KARL AMADEUS HARTMANN - Nationaltheater Mannheim

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KARL AMADEUS HARTMANN - Nationaltheater Mannheim
KARL AMADEUS HARTMANN
KARL AMADEUS HARTMANN - Nationaltheater Mannheim
SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS
KURZEINFÜHRUNG

Karl Amadeus Hartmanns Oper basiert auf dem Barockroman »Der
abenteuerliche Simplicissimus Teutsch« (1669) von Johann Jakob                              Drei Szenen aus seiner Jugend
Christoffel von Grimmelshausen. In seiner Oper verhandelt Hartmann
die Jugend des jungen Menschen Simplicius Simplicissimus, der in                                      1934–1935, rev. 1957
einer von Zerstörung, Gewalt und Misstrauen gezeichneten Welt lebt.
Simplicius beobachtet und stellt unbequeme Fragen, um das Leid und                              Musik von Karl Amadeus Hartmann
die Unmenschlichkeit um sich herum zu verstehen. Hartmanns Oper            Libretto von Hermann Scherchen, Wolfgang Petzet und Karl Amadeus Hartmann
spielt zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, deutete aber zum Zeitpunkt          nach dem Barockroman »Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch«
der Komposition 1934 –35 nahezu prophetisch auf die sich anschlie-                       von Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen
ßenden Schrecken der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges vor-
aus und machte den antifaschistischen Standpunkt seines Schöpfers                                  Premiere am 12. Juni 2021
deutlich. Die zum Frühwerk Hartmanns zählende Oper für Sänger:innen,
Sprecher:in, Tänzer:in, Chor und Orchester erlebte aufgrund des Rück-
zugs des Komponisten in die innere Emigration erst zwölf Jahre nach
Entstehung ihre Uraufführung. Die zweite Fassung des »      ­ Simplicius
Simplicissimus« wurde 1957 am Nationaltheater Mannheim erstmalig
aufgeführt.

                                                                                                  Nationaltheater Mannheim
KARL AMADEUS HARTMANN - Nationaltheater Mannheim
BESETZUNG DER PREMIERE AM 12. JUNI 2021

          MUSIK ALISCHE LEITUNG:   Johannes Kalitzke
                     REGIE:  Markus Dietz
             BÜHNE UND KOSTÜME: Mayke Hegger
              CHOREOGR AFIE: Teresa Rotemberg
                    LICHT: Florian Arnholdt
                       CHOR: Dani Juris
                DR AMATURGIE: Patricia Knebel

           SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS:Astrid Kessler
                EINSIEDEL: Jonathan Stoughton
                   GOUVERNEUR: Uwe Eikötter
                 L ANDSKNECHT: Thomas Berau
                 HAUPTMANN: Marcel Brunner
                   BAUER: KS Thomas Jesatko
              SPRECHERIN / DAME: Katharina Rehn

  TÄNZERINNEN:   Jana Riesenacker, Lea Roth, Lena Steininger
 VIDEOSTATISTEN (JUNGER SIMPLICIUS): Nikolas Büsen, Luc Clauß

Orchester, Chor und Statisterie des Nationaltheaters Mannheim
KARL AMADEUS HARTMANN - Nationaltheater Mannheim
HANDLUNG

                                                                                 DRIT TER TEIL
      Simplicius Simplicissimus, ein junger Mensch, zieht allein durch eine
      zerstörte Welt. Die Menschen misstrauen einander, an die Stelle von        Simplicius wird vom Landsknecht gefunden, der ihn mit zum Bankett
      gesellschaftlichem Zusammenleben sind Verrohung, Brutalität und            des Gouverneurs und dessen Gesellschaft nimmt. Dort feiert man
      Gewalt getreten.                                                           ausgelassen und exzessiv. Simplicius ist das Verhalten der Festge-
                                                                                 sellschaft fremd; er äußert seine Gedanken darüber unverblümt. Der
                                                                                 Hauptmann versucht, ihm Einhalt zu gebieten. Doch die naive, ehrliche
      ERSTER TEIL
                                                                                 Art von Simplicius amüsiert den Gouverneur, der ihn daraufhin zum
      Simplicius trifft auf einen Bauern, dessen Tiere er beaufsichtigen soll    Hofnarren erklärt. Simplicius könne sagen, was er wolle. Simplicius
      und der ihn vor dem Wolf warnt. Simplicius weiß nicht, wer oder was der    sieht den Baum aus dem Traum vom Anfang erneut vor sich. Allmählich
      Wolf ist und schläft ein. Im Traum erscheint ihm das Bild eines Baumes,    versteht er das Traumbild: Im Wipfel des Baumes sitzen Menschen, die
      dessen Bedeutung er zunächst nicht versteht. Im Wipfel sitzt jemand        die obersten Stände der Gesellschaft symbolisieren. Sie drücken auf
      und drückt mit seinem Gewicht auf die Äste und Wurzeln des Baumes.         die mittleren Äste des Baumes, auf denen Menschen der mittleren Ge-
      Simplicius wird durch die Ankunft eines Landsknechts geweckt, den er       sellschaftsschicht wie die Landsknechte hocken. Sie schnaufen unter
      zunächst für den Wolf hält. Der Landsknecht fragt ihn nach dem Weg         dem Gewicht der Menschen im Baumwipfel. Ganz unten, im Wurzel-
      zum Bauernhof, doch ehe er antworten kann, vernimmt er die Warnung         werk, das volle Gewicht des Baumes tragend und für einen sicheren
      des Bauern: Er solle weglaufen, die Landsknechte seien da. Die Zerstö-     Halt sorgend, haben die unteren Stände wie die Bauern ihren Platz. Sie
      rung beginnt, Simplicius flieht.                                           ächzen und stöhnen, werden vom Gewicht des Baumwipfels und der
                                                                                 Äste nahezu erdrückt.
                                                                                 Simplicius prangert vor der Gouverneursgesellschaft die soziale Un-
      ZWEITER TEIL
                                                                                 gerechtigkeit und Ausbeutung der unteren Stände an. Die Schuld da-
      Auf seiner Flucht begegnet Simplicius einem Einsiedler. Zunächst hat       ran gibt er Menschen wie dem Gouverneur und ruft zur Revolution auf.
      Simplicius Angst vor ihm, weil er nicht weiß, ob dieser womöglich der      Plötzlich stürzen Bauern herein, fordern Gerechtigkeit und nehmen
      Wolf sei. Nachdem ihm der Einsiedler versichert hat, dass er ihm nichts    blutige Rache an ihren Beherrschern. Allein zurück bleibt nur Simpli­
      anhaben werde, bittet Simplicius, ihn bei sich aufzunehmen, zu unter-      cius. Ihn hatte man nicht einmal für Wert genug gehalten, um ihn
      richten und zu ernähren. Zunächst widerwillig, lässt sich der Einsiedler   umzubringen.
      darauf ein. Die beiden leben von dem Allernötigsten und in den ein-
      fachsten Verhältnissen. Nach zwei Jahren ist der Todeszeitpunkt des
      Einsiedlers gekommen. Er bereitet zusammen mit Simplicius sein Grab
      und stirbt. Simplicius möchte den Tod des Einsiedlers nicht wahrhaben
      und empfindet tiefe Trauer. Simplicius bleibt allein zurück.

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KARL AMADEUS HARTMANN - Nationaltheater Mannheim
Auf der anderen Seite des Flusstals führte die Straße durch völlig ver-
                                               branntes schwarzes Gelände. In alle Richtungen erstreckten sich ver-
                                               kohlte, astlose Baumstümpfe. Asche wehte über die Straße, und von
                                               den geschwärzten Strommasten hingen wie schlaffe Hände abgeris-
                                               sene Kabel und wimmerten dünn im Wind. Auf einer Lichtung ein abge-
                                               branntes Haus, dahinter ein Streifen Weideland, öde und grau, und ein
                                               nackter roter Erdwall von einer verlassenen Baustelle. Weiter weg Re-
                                               klametafeln, die für Motels warben. Alles, wie es einmal gewesen war,
                                               nur verblichen und verwittert. Auf der Hügelkuppe standen sie in Kälte
                                               und Wind und verschnauften. Er sah den Jungen an. Alles in Ordnung,
                                               sagte der Junge. Der Mann legte ihm die Hand auf die Schulter und deu-
                                               tete mit einer Kopfbewegung zu dem offenen Land hin, das unter ihnen
                                               lag. Er nahm das Fernglas aus dem Wagen und suchte die Ebene dort
                                               unten ab, wo sich im Grau der Umriss einer Stadt erhob wie eine auf die
                                               Einöde geworfene Kohleskizze. Nichts zu sehen. Kein Rauch. Darf ich
                                               mal schauen?, fragte der Junge. Ja. Natürlich. Der Junge stützte sich
                                               auf den Wagen und stellte die Schärfe nach. Was siehst du?, fragte der
                                               Mann. Er senkte das Fernglas. Es regnet. Ja, sagte der Mann. Ich weiß.

