ZERRIEBEN UND GESCHRUMPFT - ANALYSEN DIE FINANZTRANSAKTIONSSTEUER - AUFSTIEG, FALL UND PERSPEKTIVEN EINER GUTEN IDEE - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Die Seite wird erstellt Ylva Peters
 
WEITER LESEN
ANALYSEN

INTERNATIONALE POLITIK

ZERRIEBEN UND
GESCHRUMPFT
DIE FINANZTRANSAKTIONSSTEUER –
AUFSTIEG, FALL UND PERSPEKTIVEN
EINER GUTEN IDEE

RAINALD ÖTSCH UND AXEL TROOST
INHALT

Einleitung                                                              3

1 Die Historie der Finanztransaktionssteuer                              4
1.1 Von den Anfängen bis zur weltweiten Finanzkrise 2008/09              4
1.2 Legitimationsschub durch die Finanzkrise                             7
1.3 Der Vorschlag der EU-Kommission für die Verstärkte Zusammenarbeit   16
1.4 Der österreichische ­Kompromissvorschlag                            18
1.5 Von der umfassenden Finanztransaktionssteuer zur «Schrumpfsteuer»   20
1.6 Zwischenfazit: Was folgt aus dem Scheitern der Verhandlungen?       25

2 Funktion, Aufkommen und Verteilungswirkungen der Steuer               31
2.1 Lenkungswirkung                                                     31
2.2 Aufkommensschätzungen                                               33
2.3 Verteilungswirkungen                                                39
2.4 Mittelverwendung                                                    41

3 Ausblick                                                              44
EINLEITUNG                                                                               3

Mehr als zehn Jahre schon wartet die        hen? Diese Fragen soll diese Analyse be-
Öffentlichkeit auf die lange angekün-       antworten.
digte Finanztransaktionssteuer. Wie         Zunächst wird der politische Werdegang
es scheint, vergebens, denn statt ei-       der Steuer nachgezeichnet – von einer
ner Steuer, die Sand ins Getriebe der Fi-   utopischen Forderung über den Durch-
nanzmärkte streut und das Geld dort ab-     bruch nach der Finanzkrise ab 2008/09
schöpft, wo es im Überfluss vorhanden       bis hin zum Versanden der Bemühun-
ist, winkt höchstens noch eine schale       gen. Dabei wird deutlich, welche Etap-
Kopie nach Muster der französischen         pen der Prozess durchlaufen hat und
Aktiensteuer. Doch wie konnte es da-        welche Fortschritte und Rückschläge es
zu kommen, dass die Finanztransakti-        dabei gab. In einem zweiten Teil wird auf
onssteuer trotz des immensen gesell-        die Lenkungswirkung, Aufkommens-
schaftlichen Zuspruchs immer noch           schätzungen und die Verteilungswirkung
nicht verwirklicht wurde? Was brächten      der Steuer eingegangen. Zuletzt wird ein
die Steuer und ihre geschrumpfte Vari-      Ausblick auf die Zukunft des Projekts ge-
ante? Wie kann es nach dem vorläufigen      worfen und auf die Alternative einer nati-
Scheitern der Verhandlungen weiterge-       onalen Initiative eingegangen.
4   1 DIE HISTORIE DER FINANZTRANSAKTIONSSTEUER

