DER RING Dezember 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel

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DER RING Dezember 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Dezember 2021

DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
DER RING Dezember 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Schenken ist vielfältig

                                             Schenken kann einen persön-                     habe, das nicht so im Vorder-
                                             lichen, tieferen Sinn haben.                    grund steht. Ein besonderes Lob
                                             Oft ist Schenken verbunden                      schenken – auch vielleicht einmal
                                             mit dem Wunsch, dem Partner,                    für die alltäglichen Dinge.
                                             den Kindern, den Enkelkindern
                              Foto: privat

                                             oder Bekannten eine Freude zu                   Schenken ist so unendlich viel­
                                             machen. Das Schenken ist eine                   fältig, Schenken kann viel Freude,
                                             Möglichkeit, meine Wertschät-                   Zuversicht und Mut machen.
Erich Möller.                                zung, Zuneigung oder Freund-
                                             schaft einem mir wichtigen Men-                 Die Adventszeit ist für unsere
                                             schen gegenüber auszudrücken.                   Familie eine Zeit der Vorfreude
Vor einigen Jahren sitzen im                 Zeit schenken, Zeit haben für ein               und des Wartens auf Weih-
November einige Bewohnerin-                  persönliches Gespräch, für ein                  nachten. Wir möchten unsere
nen und Bewohner des Hauses                  Telefonat oder für eine persön-                 Freunde und Verwandten daran
mit mir beim Vorbereiten einer               liche Begegnung, auch unter den                 teilhaben lassen und haben in
Mahlzeit am Tisch zusammen.                  aktuellen erschwerten Bedingun-                 den vergangenen Jahren Kar-
Ich frage sie im Gespräch, was               gen von Abstand und anderen                     ten geschrieben. Wir nehmen
für Weihnachtsgeschenke sie                  Schutzvorschriften. Aufmerksam                  uns Zeit, Gedanken, Erlebnisse
sich wünschen. Neben sol-                    sein, Mitgefühl zeigen, wenn                    und Wünsche mit Freunden und
chen wie Radiowecker, Foto-                  mein Gegenüber es im Augen-                     Bekannten zu teilen und dem
buch und ähnlichen Dingen sagt               blick nicht leicht hat.                         einen oder anderen ein kleines
eine Bewohnerin, dass es ihr                                                                 Geschenk zu machen.
größter Wunsch sei und es ein                Ich schenke jemandem ein gutes
Geschenk wäre, mehr Zeit mit                 Wort, vielleicht, um Trost zu                   Für die nun beginnende Advents-
ihrer Schwester zu verbringen                spenden in dieser Zeit, in der                  zeit und das bevorstehende
– die Schwester wohnt in der                 viele persönliche Begegnungen                   Weihnachtsfest wünsche ich
Pfalz. Sie wurde bis dahin nur zu            erschwert oder nicht möglich                    Ihnen eine gesegnete Zeit, dass
ihren Geburtstagen eingeladen.               sind. Eine Geste, ein Gespräch,                 Sie neben allen Aufgaben und
Im folgenden Jahr war sie auch               um ein wenig Hoffnung zu                        allem Trubel Freude am »Ge-
für eine Urlaubs­woche bei ihrer             schenken. Ein Gebet dem schen-                  schenk Weihnachten« haben
Schwester.                                   ken, der mit seinem Problem                     können.
                                             nicht fertig wird.
Es gibt viele Gelegenheiten,                                                                                     – Erich Möller –
jemandem etwas zu schenken.                  Beachtung und Aufmerksam-                       ( Bereichsleiter in Bethel.regional/
Sehr oft sind es schön einge-                keit meinem Gegenüber schen-                                         Bielefeld-Nord )
packte materielle Geschenke.                 ken, das ich vielleicht übersehen

                                               DER RING. Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel.
    Titelbild: In Gevelsberg und Hagen         61. Jahrgang. Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl, Vorsitzender des Vorstandes, in
    werden ungewöhnliche Adventskränze         Zusammenarbeit mit den Mitarbeitervertretungen. Redaktion: Johann Vollmer
                                               ( verantwortlich ), Petra Wilkening. Satz und Gestaltung: Andrea Chyla. Sekretariat:
    hergestellt. Den metallischen Anteil       Jutta Seidenberg/Chris­­­tina Heitkämper. Anschrift: Quellenhofweg 25, 33617 Bielefeld,
    fertigen Beschäftigte der Kunstschlos-     Telefon: 0521 144-3512, Telefax 0521 144 - 2274. E-Mail: presse@bethel.de.
    serei Gebal, die farbenfrohen Kerzen       Druck: Gieseking Print- und Verlags­­services GmbH, 33617 Bielefeld. Nachdruck ist
    entstehen in den Hagener Elbershallen.     mit Genehmigung der Redaktion gestattet. © bei v. Bodelschwinghsche Stiftungen
                                               Bethel. DER RING ist Mitglied im Gemeinschafts­werk der Evangelischen Publizistik
    Mehr zu der vorweihnachtlichen Ko-         ( GEP ). Interessierte können die Zeitschrift kostenlos abonnieren.
    produktion zweier Bethel.regional-         Spendenkonto: IBAN: DE48 4805 0161 0000 0040 77, BIC: SPBIDE3BXXX.
    Standorte ab Seite 12. Foto: Christian     Bethel im Internet: www.bethel.de
    Weische                                    Redaktionsschluss für den Januar-RING: 3. Dezember 2021

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DER RING Dezember 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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i   Inhalt                                                                         Kurz gesagt
                                                                           ­­
    Menschen in Bethel              5   Ein Herzenswunsch             16        IDM dockt an Uni an
    Die 107-jährige Anneliese           Schwester Christa Hübner
    Figge ist die älteste Bielefel-     feierte in der Lazarus-Diakonie         Das Institut für Diakoniewissen-
    derin.                              Berlin ihr 60-jähriges Einseg-          schaft und DiakonieManagement
                                        nungsjubiläum.                          (IDM) steht vor einem Wechsel
    Vertraute als Beistand    6                                                 zur Universität Bielefeld. Die
    Die Finanzierung der Be-            Der Lieblingsplatz            17        Kirchliche Hochschule Wupper-
    gleitung von Menschen mit           Die Betheler Inobhutnahme-              tal / Bethel gibt ihren Standort in
    Behinderungen im Kranken-           Gruppe in Langenhagen                   Bielefeld-Bethel zum 1. Januar
    haus ist ab kommendem               freut sich über ihre sanierten          auf. An der Universität Bielefeld
    Jahr geregelt.                      Räumlichkeiten.                         soll das IDM an der Fakultät für
                                                                                Geschichtswissenschaft, Philo-
    Digitale Teilhabe		            8    Zeit des Abschieds         18           sophie und Theologie in die Ab-
                                        Im Dortmunder Fußballstadion            teilung Evangelische Theologie
                                        veranstaltete das Betheler              integriert werden. Durch diese
                                        Hospiz Am Ostpark einen                 Zusammenarbeit eröffnet sich
                                        Letzte-Hilfe-Kurs.                      den Studierenden eine größere
                                                                                Interdisziplinarität. Räumlich
                                        Fast wie Urlaub		            20         ändert sich für die Studierenden
                                                                                nichts, der Campus Bethel bleibt
                                                                                bestehen. Am von Bethel mit-
    Im Haus Gihon wird mit Hilfe                                                finanzierten Institut für Diakonie-
    der Aktion Mensch die selbst-                                               wissenschaft und DiakonieMa-
    bestimmte Nutzung des Inter-                                                nagement sind rund 80 Studie-
    nets gefördert.                                                             rende eingeschrieben.

    4 von 10.000		                10                                            Attraktiver.de informiert
                                        Betheler Klienten und Klien­
                                        tinnen besuchen regelmäßig              Die Diakonischen Tarife belegen
                                        den Gnadenhof Wattenscheid              in der Pflege und den sozialen
                                        in Bochum und finden dort               Berufen den Spitzenplatz: Dies
                                        innere Ruhe.                            zeigt ein Vergleich mit dem
                                                                                Entgeltatlas der Bundesagentur
                                        Große Verbesserung         22           für Arbeit. Um Mitarbeitenden
                                        Im Seniorenwohnpark Am                  und Interessierten Tarifvergleiche,
                                        Kirschberg in Lobetal wurden            Grundlagen und Leistungsüber-
                                        in diesem Jahr mehrere                  sichten der Diakonie-Tarife zu
    Seit drei Jahren gibt es            Häuserjubiläen gefeiert.                ermöglichen, haben die Dienst-
    am Evangelischen Klinikum                                                   geber in der Arbeitsrechtlichen
    Bethel das Zentrum für              Bethel damals                23         Kommission der Diakonie Deutsch-
    Seltene Erkrankungen.               Vor 150 Jahren führte                   land eine neue Homepage auf
                                        Sarepta die erste Pfennig-              den Weg gebracht. Die Seite
    Tannenbaum und Kerzen 12            Sammlung ein. Friedrich                 »attraktiver.de« informiert über
    Für die Weihnachtsproduktion        von Bodelschwingh per-­                 Gehälter und Arbeitsbedingun-
    arbeiten die Kunstschlosserei       fek­tionierte die Idee.                 gen in der Diakonie sowie den
    in Gevelsberg und die Werk-                                                 Kommissionsweg. »Wir setzen
    statt auf dem Elbersgelände         RING-Magazin                 24         jetzt ein klares Zeichen für die
    in Hagen zusammen.                                                          Attraktivität der Pflege- und
                                        Neues aus der MAV           25          Sozialberufe«, sagt Thomas
    Positive Konflikte           14     Die Mitarbeitervertretungen             Sopp, Bethels Beauftragter des
    Aus zerrütteten Verhältnissen       informieren.                            Vorstands für Tarifangelegenhei-
    hat Sina (Name geändert)                                                    ten und Vorsitzender der Dienst-
    in der Lobetaler Jugendhilfe-       Namen und Notizen            26         geber in der Arbeitsrechtlichen
    Einrichtung »Wendepunkt«                                                    Kommission.
    in ein neues Leben gefunden.        Mitarbeiter/-innen           26
                                                                                                           – JoV –