                                                                                CORMAC MCCARTHY: DIE STR ASSE (2006)

Zerstörtes Aleppo (Syrien) im Dezember 2016.

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KARL AMADEUS HARTMANN - Nationaltheater Mannheim
ZU MEINEM »SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS«
Aus »Kleine Schriften«

»Dann kam das Jahr 1933, mit seinem Elend und seiner Hoffnungslosig-
keit, mit ihm dasjenige, was sich folgerichtig aus der Idee der Gewaltherr-
schaft entwickeln musste, das furchtbarste aller Verbrechen – der Krieg.
In diesem Jahr erkannte ich, dass es notwendig sei, ein Bekenntnis ab-
zulegen, nicht aus Verzweiflung und Angst vor jener Macht, sondern als
Gegenaktion. Ich sagte mir, dass die Freiheit siegt, auch dann, wenn wir                   Kunstlose zum bestimmenden Grundelement wurde. Sie zeigt ja den
vernichtet werden – das glaubte ich jedenfalls damals.«                                    Menschen als Objekt eines barbarischen Tuns, welches sich auf die
             K ARL AMADEUS HARTMANN: AUTOBIOGR AFISCHE SKIZZE (1955)                        sogenannte Politik beruft. Und dennoch hatte ich das Empfinden, daß
                                                                                            dieses Geschehen nach der Bühne verlangt, nach dem Schaugerüst,
                                                                                            auf dem man nicht so sehr ein vergnügliches Spiel als ein eindring­
                                                                                            liches Beispiel zu zeigen sich vornimmt.
               Hermann Scherchen hat mir des öfteren Anregungen zu Kompositionen            In der Flucht der trüben Ereignisse, der Greuel und Unflätereien wirkt
               gegeben. Durch ihn kam ich auf die Idee, eine Oper nach Grimmelshausen       die leidende Titelfigur des Simplicius durch ihr Dasein. Wie das ver-
               zu schreiben. Ich erinnere mich noch genau, wie er mich auf einer nächt-    wahrloste, unmündige Kind durch mühsames Lernen selbstverständli-
               lichen Autofahrt von Winterthur nach Zürich im S­ eptember 1934 auf den      cher Dinge zum Wissen von sich selbst und von der Welt gelangt, ist das
               frühen deutschen Roman vom »Abenteuerlichen S       ­ implicissimus« hin-    eigentlich Bewegende. Selbst die Träume erlösen Simplicius nicht von
               wies und mir aus dem Stegreif ein ganzes Szenarium entwickelte.              der grausamen Gegenwart. Es sind Wahrträume. Der vor Hunger und
               Ich machte mich mit dem Buch vertraut; die Zustandsschilderungen            Kälte in Schlaf fallende Hüterbub sieht einen Baum. »Auf jedem Gipfel
               aus dem Dreißigjährigen Krieg schlugen mich seltsam in Bann. Wie             saß ein Kavalier, und alle Äste wurden anstatt der Blätter mit allerhand
               gegenwärtig kam mir das vor: »Die Zeiten sein so wunderlich, daß nie-       Kerlen geziert; von solchen hatten etliche lange Spieße, andere Mus-
               mand wissen kann, ob du ohn Verlust deines Lebens wieder heraus-             katen, kurze Gewehr, Partisanen, Fähnlein, auch Trommeln und Pfeifen.
               kommest …« Da war der einzelne hilflos der Verheerung und Verwilde-         Dies war lustig anzusehen, weil alles so ordentlich und fein gradweis
               rung einer Epoche ausgeliefert, in der unser Volk schon einmal nahe          sich aneinander teilete. Die Wurzel aber war von ungültigen Leuten,
               daran gewesen ist, seinen seelischen Kern zu verlieren. Und nirgends         als Handwerkern, Taglöhnern, mehrenteils Bauern und dergleichen,
               war Rettung als nur in dem, was das Gemüt des einfachen Menschen            ­welche nichtsdestoweniger dem Baum seine Kraft verliehen und wie-
               dagegen aufbrachte.                                                          der von neuem mitteilten, wann er solche zuzeiten verlor; ja sie ersetz-
               »Simplicius Simplicissimus«, der erste deutsche Entwicklungsroman!          ten den Mangel der abgefallenen Blätter aus den ihrigen zu ihrem eige-
               Nichts von Heldentum! Die Welt gehörte den Übeltätern, das mußte             nen noch größeren Verderben. Benebenst seufzten sie über diejenigen,
               schon das kleine Kind erfahren. Die Wildnis war die letzte Zuflucht, die     so auf dem Baum saßen, und zwar nicht unbillig, denn die ganze Last
               Einsiedelei die einzige Schule menschlicher Gesittung, nur noch der          des Baumes lag auf ihnen und druckte sie dermaßen, daß ihnen alles
               Schutzmantel der Einfalt taugte zum Umgang mit den Gewalthabern.             Geld aus den Beuteln, ja hinter sieben Schlössern herfürgieng. Wann
               Zu ihrer Erheiterung und Ergötzung durfte der »Narr« sogar ihre Un-          es aber nicht herfürwollte, so striegelten sie die Kommissarii mit Bese-
               taten beim Namen nennen. Hier war natürlich keine durchgestaltete            men, die man militarische Exekution nennet, daß ihnen die Seufzer aus
               Handlung zu gewinnen, wie man sie von einer regulären Oper erwar-            dem Herzen, die Tränen aus den Augen, das Blut aus den Nägeln und
               tet. Eine solche wäre auch der Dichtung entgegen gewesen, in der das         das Mark aus den Beinen herausgieng …«

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KARL AMADEUS HARTMANN - Nationaltheater Mannheim
Dem wissend gewordenen Simplicius zeigt sich das Bild des Traumes
     verdeutlicht zum Sinnbild des sozialen Schicksals. Als ein Schauender
     spricht er seiner Zeit das Urteil, wird Zeuge der allgemeinen Totschlä-
     gerei und überlebt als der unheroische, unverbogene Mensch, der noch
     eine kommende Welt in seinem Innern trägt. So werden die Bedräng-
     nisse einer heillosen Zeit zu Bildern und Klängen. Auf dem Boden der
     Dichtung bewegt sich die Musik in entsprechenden Kontrasten zwi-
     schen Bänkelgesang und Choral, streut liedartige Gebilde zwischen
     psalmodierendes Recitando und verdichtet sich mehrmals zum Sym-
     phonischen. So entsteht ein Zusammenhang von Stücken, die in ihrer
     formalen Konsistenz die Erregung, aus der sie entsprungen sind, nicht
     verleugnen können. Beklagenswerterweise ist die Welt heute in einem
     Zustand, der die Unruhe, die Ängste und die Trauer von damals uns heu-
     te wieder nachfühlen läßt.
     Hält man der Welt den Spiegel vor, so daß sie ihr gräßliches Gesicht
     erkennt, wird sie sich vielleicht doch einmal eines Besseren besinnen.

                                                  K ARL AMADEUS HARTMANN

                                                                               Der Ständebaum. Bühnenbildentwurf zu »Des Simplicius Simplicissimus Jugend«
                                                                               von Adolf Hartmann, 1946.

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KARL AMADEUS HARTMANN - Nationaltheater Mannheim
TR ÄNEN DES VATERL ANDES

                                                                                                    Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!
                                                                                                    Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun,
                                                                                                    das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun
                                                                                                    hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret.

                                                                                                    Die Türme stehn in Glut, die Kirch’ ist umgekehret,
                                                                                                    das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
                                                                                                    die Jungfern sind geschänd’t, und wo wir hin nur schaun,
                                                                                                    ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durchfähret.

                                                                                                    Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
»Der Galgenbaum« aus »Die großen Schrecken des Krieges« (»Les Grandes Misères de la Guerre«), von   Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut,
Jacques Callot (1632).                                                                              von Leichen fast verstopft, sich langsam fort gedrungen.

                                                                                                    Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
                                                                                                    was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot:
                                                                                                    Daß auch der Seelenschatz so vielen abgezwungen.

