etwas stilles und gelassenes bey sich. Diese besteht aus                kann dies erreichen, so wird unter der Voraussetzung einer
lauter Hefftigkeit und den ungestümsten Schmerzen. Sie                      werturteilstheoretischen Affektpsychologie gelehrt, 20 indem
brennt vor unmenschlichen [!] Verlangen nach Waffen, Blut,                  sie jegliche Überbewertung von Gütern und Übeln vermei-
und Lebens-Straffen. Ja ein solcher Mensch vergißt seiner                   det, welche die Möglichkeitsbedingung solch maßlosen Auf-
selbst, indem er andern schaden will: Er rennt selbst in den                loderns von Begehren oder Verabscheuen darstellt, das jeden
Degen, er sehnet sich nach einer solchen Rache, die den                     Affekt kennzeichnet. Ein Gemüt, das, vermöge der Gering-
Rächer zugleich mit sich in das Verderben reißt.“17                         schätzung sämtlicher irdischer Güter und der damit erreich-
   Das Proömium von Senecas De ira, hier in einer deut-                     ten Austilgung sämtlicher Affekte, angesichts einer Schädi-
schen Übersetzung aus dem Jahre 1733, zeigt wie in einem                    gung durch andere von vornherein ruhig, ungerührt und sanft
Brennpunkt, warum der Zorn in den psychologisch-ethischen                   bliebe, anstatt in zerstörerische Wut zu geraten, wäre nach
Reflexionen der Antike einen so wichtigen Platz einnimmt.                   stoischer Lehre im Hinblick auf die Zornesgefahr die ideale
Und sie lassen ahnen, warum sich die antike Ethik überhaupt                 ethische Verfassung.
so entschieden der Affekttherapie oder -diätetik verschrieben                  Diese radikale stoische Empfehlung für den Umgang mit
hat. Der Zorn wird als die gefährlichste und fürchterlichste                dem Zorn als dem destruktiven „Erzaffekt“ war in der anti-
„Gemütsbewegung“ (affectus) eingestuft, weil er sämtliche                   ken Ethik nun freilich keineswegs unumstritten. Dies ist auch
anderen Affekte an eruptiver Gewalt übertrifft, sodass er                   Senecas Traktat Über den Zorn zu entnehmen, der in Teilen
beim betroffenen Subjekt für die Dauer der irrationalen Auf-                selbst der Auseinandersetzung mit einer alternativen Position
wallung einen völligen Kontrollverlust herbeiführen kann.                   gewidmet ist, nämlich der – unter stoischen Voraussetzungen
Hingerissen von der Gier nach Rache, die ein anderer durch                  schlechterdings abwegigen – Behauptung der Nützlichkeit
irgendeine Schadenshandlung ausgelöst und auf sich gezogen                  des Zornes. „Er erhebt die Gemüter und erweckt dieselben“,
                                                                            so werde von den fraglichen Philosophen vorgebracht. „Ja
16                                                                          die Tapfferkeit würde keine herrliche That in [!] Kriege aus-
   Vgl. JODL 1930; RENDTORFF 1982; KOPPER 1983; aber immerhin
PIEPER 1992; ROHLS 1999, S. 388f. Paradigmatisch ist die Bewer-             führen können, wenn sie nicht durch diese Flamme angefeu-
tung von LITT 1931, S. 83, die Philosophie Christian Wolffs habe            ret würde, wenn nicht dieser Sporn kühne Leute zu denen
den „Grundriß“ für die „wohlmeinende, an Worten und Gefühlen,               gefährlichsten Unternehmungen antriebe und ermunterte“,
aber nicht an Gedanken reiche Betriebsamkeit“ der deutschen Auf-            referiert Seneca, um zu resümieren: „Es halten dannenhero
klärung geliefert.                                                          einige vor [lies: für; M.F.] das Beste den Zorn zu mäßigen,
17
   WEISSE 1733, S. 1f. Vgl. Sen. ira 1,1,1: „Exegisti a me, Novate,
                                                                            nicht aber gäntzlich auszurotten.“21
ut scriberem quemadmodum posset ira leniri, nec immerito mihi
videris hunc praecipue affectum pertimuisse maxime ex omnibus               18
taetrum ac rabidum. Ceteris enim aliquid quieti placidique inest, hic          Sen. Ira 1,1,2.
                                                                            19
totus concitatus et in impetu est, doloris armorum, sanguinis suppli-          Sen. Ira 1,1,2 (Übers. WEISSE 1733, S. 2); lat.: „brevis insania“.
                                                                            20
ciorum minime humana furens cupiditate, dum alteri noceat sui                  Siehe dazu FRITZ 2011, S. 110–112 (dort auch weitere Literatur).