    1.1 Von den Anfängen bis zur welt-           glauben, und Spekulant*innen, die aus
    weiten Finanzkrise 2008/09                   Wertschwankungen Profit ziehen wol-
    Eine umfassende Finanztransaktions-          len und sich an den Erwartungen ande-
    steuer wurde bisher noch in keinem Land      rer Spekulant*innen ausrichten. Verein-
    verwirklicht. Trotzdem hat die Steuer eine   zeltes Spekulantentum war für Keynes
    lange Historie. Die britische Stempelsteu-   nicht das Problem. Es sollte aber nicht
    er («Stamp Duty») ist die älteste existie-   das Börsengeschehen dominieren. Die
    rende Steuer in Großbritannien und geht      Kapitalbildung, so fürchtete er, würde
    in ihrer Form als Aktiensteuer auf das       so zum «Nebenprodukt der Aktivitäten
    Jahr 1694 zurück. Stempelsteuern wa-         eines Spielkasinos» und das Unterneh-
    ren im 17. Jahrhundert vielerorts in Euro-   mertum «in den Strudel von Spekulan-
    pa in verschiedenen Varianten eingeführt     ten» geraten. Die Londoner Börse sah
    worden. Ihren Namen erhielten sie vom        Keynes durch höhere Zugangsbarrieren
    Stempel, der Dokumenten aufgedrückt          (u. a. höhere Transaktionskosten) im Vor-
    wurde, bzw. vom Anbringen einer Stem-        teil gegenüber der Wall Street, wo sich
    pelmarke. Erst damit wurden diese Doku-      die Anleger*innen in viel größerer Zahl
    mente rechtskräftig. Diese Stempelsteu-      tummelten und die in der Krise besonders
    ern waren reine Einnahmeinstrumente          gebeutelt wurde. «Die Einführung einer
    und der Fantasie waren wenig Gren-           deftigen Umsatzsteuer auf alle Transakti-
    zen gesetzt. So gab es Stempelsteuern        onen durch die Regierung könnte sich als
    auf Heiratsurkunden, Landübertragun-         die sinnvollste aller möglichen Reformen
    gen, Versicherungen und anderes mehr,        erweisen, um das Übergewicht des Spe-
    aber eben auch auf die Übertragung von       kulantentums über das Unternehmertum
    Finanzinstrumenten. In Deutschland           in den Vereinigten Staaten abzumildern.»1
    sah das «Deutsche Reichsgesetz über          Ein weiterer prominenter Befürworter
    die Reichsstempelabgaben» aus dem            einer Transaktionssteuer war der US-
    Jahr 1881 eine Steuer auf den Erwerb         Ökonom James Tobin, der sich 1972 öf-
    von Wertpapieren (Aktien, Renten und         fentlich für eine weltweite Steuer auf
    Schuldverschreibungen) vor.                  Devisengeschäfte, das heißt Währungs-
    Die Idee einer Finanztransaktionssteu-       geschäfte, aussprach, und für seine Ar-
    er als Regulierungsinstrument kam erst       beiten später den Alfred-Nobel-Gedenk-
    später auf. Erster prominenter Befürwor-     preis der schwedischen Reichsbank
    ter war der britische Ökonom John May-       erhielt. Die Genese der Tobin-Steuer
    nard Keynes. Vor dem Hintergrund der         fiel in die Zeit des Zusammenbruchs
    auf den Finanzmarktcrash von 1929 fol-       des Bretton-Woods-Systems.2 Mit dem
    genden Großen Depression der 1930er
    Jahre sah Keynes sie als Anti-Spekulati-     1 Keynes, John Maynard: Allgemeine Theorie der Beschäfti-
                                                 gung, des Zinses und des Geldes (Neuübersetzung von Nicola
    ons-Steuer. Geleitet wurde er dabei von      Liebert), Berlin 2017, S. 140. 2 1944 verständigten sich in der
    der Unterscheidung zwischen zwei An-         Stadt Bretton Woods in den USA 44 Staaten auf ein internati-
                                                 onales Währungssystem mit festen Wechselkursen und dem
    legertypen: Investor*innen, die an den       US-Dollar als Leitwährung. Der Wert des US-Dollars war wie-
    langfristigen Erfolg der zugrunde lie-       derum an eine bestimmte Menge Gold gebunden. Dieses Sys-
                                                 tem geriet aus verschiedenen Gründen in die Krise und wurde
    genden unternehmerischen Tätigkeit           im Jahr 1973 offiziell für beendet erklärt.
Wechsel von staatlich fixierten Wech-        Ein weiterer prominenter Befürworter ei-                         5