                                                                                                                                                    ANDRE AS GRYPHIUS (1636)

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KARL AMADEUS HARTMANN - Nationaltheater Mannheim
DER ABENTEUERLICHE SIMPLICISSIMUS TEUTSCH

                                                                                  ERSTES BUCH, 4. K APITEL
                                                                                  SIMPLICII RESIDENZ WIRD EROBERT, GEPLÜNDERT UND ZERSTÖRT, DARIN
                                                                                  DIE KRIEGER JÄMMERLICH HAUSEN

                                                                                  Wiewohl ich nicht bin gesinnet gewesen, den friedliebenden Leser mit
                                                                                  diesen Reutern in meines Knans [Vaters] Haus und Hof zu führen, weil
                                                                                  es schlimm genug darin hergehen wird: So erfordert jedoch die Folge
                                                                                  meiner Histori, daß ich der lieben Posterität hinterlasse, was für Grau-
                                                                                  samkeiten in diesem unserm Teutschen Krieg hin und wieder verübet
                                                                                  worden, zumalen mit meinem eigenen Exempel zu bezeugen, daß alle
                                                                                  solche Übel von der Güte des Allerhöchsten, zu unserm Nutz, oft not-
                                                                                  wendig haben verhängt werden müssen: Denn lieber Leser, wer hätte
                                                                                  mir gesagt, daß ein Gott im Himmel wäre, wenn keine Krieger meines
                                                                                  Knans Haus zernichtet und mich durch solche Fahung unter die Leut
                                                                                  gezwungen hätten, von denen ich genugsamen Bericht empfangen?
                                                                                  Kurz zuvor konnte ich nichts anders wissen noch mir einbilden, als daß
                                                                                  mein Knan, Meuder [Mutter], ich und das übrige Hausgesind allein auf
                                                                                  Erden sei, weil mir sonst kein Mensch noch einzige andere menschli-
                                                                                  che Wohnung bekannt war, als diejenige, darin ich täglich aus- und ein-
                                                                                  ging: Aber bald hernach erfuhr ich die Herkunft der Menschen in diese
                                                                                  Welt, und daß sie wieder daraus müßten; ich war nur mit der Gestalt
                                                                                  ein Mensch, und mit dem Namen ein Christenkind, im übrigen aber nur
»Die Hölle«. Monogrammist JS (vermutlich nach Hieronymus Bosch). Gemälde, 1500.   eine Bestia! Aber der Allerhöchste sah meine Unschuld mit barmherzi-
                                                                                  gen Augen an, und wollte mich beides zu seiner und meiner Erkenntnis
                                                                                  bringen: Und wiewohl er tausenderlei Weg hierzu hatte, wollte er sich
                                                                                  doch ohn Zweifel nur desjenigen bedienen, in welchem mein Knan und
                                                                                  Meuder, andern zum Exempel, wegen ihrer liederlichen Auferziehung
                                                                                  gestraft würden. Das erste, das die Reuter täten, war, daß sie ihre Pferd
                                                                                  einställeten; hernach hatte jeglicher seine sonderbare Arbeit zu ver-
                                                                                  richten, deren jede lauter Untergang und Verderben anzeigte. Dann ob-
                                                                                  zwar etliche anfiengen zu metzgen, zu sieden und zu braten, daß es so

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KARL AMADEUS HARTMANN - Nationaltheater Mannheim
sahe, als sollte ein lustig Bankett gehalten werden, so waren hingegen   Einem andern machten sie ein Seil um den Kopf und raitelten es mit ei-
      andere, die durchstürmten das Haus unten und oben; ja das heimlich       nem Bengel zusammen, daß ihm das Blut zu Mund, Nas und Ohren her-
     Gemach war nicht sicher, gleichsam ob wäre das gölden Fell von Kolchis    aussprang. In Summa, es hatte jeder seine eigene Invention, die Bauern
      darinnen verborgen. Andere machten von Tuch, Kleidungen und allerlei     zu peinigen, und also auch jeder Bauer seine sonderbare Marter. Allein
     Hausrat große Päck zusammen, als ob sie irgends einen Krempelmarkt        mein Knan war meinem damaligen Bedünken nach der glückseligste,
      anrichten wollten; was sie aber nicht mitzunehmen gedachten, wur-        weil er mit lachendem Munde bekennete, was andere mit Schmerzen
      de zerschlagen; etliche durchstachen Heu und Stroh mit ihren Degen,      und jämmerlicher Weheklang sagen mußten, und solche Ehre wider-
      als ob sie nicht Schaf und Schwein genug zu stechen gehabt hätten;       fuhr ihm ohne Zweifel darum, weil er der Hausvater war; dann sie setz-
     ­etliche schütteten die Federn aus den Betten und fülleten hingegen       ten ihn zu einem Feuer, banden ihn, daß er weder Händ noch Füß regen
     Speck, andere Dürrfleisch und sonst Gerät hinein, als ob alsdann bes-     konnte, und rieben seine Fußsohlen mit angefeuchtem Salz, welches
      ser darauf schlafen gewest wäre. Andere schlugen Ofen und Fenster        ihm unser alte Geiß wieder ablecken und dadurch also kützeln mußte,
      ein, gleichsam als hätten sie ein ewigen Sommer zu verkünden; Kupfer     daß er vor Lachen hätte zerbersten mögen. Das kam so artlich, daß ich
      und Zinngeschirr schlugen sie zusammen und packten die gebogene          Gesellschaft halber, oder weil ichs nicht besser verstunde, von Herzen
      und verderbte Stück ein; Bettladen, Tisch, Stühl und Bänk verbrann-      mitlachen mußte. In solchem Gelächter bekannte er seine Schuldig-
     ten sie, da doch viel Klafter dürr Holz im Hof lag. Häfen und Schüsseln   keit und öffnet den verborgenen Schatz, welcher von Gold, Perlen und
     mußte endlich alles entzwei, entweder weil sie lieber Gebraten aßen       Kleinodien viel reicher war, als man hinter Bauren hätte suchen mögen.
      oder weil die bedacht waren, nur eine einzige Mahlzeit allda zu haben.   Von den gefangenen Weibern, Mägden und Töchtern weiß ich sonder-
     Unser Magd ward im Stall dermaßen traktiert, daß sie nicht mehr dar-      lich nichts zu sagen, weil mich die Krieger nicht zusehen ließen, wie sie
      aus gehen konnte, welches zwar eine Schand ist zu melden. Den Knecht     mit ihnen umgiengen. Das weiß ich noch wohl, daß man teils hin und
     legten sie gebunden auf die Erd, steckten ihm ein Sperrholz ins Maul      wieder in den Winkeln erbärmlich schreien hörte; schätze wohl, es sei
      und schütteten ihm einen Melkkübel voll garstig Mistlachenwasser in      meiner Meuder und unserm Ursele nit besser gangen als den andern.
     Leib: das sie ein schwedischen Trunk nenneten, wodurch sie ihn zwun-      Mitten in diesem Elend wendet ich Braten und half Nachmittag die
      gen, eine Partei anderwärts zu führen, allda sie Menschen und Viehe      Pferd tränken, durch welches Mittel ich zu unserer Magd in Stall kam,
     hinwegnahmen und in unsern Hof brachten, unter welchen mein Knan,         welche wunderwerklich zerstrobelt aussahe; ich kennete sie nicht, sie
     meine Meuder und unser Ursele auch waren.                                 aber sprach zu mir mit kränklichter Stimm: »O Bub! lauf weg, sonst
     Da fieng man erst an, die Steine von den Pistolen und hingegen an de-     werden dich die Reuter mitnehmen! guck, daß du davonkommst, du
     ren Statt der Bauren Daumen aufzuschrauben und die arme Schelmen          siehst wohl, wie es so übel –!« Mehrers konnte sie nicht sagen.
      so zu foltern, als wann man hätt Hexen brennen wollen, maßen sie auch
      einen von den gefangenen Bauren bereits in Bachofen steckten und mit                     JOHANN JAKOB CHRISTOFFEL VON GRIMMELSHAUSEN (1669)
     Feuer hinter ihm her waren, unangesehen er noch nichts bekennt hatte.

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In jenen ersten Jahren waren die Straßen mit Flüchtlingen bevölkert,
     die ihre Kleidung wie ein Leichentuch trugen, Mundschutze und Schutz-
     brillen aufhatten und in ihren Lumpen am Straßenrand saßen wie ver-
     armte Luftschiffer. Ihre Schubkarren mit Ramsch beladen. Leiter- und
     Handwagen ziehend. Die Augen hell in ihren Schädeln. Glaubenslose,
     leere Hülsen von Menschen, die die Landstraßen entlangwankten wie
     Migranten in einem Fieberland. Die Hinfälligkeit von allem und jedem
     endlich zutage getreten. Alte, quälende Streitfragen in Nichts und
     Nacht aufgelöst. Mit dem letzten Exemplar von etwas geht die ganze
     Gattung zugrunde. Macht das Licht aus und ist weg. Man braucht sich
     nur umzuschauen. Nie mehr ist eine lange Zeit. Aber der Junge wusste,
     was er wusste. Dass nie mehr im Handumdrehen passiert war.