                                                                            21
neglegens, in ipsa irruens tela et ultionis secum ultorem tracturae            Sen. Ira 1,7,1 (Übers. WEISSE 1733, S. 21f); lat.: „Extollit [sc. ira]
avidus.“                                                                    animos et incitat, nec quicquam sine illa magnificum in bello forti-

                                                                        9
Journal of Ethics in Antiquity and Christianity                                                                                Martin Fritz
JEAC 2 (2020)                                                                                                                      Artikel
   Laut Seneca halten die philosophischen Antipoden, allen                  Gemütskraft kann die ethische Maxime folgerichtig nur lau-
voran Aristoteles als prominentester „Vertheidiger des Zor-                 ten, selbige „zu mäßigen, nicht aber gäntzlich auszurotten“
nes“22 (defensor irae), selbigen für einen Ansporn zu gefähr-               (temperare, non tollere).26 Es gilt den Affekt als unverzicht-
lichen Vorhaben und tapferen Taten, insbesondere im Krieg.                  bare Seelenenergie für den rechten Gebrauch zu kultivieren,
Der Zorn gilt ihnen als unverzichtbar zur Überwindung dabei                 anstatt ihn aufgrund möglichen Missbrauchs in Gänze aus
auftretender Furcht und zur Bereitstellung der nötigen Tat-                 dem Gemüt zu entfernen – ein Unterfangen, das Aristoteles
energie. Dieses Referat lässt sich allerdings nicht ganz ohne               und die Peripatetiker, überzeugt von der Natürlichkeit der
Irritation lesen; würde man in solcherlei Zusammenhängen                    Affekte, ohnehin für aussichtslos halten.
doch eher ein Lob des Mutes erwarten als eine Belobigung                        Auch was den speziellen Fall des Zornaffekts betrifft, hat
des Zornes. Schließlich ist keineswegs in allen gefährlichen                Aristoteles die nämliche Mäßigungsmaxime für das ethisch
Unternehmungen und nicht einmal unbedingt in der Raserei                    Angemessene gehalten. Denn auch im Falle des Zornes, als
der Schlacht zwingend ein Zorn auf den Gegner beteiligt.                    der Mobilisierung des thymós aufgrund einer erfahrenen Un-
Keine tapfere Tat ohne Zorn? Eine derart unplausible These                  gerechtigkeit zwecks der Durchsetzung des (eigenen oder
scheint jedenfalls nicht zu dem genauen Beobachter des                      fremden) Rechts (einschließlich der Ehre), ist das fragliche
menschlichen Lebens zu passen, als den wir Aristoteles ken-                 Glühen oder Auflodern ja grundsätzlich als positive Kraft
nen.                                                                        einzustufen, die in rechter Weise zur Anwendung zu bringen
   Die Irritation löst sich auf, sobald man die von Seneca re-              ist. Das rechte Maß aber wird im Rahmen der aristotelischen
ferierte Tradition der griechischen Psychologie und Ethik                   Mesotes-Lehre als Mitte zwischen den Extremen des Zuwe-
selbst heranzieht. Dort stößt man auf einen Schlüsselbegriff,               nig und Zuviel, zwischen einem Mangel und einem Exzess
der tatsächlich den in De ira sich abzeichnenden Doppelsinn                 hinsichtlich des Affektes bestimmt. Gesucht ist eine Haltung,
von ‚Mut‘ und ‚Zorn‘ aufweist und auf den sich das lateini-                 welche die Mitte hält zwischen dem Mangel an Zorn, der
sche ira als Referenzbegriff zu beziehen scheint: den griechi-              „Zornlosigkeit“27, und dem Übermaß an Zorn, der „Zornmü-
schen Terminus θυμός (thymós).23 Stellt man diesen Termi-                   tigkeit“28. Die Bezeichnung für diese tugendhafte „Mitte im
nus in Rechnung, dem von den homerischen Epen an eine                       Zorne“ ist πραóτης (praótēs), die ‚Milde‘ oder – so der im
psychologische Schlüsselrolle in der griechischen Literatur                 Deutschen später mehr oder weniger kanonisch gewordene
zukommt, wird die von Seneca abgelehnte aristotelische                      Tugendbegriff – ‚Sanftmut‘.