selkursen zu flexiblen Kursen ging die       ner Finanztransaktionssteuer ist der US-
Kontrolle über die Währungsrelationen        Ökonom Joseph Stiglitz. Er hat für seine
vom Staat auf den Markt über. Für To-        Arbeiten über Informationsasymmetri-
bin war die Steuer ein reines Regulie-       en den Wirtschaftsnobelpreis erhalten
rungsinstrument: Angesichts immer            und wurde später Chefökonom der Welt-
stärker schwankender Währungskurse           bank und scharfer Kritiker der neolibe-
und Währungskrisen wollte er mit der         ralen Globalisierung. Er zog den Nutzen
Steuer «Sand ins Getriebe» übereffizi-       vieler Akteur*innen für die Preisbindung
enter, irrationaler Finanzvehikel streuen,   in Zweifel und konnte aufgrund seiner
die Wechselkurse stärker an langfristige     «Taxonomie der Händler» erläutern, wie
realwirtschaftliche Entwicklungen kop-       eine Finanztransaktionssteuer störende
peln und durch das Zurückdrängen der         Transaktionen beseitigen könnte.4
preistreibenden Spekulant*innen den          Anders als Keynes, Tobin und Stiglitz wa-
Zen­tral­banken neue Spielräume für ihre     ren jedoch die meisten Ökonom*innen
Geldpolitik schaffen. Durch zahlreiche       explizit oder implizit der Ansicht, dass
Währungskrisen, die durch schnelle Zu-       Börsen- und Wechselkurse auf rationa-
und Abflüsse von Kapital verstärkt wur-      len Entscheidungen informierter Händ­
den, fand sich Tobin in seinem Vorschlag     ler*innen beruhen und sich anhand ihrer
bestätigt. Damit möglichst alle Jurisdik-    Kaufs- und Verkaufsgebote ein Gleich-
tionen die Steuer erheben, wollte Tobin      gewichtspreis bildet, der im Endeffekt
die Mitgliedschaft beim Internationalen      durch maßgebliche ökonomische Fak-
Währungsfonds (IWF) daran knüpfen.3          toren wie Angebot und Nachfrage (Fun-
Realpolitisch besaßen diese Vorschläge       damentaldaten) gerechtfertigt ist und
nie eine Chance.                             für den soziale und psychologische Fak-
Tobin hatte auch vorgeschlagen, die Ein-     toren keine Rolle spielen. Je freier die
nahmen aus der Steuer für internationa-      Märkte seien, desto besser könne sich
le Zwecke und Entwicklungshilfe zu ver-      dieses Gleichgewicht einstellen. Die Fi-
wenden. Als weltweite Steuer besaß sie       nanztransaktionssteuer würde daher ver-
ein enormes Einnahmepotenzial, zumal         hindern, dass Kapital optimal eingesetzt
die Umsätze auf den Devisenmärkten           wird. Die mit dieser Denkweise und dem
mit der Liberalisierung der Finanzmärk-      Argument des Standortwettbewerbs
te immer mehr gewachsen waren. Damit         weltweit vorangetriebene Deregulierung
hätten sich auf einen Schlag viele der im    der Finanzmärkte führte dazu, dass zahl-
Umfeld der Vereinten Nationen diskutier-     reiche bereits existierende Transaktions-
ten Entwicklungsziele finanzieren lassen.    steuern aufgehoben wurden, so etwa in
Kein Wunder, dass sich Entwicklungsor-       Spanien, Deutschland, den Niederlan-
ganisationen schnell für die Steuer be-      den und in Dänemark. Großbritannien
geisterten. Ihr Fokus auf die Einnahmen      und die Schweiz behielten jedoch ihre
führte aber wiederum dazu, dass sich To-     Steuern bei. In unterschiedlichsten Fas-
bin zu Unrecht vereinnahmt sah. Für ihn
war dies ein Nebeneffekt. Trotzdem hielt     3 Tobin, James: A Currency Transaction Tax, Why and How, in:
er an der Steuer als Regulierungsinstru-     Open Economics Review 1/1996, S. 493–499. 4 Stiglitz, Jo-
                                             seph: Using Tax Policy to Curb Speculative Short-Term Trading,
ment zeitlebens fest.                        in: Journal of Financial Services Research 3/1989, S. 101–115.
6   sungen sind Finanztransaktionssteuern       Naturschutz Klaus Töpfer (CDU) in einer
    heute immer noch weit verbreitet. Laut      Rede vor den Vereinten Nationen posi-
    Erhebungen der Wirtschaftsprüfungs-         tiv auf die Tobin-Steuer bezog, war die
    und Beratungsgesellschaft Pricewater-       schwarz-gelbe Regierung unter Hel-
    houseCoopers (PwC) werden weltweit          mut Kohl klar dagegen: «Die Bundesre-