                                     CORMAC MCCARTHY: DIE STR ASSE (2006)

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VON ZEITGEIST, EINFLUSS DER FRÜHEN
NEUZEIT UND GROSSER FARBIGKEIT
Dirigent Johannes Kalitzke im Gespräch mit Dramaturgin Patricia Knebel

Sie haben Hartmanns »Simplicius« vor rund 30 Jahren am Musik­
                                                                                         über Jahrhunderte hinweg uns dem zu widersetzen. Von diesen Vorgän-
theater im Revier in Gelsenkirchen schon einmal aufgeführt.
                                                                                         gen und Dynamiken ist im »Simplicius« viel enthalten. Die Oper erzählt
Hat sich Ihre Sicht auf das Stück verändert?
                                                                                         eine Geschichte, die auch heute eine Rolle spielt, weit über die aktuelle
              Ja, allerdings. Ich bin sehr froh, das Stück neu betrachten zu können.     Epidemieproblematik hinaus. Vielmehr spiegelt sie eine gesamtgesell-
              Ich hatte es als ausgesprochen spröde in Erinnerung und auch schwer,       schaftliche Entwicklung.
              was die Intonation betrifft. Doch die Klanglichkeit, die das National­
                                                                                                         In unserer Mannheimer Neuproduktion des »Simplicius« spielen wir
              theater-Orchester anbietet, kommt der Natur des Stücks sehr nahe
                                                                                                         die zweite (reduzierte) Fassung der Oper (1957/1976). An einigen Stel-
              und tut ihm ausgesprochen gut. Sie macht es wieder zu dem, was es
                                                                                                         len haben Sie sich jedoch bewusst für Bestandteile der Urfassung
              eigentlich ist – eine Fortsetzung der Spätromantik.
                                                                                                         (1934–35) entschieden. Warum?
Was fasziniert Sie an der Musik?
                                                                                         Zunächst haben wir uns dazu entschlossen, die sogenannte reduzierte
              Die Melodik. Hartmann hat eine ganz eigene Art und Weise, melodi-          Fassung in einer etwas größeren Streicherbesetzung zu spielen. Das
              sche Konstruktionen zu erschaffen. Das bewundere ich sehr. Denn            hat auch damit zu tun, dass die vorgesehene Reduzierung in der zwei-
              gerade in der Zeitgenössischen Musik wird die Herausforderung des          ten Fassung nicht immer funktioniert. Sie ist für solistische Streicher
              Melodischen häufig umgangen. Eingängige, auf den Punkt gebrachte           geschrieben, die aber plötzlich geteilte Stimmen oder Polyphonien ent-
              melo­dische Einfälle gibt es bei Hartmann hingegen viele. Andererseits     halten, die man auf einem einzelnen Instrument nicht umsetzen kann.
              leuchten in diesem relativ frühen Stück viele Einflüsse hindurch, wie      Ansonsten haben wir die aus der Urfassung stammende Ouvertüre
              z. B. von Maurice Ravel, Alban Berg oder Hanns Eisler. Insofern spiegelt   wiedereingeführt. Allerdings nicht komplett. In unserer Fassung hört
              der »Simplicius« auch als Kompendium den Zeitgeist seiner damaligen        sie dort auf, wo das Finale des ersten Teils später beginnt. Auch das
              musikalischen Umgebung.                                                    vom Einsiedel gesungene »Vater Unser« im ersten Teil entstammt der
                                                                                         Urfassung. Diese Stelle ist dort aus unserer Sicht musikalisch schöner
Greift das Stück denn auch unseren Zeitgeist auf?
                                                                                         und poetischer. Das stärkste Argument für die zweite (reduzierte) Fas-
              Wenn man auf das Stichwort Verrohung zurückkommen möchte, trifft           sung ist jedoch, dass fast alle Texte gesungen werden (eine Ausnahme
              das durchaus zu. Ich glaube schon, dass im Menschen Triebstrukturen        sind die der Sprecherin). In der Urfassung werden die Texte – also das,
              veranlagt sind, die jederzeit abrufbar sind, je nachdem, welche äußere     was schlussendlich die Handlung vorantreibt – gesprochen. Hartmann
              Konstellation gegeben ist. Wir erleben es heutzutage auch: Man muss        hat die Sprechtexte für die zweite Fassung in eine oft gregorianisch an-
              sehr vorsichtig sein, dass nicht durch eine gesellschaftliche Pola­        mutende Litanei, auf der alles gesungen wird, umgearbeitet. Dadurch
              risierung ein Klima der Gewaltbereitschaft entsteht, das nicht mehr        wird die musikalische Spannung durchweg aufrechterhalten.
              zu bremsen ist. Das würde eigentlich der zyklischen Regelmäßigkeit
              historischer Abläufe entsprechen, trotzdem versuchen wir Menschen

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Ein weiteres Charakteristikum unserer »Mannheimer Fassung« ist
                                                                                        Sprache enthalten, sehr schwer ins Repertoire zu integrieren. In den
der Verzicht auf die das Stück beschließende Apotheose.
                                                                                        siebziger und achtziger Jahren gab es ja auch ein großes Interesse an
              Ich halte es für viel wirkungsvoller und eindringlicher, wenn das Stück   Karl Amadeus Hartmann, es wurden all seine Sinfonien und Opern ein-
              auf die lapidare Weise ausläuft und sich schlussendlich im Nichts         gespielt. Hartmann wurde in dieser Zeit neu entdeckt, teilweise fast
              verliert, wie die reduzierte Fassung das anbietet. Die Apotheose der      überstrapaziert. Mittlerweile ist er wieder so unbekannt wie vorher.
              großen Fassung hätte eine Art von erneutem Aufbäumen des musikali-
                                                                                                        Sollte Hartmanns »Simplicius« einen festen Platz im Repertoire
              schen Klanges bedeutet, das hätte das Stück aus meiner Sicht pathe-
                                                                                                        erhalten?
              tisch überladen. Wir lassen den »Simplicius« nun verinnerlicht und auf
              ruhige Art verrinnen.                                                     Unbedingt. Dafür spricht einfach die musikalische Qualität. Formal,
                                                                                        aber auch klanglich funktioniert das Stück sehr gut. Vielfalt, die Oper
Den späteren Werken Hartmanns wird oft eine gewisse Schwermütig­
                                                                                        braucht – und das auf engstem Raum, nur rund 80 Minuten dauert das
keit zugeschrieben. Den »Simplicius« hat Hartmann jedoch mit nur 30
                                                                                        Stück. Zudem ist das Libretto, basierend auf Grimmelshausens Roman,
Jahren komponiert. Kann man vom jungen Hartmann, seiner Leichtig-
                                                                                        zupackend und allgemeingültig. Es gibt so viele Opern, die uns in un-
keit, in der Oper etwas hören?
                                                                                        serer heutigen Zeit kaum noch etwas sagen können. Das betrifft auch
              Ja, das Stück besteht nicht nur aus schwermütigen Sequenzen, wenn         Klassik und Romantik. Es verhält sich ähnlich wie mit der Philosophie
              man an das Trinklied, die Tänze oder den Marsch am Schluss denkt. Der     von Denis Diderot: Sie zeigt eine für die damalige Zeit ganz neue Art
              »Simplicius« ist sehr farbig, er enthält natürlich auch melancholische    und Weise zu denken. Wenn wir Diderot heute lesen, verstehen wir aber
              Momente wie die Einsiedelszene im zweiten Teil, wenn dieser stirbt.       oft nicht mehr den Zeitgeist, auf den er sich bezieht. Denn es sind ja
              Dort entsteht eine stille und sehr sinnliche Musik. Aber insgesamt wür-   nicht unsere Probleme, auch nicht unsere Lebenswelt. Wohingegen der
              de ich es eher eine Art überzeugte Protesthaltung nennen, die immer       Rückgriff auf die frühe Neuzeit so wie es im »Simplicius« geschieht,
              im Hintergrund der musikalischen Umsetzung steht.                         uns oft anrührt. Es kommt nicht von ungefähr, dass Renaissancemusik
                                                                                        und die frühe Musik für die heutige Zeitgenössische Kunst eine grö-
Warum ist der »Simplicius« nach wie vor eine Rarität auf den
                                                                                        ßere Rolle spielen als vieles, was in späterer Zeit passiert ist. Denn
Opernspielplänen?
                                                                                        dort erkennen wir Parallelen von Geschehnissen, Weltanschauungen
              Die Begründung liegt in einem bestimmten Verständnis von Traditions-      bis hin zum Innovationsgeist. Der Rückgriff auf die frühe Neuzeit ist
              pflege. Die Mehrheit der Opernhäuser bedient sich nach wie vor aus        literarisch, aber auch musikalisch in den letzten fünfzig Jahren sehr
              dem »Markenrepertoire«, also Werke von beispielsweise Mozart oder         bestimmend gewesen, angefangen mit Strawinsky. In dieser Tradition
              Rossini. Hingegen sind Stücke, die zwischen den Stühlen schwer ein-       steht der »Simplicius« mittelbar auch.
              zuordnen sind im Kanon der Nachfrageorientierung, die eine sperrige
              und kontroverse Erzählung tragen oder eine eigenständige Ästhetik/