bzw. peripatetische Würdigung des „Zornes“ nachvollzieh-                        ‚Sanftmütig‘ ist, wer in verschiedenen Hinsichten beim
bar. Denn thymós steht nicht nur für den Gemütszustand des                  Zorn die Mitte hält und das Rechte trifft, wer also „nur zürnt,
Vergeltungsaffektes ‚Zorn‘, sondern allgemeiner für eine                    worüber er soll und wem er soll und ferner wie, wann und
Seelenkraft, die einem jeden zur Wahrung der Unversehrtheit                 wie lange er soll“29. Dass dieses rechte Maß im Einzelnen
von sich selbst und den Seinen unverzichtbar ist. Der Zorn ist              „nicht leicht zu bestimmen“30 ist, räumt Aristoteles ein. Ge-
nur der Spezialfall des aktuellen Aufloderns dieser „feuri-                 nerell lässt es sich überhaupt nur durch die Lage zwischen
gen“ Energie in bestimmten Verteidigungssituationen, be-                    den Extremen anzeigen. Ein Zuwenig an Zorn ist zu tadeln,
sonders in Fällen von Rechts- oder Ehrverletzungen.                         weil es als Mangel an Verteidigungsenergie wehrlos macht.
   Setzt man die angedeutete Thymos-Psychologie voraus,                     Wer sich aber, etwa im Falle der Ehrverletzung,31 nicht zur
leuchtet ohne weiteres ein, dass sich Aristoteles und seine                 Wehr setzt, der ist als „sklavischer“ Schwächling anzusehen,
Schüler gegen jede prinzipielle Affektfeindschaft verwahren                 der gegebenenfalls auch nicht die Verantwortung für die
mussten. Denn das Affektive generell aus der Seele „heraus-
zuschneiden“24 hätte jener psychologischen Grundanschau-
ung nach bedeutet, der Seele gleichsam „ihre Sehnen heraus-
                                                                            26
zuschneiden“25, um eine Formulierung Platons zu gebrau-                        Sen. Ira 1,7,1 (Übers. WEISSE 1733, S. 22).
                                                                            27
chen, und sie jeder Spannkraft zu berauben. Angesichts der                     Arist. Eth. Nic. 1126a3 (Übers. Gigon).
                                                                            28
durchaus auch von Aristoteles nicht geleugneten Gefahren                       Arist. Eth. Nic. 1125b29 (Übers. Gigon).
                                                                            29
des unkontrolliert-destruktiven Ausbruchs der affektiven                       Arist. Eth. Nic. 1125b31f (Übers. Gigon).
                                                                            30
                                                                               Arist. Eth. Nic. 1126a14f (Übers. Gigon).
                                                                            31
                                                                               Dass Zorn bei Aristoteles vor allem als Reaktion auf Ehrverlet-
tudo gerit, nisi hinc flamma subdita est et hic stimulus peragitavit
                                                                            zungen gedacht ist, zeigt seine Definition in der Rhetorik (Rhet.
misitque in pericula audaces. Optimum itaque quidam putant tem-
                                                                            1378a30–32), in der eine erfolgte „Geringschätzung“ (ὀλιγορία,
perare iram, non tollere“. Vgl. auch die analoge Auseinanderset-
                                                                            oligōría) als der Auslöser des Affekts rangiert (vgl. dazu NUSS-
zung bei Cic. off. 1,88.
22                                                                          BAUM 2017, S. 32f). Von daher erklärt sich auch die Stellung des
   Sen. Ira 3,3,1 (Übers. WEISSE 1733, S. 167); lat.: „Aristoteles          Abschnittes über die Sanftmut in der Nikomachischen Ethik unmit-
defensor irae“.                                                             telbar nach dem Abschnitt über die Tugend der ‚Großgesinntheit‘
23
   Siehe dazu FRITZ 2011, S. 110–130 (dort auch weitere Literatur).         (μεγαλοψυχία, megalopsychía), die es vorzüglich „mit Ehre und
24
   Vgl. Sen. Ira 3,3,1: „exsecari“.                                         Unehre zu tun“ (1124a5; Übers. Gigon) hat (siehe dazu FRITZ 2011,
25
   Plat. rep. 411b.                                                         S. 66–70).

                                                                       10
Journal of Ethics in Antiquity and Christianity                                                                               Martin Fritz
JEAC 2 (2020)                                                                                                                     Artikel
Verteidigung der Seinigen übernimmt. 32 Das Zuviel an Zorn                Einfluss Melanchthons hat sich diese Prägung der Ethik der
hingegen ist tadelhaft, weil es, namentlich aufgrund des darin            protestantischen Schulphilosophie des 16. und 17. Jahrhun-
herrschenden Dranges nach Rache und Vergeltung, zu ver-                   derts insgesamt mitgeteilt.36 Die Stoa, vorzüglich repräsen-
meidbarem Unfrieden führt.33                                              tiert durch die hochgeschätzten Werke Ciceros und Senecas,
   Bezüglich der in Rede stehenden Tugend der „Mitte im                   rangiert demgegenüber zumeist als in vielerlei Hinsicht
Zorne“ notiert Aristoteles im Übrigen ein terminologisches                ernstzunehmende, aber in ihrer prinzipiell affektkritischen
Problem, das auch im Deutschen dem Verständnis des Ge-                    Grundausrichtung doch abzulehnende Extremposition.