                                                                                                                 3
DER RING Dezember 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Aus
                     ­   Bethel – Für Bethel

    Besuch in Eben-Ezer
    Strahlender Sonnenschein in Lemgo. Nach              1869 wurde, wie auch in Bethel auf Bestre-
    und nach treffen die Mitglieder der Pfarrkonfe-      ben reicher Kaufleute, von der Kanzel der
    renz Bethels nach einer ungeplanten Stippvi-         Lemgoer Nicolaikirche zur Gründung einer
    site in Neu-Eben-Ezer auf dem parkähnlichen          Anstalt aufgerufen. Diese erfolgte 1871,
    Gelände von Alt-Eben-Ezer ein. Die Stiftung          und die »Anstalt« bekam den alttestament-
    Eben-Ezer, die neuerdings fünfte Stiftung            lichen Namen Eben Ezer. Stein der Hilfe. Als
    der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel          Topehlen 1904 starb, lebten 60 »Pfleglinge«,
    kennen lernen – das steht heute ganz oben            wie man damals sagte, in Eben-Ezer. Seine
    auf der Tagesordnung.                                Nachfolger bauten die Arbeit weiter aus. Dass
                                                         einmal 1.000 Menschen, Erwachsene, Alte
    Am Eingang der rund 110 Jahre alten Kapelle          und Kinder, Menschen, die in und nach den
    »Zum guten Hirten« werden wir herzlich zur           Kriegswirren dort heimatlos oder verwaist
    Andacht begrüßt. Und nicht nur die Kapelle           strandeten, auf dem Gelände lebten, ist heute
    überrascht mit ihrem markanten Tonnenge-             kaum vorstellbar.
    wölbe und einer großen künstlerisch gestalte-
    ten Glasfront, die Helligkeit und Farbspiele in      1957 wurde der Grundstein für Neu-Ebenezer
    den Kirchraum zaubert. Auch die Kirchenmu-           gelegt: Es entstand eine Komplexeinrichtung
    sik überrascht: mit Orgel und zweistimmigem          wie vom Reißbrett, mit Kinderheimat, Förder-
    Gesang. Und wie in der Zionskirche in Bethel         schule und ersten Wohnheimen für Erwachsene.
    ist auch hier ein biblischer Vers in großen Let-     Sie wurde kontinuierlich weiter ausgebaut
    tern auf den Altarbogen geschrieben: »Der            und professionalisiert.
    Herr hilft den Elenden herrlich.« Die Frömmig-
    keit der Erweckungsbewegung im 19. Jahr-             Der aktuelle Imagefilm der Stiftung Eben-Ezer
    hundert hat segensreich und bis heute sicht-         rundet die Vorstellung der fünften Stiftung
    bar Spuren hinterlassen.                             Bethels ab. »Da hätte auch Bethel drunter-
                                                         stehen können«, kommentiert ein Kollege,
    Nach der Andacht geht es in die nur wenige           kaum dass der letzte Ton verklungen ist und
    Schritte entfernte Cafeteria, den Treffpunkt         stellt herzlich anerkennend fest: »Jetzt haben
    für Menschen mit und ohne Handikap. Dort             wir alle ein Gespür dafür, wer mit unter unser
    erzählt und zeigt Dr. Bartolt Haase, Theologi-       Dach kommt.« Ja, jetzt gilt es zusammenzu-
    scher Vorstand der Stiftung Eben-Ezer, wie der       wachsen, um dann zusammen zu wachsen.
    Stein der Hilfe ins Rollen kam und was heute         Zusammenarbeit bietet sich an vielen Stellen
    Stand der Dinge ist: Da war der Lehrer Simon         an. Wir haben die gleichen Themen und müs-
    August Topehlen, der von der Schulbehörde            sen uns in den nächsten Jahren den gleichen
    den Auftrag bekam, einem Mädchen mit geis-           Herausforderungen stellen. Ich denke zum
    tiger Behinderung das Schreiben, Lesen und           Beispiel an die Umsetzung des BTHG, die Aus-
    Rechnen beizubringen. Topehlen und seine             bildung und Gewinnung von Mitarbeiterinnen
    Schwester Lina nahmen das Kind namens                und Mitarbeitern, die Dezentralisierung. Das
    Henriette Ludolph bei sich zuhause auf. Und          Wichtigste heißt jedoch: Für Menschen da
    ja, es stellten sich Erfolge ein. Henriette lernte   sein. Ab jetzt gemeinsam.
    – und zwar fürs Leben: sich anzuziehen, bei
    Tisch zu sitzen und einfache hauswirtschaft-
    liche Arbeiten zu verrichten. Der Behörde
    reichte das nicht. Auftrag und entsprechende         Ihr
    Gelder wurden eingestellt. Dennoch behielten
    die Geschwister Topehlen Henriette bei sich
    und nahmen sogar drei weitere Mädchen mit            Pastor Ulrich Pohl
    Behinderungen bei sich auf.

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DER RING Dezember 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Älteste Bielefelderin lebt im Lohmannshof
107 Jahre – Anneliese Figge feiert Geburtstag

Das Jahr 1914: Das Attentat
von Sarajevo löst den Ersten
Weltkrieg aus, James Joyce
veröffentlicht seinen berühm-
ten »Dubliner«, die olympi-
schen Ringe werden erfun-
den, und die weltweit letzte
Wandertaube stirbt. Von
diesen Ereignissen unbeein-
druckt kommt an der Biele-
felder Arndtstraße Anneliese
Figge auf die Welt. Am 14.
November feierte sie ihren
Geburtstag in Bethels Pflege­
zentrum am Lohmannshof.
Mit 107 Jahren ist sie der
älteste Mensch Bielefelds.

Als »Gewächs aus dem Bielefel-
der Westen« bezeichnet Sohn
Wolfgang Figge, selbst 76 Jahre

                                                                                                                         Foto: Paul Schulz
alt, seine Mutter. Hier betrieben
ihre Eltern einen Papier- und
Schreibwarenladen. Früh hat sie
in dem Familienbetrieb mitgear-
beitet, auch in der Buchhaltung.      Ein »solides Leben« sei das Rezept zum Altwerden, sagt Anneliese Figge.
Dass sie ein ausgesprochener
»Zahlenmensch« ist, merkt man         noch, dass mein Vater damals                len«, erinnert sich Anneliese
bis heute: Kopfrechnen kann sie       sehr krank war.« Dass sie selbst            Figge. »Von den Diakonissen
immer noch sehr gut. Außerdem         nicht nur diese gefährliche Zeit,           habe ich gelernt, was man für
blieb ihr ein gutes Gedächtnis        sondern auch noch mehr als                  den Hausgebrauch so benötigt.«
erhalten – unzählige Geburts-         ein Jahrhundert inklusive zweier            Später arbeitete sie als kaufmän-
tage und Telefonnummern weiß          Weltkriege überstehen sollte,               nische Angestellte im Bielefelder
sie auswendig. Besonderen             hätten in Kindertagen wohl                  Stadtteil Brackwede. Mit ihrem
Wert legt sie auf Ordnung und         wenige gedacht: »Ich war immer              Mann Wilhelm war sie von 1936
Struktur. Daran hat sich auch         die Kleinste und Leichteste von             bis zu dessen Tod 1992 verhei-
im hohen Alter nichts geän-           allen«, sagt sie. Jedes Jahr wurde          ratet. Aus der Ehe gingen zwei
dert. Auch heute noch vertritt        das Mädchen mit der vermeint-               Kinder hervor, vier Enkel und drei
Anneliese Figge ihre Position:        lich schwächlichen Konstitution             Urenkel folgten.
»Sie weiß, was sie will«, sagt ihr    sechs Wochen in Kur geschickt,
Sohn. Allerdings hat ihre Sehkraft    um robuster zu werden.                      Ein Rezept, wie man so ein
in letzter Zeit nachgelassen – zu                                                 hohes Alter erreicht, hat Anne-
ihrem großen Bedauern, da sie         Das Nähen gelernt                           liese Figge nicht. Lediglich ein
eine leidenschaftliche Leserin war.                                               »solides Leben« sei empfehlens-
                                      Mit Bethel ist Anneliese Figge              wert. Vielleicht liegt es doch an
Die Corona-Pandemie, die Anne-        nicht erst in Kontakt gekommen,             den guten Genen in der Familie,
liese Figge im Lohmannshof bis-       als sie vor dreizehn Jahren in              schließlich »knackte« auch ihre
lang gesund und ohne Infek-           das Pflegezentrum im Bielefel-              jüngere Schwester in diesem Jahr
tion überstanden hat, ist für         der Wellensiek zog. Vor bald 100            die Marke 100. Aber einen Rat
die Bielefelderin nicht die erste     Jahren besuchte das Mädchen                 hat sie dann doch für ihre Mit-
Masseninfektion, die sie mit-         auf Wunsch ihrer Großmutter                 menschen: »Man muss sein Maß
erlebt hat. Auch an die Spani-        die Handarbeitsschule in Bethel.            kennen.«
sche Grippe, die 1918 Millionen       »Ein Mädchen muss nähen kön-
Menschen­leben forderte, kann         nen«, war deren feste Überzeu-                                   – Robert Burg –
sie sich noch erinnern. »Ich weiß     gung. »Mir hat es dort gut gefal-