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»Warum gibt es jeden Tag Millionen an Geld für den Krieg und keinen
     Cent für die Heilkunde, für die Künstler, für die Armen? Warum müssen
      die Leute hungern, wenn in anderen Teilen der Welt die überflüssige
     Nahrung wegfault? Warum sind die Menschen so verrückt? Ich glaube
     nicht, dass der Krieg nur von den Großen, von den Regierenden und Ka-
     pitalisten gemacht wird. Nein, der kleine Mann ist ebenso dafür. Sonst
     hätten sich die Völker doch schon längst dagegen erhoben! Im Men-
      schen ist nun mal ein Drang zur Vernichtung, ein Drang zum Totschla-
      gen, zum Morden und Wüten, und solange die ­ganze Menschheit, ohne
     Ausnahme, keine Metamorphose durchläuft, wird Krieg wüten, wird
     ­alles, was gebaut, gepflegt und gewachsen ist, wieder abgeschnitten
     und vernichtet, und dann fängt es wieder von vorn an.«

                             ANNE FR ANK ( TAGEBUCHEINTR AG VOM 3. MAI 1944)

     »Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem
     ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es
     kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Ober-
     fläche weiterwuchert. Tief aber, und radikal ist immer nur das Gute.«

                                                      HANNAH ARENDT (1963)

24
AN DIE NACHGEBORENEN
                                                                                     Auszug

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir ja:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

                                       BERTOLT BRECHT (1939)

                                         SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS _ AN DIE NACHGEBORENEN   41
GEGENWART IM 400 JAHRE ALTEN STOFF

»Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.«
          PEL AGE A WL ASSOWA IN »DIE MUT TER«
                   VON BERTOLT BRECHT (1932)

              Als das Pandemiestück schlechthin wurde Hartmanns »Simplicius
              ­Simplicissimus« während der Probenzeit zur Mannheimer Neuproduk-
              tion oft ­bezeichnet. Eine reduzierte Orchesterbesetzung, aus dem En-
               semble zu besetzende Gesangspartien und eine kompakte Stückdauer
              hielten der Corona-Tauglichkeit mehr als Stand. Aber auch inhaltlich
               lag eine Aufführung nahe. Denn die Erstaufführung der Neufassung des
              »­Simplicissimus« erfolgte 1957 am Nationaltheater Mannheim, zudem
              wäre der Autor der Librettovorlage, Johann Jakob Christoffel von Grim-
              melshausen, 2021 400 Jahre alt geworden. Viel entscheidender aber:
              Die Notwendigkeit, die geltenden Hygiene- und Abstandsregelungen
               einzuhalten, läuft der Opernhandlung des »Simplicius« nicht zuwider,
               sondern ist ihr geradezu immanent. Distanz, vor allem emotionaler und
               geistiger Natur, macht das Regieteam um Markus Dietz zum Mittel­
              punkt der Inszenierung. Eine Setzung, die, neben anderen, auch die
              Frage befördert, was über ein Jahr Pandemie mit uns Menschen macht.
              Was unseres seelischen Kerns ist danach noch übrig?

              DIE ROMANVORL AGE

              Nur 130 Kilometer von Mannheim entfernt wurde 1621 Johann Jakob
              Christoffel von Grimmelshausen in Gelnhausen (Hessen) geboren. Mit-
              ten hinein in den Dreißigjährigen Krieg, der in Deutschland wütete und
              Millionen Menschen ihr Leben kostete. Grimmelshausen erlebte den
              Krieg aus unterschiedlichen Perspektiven: Als Soldat in verschiedenen
              Armeen, als Regimentsschreiber, später verdiente er seinen Lebens-
              unterhalt als Gastwirt und Ortsvorsteher. Mit seinem »Simplicissimus
              Teutsch« veröffentlichte er 20 Jahre nach Kriegsende (1669) den ersten
              deutschen Barockroman, dessen Geschichte um den einfältigen Sim-
              plicius Simplicissimus sich aus u. a. seinen eigenen Kriegserlebnissen
              speiste. Die verwendete Sprache dabei ist derb, direkt, grob, zeichnet

42                                                                                     SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS _ GEGENWART IM 400 JAHRE ALTEN STOFF   43
ein brutales Bild der damaligen Zeit. Dennoch ist der Roman durchsetzt     Mit der Wahl des Stoffes setzte Hartmann ein Zeichen gegen Krieg,
     von großer Komik, die oft durch die naive Ehrlichkeit des S  ­ implicius   ­Faschismus und Antihumanismus, aber auch auf musikalischer Ebene
     entsteht. Erstreckt über fünf Bücher und eine Continuatio, erfahren         machte der Komponist seine politische Haltung deutlich. Durch direkte
     die Leser:innen den Lebensweg eines ungebildeten Bauersjungen zum          Zitate aus Werken von u. a. Igor Strawinsky (»Le sacre du printemps«,
     Ziehsohn eines Einsiedlers, zum Wunderheiler, Soldaten und Forscher,       »L’histoire du soldat«), Alexander Borodin (»Polowetzer Tänze«), ­Sergej
     bis hin zum Einsiedler selbst.                                              Prokofjew (Marsch Nr. 1, op. 12) und des jüdischen Lieds »Eliyahu
     Grimmelshausen nutzte gezielt die Charakterzeichnung des Protago-            ­hanavi« drückte Hartmann seine Solidarität aus zu Komponisten, de-
     nisten: Als ungebildeter Mensch darf Simplicius ungefiltert die Wahr-       ren Musik im Nazi-Deutschland als sogenannt entartet galt, und zeigte
     heit aussprechen. So gelang es dem Autor, die Brutalitäten des Kriegs      zudem öffentlich sein Mitgefühl für seine jüdischen Mitbürger:innen,
     konkret zu benennen und auf realistische Weise abzubilden. Gleichzei-       für die der gezielte Genozid vorgesehen war.
     tig konnte er die Erlebnisse von Simplicius als offensichtliche Fehlein-   Während der NS-Diktatur konnte Hartmann mit seinem »Simplicius«
     schätzung ironisch darstellen und schütze sich so vor Zensur.               nur inneren Widerstand leisten, denn erst 1949 kam es in Köln zur sze-
                                                                                 nischen Uraufführung (1948 erklang die Oper bereits konzertant im
                                                                                Radio München). In den Folgejahren revidierte Hartmann seinen »Sim-
     VERKNÜPFUNG INS HEUTE
                                                                                 plicius«. Gesprochene Texte setzte er in Musik, arbeitete seine Kom-
     Als der Dirigent Hermann Scherchen dem Komponisten Karl Amadeus             position für großes Orchester um, eliminierte explizite Verweise auf
     Hartmann 1934 den Simplicius-Stoff für eine Oper vorschlug, war die-          die Nazi-Herrschaft (für eine größere Allgemeingültigkeit) und stellte
     ser sofort einverstanden. Die Schilderungen über den Großen Krieg und         dem 2. Teil der Oper ein Zwischenspiel voran, das einen Bachchoral auf
     seinen Effekt auf die Menschen erinnerten Hartmann an die e     ­ igene,      den Text von Paul Gerhardt »Nun ruhen alle Wälder« enthält. Dem Ende
     aktuelle Lebenssituation in Deutschland unter der Naziherrschaft.             des Zwischenspiels fügte Hartmann einen auf die Musik gesprochenen
     Noch bevor der Zweite Weltkrieg angefangen hatte, spürte Hartmann          Text hinzu: Das Sonett »Tränen des Vaterlandes« (1636) von Andreas
     dunkelste Vorausahnungen, welche Zeit der europäischen Bevölkerung          ­Gryphius. Der Autor benennt darin neben den Schrecken und Grausam-
     bevorstehen würde. Als Grundlage für die Oper wählten Hartmann und          keiten des Dreißigjährigen Krieges die schlimmste Folge dieser Zeit:
     Scherchen einige Kapitel des 1. und 2. Buches von Grimmelshausens             der Verlust des Seelenschatzes.
     Roman aus, sodass die Handlung nur die Zeit der Jugend des Simplicius
     thematisierte. In diesem Lebensabschnitt nimmt Simplicius bei Grim-
                                                                                WAS AM ENDE BLEIBT
     melshausen noch keinen ausführenden Anteil am Kriegsgeschehen
     (später ist er als Soldat tätig) und kann damit die Ereignisse als pas-    An diesen Punkt setzt die Inszenierung von Markus Dietz und das
     siver Beobachter spiegeln. Wie es mit der Figur des jungen ­Menschen       Bühnenbild von Mayke Hegger an. Sie verorten die Geschichte des
     Simplicius weitergeht, lässt das Ende der Oper offen.                      ­Simpli­cius in einer physisch wie auch psychisch bereits zerstörten Welt.