meinten im Wege stehen kann. Wie die ‚Sanftmut‘ oder                         Sachlich bedeutet die Orientierung an Aristoteles in der
‚Sanftmütigkeit‘ im Deutschen, so scheint auch die praótēs                Ethik nicht zuletzt deren tugendethische Ausrichtung. So ist
im griechischen Sprachgebrauch die Assoziation einer                      ein hervorstechendes Merkmal der einschlägigen Werke der
schlechthin „sanften“ oder jedenfalls sehr milden, mithin                 betreffenden Geistessphäre darin zu erblicken, dass sie sämt-
alles andere als „zornig-heftigen“ Reaktion auf eine Un-                  lich die Entfaltung insbesondere von „moralischen“ 37 Tu-
rechtserfahrung oder Integritätsverletzung aufzurufen. Diese              genden – d.h. von Tugenden, die im aristotelischen Sinne die
Sprachassoziation droht aber das Verständnis dem Pol der                  Moderierung von Affekten betreffen – zu den obligatori-
gänzlichen Abwesenheit von Zorn stärker anzunähern als                    schen Aufgaben der Moralphilosophie zählen. Schon Melan-
dem Pol des Zornexzesses, und sie droht daher dem Missver-                chthons Philosophiae Moralis Epitome (1538) widmet im
ständnis der fraglichen Tugend im Sinne der stoischen Apa-                ersten Buch der (eng an Aristoteles sich anlehnenden) Dis-
thie als völlige „Zornlosigkeit“ Vorschub zu leisten. Trotz               kussion des Zusammenhangs von Tugend und Affekt breiten
dieser unglücklichen Schlagseite des Terminus hält Aristo-                Raum,38 woraufhin das zweite Buch von der Tugend der
teles, offenbar um seiner terminologischen Etabliertheit wil-             iustitia handelt (mit einem kurzen Anhang zur veritas).39 Die
len, an der Benennung der empfohlenen Tugend fest. Von da                 Ethicae Doctrinae Libri Quatuor (1571) des Melanchthon-
an bezeichnet die praótēs resp. ‚Sanftmut‘, in Anlehnung an
den Sprachgebrauch bei Cicero und Seneca lateinisch meist                 sein kann. Vgl. Melanchthons Kommentar zur Nikomachischen
mit mansuetudo wiedergegeben,34 in peripatetischen und                    Ethik (ab 1529 in mehreren Auflagen) sowie seinen eigenen ethi-
anderen aristotelisch geprägten Tugendlehren das ideale                   schen Entwurf, die Philosophiae Moralis Epitome (1538), deren
„Mittelmaß“ an Zorn, das mit dem stoischen Ideal der Zorn-                letzte, überarbeitete Fassung unter dem Titel Ethicae Doctrinae
                                                                          Elementa (1550) vorliegt. Siehe dazu TRILLHAAS 1975; RENDTORFF
losigkeit, das teils unter dem gleichen Titel geführt wird,
                                                                          1982, S. 488; DREITZEL 2009 (dort auch weitere Literatur). Die
fürderhin um den Vorrang in der tugendethischen Bewertung                 Aristoteles-Rezeption bei Melanchthon (und seinen Nachfolgern)
des aggressiven Kardinalaffektes konkurriert.                             verdankt sich natürlich auch der überragenden Bedeutung des
                                                                          Thomas von Aquin, dessen Werk (einschließlich seiner Tugend-
3. Die neuzeitliche Rezeption der antiken                                 lehre) trotz aller reformatorischen Polemik in der protestantischen
Tugendethik                                                               Scholastik des 16. und 17. Jahrhunderts weitergewirkt hat.