                                                                                                                    5
DER RING Dezember 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Finanzierung der Krankenhaus-Begleitung geregelt
»Dieses Vertraute können Pflegende nicht ersetzen«

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Ohne vertraute Begleitpersonen sind Behandlungssituationen im Krankenhaus für viele Menschen mit Behinderungen eine große
psychische Belastung.

»Allein schon in einem Pflegebett durch die langen Kranken-                           persönlichen Umfeld der Betrof-
hausgänge zu einer Untersuchung gefahren zu werden ist                                fenen leistet die gesetzliche
für viele Menschen mit Behinderungen eine psychische Belas-                           Krankenversicherung im Fall der
tung. Da hilft eine vertraute Person an der Seite sehr.« Katja                        Mitaufnahme oder ganztägigen
Rosenthal-Schleicher, Pflegerische Fachbereichsleiterin im Kran-                      Begleitung einen Ausgleich für
kenhaus Mara in Bielefeld-Bethel, weiß, wie wichtig es ist,                           den Verdienstausfall der Begleit-
dass Begleitpersonen Menschen mit Behinderungen Sicher-                               personen.
heit geben. Ein neues Bundesgesetz, das die Finanzierung der
Begleitung bei einem Krankenhausaufenthalt regelt, sei daher                          Viele An- und Zugehörige und
ein bedeutender Schritt.                                                              natürlich die Betroffenen selbst
                                                                                      würden nun hoffentlich durch
Im September hat der Bundes-               der medizinischen Versorgung               die neuen Regelungen entlastet,
rat die Gesetzesänderungen zur             verbessert, ganz im Sinne der              so Katja Rosenthal-Schleicher,
Finanzierung der Begleitung von            UN-Behindertenrechtskonven-                verantwortliche Pflegedienstlei-
Menschen mit Behinderungen                 tion«, sagt er.                            terin für die Neurologie in Mara
durch eine vertraute Bezugs-                                                          und im EvKB. »Alle, die eine
person bei einem Krankenhaus-              Klarer geregelt                            Begleitung übernommen haben,
aufenthalt zugestimmt. »Ist                                                           mussten das im Zweifelsfall in
das Gesetz in Kraft, wird es die           Die Kostenträgerschaft sei nun             ihrem Erholungsurlaub tun oder
medizinische Versorgung von                klarer geregelt, stellt Dr. Ernst          waren gezwungen, sich auf der
Menschen mit Behinderungen                 fest. Die gesetzlichen Verände-            Arbeit frei zu nehmen – aber auf
deutlich verbessern«, ist der              rungen gelten für alle Menschen,           eigene Kosten. Manchmal ist es
Geschäftsführer des Evangeli-              die Leistungen der Eingliede-              dann gar nicht zur Krankenhaus-
schen Klinikums Bethel (EvKB)              rungshilfe erhalten. Erfolgt die           behandlung gekommen, und
und des Krankenhauses Mara,                Begleitung durch Mitarbeiterin-            das darf nicht passieren«, so die
Dr. Matthias Ernst, überzeugt.             nen oder Mitarbeiter eines Leis-           Pflege­expertin.
Den Bedürfnissen der besonders             tungserbringers der Eingliede-
vulnerablen Patienten werde                rungshilfe, werden die zustän-             Die Begleitpersonen würden
mit der neuen Regelung stärker             digen Träger die Personalkosten            die Betroffenen kennen wie kein
Rechnung getragen. »Außerdem               übernehmen. Bei einer Beglei-              ein anderer, so Katja Rosenthal-­
wird ihre Gleichbehandlung in              tung durch Personen aus dem                Schleicher. »Sie kennen ihre

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DER RING Dezember 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
»Dieses Vertraute …

Gewohnheiten, ihre besonde-
ren Ängste und ihren Bedarf an
Hilfsmitteln«, sagt sie. Angehö-
rige und vertraute Bezugsperso-
nen aus der Eingliederungshilfe
wüssten, ob jemand körperliche
Nähe mag, auf welche Anrede er
reagiert und welche Situationen
besonderen Stress verursachen.
»Viele brauchen auch Unterstüt-
zung bei der Kommunikation,
weil sie sich verbal nicht so gut
äußern können. Mit ihren Ange-

                                                                                                                               Foto: Christian Weische
hörigen haben sie aber durchaus
Regeln gefunden, wie sie Bedürf-
nisse ausdrücken können.«

Für viele Menschen mit Behin-
derungen ist es eine besonders
große Herausforderung, in eine       Dr. Matthias Ernst und Katja Rosenthal-Schleicher erwarten eine deutliche Verbesse-
ungewohnte Umgebung zu               rung der medizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderungen.
kommen oder zusammen mit
anderen Menschen zu essen.           leistung, auch wenn sie bisher              Katja Rosenthal-Schleicher weist
Viele haben ein starkes Bedürf-      nicht vom Kostenträger refinan-             darauf hin, dass die vulnerablen
nis nach körperlicher Nähe.          ziert wird.«                                Patientengruppen nicht umfas-
Rituelle Tagesabläufe sind ihnen                                                 send berücksichtigt würden.
wichtig. Unter diesen Bedingun-      Dr. Matthias Ernst und Katja                »Die Regelungen gelten für alle
gen geben vertraute Menschen         Rosenthal-Schleicher erwarten               Menschen mit Behinderungen,
Sicherheit. »Häufig wird eine        über die Neu-Regelungen deut-               die Leistungen der Eingliede-
Behandlung so möglich«, sagt         liche Verbesserungen für Men-               rungshilfe beziehen und auf
Katja Rosenthal-Schleicher.          schen mit Behinderungen im                  Begleitung angewiesen sind.
                                     EvKB und in Mara. »Die bishe-               Aber was ist mit Menschen mit
Eine gewohnte Berührung, die         rige intensive Begleitung durch             altersdemenziellen Erkrankun-
vertraute Stimme – das nimmt         unsere Pflegekräfte hat die Auf-            gen? Das sind meistens Men-
Menschen mit Behinderungen           enthalte dieser Patientengruppe             schen, die keine Leistungen aus
viele Ängste. »Dieses Vertraute      bereits gut gestaltet. Trotzdem             der Eingliederungshilfe bekom-
können Pflegende nicht erset-        wird die Versorgung nun noch                men und somit durch das Raster
zen oder aufholen«, weiß Katja       ein höheres Niveau erreichen und            fallen.«
Rosenthal-Schleicher. Es sei her-    alle Betroffenen und Begleiten-
ausragend, was beispielsweise        den bekommen mehr Planungs-                 Das Gesetz soll schrittweise ab
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter     sicherheit«, so Dr. Ernst.                  Ende Januar 2022 in Kraft tre-
aus den Eingliederungshilfe-Ein-                                                 ten. Sandra Waters freut sich
richtungen von Bethel.regional       Medizinisch notwendig                       ebenfalls über die »erhebliche
leisteten. »Da wird immer wie-                                                   Verbesserung der Versorgung.«
der ermöglicht, dass vertraute       Die neuen Regelungen seien                  Allerdings müssten die Rege-
Assistenzmenschen für einige         ein wichtiger Schritt, einiges sei          lungen anschließend noch auf
Stunden in das Krankenhaus           aber noch verbesserungswürdig,              NRW-Landesrecht und das Leis-
kommen können«, berichtet sie.       findet der Geschäftsführer. Eine            tungsrecht übertragen werden,
Diese notwendige Unterstützung       Voraussetzung für die Finan-                damit sie in der Praxis angewen-
werde im Einzelfall in den beson-    zierung der Begleitung ist, dass            det werden könnten. »Da wir
deren Wohnformen abgeklärt,          sie aus medizinischen Gründen               die Befürchtung haben, dass dies
so Bethel.regional-Geschäfts-        zwingend notwendig ist. »Hier               dauern kann, müssen wir darauf
führerin Sandra Waters. »In den      muss genauer definiert werden,              politisch hinwirken.«
meisten Fällen übernimmt die         was diese medizinischen Gründe
Eingliederungshilfe die Assistenz-   sind«, so Dr. Matthias Ernst.                               – Gunnar Kreutner –

                                                                                                                           7
DER RING Dezember 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Haus Gihon fördert Umgang mit neuen Medien
»Digitale Teilhabe bedeutet Selbstbestimmung«

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                                                                                                         den Familien und Freunden zu
                                                                                                         ermöglichen, mietete die Einrich-
                                                                                                         tung in dieser Zeit einen Compu-
                                                                                                         ter beim PIKSL-Labor in Bielefeld.
                                                                                                         Der PC konnte für das Video-Tool
                                                                                                         Skype genutzt werden. Das kam
                                                                                                         gut an: »Das Angebot wurde
                                                                                                         sehr viel genutzt. Uns wurde
                                                                                                         noch einmal vor Augen geführt,
                                                                                                         wie sehr die Menschen von den
                                                                                                         digitalen Medien profitieren.«
                                                                                                         Deshalb soll das Thema fester
                                                                                                         Bestandteil im Konzept der Ein-

                                                                                 Fotos: Thomas Richter
                                                                                                         richtung werden.