44                                                                                                             SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS _ GEGENWART IM 400 JAHRE ALTEN STOFF   45
Durch diese Welt irrt der junge Mensch Simplicius. Er ist in ihr auf-
                                                                                  gewachsen, kennt keinen Zustand des Davor. Seit dem Verlust seiner
                                                                                 Eltern schlägt er sich allein durch die Welt. Niemand hat ihn gelehrt,
                                                                                 Erlebnisse oder Handlungen von Menschen innerhalb eines Werte­
                                                                                  systems zu verorten. Simplicius relativiert nicht, er handelt intuitiv, äu-
                                                                                 ßert sich mit irritierender Ehrlichkeit. Durch seinen unvoreingenomme-
                                                                                 nen Blick nimmt er die Welt um sich herum in besonderer Schärfe wahr.
                                                                                Als einzige Person nennt er die Missstände beim Namen. Eine ständige
                                                                                 Begleiterin auf seinem Weg ist die Sprecherin (die Besetzung mit einer
                                                                                 Frau ist nicht obligatorisch, sondern eine Regie­entscheidung). Sie wen-
                                                                                  det sich mit ihren Aussagen in Brechtischer Manier an das Publikum.
                                                                                  Gleichermaßen nimmt sie an der Handlung teil, setzt entscheidende
                                                                                  Impulse, verstört und verführt.
                                                                                Anhand von drei sich durch einzelne Elemente signifikant unterschei-
                                                                                  denden Bildern zeigen Dietz und Hegger drei Facetten einer Welt des
                                                                                 verlorenen Seelenschatzes: Gewalt und Brutalität – Selbstzerstö-
                                                                                 rung und Qual – Perversion und Exzess. Zum Ende der Oper erkennt
                                                                                 ­Simplicius, dass ungerechte, ausbeuterische Verhältnisse die Keimzel-
                                                                                  le des Bösen sind, das wiederum in Konsequenz für den Verlust des
                                                                                  Seelen­schatzes verantwortlich ist. Beim Nachdenken über diese Er-
                                                                                 kenntnis und die Verhältnisse in unserer heutigen Welt stellt sich die
                                                                                 Frage, was wir Menschen trotz aller traumatisierender Erfahrungen
                                                                                  in der Vergangenheit eigentlich gelernt und welche Konsequenzen für
                                                                                  unser Handeln wir daraus gezogen haben. Wenn der Wunsch nach Ver-
                                                                                  änderung hin zu einer besseren und gerechteren Welt ehrlich gemeint
     Die Menschen befinden sich schon seit längerem in einem undefi-              ist, reicht das Gefühl der Betroffenheit nicht aus. Denn sonst bleibt
     nierten Kriegs- und Katastrophenzustand. An die Stelle eines ge-           ­Hartmanns »Simplicius Simplicissimus« das Stück der Stunde.
     sellschaftlichen Lebens sind Gewalt, Brutalität, Verrohung und Ent-
     menschlichung getreten. Jede:r könnte ein:e potenzielle:r Feind:in sein,                                                                 PATRICIA KNEBEL
     niemandem kann vertraut werden, alle können den Tod bringen.

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ERINNERUNGEN AN MEINEN VATER
Auszug

         REPRESSION UND »INNERE EMIGR ATION«
                                                                                     definiert. Werke wie »Miserae«, der »Simplicius« oder die ursprüng­
         1933. Niedergerungen, bedrückt, isoliert von der Welt empfand sich KAH      liche Fassung der 1. Symphonie sind Stationen auf diesem Weg zu ei-
         [Karl Amadeus Hartmann] nach der Machtergreifung. […] Protest, Zorn,        nem Komponieren in künstlerischer Verantwortung. […]
         Wut rangen mit Verzweiflung, seelischer Abscheu und geistiger Verach-
         tung und drohten kurzzeitig jegliche künstlerische Arbeit zu blockieren.
                                                                                     DIE SPUREN DER ZEIT
         Was aber KAHs radikale Gegnerschaft zum NS-Staat kennzeichnete, die
         nie den geringsten Flirt zuließ, war tief in seinem Verhaltensrepertoire    Der Zwang, im eigenen Land als Verstoßener leben zu müssen, ließ KAH
         verankert, so dass ihm schon der Anblick eines Nazityps körperliche         bisweilen diejenigen beneiden, die ins freie Ausland vertrieben worden
         Übelkeit bereitete. Seine geradezu instinktive Abneigung konnte er          waren. Ohnmächtig und verzweifelt, zur Passivität verurteilt, zuschau-
         damals auch vor mir nicht verbergen, trotz des lebensgefährlichen           en zu müssen und nur für die Schublade schreiben zu können, empfand
         Risikos, das sie für alle Familienangehörigen barg. […]                     mein Vater als ein hohes Maß an Unterdrückung. […]
         All das, was in den zwölf Jahren der Naziherrschaft mit sakralem ­Pathos    Vorausdenken, Folgen absehen waren ihm nicht nur durch seine poli-
         zum nationalen Vorbild erhoben wurde, lehnte KAH mit jeder Faser sei-       tischen Erfahrungen beigebracht und eingebläut worden, sie gehörten
         ner Seele ab. Dagegen trat ein Identifikationserleben mit den Opfern in     ja auch zu den wichtigsten Praktiken seines kompositorischen Metiers.
         den Vordergrund, er solidarisierte sich mit allen Oppositionellen jen-      Wie ich aus zahlreichen, mit meinem Vater geführten Gesprächen und
         seits der bloß politischen und weltanschaulichen Couleur. Es bedurfte       Erörterungen weiß, kam es ihm bei seiner Musik auf Erstmaligkeit oder
         ja auch keiner großen Phantasie, um sich ausmalen zu können, was mit        Innovation gar nicht an. Vielmehr war er bereit, die Musiksprache einer
         den jüdischen Freunden geschehen war, die inhaftiert und deportiert         Zeit – gleichviel welcher – als vorgegebenes ästhetisches Material zu
         worden waren, und was noch mit ihnen geschehen würde. In der M     ­ usik   betrachten, das jeweils und ohne jedwede Scheu zu verwenden sei, so-
         sich mitzuteilen, blieb die letzte und einzige Chance. Und er such-         fern es der Komponist strukturell hinreichend interessant findet und
         te nach probaten Mitteln, mit denen er als Künstler darauf antworten        es außerdem geeignet ist, die eigenen, komplex-komplizierten archi-
         könne. Untauglich erschien ihm Innerlichkeit als Flucht, rationale Dis-     tektonischen Gestaltbilder zu befördern und mit ihnen integrativ wei-
         tanz als Ausweg. Es galt eine neuartige Musiksprache zu finden, die der     terverarbeitet zu werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Er hat nach
         Problematik der Zeit gerecht wird und sie synkretistisch in adäquatem       seiner Ausdrucksform nicht gesucht, sondern sie einfach gefunden.
         Ausdruck erfasst: Auf die historisch überlieferte musikalische Kernsub-     Ungeachtet dieser für ihn gültigen Selbstverständlichkeit in seiner Ar-
         stanz konnte zurückgegriffen werden, sofern das vitale humanistische        beit, sah er sich aber durchaus als »Neu-und-Anders-Töner«, der für
         Gewebe von den camouflierenden Wucherungen befreit wird. Zugleich           einen ungeübten, nicht mit der Moderne vertrauten Hörer Fremdartiges
         aber mussten verbindliche Ausdrucksmittel für die Widerstandshal-           produziere, das zunächst unverständlich anmutet. Doch dies werde sich
         tung geschaffen werden, um die Abwehrkraft im Land zu mobilisieren.         durch Gewöhnung schon allmählich ändern. Andererseits lag es ihm fern,
         Ein Modell der Gegenaktion, das den Begriff von Wahrhaftigkeit neu          etwa Papiermusik, die nur vom Schreibtisch her gedacht sei, zu liefern.