                                                                          36
                                                                             Das ist nicht nur den mannigfachen Kommentaren zur Nikoma-
   Wendet man sich der neuzeitlichen Rezeption der antiken                chischen Ethik zu entnehmen, die im 16. und 17. Jahrhundert ver-
Konstellation zu, wird man sagen können, dass Aristoteles                 fasst werden, sondern auch den Titeln mancher Darstellungen der
insgesamt klar über die Stoa triumphiert hat. Dies trifft in              Moralphilosophie: z.B. J. L. HAVENREUTHER, Disputatio De Vir-
jedem Falle für das protestantische Deutschland zu, wo die                tutibus tam Moralibus quam Intellectus. Ex Aristotelis Ethicorum
philosophische Ethik – gegen die vordergründige Erwartung                 libris desumpta, 1594; C. HORN, Philosophiae Moralis sive Civilis
– schon von der Reformation her eine dominante aristoteli-                Doctrinae de Moribus Libri IV. Quibus tota ista disciplina non
                                                                          tantum ex Aristotele, sed optimis quibusque veteribus et recentibus
sche Prägung zeigt. Denn ungeachtet der antiaristotelischen
                                                                          auctoribus fuse explicatur, erschienen in mehreren Auflagen 1633,
Invektiven Martin Luthers hat Philipp Melanchthon, der
                                                                          1634, 1641, 1648, 1653, 1660, 1665; J. C. DÜRR, Philosophia Mo-
Anwalt humanistischen Geistes innerhalb der Reformation,                  ralis. XII. Disputationibus Ordine Analytico ex Aristotele et Opti-
Aristoteles als die Autorität philosophisch-systematischen                mis Aliis Autoribus Proposita, 1659. Vgl. auch J. THOMASIUS,
Denkens schlechthin hochgehalten und hat ihn gerade in der                Breviarium Ethicorum Aristotelis Ad Nicomachum, 1658; J. C.
weniger unmittelbar theologisch fundierten Disziplin der                  FUGMANN/J. C. SCHÖNBERG, Aristotelis Philosophia Moralis, 1677
Ethik den eigenen Ansätzen zugrunde gelegt.35 Durch den                   (dort S. 5–9 auch ein Überblick über Kommentare zur Nikomachi-
                                                                          schen Ethik).
                                                                          37
                                                                              Das ist das gängige Äquivalent für die „ethischen“ Charakter-
32
   Vgl. Arist. Eth. Nic. 1126a3–8.                                        Tugenden bei Aristoteles.
33                                                                        38
   Vgl. Arist. Eth. Nic. 1126a8–28.                                          Vgl. MELANCHTHON 1538, S. 25–59.
34                                                                        39
   Z.B. Cic. off. 1,88; Sen. clem. 2,2; 2,5.                                 In der Ausgabe von 1540 (die im Anschluss einen Kommentar zu
35
   Der Aristoteles-Einfluss in den ethischen Schriften von Melan-         Buch V der Nikomachischen Ethik bietet), sind noch Abschnitte
chthon (und seinen Nachfolgern) ist schon in der Grundanlage und          über beneficentia (Wohltätigkeit), gratitudo (Dankbarkeit) und
den Grundbegriffen teils so durchschlagend, dass sich zuweilen die        amicitia (Freundschaft) angefügt; vgl. MELANCHTHON 1540, S.
Frage aufdrängt, ob von „eigenen Ansätzen“ überhaupt die Rede             212–227.

                                                                     11
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JEAC 2 (2020)                                                                                                                     Artikel
Schülers Paul von Eitzen, als Dekalogexegese angelegt,                     sanftmütig und von Herzen demütig“45, sagt Jesus von sich
enthalten eine Reihe von Kapitel über klassische Tugenden,                 im sog. Heilandsruf. „Siehe, dein König kommt zu dir
die mithilfe zahlreicher Stellen aus der antiken Literatur kon-            sanftmütig und reitet auf einem Esel“46, so lautet das Zitat
turiert und illustriert werden. Die häufig wiederaufgelegten               aus Sacharja (9,9), mit dem Jesu zeichenhafter Einzug in
Philosophiae Moralis sive Civilis Doctrinae de Moribus                     Jerusalem gedeutet wird.47 Unverkennbar ist Jesus bei Mat-
Libri IV (1633) des Helmstedter Ethik-Professors Conrad                    thäus die Verkörperung jener Haltung, die er auch seinen
Horn bieten in Buch III eine ausführliche Darstellung der                  Jüngern nachdrücklich ans Herz legt. Im Zusammenspiel mit
moralischen Tugenden, die sich schon in deren Anordnung                    der philosophischen Autorität des Aristoteles musste diese
unmittelbar an die Nikomachische Ethik hält. Den tabellari-                eminente religiöse Autorität der Sanftmut eine zentrale Stel-