                                                                                                         Dank der Förderung »Internet
                                                                                                         für alle« der Aktion Mensch
                                                                                                         gelingt ein erster Schritt in diese
Hans-Joachim Giese (l.) möchte den Klienten und Klientinnen im Haus Gihon mehr                           Richtung: 10.000 Euro hat das
digitale Teilhabe ermöglichen. Auch Martin Schadt profitiert davon.                                      Haus Gihon erhalten, um digi-
                                                                                                         tale Technik anzuschaffen und
Freunde kontaktieren mit WhatsApp, Videos schauen auf                                                    die selbstbestimmte Internetnut-
YouTube, Videotelefonie per Skype: Martin Schadt kommt                                                   zung zu fördern. Eine Hälfte des
mit seinem Tablet gut zurecht. Seit rund drei Jahren hat der                                             Geldes ist für Hard- und Soft-
Bethel-Klient das Gerät, das er dank Sprachsteuerung prob-                                               ware vorgesehen. Es wird einge-
lemlos bedienen kann. Viele Menschen mit Behinderungen                                                   setzt, um einen Raum mit zwei
haben dagegen keinen Zugang zu digitalen Endgeräten oder                                                 Computern und einem Tablet
dem Internet. Mit Hilfe eines von der Aktion Mensch geförder-                                            auszustatten. Die andere Hälfte
ten Projekts und der Unterstützung des Betheler PIKSL-Labors                                             der Förderung ist für Bildungs-
möchte das Haus Gihon in Bielefeld-Bethel mehr Menschen                                                  angebote genehmigt. Die Nut-
die digitale Teilhabe ermöglichen.                                                                       zerinnen und Nutzer und auch
                                                                                                         Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
»Der Alltag wird immer digitaler.          jungen Menschen wollen surfen.                                werden im Bereich Medienkom-
Wir erhalten E-Mails, versenden            Sie sitzen und stehen im Flur an                              petenz, Bedienung und Hand-
Sprachnachrichten und veröf-               den WLAN-Access-Points, wo                                    habung der Technik geschult
fentlichen Fotos in den Sozialen           die Verbindung besonders gut                                  und erhalten Informationen über
Netzwerken«, sagt Einrichtungs-            ist.« Einige Bewohnerinnen und                                die Möglichkeiten und Risiken
leiter Hans-Joachim Giese. Er              Bewohner haben eigene Smart-                                  der Internetnutzung. Ein erstes
erlebe aber, dass Menschen mit             phones, Tablets und auch Inter-                               inklusives Fortbildungsprogramm
Behinderungen und auch viele               netanschlüsse in ihren Zimmern.                               wurde bereits mit Unterstützung
ältere Menschen die Möglich-               Andere nutzen digitale Medien                                 des PIKSL-Labors durchgeführt.
keiten von digitalen Medien                noch gar nicht.
nicht voll nutzten. »Neben un-                                                                           »Wir haben zunächst sieben
zureichenden Zugängen zur                  Wichtig im Lockdown                                           Bewohner in zwei Kleingruppen
Online-Welt liegt das vor allem                                                                          geschult«, sagt Ernst-Ulrich Voll-
auch an nicht barrierefreien               Besonders der harte Lockdown                                  pracht. Er wird sich zukünftig
Angeboten, fehlenden inklusi-              im vergangenen Jahr habe ge-                                  gemeinsam mit einem Auszubil-
ven Lehr- und Lernmitteln und              zeigt, wie dringend Handlungs-                                denden um die technische Unter-
digitalen Endgeräten.« Als man             bedarf bestehe. »Wir benötigten                               stützung kümmern. Computer,
vor zwei Jahren das WLAN im                digitale Technologien, damit die                              Tablets und Smartphones wur-
Haus Gihon installiert habe, sei           Bewohnerinnen und Bewohner                                    den kleinschrittig erkundet, um
ihm bewusstgeworden, wie groß              am gesellschaftlichen Leben teil-                             Freude im Umgang mit ihnen zu
das Interesse und der Bedarf an            nehmen konnten«, sagt Ernst-                                  entwickeln und ihre Grundfunk-
neuen Technologien seien. »Die             Ulrich Vollpracht, Mitarbeiter                                tionen kennen zu lernen. Welche

8
DER RING Dezember 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
»Digitale Teilhabe …

Hürden es dabei am Anfang
geben kann, weiß Ernst-Ulrich
Vollpracht: »Die berührungs-
empfindlichen Oberflächen von
Smartphones und Tablets sind für
viele Menschen ungewohnt. Wir
haben geübt, in welcher Weise
und mit welcher Dauer die Finger
auf den Bildschirm gelegt wer-
den müssen.« Auch in das Inter-
net bekamen die Teilnehmenden
erste Einblicke: Sie lernten, wie
E-Mails geschrieben und emp-
fangen werden können und wel-
che Funktionen Skype hat.

PIKSL-Workshops
                                          Ernst-Ulrich Vollpracht (l.) unterstützt Axel Beckmann beim Surfen im Internet.
»Bei den Workshops gehen wir
individuell auf die Bedürfnisse           Menschen mit der neuen Technik                »Als besondere Wohnform
und Fähigkeiten der Klientin-             vertraut zu machen. Dennoch                   haben wir eine wichtige Schlüs-
nen und Klienten ein«, erklärt            stellen laut PIKSL Menschen mit               selposition, um den Klientinnen
Albrecht Stangier vom Team                mittlerem und hohem Unter-                    und Klienten die neuen Techno-
des PIKSL-Labors. Oft helfe es,           stützungsbedarf eine besondere                logien näher zu bringen«, ist
Anknüpfungspunkte zur realen              Herausforderung bei der Durch-                Hans-Joachim Giese überzeugt.
Welt herzustellen. »Die Nutze-            führung von Kursen, Schulun-                  »Für sie ist der Umgang mit
rinnen und Nutzer haben schnell           gen und Workshops dar. Für                    digitalen Medien eine Bereiche-
eine Idee, was sie machen müs-            diese Zielgruppen gebe es noch                rung.« Er wünscht sich, dass das
sen, wenn ihnen das, was sie              keine etablierten pädagogischen               Thema langfristig Teil der Hilfe-
auf dem Tablet sehen, bekannt             sowie methodisch-didaktischen                 planung wird. »Digitale Teilhabe
vorkommt. Sie erkennen bei-               Konzepte, die sich in der Praxis              bedeutet Selbstbestimmung. Die
spielsweise ein Memory-Spiel              bewährt hätten. Die entwickele                Menschen werden unabhängi-
anhand der Anordnung der Kar-             und erprobe das PIKSL-Labor                   ger, weil sie mehr Handlungs-
ten.« Diesen Wiedererkennungs-            jetzt auch im Rahmen von                      spielräume erhalten«, sagt er.
wert könne man nutzen, um die             »Internet für alle«. Dabei werde              Das Angebot stehe noch ganz
                                          es von den Mitarbeitenden in                  am Anfang, müsse aber unbe-
                                          Bethel.regional unterstützt.                  dingt weiter ausgebaut und ver-
                                                                                        stetigt werden. »Das funktioniert
                                          Wie war der Workshop? »Gut!«,                 nur, wenn die Mitarbeitenden
                                          sagt Martin Schadt. Ihm hat es                die zeitlichen Ressourcen dafür
                                          viel Spaß gemacht, sich noch                  haben.« Auch Albrecht Stangier
                                          intensiver mit den Funktionen                 von PIKSL findet es wichtig, dass
                                          eines Tablets auseinanderzuset-               die Kostenträger das Bedürfnis
                                          zen. »Ich konnte schon ein paar               der Menschen sehen: »Digitale
                                          Sachen, aber ich habe auch viel               Teilhabe muss ein selbstverständ-
                                          Neues gelernt«, fasst er zusam-               licher Bestandteil der Eingliede-
                                          men. Auch Bewohner Axel                       rungshilfe werden. Genauso wie
                                          Beckmann ist begeistert von der               sie zum Alltag von Menschen
                                          Schulung. Er besitzt ein Handy,               ohne Behinderungen gehören,
                                          kannte sich aber mit dem Inter-               müssen digitale Angebote auch
                                          net nicht aus. »Am besten haben               zum Leben von Menschen mit
                                          mir die Spiele gefallen«, stellt er           Einschränkungen gehören.«
                                          fest. Es freut sich auf den neuen
Patrick Clausmeier nutzt regelmäßig das   Computer-Raum und möchte die                                  – Elena Sandbothe –
WLAN auf dem Flur.                        digitale Welt weiter erkunden.