48                                                                                                                     SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS _ ERINNERUNGEN AN MEINEN VATER   49
Im Gegenteil, er wollte die Menschen als Hörer erreichen und hoffte,
                                                             dass er seine Themenkreise – ausschließlich mit den Mitteln der Musik
                                                             dargestellt und vergegenwärtigt – sowohl in formaler-ästhetischer wie
                                                             in inhaltlich-semantischer Hinsicht so deutlich formulieren könne, dass
                                                             sie direkt und unmissverständlich ein reaktives Echo hervorrufen. An
                                                             den fertigen Partituren ist nicht mehr zu erkennen, wie langsam KAH
                                                             komponiert hat, wie präzise er – gleich seinem verehrten Vorbild Bach –
                                                             jede musiksprachliche Einzelheit »aushören« (so nannte er es) wollte.
                                                             Ich kann dafür Zeuge sein, denn an manchem Abend saß ich neben
                                                             ihm, wenn er am Flügel oft bis in die tiefe Nacht hinein einen Akkord
                                                             anschlug, der nur dem Laien als immer derselbe erschien; wie er ihn
                                                             monoton immer wieder hämmerte und damit den verzweifelten Herrn
                                                             Sternfeld in der Wohnung darunter bisweilen nach Mitternacht zu stür-
                                                             mischem Besenklopfen gegen seine Zimmerdecke veranlasste.
                                                             So entstanden die musikalisch wie psychisch vielschichtigen Werke,
                                                             jenes komplizierte, »der Gebrochenheit seiner Zeit entsprechende«
                                                             ästhetische Geflecht aus Klängen, Rhythmen, Linien und dynamischen
                                                             Verläufen, das seine Musik kennzeichnet. Doch waren darin die emotio-
                                                             nalen Nuancen einer inneren Vorstellungswelt auch noch so reichhaltig
                                                             und differenziert ausgebildet und mit der Aufführung ins Außenfeld der
                                                             klingenden Erscheinung getreten, sie sollten auch beim Hörer »eintref-
                                                             fen« und »ankommen«. Und er vertraute darauf, dass sich trotz aller
                                                             Schwierigkeiten der Aufführung Dirigenten wie Orchester finden ließen,
     Karl Amadeus Hartmann. Aufgenommen zur Entstehungs-
                                                             die sich dieser Vermittlungsaufgaben stellen und mit aller verfügbaren
     zeit von »Des Simplicius Simplicissimus Jugend« 1935.
                                                             Intensität widmen. Wenn es auch einige bestätigende Anzeichen für
                                                             diese Zuversicht gab, verstand sich mein Vater, solange er lebte, stets
                                                             als Unangepasster, fern der Kaste jener, die immer genau wissen, was
                                                             gefragt ist und wohin der Weg in die Zukunft führt.

                                                                                                                 RICHARD P. HARTMANN

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ZEITTAFEL

       1905       Karl Amadeus Hartmann wird in München in eine mu-            1943       Zur eigenen Sicherheit vergräbt Hartmann seine Partitu-
                  sisch-künstlerische Familie geboren.                                    ren in einer Zink-Kiste im Pfarrgarten des befreundeten
       1924       Studium an der Staatlichen Akademie der Tonkunst in                     Pfarrers Otto Satzinger in Murnau.
                  München.                                                     bis 1945   Hartmann erlebt die Inhaftierung und Ausrottung der
       1927       Anfertigung erster selbstständiger Kompositionen.                       jüdischen Mitbürger:innen im engsten privaten Umfeld.
                                                                                          Aus einem tiefen Mitgefühl mit den Opfern der natio-
       1929       Hartmann trifft auf den Dirigenten Hermann Scherchen,
                                                                                          nalsozialistischen Gewaltherrschaft entstehen u. a. die
                  der ihm fortan als Mentor zur Seite steht und zu dem er in
                                                                                          Sinfonie »Klagegesang« und die Klaviersonate »27. April
                  den darauffolgenden Jahren eine enge Beziehung pflegt.
                                                                                          1945«.
       1933       Hartmann zieht sich als Komponist in die innere Emigra-
                                                                               1945       Hartmann wird Musikdramaturg an der Bayerischen
                  tion zurück. Er weigert sich aus Widerstand gegen das
                                                                                          Staats­oper in München. In dieser Funktion gründet er
                  totalitäre Regime, der Reichsmusikkammer beizutreten,
                                                                                          die Konzertreihe »musica viva«, die neue Strömungen in
                  sodass ihm die öffentliche Berufsausübung als Kompo-
                                                                                          der Musik abbildet. Fünf Monate nach Ende des 2. Welt-
                  nist in Nazi-Deutschland unmöglich ist.
                                                                                          krieges findet am 7. Oktober das erste Konzert statt.
       1934       Hartmann heiratet seine Frau Elisabeth, auf der Hoch-
                                                                               1948       Zwölf Jahre nach Beendigung der Komposition erfolgt
                  zeitsreise entsteht in enger Zusammenarbeit mit dem
                                                                                           die konzertante Uraufführung von »Des Simplicius
                  Dirigenten Hermann Scherchen das Szenarium zur Oper
                                                                                          ­Simplicissimus Jugend« durch das Radio München.
                  »Des Simplicius Simplicissimus Jugend«.
                                                                               1949       Es folgt die szenische Uraufführung an der Oper Köln.
       1935       Hartmann schließt seine Kammeroper ab und bemüht
                                                                               		         Hartmann erhält den Musikpreis der Stadt München,
                  sich um eine Aufführung außerhalb Deutschlands.
                                                                                          zahlreiche seiner Werke werden nun in Deutschland ur-
       bis 1940   Trotz innerer Emigration komponiert Hartmann neue                       aufgeführt.
                  Werke, zahlreiche für die Schublade, einige werden im
                                                                               1957       Am Nationaltheater Mannheim erfolgt am 9. Juli die
                  Ausland aufgeführt. Dort wird er als Symbol für ein an-
                                                                                          Uraufführung der überarbeiteten Fassung für großes
                  deres Deutschland – für eine Gegenkultur – wahrge-
                                                                                          Orchester mit dem veränderten Titel »Simplicius Sim-
                  nommen.
                                                                                          plicissimus. Drei Szenen aus seiner Jugend« unter der
       1940       Die für Mai geplante Radio-Uraufführung von »Des                        musikalischen Leitung von Karl Fischer.
                  ­Simplicius Simplicissimus Jugend« im Brüsseler Rund-
                                                                               1963       Hartmanns 8. Sinfonie wird in Köln uraufgeführt.
                  funk wird aufgrund der sich zuspitzenden ­Kriegssituation
                                                                               		         Im Dezember stirbt der Komponist in München.
                   abgesagt.

52                                                                                                                            SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS _ ZEITTAFEL   53
Karl Amadeus Hartmann                              INTRODUKTION                                        ERSTER TEIL

                                                                                 SPRECHER:IN                                         Wiese mit Baum
                 SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS                                       Anno Domini
                    Drei Szenen aus seiner Jugend                                eintausendsechshundertundachtzehn wohnten           BAUER
                                                                                 zwölf Millionen in Deutschland, lebten zwölf        Du sehr verachter Bauernstand,
                                                                                 Millionen Menschen in Deutschland.                  bist doch der beste in dem Land,
                                                                                                                                     kein Mann dich gnugsam preisen kann,
     Libretto von Hermann Scherchen, Wolfgang Petzet und Karl Amadeus Hartmann   Da kam der große Krieg, der Glaube an den           wann er dich nur recht siehet an.
          nach dem Barockroman »Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch«       einen Gott war zerspalten, das heiIige Reich war
                   von Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen               zerstückt, aufstanden Fürst wider Kaiser, Ritter    Die Erde wär ganz wild durchaus,
                                                                                 wider Ratsherr, Bauer wider Städter, Reuter wider   wann du auf ihr nicht hieltest Haus,
                                                                                 Reuter, und der bittere Tod war ihrer aller Herr.   ganz traurig auf der Welt es stünd’,
                                                                                                                                     wann man kein Bauersmann mehr fünd.
                                                                                 Anno Domini
                                     PERSONEN                                    eintausendsechshundertundachtzehn wohnten           Bub, sei fleißig, laß die Schaf
                                                                                 zwölf Millionen in Deutschland, lebten zwölf        nit zu weit voneinander
                         Simplicius Simplicissimus: SOPR AN                      Millionen Menschen in Deutschland.                  und spiel wacker auf der Sackpfeifen,
                                  Einsiedel: TENOR                               Dreißig Jahre später:                               daß der Wolf nit komm und Schaden tu.
                                                                                 Anno Domini
                                 Gouverneur: TENOR
                                                                                 eintausendsechshundertundachtundvierzig lebten      SIMPLICIUS
                               Landsknecht: BARITON                              nicht mehr zwölf Millionen, wohnten nur noch vier   Knän*, sag mir auch, wie der Wolf seiet;
                                 Hauptmann: BASS                                 Millionen in Deutschland.                           ich hab noch nie kein Wolf gesehen.