schen Aufstellungen und den angefügten Erläuterungen der                   lung im Haushalt der Ethik verschaffen, und zwar sowohl in
kuriosen Philosophia Practica continuis Tabellis compre-                   der philosophischen als auch in der eng mit ihr verbundenen
hensa (1672) des Leipziger Philosophen Jacob Thomasius                     theologischen „Moral“.48
schließlich liegt ebenfalls unverkennbar die Nikomachische                     Spätestens im 18. Jahrhundert macht sich die biblische
Ethik zugrunde.                                                            Beleumundung der Sanftmut auch in ihrer systematischen
   Die relativ beliebig gewählten Beispiele ließen sich belie-             Stellung innerhalb der philosophischen Ethik geltend. Domi-
big vermehren, zumal wenn man die unzähligen Disserta-                     nierte in den Tugendlehren des 16. und 17. Jahrhunderts
tionen und Disputationen zu einzelnen Tugenden hinzu-                      noch die Disposition der Nikomachischen Ethik, setzt sich in
nähme.40 Angesichts der angedeuteten Fülle an tugendethi-                  herausragenden Entwürfen des 18. Jahrhunderts eine neue
schen Abhandlungen wird man die zuweilen geäußerte Ein-                    Anordnung durch, welche die Tugenden im Zuge einer zu-
schätzung, die „Theorie der Tugenden“ habe „am Beginn der                  nehmend ausdifferenzierten Betrachtung über die mehr oder
Neuzeit einen Niedergang“ erfahren, zweifellos in „Zweifel“                weniger zufällige Reihung hinaus nach sachlichen Zusam-
ziehen müssen.41 Bemisst man die Konjunktur einer Theorie-                 menhängen gruppiert. Dabei rückt die Sanftmut in einen
form an der Hervorbringung innovativer Leistungen, mag                     Kontext ein, der die biblische Linie ihrer doppelten Herkunft
jene Einschätzung vertretbar sein. Bemisst man sie hingegen                deutlicher akzentuiert als die „heidnische“: Sie wird als Rea-
an der Selbstverständlichkeit ihrer Geltung, so wird man das               lisierungsgestalt der Nächstenliebe, genauer: der Feindes-
16. und 17. Jahrhundert, ja vielleicht die gesamte Epoche von              liebe, begriffen.
1500–1800 im protestantischen Deutschland als eine große                       Dabei könnte wiederum ein prominenter Bibelausleger als
Blütezeit der Tugendethik ansprechen können.                               Vorbild gewirkt haben. So hatte Martin Luther die Sanftmut
   Hat man diesen allgemeinen Befund zur Kenntnis ge-                      in einem seiner verbreitetsten Texte ins Feld geführt, nämlich
nommen, überrascht es nicht, dass auch die Sanftmut in der                 in der Auslegung des Fünften Gebots des Großen Katechis-
besagten Epoche mannigfach Gegenstand ethischer Untersu-                   mus (1529). Gemäß seiner verallgemeinernden Gebotsinter-
chungen geworden ist.42 Dieser Umstand ist erst recht nicht                pretation wird auch das Tötungsverbot von Luther dort so
verwunderlich, wenn man bedenkt, dass selbiger Tugendbe-                   weit gefasst, dass mit dem „Totschlag“ „auch alle Ursach
griff überdies mit der Aura biblischer Autorität aufwarten                 verpoten“ ist, „daher Totschlag entspringen mag“. 49 Eine der
konnte – was unter den aristotelischen Tugenden ansonsten                  Hauptursachen derartiger Gewalt sind aber laut Luther der
nur noch von der Gerechtigkeit und vielleicht von der Frei-                Zorn, die Rachsucht und der Hass gegen die, die uns feind-
gebigkeit und der Wahrhaftigkeit ohne weiteres zutrifft.                   lich gesinnt sind. Darum hat uns Gott das Fünfte Gebot ge-
Nicht nur begegnet die Sanftmut in Gestalt entsprechender                  geben, „daß ein Mensch lerne den Zorn stillen und ein ge-
äquivalenter Ausdrücke an einigen Stellen des Alten Testa-                 dültigs, sanftes Herz [mansuetum animum] tragen, sonderlich
ments und der neutestamentlichen Briefliteratur; vielmehr
erhält sie überdies durch mehrere Herrenworte die Dignität
                                                                           45
einer genuin jesuanischen Tugend.43 „Selig sind die Sanftmü-                  Mt 11,29 (Luther); der Originaltext hat wieder das griechische
tigen; denn sie werden das Erdreich besitzen“44, heißt es zu               Adjektiv πραΰς (praǘs); in der Vulgata wieder mitis.
                                                                           46
Beginn der Bergpredigt in den Seligpreisungen. „Ich bin                       Mt 21,5 (Luther); das griechische Original gebraucht wieder
                                                                           πραΰς (praǘs), die Vulgata mansuetus.
                                                                           47
                                                                              Vgl. zu den Stellen auch HARNACK 1920.