                                                                                                                            9
DER RING Dezember 2021 Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Zentrum für Seltene Erkrankungen Bielefeld
Mit der Universität auf dem Weg in die Bundesliga

Vor drei Jahren ist am Evan-
gelischen Klinikum Bethel
(EvKB) das Zentrum für Sel-
tene Erkrankungen Bielefeld
(ZeSEB) entstanden. »Wir
haben uns gut etabliert und
werden gut angenommen.
Uns erreichen zwei bis vier
Anfragen pro Woche«, berich-
tet Universitätsprofessor
Dr. Eckard Hamelmann in
seiner Eigenschaft als ZeSEB-
Sprecher. Um Menschen mit
Seltenen Erkrankungen künf-
tig noch besser helfen zu
können, setzt der Direktor
der Klinik für Kinder- und
Jugendmedizin Bethel auf
die Zugehörigkeit zum neuen
Universitätsklinikum OWL.

                                                                                                                     Foto: Christian Weische
Seltene Erkrankungen sind
nur selten, wenn man jede der
geschätzt rund 8.000 unter-
schiedlichen Krankheiten einzeln
betrachtet. In ihrer Gesamtheit
hingegen haben deutschlandweit
etwa vier Millionen Menschen        Bercem hat Muskeldystrophie Typ Ullrich. Nicht einmal neun von einer Million
eine seltene Erkrankung. Der        Menschen leiden an dieser angeborenen Erkrankung.
Großteil wird im Kindesalter dia-
gnostiziert. »Seltene Erkrankun-    jemand bei ihr. Bercem hat häu-             ist. Die Möglichkeiten zur geziel-
gen sind damit eine Art Volks-      fig eine Lungenentzündung und               ten Prävention, Beratung oder
krankheit«, sagt Prof. Dr. Eckard   muss sich dann ins Kinderzent-              Behandlung werden häufig ver-
Hamelmann. Eine Krankheit gilt      rum begeben. »Hab ich Lungen­               passt oder sind noch nicht aus-
nach Definition der EU dann als     entzündung, dann will ich nur               reichend erforscht oder belegt.
selten, wenn weniger als 5 von      Ruhe, Ruhe, Ruhe«, sagt sie. Diese          Die Patientinnen und Patien-
10.000 Menschen an ihr leiden.      Ruhe bekommt Bercem im EvKB.                ten haben zu oft einen langen
                                                                                Leidensweg zu bewältigen, bis
Ein Beispiel für eine äußerst       Späte Diagnose                              sie eine Diagnose bekommen.
seltene Krankheit ist Muskeldys-                                                Zudem sind Seltene Erkrankun-
trophie Typ Ullrich. Nicht einmal   Dort ist sie also gut aufgehoben.           gen vielfach Stiefkind der phar-
neun von einer Million Menschen     Doch grundsätzlich erschwert                mazeutischen Forschung, weil
leiden an dieser angeborenen        die Seltenheit der einzelnen                sich damit kein Geld verdienen
Erkrankung. Einer dieser Men-       Erkrankungen die medizinische               lässt.
schen ist die 12-jährige Bercem.    Versorgung betroffener Patien-
Das Mädchen aus Bielefeld sitzt     tinnen und Patienten. Diagnose              Den Leidensweg zu verkürzen
im Rollstuhl, denn die Krank-       und Therapie stellen alle Betei-            und schnell bestmögliche Hilfe-
heit führt zu einer ausgepräg-      ligten vor besondere Herausfor-             stellung zu leisten ist das Ziel
ten Muskelschwäche. Besonders       derungen. Wegen der spärli-                 des ZeSEB. Vorstellen muss man
beeinträchtigt wird die Lungen-     chen Untersuchungsdaten und                 sich das Zentrum nicht als kon-
funktion. Nachts muss Bercem        mangelnder Erfahrung gelingt                kreten Ort, sondern als virtuel-
deshalb eine Maske tragen, die      eine genaue Diagnose oft erst               les Kompetenznetzwerk, in dem
ihre Atmung unterstützt. Um         sehr spät. Entsprechend verzö-              Expertisen aus sämtlichen EvKB-
bei einer Krise sofort eingreifen   gert setzt die Therapie ein, die            Kliniken zusammenfließen. Das
zu können, ist Tag und Nacht        manchmal auch zu unspezifisch               ZeSEB selbst wiederum gehört

10
Mit der Universität …

dem Netzwerk der bundesweit         für Kinder- und Jugendmedizin.               ist sehr schwierig, mit einem
30 Zentren für Seltene Erkran-      »Es gibt uns einen noch besseren             solchen Zentrum, mit dieser Art
kungen an.                          Rahmen, um eine gute Diagnos-                von Medizin die wirtschaftlichen
                                    tik und Therapie für chronische              Erfordernisse eines modernen
Menschen, die sich an das ZeSEB     und seltene chronische Erkran-               Klinikums zu erfüllen.«
wenden, haben häufig schon          kungen anzubieten«, sagt Prof.
einen langen Weg von Arzt zu        Dr. Eckard Hamelmann mit Blick               Das EvKB setzt dennoch auf das
Arzt hinter sich. »Wir versuchen,   auf die zurzeit im Bau befindliche           ZeSEB. Was dort geschieht, ent-
möglichst innerhalb unseres         Klinik, die 2023 eröffnet werden             spricht schließlich dem ursprüng-
Zentrums Lösungen zu finden«,       soll. Am neuen Kinderzentrum                 lichen Bethel-Gedanken: Men-
erläutert Prof. Dr. Eckard Hamel-   soll zudem eine Professur für                schen zu helfen. Dennoch wird
mann. »Doch wenn das nicht          Neuropädiatrie etabliert werden.             das Zentrum anderweitige finan-
geht, haben wir die Möglichkeit,    An diesem Lehrstuhl werden das               zielle Unterstützung benötigen,
auf externe Kapazitäten inner-      Zentrum für Behindertenmedizin               um auch in der Zukunft gut auf-
halb des Netzwerks zu verwei-       für Kinder und Jugendliche und               gestellt zu sein. Prof. Dr. Eckard
sen. Genau das ist ja die Idee.     der Schwerpunkt für Stoffwech-               Hamelmann und sein Team wer-
Nicht zu sagen: Wir können alles.   selerkrankungen mit angebun-                 den sich um so genannte Dritt-
Sondern: Wir wissen, wo jemand      den sein.                                    mittel bemühen. Das sind Gelder,
ist, der das gerade Erforderliche                                                die zur Förderung von Forschung
gut kann. Diese Adresse können      Menschen helfen                              und Entwicklung sowie des wis-
wir Patienten dann geben.«                                                       senschaftlichen Nachwuchses
                                    Finanziell lukrativ ist eine Spezia-         und der Lehre zusätzlich zum
Trotz seiner positiven Zwischen­    lisierung auf Seltene Erkrankun-             regulären Haushalt von öffent-
bilanz sieht Prof. Dr. Eckard       gen nicht. Denn für Anamnese                 lichen oder privaten Stellen
Hamelmann Entwicklungsspiel-        und Diagnostik muss ein ver-                 eingeworben werden können.
raum für das ZeSEB. Große Hoff-     gleichsweise sehr hoher zeitlicher           Möglichst viele solcher Drittmit-
nungen verbindet er mit dem         Aufwand veranschlagt werden;                 tel sollen künftig in das ZeSEB
neuen Universitätsklinikum OWL,     es bedarf zudem großer Exper­                fließen. Damit Menschen wie
dem der Campus Bielefeld-Bethel     tise, um herauszufinden, welche              Bercem und anderen mit Selte-
mit dem EvKB und dem Kranken-       individuellen Möglichkeiten der              nen Erkrankungen bestmöglich
haus Mara angehört. »Das Ziel       Therapie es für Patienten geben              geholfen werden kann.
für das nächste Jahr ist es, ein    könnte. »Deshalb lässt sich damit
universitäres Kompetenzzentrum      kein Geld verdienen«, bestätigt                               – Philipp Kreutzer –
der Level-A-Kategorie und damit     Prof. Dr. Eckard Hamelmann. »Es
der höchsten Versorgungsstufe
aufzubauen«, betont er. »Mit
neuen Professuren für Physiolo-
gie, Biochemie und Humangene-
tik, sodass wir Hand in Hand mit
klinischer Forschung und Grund-
lagenforschung bei der Diagnos-
tik und Therapie von Seltenen
und neuen Seltenen Erkrankun-
gen mithelfen können.« Auf
bestmöglichem Niveau soll das
geschehen, der Anspruch ist
hoch. Prof. Dr. Eckard Hamel-
mann formuliert es so: »Wir wol-
len sozusagen in der Bundesliga
                                                                                                                               Foto: Mario Haase

mitspielen.«

Zur positiven Weiterentwick-
lung des ZeSEB werde das neue
Kinderzentrum Bethel beitragen.     Prof. Dr. Eckard Hamelmann ist Direktor der Betheler Klinik für Kinder- und Jugend­
Zu ihm gehört auch die Klinik       medizin und Sprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen Bielefeld.