                                    Bauer: BASS
                                                                                 Und da war einer, der nichts wußte vom Gericht,     BAUER
                                  Dame: TÄNZERIN                                 fernab, in der Einöde, ein kleiner Bub bei den      O, du grober Eselkopp,
                                    Sprecher:in                                  Schafen, kannte weder Gott noch Menschen,           der Wolf ist ein solcher Schelm und Dieb,
                                                                                 weder Himmel noch Hölle, weder Engel noch           der Menschen und Vieh frißt und dich auch,
                           Chor der Bauern, Sprechchor
                                                                                 Teufel, wußte weder Gutes noch Böses zu             wennst nit singen tust.
                                                                                 unterscheiden, der Allereinfältigste:               reicht Simplicius die Sackpfeife und geht ab
                              Ort: Mitteldeutschland                             Simplicius Simplicissimus.
                                                                                                                                     SIMPLICIUS
                             Zeit: Dreißigjähriger Krieg
                                                                                                                                     Du sehr verachter Bauernstand,
                                                                                                                                     bist doch der beste in dem Land,
                                                                                                                                     kein Mann dich gnugsam preisen kann,
                                                                                                                                     wann er dich nur recht siehet an.

                                                                                                                                     Der Kaiser, den uns Gott gegeben,
                                                                                                                                     uns zu beschützen, muß doch leben
                                                                                                                                     von deiner Hand, auch der Soldat,
                                                                                                                                     der dir doch zufügt manchen Schad.

                                                                                                                                     Ja der Soldaten böser Brauch
                                                                                                                                     dient dir gleichwohl zum besten auch,
                                                                                                                                     daß Hochmut dich nicht nehme ein,
                                                                                                                                     sagt er: Dein Hab und Gut ist mein.

                                                                                                                                     Streckt sich aus und sieht in den Himmel
                                                                                                                                     Der Wolf der kommt do nit… Der blaue Himmel –
                                                                                                                                     Der schöne Baum …
                                                                                 * Vater                                             gähnt und schläft ein

54                                                                                                                                           SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS _ LIBRETTO    55
(im Traum)                                          SIMPLICIUS                                          Feuer! Feuer! Feuer!                                  ZWEITER TEIL
Der Baum… der Baum…                                 Weiß nit, Herr Wolf!                                Häfen! Schüsseln! Öfen!
Du sehr verachter Bauernstand…                                                                          Fenster! Betten! Tische! Stühle! Bänke!               Wald, hinten ein Kreuz
Lauter Müh…, drum bist du billig hoch zu ehrn…      LANDSKNECHT                                         Und das ganze Haus in Brand!
Simplicius streckt sich. Es wird noch dunkler.      Wost herkommst?                                                                                           EINSIEDEL
Der Baum tritt allmählich in einer eigentümlichen                                                       EINE:R AUS DEM SPRECHCHOR                             (unter dem Kreuz stehend)
Plastik hervor. (Lebensbaum)                        SIMPLICIUS                                          (sehr dramatisch):                                    Komm, Trost der Nacht, o Nachtigal!
Hoch da oben… , ah… da sitzt einer…                 Weiß nit, Herr Wolf!                                Acht Millionen starben so –                           Laß deine Stimm mit Freudenschall
die Last… die druckt…                                                                                   (langsam und flüsternd)                               aufs lieblichste erklingen:
                                                    LANDSKNECHT                                         O armes geknechtetes Land!                            Komm, komm und lob den Schöpfer dein,
STIMME DES LANDSKNECHTS                             Gleich sagst, wo dem Bauern sein Hof ist!                                                                 weil andre Vöglein schlafen sein,
Hunger und Durst, auch Hitz und Kält,               Bäuerin und Bauer laufen über die Bühne,                                                                  und nicht mehr mögen singen:
Arbeit und Armut, wie es fällt,                     Landsknecht hinter ihnen drein                                                                            Laß dein Stimmlein laut erschallen,
Gewalttat, Ungerechtigkeit,                                                                             ZWISCHENSPIEL                                         dann vor allem kannst du loben:
treiben wir Landsknecht allezeit.                   BAUER                                                                                                     Gott im Himmel, Gott im Himmel
                                                    O lauf, Bub! O lauf, Bub! Die Reuter sein da,       SPRECHER:IN                                           hoch dort oben.
SIMPLICIUS                                          die gottlosen Schelme!                              Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz
Auf dem Ast sitzt er… ganz unten                    Simplicius entflieht                                  verheeret!                                          Simplicius stürzt nach Beendigung des Liedes
und druckt… der Wolf! Knän! Der Wolf!                                                                   Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun,         herein; gehetzt, kaum mehr seiner Sinne mächtig,
(wacht auf)                                         SPRECHCHOR                                          das vom Blut fette Schwert, die donnernde             schwankend, fast irre vor Angst.
Bühne hell – der Baum in alter Form –               Da schaut! Da schaut! Da schaut                       Karthaun
unten in der Mitte steht der Landsknecht.           die losgelass’nen Teufel!                           hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrat                SIMPLICIUS
                                                    Sie kommen über den Hof gestürmt,                     aufgezehret.                                        (flüstert)
LANDSKNECHT                                         sie brechen die Türen, sie dringen ins Haus,                                                              Bäume… lauter Bäume… mit schwarzen Armen,
Angriff und Flucht, auch Gott und Welt,             sie stechen die Schafe, die Schweine,               Die Türme stehn in Glut, die Kirch’ ist umgekehret,   mit Feueraugen…
Bettel und Diebstahl, wie es fällt,                 die Ochsen, sie metzgern, sie braten,               das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind          Der Wolf steht dahinter…
Gewalttat, Ungerechtigkeit,                         sie sieden, sie kochen,                                zerhaun,                                           (sieht den Einsiedel gegen den Horizont stehen
treiben wir Landsknecht allezeit.                   zerschlagen die Häfen, die Schüssel, die Fenster,   die Jungfraun sind geschänd’t, und wo wir hin nur     und schreit)
Lüge und Mord, allein und gesellt,                  zertrümmern die Tische, die Stühle, die Bänke,         schaun                                             Ah… da steht er… der Wolf, der Wolf, der Wolf.
Hurerei, Verführung, wie es fällt,                  zerschneiden die Betten, zerhauen die Öfen –        ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist           (er reißt die Sackpfeife hervor und beginnt wie irr
Gewalttat, Ungerechtigkeit,                         kein Teil bleibt mehr ganz.                            durchfähret.                                       darauf zu blasen)
treiben wir Landsknecht allezeit.                   Muß alles verkommen!
                                                    Mann gegen Mann! Knecht gegen Knecht!               Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit         EINSIEDEL
SIMPLICIUS                                          Und bleibt doch der Tod ihrer aller Herr,             frisches Blut.                                      fährt mehr erstaunt als erschrocken herum
reibt sich die Augen:                               keiner kommt aus, wie grausam                       Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme       und geht Simplicius entgegen:
Das ist der böse Schelm und Dieb,                   er’s selber treibt!                                   Flut,                                               Bläst die Hölle aus der Nacht?
davon der Knän sagte!                               Hört! Wie sie schreien, die Bauernvögel!            von Leichen fast verstopft, sich langsam fort         Satanas schweig!
Fort! Wolf!                                         Hört! Wie es lärmt, das Landsknechtvolk!              gedrungen.                                          (Simplicius hört auf zu spielen)
greift nach der Sackpfeife und will spielen         Solange das Wild noch ums Leben hetzt,                                                                    Du bist nicht der Geselle dazu, die Heiligen
                                                    solange dauert die wilde Jagd!                      Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der      ohn’ göttliches Verhängnis zu verstören!
LANDSKNECHT                                         Schaut hin, wie sie’s treiben,                        Tod,                                                (schreitet herab, Simplicius entgegen)
Schau nicht so blöd! Sag’, wo du zu Haus bist.      die blutigen Hunde!                                 was grimmer denn die Pest und Glut und
                                                    Da liegt ein Kopf, der verlor seinen Herrn;           Hungersnot:                                         SIMPLICIUS
SIMPLICIUS                                          Der Herr liegt drüben am Grabenrand! –              Daß auch der Seelenschatz so vielen                   Nicht fressen! Nicht fressen!
Weiß nit, Herr Wolf!                                Dort liegt ein Schenkel,                              abgezwungen.
                                                    der Rumpf verblutet im Trog                                                                               EINSIEDEL
LANDSKNECHT                                         der abgestochenen Schweine –                                                                              Ei, jawohl, nein mein Sohn, sei zufrieden,
Wem d’g’hörst!                                      Verstümmelte Knechte, geschändete Mägde –                                                                 ich friß dich nit.
                                                    Die blutigen Hunde, sie trifft noch die Strafe,
                                                    so blutig, wie sie es selber getrieben.

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