                                                                           48
40                                                                            Vgl. z.B. S. J. BAUMGARTEN (11738) 51756, §§ 266f, S. 395–397;
   Vgl. u.a. zur Sanftmut z.B. WALLISER 1608; GISENIUS 1609;               siehe dazu unten Anm. 108. Bei BUDDE 1727, I,I,IV, § CIX, S. 142,
HUNNIUS 1611; EVENIUS 1612; SCHEFER 1622; MAYER 1630; HAN-                 und RAMBACH 1738, VII, § 8, S. 1050, wird die Sanftmut (mansue-
KE 1653; THOMASIUS 1654; CAHLEN 1658; OTTE o.J.                            tudo) jeweils nur knapp verhandelt. Eine Zusammenschau von
41
   PORTER 2002, S. 189.                                                    philosophischem und theologischem Begriff (allerdings mit deutli-
42
   Siehe oben Anm. 40.                                                     chem Übergewicht zur „Christlichen Sitten-Lehre“) bietet der Art.
43
   Vgl. die Auflistung der Stellen bei MEHL 1961.                          Sanfftmuth in ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 33 (1742), S. 1998–
44
   Mt 5,5 (Luther); im griechischen Originaltext steht das Adjektiv        2003.
                                                                           49
πραΰς (praǘs), in der Vulgata mitis.                                          LUTHER 1992, S. 607.

                                                                      12
Journal of Ethics in Antiquity and Christianity                                                                                 Martin Fritz
JEAC 2 (2020)                                                                                                                       Artikel
gegen denen, die ihm Ursach zu zürnen geben, das ist gegen                 freundschaft“58, die sich auf diejenigen Menschen richtet,
die Feinde.“50 Nachdem Luther das Verbot noch ins Positive                 von denen wir (vermeintlich oder wirklich) Unrecht erlitten
gewendet und im Sinne eines Gebotes der Wohltätigkeit und                  haben und mit denen wir daher in Streit oder Krieg zu gera-
Hilfsbereitschaft gegen unsere Nächsten gedeutet hat, kommt                ten drohen oder geraten sind. Als solche ist sie eine Gestalt
er noch einmal auf den besagten Verbotsaspekt zurück: „Da                  der „Liebe der Feinde“59 und Ausdruck von „Friedfertig-
haben wir nu abermal Gottes Wort, damit er uns reizen und                  keit“60.
treiben will zu rechten, edlen, hohen Werken als Sanftmut                     Die liebesethische Kontextualisierung ist aber nicht die
[mansuetudo], Geduld und Summa Liebe und Wohltat gegen                     einzige Neuerung, die die Sanftmutstheorie der hallischen
unsern Feinden“51. Luther verknüpft das Fünfte Gebot des                   Aufklärung auszeichnet. Bedeutsamer ist eine doppelte
Dekalogs mit dem Feindesliebegebot Jesu, und er propagiert,                Transformation, die die Tugendlehre und die Ethik insgesamt
offenkundig in Kenntnis der tugendethischen Tradition, die                 im Rahmen der hallischen Philosophie durchläuft: Wie alle
Tugend der Zornesmäßigung als Erfüllung dieses Gebotes                     Tugenden wird die Sanftmut Gegenstand einer begrifflichen
auf der Ebene der Charakterbildung.                                        Ausdifferenzierung und psychologischen Durchdringung, die
   Die Tugendlehren der hallischen Aufklärung, die im Fol-                 alle älteren Konzeptionen seit den antiken Anfängen hin-
genden näher in den Blick genommen werden sollen, lesen                    sichtlich Theorieaufwand und systematischem Gewicht in
sich wie systematische Umsetzungen dieser Luther’schen                     den Schatten stellt.61 Betrachtet man diese Innovationen,
Verknüpfungen. Schon Christian Thomasius (1655–1728),                      zusammen mit der ungebrochenen Selbstverständlichkeit
Sohn des oben erwähnten Jacob Thomasius und einer der                      tugendethischer Reflexion, so kann die hallische Schulphilo-
Gründungsprofessoren der hallischen Universität, hatte in                  sophie als Höhepunkt der neuzeitlichen Blüte der Tugen-
seiner Einleitung der Sitten-Lehre (1692) – die erste wissen-              dethik angesehen werden. Dass diese Blüte, als mit Kant ein
schaftliche Ethik in deutscher Sprache – die „allgemeine                   neuer Stern am Ethik-Himmel aufzog, schnell zu welken
Liebe aller Menschen“52 als Basis und Inbegriff aller Tugend               begann, tut dieser Bewertung keinen Abbruch.