                                                                                                                          11
Weihnachtliches aus Bethel
Ein Gemeinschaftswerk für den Adventstisch

                                                                                                                  man Interesse für die Metallver-
                                                                                                                  arbeitung mitbringen.« Vor-
                                                                                                                  kenntnisse braucht dennoch
                                                                                                                  niemand. Dafür ist Kreativität
                                                                                                                  gefragt: Die Teilnehmerinnen
                                                                                                                  und Teilnehmer sollen eigene
                                                                                                                  Ideen einbringen. Die Bandbreite
                                                                                                                  der Produktion ist groß: Auto­
                                                                                                                  modelle aller Art, die mittlerweile
                                                                                                                  allbekannten Steinvögel und
                                                                                                                  Metallfiguren in Miniatur- bis
                                                                                                                  Lebensgröße – jedes Stück, das
                                                                                                                  hier in reiner Handarbeit ent-
                                                                                                                  steht, ist ein Unikat.

                                                                                                                  Alle weihnachtlichen Artikel
                                                                                                                  werden ganzjährig hergestellt.
                                                                                                                  Und mittlerweile gibt es eine
                                                                                                                  beeindruckende Auswahl. »2015
                                                                                                                  haben wir mit einer Krippe an-
                                                                                                                  gefangen«, erinnert sich Jörg

                                                                                       Fotos: Christian Weische
                                                                                                                  Scholz. Zahlreiche Variationen
                                                                                                                  dieses Motivs folgten. Dann
                                                                                                                  kamen großformatige Silhou-
                                                                                                                  etten hinzu – Tannen, Sterne
                                                                                                                  oder Engel für den Gartenbe-
                                                                                                                  reich. Heute sind Engelfiguren,
Traditionell und modern zugleich: Vier Kerzen umringen die stilisierte Metall-Tanne.                              verwendbar als Kerzenhalter,
                                                                                                                  besonders beliebt: »Das ist unser
Wachsweich und stahlhart ist der Adventskranz, der als Ko-                                                        Klassiker.« Allerdings waren die
produktion an den Bethel.regional-Standorten Hagen und                                                            vergangenen beiden Jahre nicht
Gevelsberg entsteht. Der weiche Part – die vier Kerzen – wird                                                     einfach. Aufgrund der Corona-­
in einer Werkstatt auf dem Elbersgelände in Hagen hergestellt.
Die metallische Basis mit dem stilisierten Tannenbaum steuern
die »Gevelsberger und Ennepetaler Beratung und Arbeitsge-
legenheiten«, kurz »Gebal«, bei. Beide Komponenten werden
von Menschen produziert, die in Bethel beschäftigt sind.

Wenn Stefanie Höfler mit ihrem               traditionsreichen Stiftsgelände
Plasmaschneider den dicken                   in Gevelsberg tätig sind. Das
Metallplatten zu Leibe rückt,                Angebot richtet sich an ganz
fliegen die Funken. Anscheinend              unterschiedliche Menschen,
mühelos durchtrennt der feurige              die eines gemeinsam haben:
Strahl, der gebündelt durch eine             Sie alle brauchen berufliche Per-
kleine Düse strömt, das bis zu               spektiven und die Chance auf
acht Millimeter starke Material.             gesellschaftliche Teilhabe. Oft
So lassen sich – Übung, Konzen-              sind es Menschen in besonderen
tration und vor allem eine ruhige            sozialen Schwierigkeiten, die von
Hand vorausgesetzt – scheren-                Langzeitarbeitslosigkeit betroffen
schnittartige Bilder ins harte               sind. Angeleitet werden die Teil-
Metall zaubern.                              nehmenden von Jörg Scholz.

Die junge Frau ist eine von                  »Wir vermitteln hier eine kom-                                       Mit Fingerspitzengefühl entfernt Cornelia
sieben Beschäftigten, die in                 plexe Tätigkeit«, betont der                                         Blasberg die lange Nadel, die den Docht
der Kunstschlosserei auf dem                 Kunstschlosser. »Natürlich sollte                                    in der Gussform fixierte.

12
Ein Gemeinschaftswerk …

»Feuertaufe« für den Adventskranz.          Selbst dicke Metallplatten durchtrennt Stefanie Höfler präzise mit ihrem Plasmaschneider.

                                            sie talwärts geschickt. Das Ziel,              – aktuell natürlich in weihnacht-
                                            das Hagener Elbersgelände, ist                 lichem Rot oder Tannengrün.
                                            knapp 20 Autominuten entfernt.                 Dann darf das heiße, flüssige
                                            Auf dem weitläufigen Areal war                 Material zu einer dünnen Platte
                                            bis 1996 die Textilfabrik Elbers               erkalten. Diese wird anschließend
                                            ansässig. Hier ist ein spannen-                zerbrochen und in die vorberei-
                                            des Quartier entstanden, in                    teten Gussformen gefüllt, in die
                                            dem Bethel.regional ein neues                  bereits ein Docht eingefädelt
                                            und vielfältiges Beschäftigungs-               wurde. Dafür ist in der Werkstatt
                                            angebot aufgebaut hat. Orga-                   Karim Ataya zuständig. »Ich bin
                                            nisatorisch gehören die große                  der einzige hier, der das kann«,
                                            Werkstatt, das Ladenlokal mit                  sagt der 34-Jährige stolz. Zum
Durch das Abflammen wird das Material       angeschlossenem Café sowie                     Abschluss wird frisches Wachs
härter. Gleichzeitig entsteht ein schöner   die modernen Schulungsräume                    aufgegossen. Die letzten Zwi-
Farbeffekt.                                 zu den Homborner Werkstätten.                  schenräume füllen sich, und es
                                            Insgesamt sind hier 70 Menschen                entsteht ein schönes marmorier-
Einschränkungen brach der                   beschäftigt. »Je nach Saison ist               tes Muster.
wichtige Vertrieb über die Weih-            ein Drittel, vielleicht sogar die
nachtsmärkte nahezu vollstän-               Hälfte unserer Beschäftigten                   »Die Kerzenproduktion ist
dig weg. Auf dem Stiftsgelände              mit der Weihnachtsproduktion                   perfekt für uns: Es ist ein kom-
können die Produkte natürlich               befasst«, schätzt Katharina Zok                plexer Prozess, den man gut
trotzdem bestaunt und auch                  vom Sozialen Dienst. Den größ-                 in kleine Anteile zerlegen kann«,
erworben werden. In einem ehe-              ten Anteil mache aktuell die Ker-              sagt Katharina Zok. So sind auch
maligen Bauwagen, umfunktio-                zenproduktion aus.                             Beschäftigte mit schwereren
niert als »Showroom«, warten                                                               Behinderungen in der Lage, eine
die Schätze auf ihre Abnehmer.              Rot oder Tannengrün                            Teilaufgabe zu bewältigen und
                                                                                           an dem Gemeinschaftswerk mit-
Die nach Abflämmen und Po-­                 Viel kleine Einzelschritte sind                zuwirken, das in der Weihnachts-
lieren schimmernden Advents-                nötig, bis eine fertigte Kerze in              zeit viele Tische schmücken wird.
kränze sind noch nicht bereit               ihren Sockel auf dem Advents-
für den Verkauf. Sie haben noch             kranz gesetzt werden kann. Das                                        – Robert Burg –
eine Reise vor sich – wenn auch             Wachs tritt seinen Weg durch die
eine kurze. Vom hoch gelege-                Werkstatt als farbloses Granulat
nen Gevelsberger »Stift« werden             an, das zunächst eingefärbt wird

                                                                                                                                   13
»Wendepunkt« der Jugendhilfe Lobetal
Aus zerrütteten Verhältnissen in ein neues Leben

                                                                                                           Regeln brachte wenig. Die Poli-
                                                                                                           zei war mehrmals in der Woche
                                                                                                           da, weil Gewaltausbrüche nicht
                                                                                                           anders zu beherrschen waren«,
                                                                                                           erinnert sich Hans Klusch, seit
                                                                                                           2010 Therapeutischer Leiter im
                                                                                                           »Wendepunkt«. Gemeinsam
                                                                                                           mit Joachim Rebele, der ein Jahr
                                                                                                           zuvor die Leitung der Einrichtung
                                                                                                           übernommen hatte, gestaltete er
                                                                                                           die Arbeit auf eine stark partizi-
                                                                                                           pative und an der Beziehung ori-
                                                                                                           entierte Begleitung nach reform-

                                                                                 Fotos (2): Frank Ludwig
                                                                                                           pädagogischen Ansätzen um.

                                                                                                           Schlüssel zum Erfolg

                                                                                                           »Es war eine harte Zeit für alle
                                                                                                           Kolleginnen und Kollegen«,
Sina* ist auf einem guten Weg. Das Foto zeigt sie an der Mauergedenkstätte.                                berichtet Hans Klusch. »Die
                                                                                                           Umstellung auf ein starkes Mit-
Dezent bedrucktes weißes T-Shirt, schwarze Jeans, modische                                                 einander, die Beteiligung der
Sneaker, dazu ein offener Blick, kurzes Überlegen vor klar                                                 jungen Leute, die Berücksich-
formulierten Antworten – ein Zusammentreffen mit Sina*                                                     tigung ihrer Bedürfnisse und
wirkt auf den ersten Eindruck ganz normal – so unterhält man                                               Befindlichkeiten, ihrer Gefühle,
sich nun einmal mit einer aufgeweckten 21-Jährigen über ihre                                               ganz egal, wie sie sich konkret
Lebensgeschichte. Genau die macht allerdings den Unterschied                                               verhalten, der stärkere diagnosti-
zu Gleichaltrigen aus. Sinas Lebensgeschichte ist seit Kindes-                                             sche Ansatz – das musste immer
tagen eine Aneinanderreihung von Konflikten, verschiedenen                                                 wieder diskutiert und verstanden
Stationen der unumgänglichen medizinischen und sozialen                                                    werden.« Was sich in der aktu-
Hilfen. Während andere Menschen in ihrem Alter selbstständig                                               ellen Konzeption als »milieu-
sind, ringt sie noch um »Verselbstständigung«.                                                             therapeutische Lebensraumge-
                                                                                                           staltung mit dem Wunsch nach
Die Sozialwissenschaft benennt              aus, wurde depressiv, neigte zu                                größtmöglicher Beziehungskonti-
Zusammenhänge, in denen                     selbstzerstörerischen Handlun-                                 nuität in allen Lebensbereichen«
solche Lebenslinien entstehen               gen. Im Frühjahr 2015 stand sie                                darstellt, war der Schlüssel zum
können, als »broken home«: das              vor der Entscheidung: Einwei-                                  Erfolg. Denn es hieß und heißt,
zerbrochene oder freier übersetzt           sung in eine geschlossene Ein-                                 für traumatisierte, bindungs- und
auch verschwundene oder nie                 richtung oder Aufnahme in den                                  beziehungsgestörte junge Men-
existente Zuhause. Sina wurde               »Wendepunkt«, eine stationäre                                  schen immer da zu sein, sie nie
in Idar-Oberstein als Kind eines            Jugendhilfe-Einrichtung der Hoff-                              fallen zu lassen und ihre Gefühle
amerikanischen Soldaten und                 nungstaler Stiftung Lobetal.                                   stets ernst zu nehmen.
einer deutschen Mutter geboren.
Kontakte zu ihrem Vater gab es              Die Einrichtung, 2003 gegrün-                                  Denkt Sina heute an ihr Ankom-
nicht, die Mutter zog mit ihr und           det, gilt als Keimzelle all des-                               men im »Wendepunkt« zurück,
ihrem Bruder nach Berlin, wo                sen, was heute die stationären                                 fällt ihr zuerst ein, dass für das
sie in Reinickendorf aufwuchs               Kinder- und Jugendhilfen der                                   Leben der Kinder und Jugend-
und die Schule bis zur 8. Klasse            Stiftung ausmacht. Um das Jahr                                 lichen dort in drei verschiedenen
besuchte. Ihre Mutter war mit               2010 stand der »Wendepunkt«                                    Gruppen von sechs oder sie-
der Kindererziehung überfor-                vor einem Paradigmenwechsel:                                   ben Personen sehr viele Regeln
dert. Schon im frühen Kindesal-             Die bis dahin geübte Praxis, vor                               zu beachten waren. »Aber
ter erlebte Sina ein unsortiertes,          allem zu reglementieren und                                    schon mein erster Eindruck war
oft unbewältigtes Alltagsleben              erzieherisch zu strukturieren, war                             auch, dass alles sehr mensch-
bis hin zu Gewalt. Das Jugend-              immer weniger erfolgreich. »Die                                lich zugeht, man viel miteinan-
amt griff ein; das Mädchen zog              konsequente Durchsetzung von                                   der redet«, erinnert sie sich. So

14
Aus zerrütteten …

fasste sie zu ihren Betreuern und
Therapeuten nach und nach gro-
ßes Vertrauen. »Wenn sich stän-
dig ein paar Dutzend Menschen
auf dem Gelände aufhalten, ist
das schon irgendwie chaotisch.«
Aber dieses ständige Miteinan-
der und Umeinander habe auch
viel abgefedert. Nicht zuletzt,
weil die betreuenden Erwachse-
nen authentisch seien und ihre
eigenen Schwachstellen und
Besonderheiten nicht verber-
gen würden: »Wir waren ihnen
menschlich immer nahe. Sie
waren glaubhaft für uns.«
                                                             Seit 2017 lebt Sina* in der Therapeutischen Wohngemeinschaft Berlin-Mitte.
Sina schätzt auch heute noch,
wie für sie im »Wendepunkt«                                  schwierigen Situationen durch-             Nach zwei Jahren »Wende-
erstmalig in ihrem Leben die                                 halten – das macht für Hans                punkt« bezog Sina im Oktober
Individualität jeder und jedes Ein-                          Klusch die gewachsene Stärke               2017 ein eigenes Zimmer in einer
zelnen großgeschrieben wurde.                                des »Wendepunkts« aus. Die                 betreuten Wohngemeinschaft
»Ich hatte dort viel mehr Raum                               Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter           der »Therapeutischen Wohn-
für Neues, für Beziehungen,                                  seien immer für die Bewohne-               gemeinschaft Berlin-Mitte«, die
für neu Erlebbares. Und nie hat                              rinnen und Bewohner da – 24/7,             ebenfalls zur Stiftung gehört.
man mir nach einem Fehler das                                wie man es heute ausdrückt.                Die junge Frau hat gelernt, mehr
Gefühl gegeben, die Welt ginge                               Zu den »herausragenden the-                Verantwortung für sich selbst zu
unter.« Sie habe sehr viele »posi-                           rapeutischen Möglichkeiten im              übernehmen. Der Wechsel ist
tive Konflikte« erlebt.                                      Wendepunkt« – wie es in der                für sie auch heute noch ein rich-
                                                             Konzeption heißt – gehört, dass            tiger Schritt: »Denn ich bin hier
Konflikte aushalten, austragen,                              Therapeutinnen und Therapeu-               nicht ständig betreut, habe aber
ein schnelles Feedback bekom-                                ten ständig anwesend sind. Man             Hilfe in meinen guten Phasen,
men, gute Routinen auch in                                   geht zwar zur vereinbarten Zeit            um zu lernen, was ich in schlech-
                                                             zu einem geplanten therapeuti-             ten Phasen brauche.« Letztere
                                                             schen Gespräch, hat aber ganz              gab es auch hier: Als fast zeit-
                                                             unabhängig davon – und ohne                gleich ihre Großmutter starb und
                                                             sich erst anmelden zu müssen               ihr Freund sie verließ, fehlte ihr
                                                             – die Möglichkeit, jederzeit Pro­          die Kraft, eine begonnene Aus-
                                                             bleme anzusprechen. »Größt-                bildung abzuschließen. »Was will
                                                             mögliche Beziehungskontinuität             ich, was schaffe ich in meinem
                                                             in gelebter Praxis« nennt sich das.        Leben, was fühlt sich für mich
                                                                                                        gut an? Ich bin da heute immer
                                                             Wechsel nach Berlin                        noch auf der Suche, aber ich
                                                                                                        habe auch schon viel erreicht«,
                                                             Das sei zwar eine sehr gute                schätzt Sina ein. 2020 hat sie
                                                             Sache, manchmal aber auch                  ihren Mittleren Schulabschluss
                                                             etwas anstrengend, findet Sina             gemacht, sie hat Pläne, das Abi-
                                                             und meint damit: »Wenn ich                 tur abzulegen und sucht aktuell
                                       Foto: Wolfgang Kern

                                                             gerade aus einem bewegen-                  nach einem Minijob und einer
                                                             den Therapiegespräch komme,                eigenen Wohnung. Hans Klusch
                                                             durchatme und mich einfach auf             ist überzeugt: »Sina wird das
                                                             ein schönes Mittagessen freue,             alles schaffen.«
                                                             dann sitzt am Nebentisch genau                               – Frank Ludwig –
Hans Klusch übernahm 2010 die thera-                         der Therapeut, mit dem ich gerade
peutische Leitung des »Wendepunkts«.                         tiefschürfend diskutiert habe.«            *Name geändert