avisiert und damit die philosophische Ethik dezidiert als                     Folgende Werke kommen für die nachfolgende Skizze der
Liebesethik konzipiert.53 Die mansuetudo (in der lateinischen              hallischen Sanftmutstheorie(n) vorzüglich in Betracht: Neben
Fassung der Einleitung von 170654, im Deutschen mit „Ver-                  Christian Wolffs früher Deutscher Ethik (1720) ist vor allem
trägligkeit“55 wiedergegeben) stuft er dabei als eine von fünf             die – wesentlich umfangreichere – lateinische Philosophia
Tugenden ein, in denen sich die übergeordnete Tugend der                   Moralis seu Ethica, erschienen in fünf voluminösen Bänden
Liebe verwirklicht.56 Eine entsprechende Zuordnung begeg-                  von 1750–53, heranzuziehen.62 Auch Wolffs berühmtester
net dann auch in den Tugendlehren der hallischen Schulphi-                 Schüler, Alexander Gottlieb Baumgarten, dem seine Aesthe-
losophie, bei Christian Wolff (1679–1754), Alexander Gott-                 tica (1750/1758) einen sicheren Platz in der Philosophiege-
lieb Baumgarten (1714–1762) und Georg Friedrich Meier
(1718–1777), die allesamt Thomasius’ liebesethischen An-
                                                                           58
satz aufnehmen und auch die Tugend der Sanftmut entspre-                      MEIER, Sittenl. IV, § 804, S. 82 u.ö. Vgl. BAUMGARTEN, Eth., §
chend verorten. Sie alle betrachten die Sanftmut als die Ge-               313, S. 203: „amicitia generalis, s[eu] universalis“. Vgl. auch
stalt der „allgemeinen Menschenliebe“57 bzw. „Menschen-                    WOLFF, Ethik, § 779, S. 547.
                                                                           59
                                                                              WOLFF, Ethik, § 857, S. 594; MEIER, Sittenl. IV, S. 91 u.ö. Vgl.
                                                                           BAUMGARTEN, Eth., §§ 313–315, S. 203–206; vgl. WOLFF, Phil.
50                                                                         mor. V, § 262, S. 366: „Mansuetudo cum amore universali ad ipsos
   Ebd.; lat: „Ut ad hunc modum homo discat sedare iracundiam ac
                                                                           inimicos extenso indivulso nexu cohaeret“.
patientem et mansuetum induere animum cumprimis erga illos, qui            60
                                                                              MEIER, Sittenl. IV, Abs. II, S. 99 u.ö. Vgl. BAUMGARTEN, Eth.,
causam irascendi ei suppeditant, hoc est erga inimicos.“
51                                                                         sectio III, S. 205: „studium pacis“; § 315, S. 206: „Habitu pacis
   LUTHER 1992, S. 609.
52                                                                         actuandae gaudens pacificus (friedfertig) est. Pacificus esto, quan-
   Vgl. THOMASIUS 1710, S. 193: „Das 5. Hauptstück: Von der                tum potes.“ Vgl. auch WOLFF, Ethik, § 880, S. 617.
allgemeinen Liebe aller Menschen“.                                         61
                                                                              Für die systematische psychologische Fundierung der schulphilo-
53
   Vgl. dazu SCHNEIDERS 1971.                                              sophischen Ethik spielt nicht zuletzt der Einfluss Descartes’ eine
54
   THOMASIUS 1706, S. 184.                                                 maßgebliche Rolle, dessen Affektenlehre Les Passions de l’Ame
55
   THOMASIUS 1710, S. 230. Vgl. zum Tugendbegriff der ‚Verträg-            (1649) dafür als Muster herangezogen wird. Vgl. zu deren Ethikbe-
lichkeit‘ BAUMGARTEN, Eth., § 327, S. 215; MEIER, Sittenl. IV, §           gründungsfunktion HAMMACHER 1996.
835, S. 177–179.                                                           62
                                                                              Den Ausführlichkeitszuwachs zwischen der deutschen und der
56
   Die vier übrigen Tugenden sind Leutseligkeit/humanitas, Wahr-           lateinischen Ethik lässt sich an den Ausführungen zur Sanft-
haftigkeit/veracitas, Bescheidenheit/modestia und Geduld/patientia;        mut/mansuetudo illustrieren. Wird sie in der Deutschen Ethik in
vgl. THOMASIUS 1710, S. 196f; THOMASIUS 1706, S. 160f.                     fünf Paragraphen von jeweils wenigen Sätzen (§§ 852–856) abge-
57
   MEIER, Sittenl. IV, § 784, S. 26 u.ö. Vgl. BAUMGARTEN, Eth., §          handelt, umfasst das Kapitel De Mansuetudo in Bd. V der Lateini-
304, S. 198: „amor hominum“; „philanthropia universalis“. Vgl.             schen Ethik (WOLFF 1750-53), der die Tugenden mit Bezug auf
auch WOLFF, Ethik, § 774, S. 543; DERS., Phil. mor. V, § 261, S.           andere Menschen entfaltet, ganze 112 Paragraphen (§§ 250–362),
364: „amor universalis“.                                                   die teils mehrere Seiten füllen.

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