                                                                                                                                          15
Menschen in Bethel
Schon mit 17 wollte Christa Hübner Diakonisse werden

                                                            erinnert sich Christa Hübner.         lief alle diese Stationen, blieb
                                                            Zum ersten Mal habe sie Men-          dann aber in der Chirurgie.
                                                            schen mit einer Behinderung
                                                            erlebt. »Ich war beeindruckt,         Mit dem Haubenfest war ein
                                                            wie liebevoll und geduldig die        erster Meilenstein genommen.
                                                            Schwestern mit diesen Menschen        Wer die Zwischenprüfung im
                                                            umgingen.« Beeindruckt war sie        ersten Ausbildungsjahr erfolg-
                                                            auch davon, wie die Schwestern        reich bestanden hatte, bekam
                                                            miteinander lebten. Bei der Rück-     die Haube als Zeichen der Zuge-
                                                            fahrt habe ihr Entschluss festge-     hörigkeit. Das Besondere: Die
                                                            standen.                              Hauben der Probeschwestern
                                                                                                  hatten Schleifen, die spitz aus-
                                                            Zunächst aber hatte Christa           liefen. Erst nach der Einseg-
                                                            Hübner ihre Eltern überzeugen         nung als Diakonisse gab es dann
                                                            müssen. »Ich ahnte, dass sie von      welche, die abgerundet waren.
                                                            dieser Idee ganz und gar nicht        Die Bedeutung: »Man musste
                                                            begeistert sein würden.« Schließ-     sich die Spitzen ablaufen und
                                                            lich erzählte sie von ihren Plänen:   als Schwester reifen«, erklärt
                                                            »Ich möchte Krankenschwester          Schwester Christa. Am 1. Advent
                                                            werden.« Das mit der Diakonisse       1961 ging für die 27-Jährige ihr
                                      Foto: Wolfgang Kern

                                                            behielt sie lieber für sich. Wie      Herzenswunsch in Erfüllung.
                                                            erwartet, waren die Eltern nicht      Es war ihr Einsegnungstag.
                                                            sonderlich angetan. Sie hatten
                                                            gehofft, dass ihre Tochter Grafi-     »Gott hat es gemacht«
                                                            kerin werden und in den Betrieb
Schwester Christa Hübner wurde vor                          des Vaters einstiegen würde.          Christa Hübner arbeitete lange
60 Jahren in das Amt der Diakonisse                                                               in der Chirurgie. Später baute
eingesegnet.                                                Doch Schwester Elfriede von der       sie einen Hospizladen auf, den
                                                            Jungen Gemeinde war an ihrer          sie 14 Jahre lang erfolgreich in
Mit der Jungen Gemeinde                                     Seite. Sie überzeugte die Mutter.     enger Kooperation mit einer
im Berliner Ortsteil Neu-Tem-                               Schließlich fand ein Gespräch         christlichen Berliner Buchhand-
pelhof hatte Christa Hübner                                 mit der Leiterin der Probeschwes-     lung führte. Die Einnahmen
1951 die jährliche Wochen-                                  tern des Lazarus-Kranken- und         kamen der Hospizarbeit zugute.
rüste in Lemgo verbracht. Auf                               Diakonissenhauses statt. Und die      Als die Buchhandlung aufgab,
dem Programm der Freizeit                                   Eltern stimmten zu, dass sie die      war auch für den Hospizladen
stand auch ein »Diakonisches                                Ausbildung zur Krankenschwes-         Schluss, ein guter Zeitpunkt,
Wochenende in der Sarepta                                   ter machen durfte. Am 1. Okto-        um kürzer zu treten. Zwei Jahre
Schwesternschaft in Bethel«.                                ber 1951 trat sie in das Mutter-      arbeitete sie noch ein wenig im
Als die 17-Jährige mit der                                  haus ein.                             Gästehaus, bevor sie dann in den
Gemeindegruppe zurück-                                                                            Ruhestand ging.
kehrte, war für sie klar: »Ich                              Küche, Kindergarten, Reinigung,
möchte Diakonisse werden                                    Krankenhaus, Pflege: Alle Statio-     »Gott hat es gemacht«, sagt
und genauso sein, wie die                                   nen mussten durchlaufen wer-          Schwester Christa dankbar im
Schwestern, die ich erlebt                                  den. Der Einsegnung zur Diako-        Rückblick. Er habe ihr immer
habe.« In diesem Jahr feierte                               nisse ging eine fünf- bis sieben-     Menschen an die Seite gestellt,
Schwester Christa in der Laza-                              jährige Probezeit in der Gemein-      die es gut mit ihr gemeint hät-
rus-Diakonie Berlin ihr 60-jäh-                             schaft des Mutterhauses voraus.       ten. Ihren Weg fasst sie so zu-
riges Einsegnungsjubiläum.                                  Die Ausbildung der Schwestern         sammen: »Wir werden von Gott
                                                            war breit gefächert. Sie umfasste     geführt, auch wenn wir nichts
»Wir waren zu Gast im Mutter­                               klassische Allgemeinbildung, Bür-     davon merken.« Eine Erfahrung,
haus Sarepta, nahmen am ge-                                 gerkunde, aber auch geistliche        die sie nicht für sich behalten
meinsamen Essen teil, lernten                               Fächer wie Bibelkunde und Glau-       möchte. »Tragen Sie das weiter«,
Bethel kennen, besuchten die                                benslehre. In der »Doktorstunde«      sagt sie zum Abschied.
Wochenschlussandacht und den                                lehrten die leitenden Ärzte des
sonntäglichen Gottesdienst«,                                Hauses. Schwester Christa durch-                     – Wolfgang Kern –

16
Umbau in der Jugendhilfe Langenhagen
Die offene Wohnküche ist der neue Lieblingsplatz

Helle Räume, dezente Farben,
altersgerechte Badezimmer,
verschiedenste Sitz- und
Spielmöglichkeiten und viel
verbautes Holz sorgen nach
einer Komplettsanierung für
eine wohnliche Atmosphäre
in der Langenhagener Inob-
hutnahme der Birkenhof-
Jugendhilfe. In der Wohn-

                                                                                                                                     Fotos: Ingolf Semper
gruppe werden Kinder im
Alter bis zu sechs Jahren auf-
genommen.

»Wir sind richtig begeistert von
dem Ergebnis dieses Umbaus,                  In der neuen geräumigen Wohnküche bereiten Hedi Pettit (l.) und Katharina Komoll
und auch die Kinder, die in die-             einen Obstsalat für die Kinder vor.
sen Räumen ja eine gewisse Zeit
zuhause sind, fühlen sich wohl,              kommen und sich wohlfühlen                 bleiben die Kinder nah an ihrem
halten sich gerne in den Gemein-             können – trotz der schwierigen             Wohnumfeld und gehen weiter
schaftsräumen auf oder treffen               Situation, in der sie sich befin-          in ihre gewohnte Krippe oder
sich zum Spielen in einem der                den«, beschreibt Heidi Pettit als          Kindertagestätte, um nicht die
Kinderzimmer«, erklärt Christian             zuständige Koordinatorin der               vertrauten Kontakte zu verlieren.
Hopf, pädagogischer Leiter der               Wohngruppe das neue Raum-                  »Es ist einfach eine sehr unsi-
Wohngruppe. Sein großer Dank                 konzept. Die geräumige Wohn-               chere Zeit für das einzelne Kind,
gilt den Spenderinnen und Spen-              küche ist schon nach wenigen               es ist hin- und hergerissen und
dern, die den aufwändigen, aber              Tagen zum Lieblingsplatz in der            braucht entsprechend viel Unter-
notwendigen Umbau möglich                    Einrichtung geworden. Hier                 stützung«, so Heidi Pettit.
gemacht haben.                               ist man immer mittendrin im
                                             Geschehen.                                 Kinder und Eltern stärken
Häufig müssen in der Inobhut-
nahme-Gruppe Kinder spontan                  Das multiprofessionelle Team –             Mit dem Einzug des Kindes in die
aufgenommen werden. Eine                     mit Kinderkrankenschwestern,               Wohngruppe beginnt unmittel-
freundliche und offene, aber                 Heilerziehungspflegerinnen und             bar auch die Elternarbeit. »Die
auch altersgerechte Umgebung                 Erzieherinnen – begleitet die              Eltern werden in Absprache mit
spielt darum eine wichtige Rolle.            Kinder in der Regel bis zu sechs           dem zuständigen Jugendamt in
»Wir wollten für die Kinder einen            Monaten, fängt sie auf und                 den Alltag ihrer Kinder mit ein-
Raum schaffen, in dem sie an-                stabilisiert sie. Wenn möglich,            bezogen und bei Bedarf von uns
                                                                                        begleitet und angeleitet«, erläu-
                                                                                        tert die Koordinatorin. Der Auf-
                                                                                        trag lautet, die Kinder und Eltern
                                                                                        so zu stärken, dass die Familie
                                                                                        wieder zusammenleben kann.
                                                                                        Wird allerdings deutlich, dass
                                                                                        dies so schnell nicht möglich sein
                                                                                        wird, gibt es mit allen Beteilig-
                                                                                        ten Gespräche darüber, welche
                                                                                        anderen Lösungen Sinn machen.
                                                                                        Hier könnte dann am Ende auch
                                                                                        eine Pflegefamilie, eine Erzie-
                                                                                        hungsstelle oder eine Wohn-
                                                                                        gruppe für das jeweilige Kind in
                                                                                        Frage kommen.
Helle Farben, viel Holz und eine Menge Platz zum Spielen bieten die altersgerecht
gestalteten Kinderzimmer.                                                                                  – Ingolf Semper –

                                                                                                                                17
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