    aktuell in etwa 50 Staaten bestimmte Fi-    gierung ist […] in Übereinstimmung mit
    nanztransaktionen besteuert.5               den internationalen Finanzinstitutionen
    Das vermehrte Auftreten von Finanzkri-      der Auffassung, daß eine derartige Be-
    sen, aber auch der ewige Geldmangel         steuerung kein taugliches Mittel zur Be-
    in der Entwicklungspolitik sorgten da-      kämpfung übermäßiger Währungsspe-
    für, dass die Forderung nach einer Tobin-   kulationen darstellt. Zum einen wäre die
    Steuer nicht totzukriegen war. Sie ging     Identifizierung ‹spekulativer› Kapitalbe-
    vielmehr in die Programmatiken von zahl-    wegungen kaum oder nur mit größtem
    reichen Nichtregierungsorganisationen,      Aufwand möglich. Zum anderen müßte
    Gewerkschaften, Kirchen, progressiven       eine derartige Besteuerung weltweit in
    Parteien und Ökonom*innen ein. Unter        jedem einzelnen Land umgesetzt wer-
    dem Titel «Entwaffnet die Märkte» veröf-    den, um Umgehungen durch Verlage-
    fentlichte der Chefredakteur der Zeitung    rung von Kapitaltransaktionen in Länder
    Le Monde Diplomatique, Ignacio Ramo-        ohne entsprechende Besteuerung zu
    net, im Dezember 1997 ein Manifest,         verhindern.»8
    das zur Gründung einer «Vereinigung zur     In der SPD wiederum war das Projekt
    Besteuerung von Finanztransaktionen         umstritten – die Parteilinke war prinzipi-
    im Interesse der Bürger*innen» aufrief.6    ell dafür, die Parteirechte dagegen. Ent-
    Dies war die Geburtsstunde der Bewe-        sprechend konnte sich auch nach dem
    gung Attac, deren Name sich im Franzö-      Wechsel von 1998 die rot-grüne Bun-
    sischen aus den Anfangsbuchstaben der       desregierung lediglich dazu durchrin-
    besagten Vereinigung zusammensetzt
    (Association pour une ­taxe ­Tobin d‘aide   5 Funke, Manuel/Meyer, Josefin/Trebesch, Christoph: Der
                                                deutsch-französische Vorschlag zu einer Finanztransaktions-
    aux ­citoyens). Ramonet sah die Steu-       steuer. Internationale Einordnung und Politikempfehlungen, In-
                                                stitut für Weltwirtschaft, Kieler Beiträge zur Wirtschaftspolitik,
    er vor allem als Abschreckungsinstru-       Nr. 24, Kiel 2020. 6 Ramonet, Ignacio: Désarmer les marchés,
    ment. Gleichzeitig wären die Einnahmen      in: Le Monde Diplomatique, Dezember 1997, S. 1, unter: www.
                                                monde-diplomatique.fr/1997/12/RAMONET/5102. 7 Antrag
    bei einem Steuersatz von 0,1 Prozent mit    der Abgeordneten Ludger Volmer, Dr. Uschi Eid, Antje Herme-
    166 Milliarden US-Dollar jährlich doppelt   nau, Kristin Heyne, Dr. Manuel Kiper, Dr. Angelika Köster-Loß-
                                                ack, Oswald Metzger, Simone Probst, Halo Saibold, Christine
    so hoch ausgefallen, wie für die Abschaf-   Scheel, Wolfgang Schmitt (Langenfeld), Ursula Schönberger,
                                                Rainder Steenbiock, Margareta Wolf-Mayer, Werner Schulz
    fung der extremen Armut bis zur Jahrtau-    (Berlin) und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Neue Stra-
    sendwende benötigt.                         tegie der internationalen Finanzinstitutionen zur Entschul-
                                                dung und zur Finanzierung von umwelt- und entwicklungs-
    Im Deutschen Bundestag schlug die To-       politischen Maßnahmen, Bundestags-Drucksache 13/1018
    bin-Steuer den Bundestags-Drucksa-          vom 30.3.1995. Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
                                                Dr. Christa Luft, Rolf Kutzmutz, Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Win-
    chen zufolge erstmals 1995 auf und fand     fried Wolf, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Willibald Jacob, Dr.
                                                Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Einführung einer Steuer
    in ihrer Doppelfunktion als Anti-Spekula-   auf spekulative Devisenumsätze (Tobin-Steuer), Bundestags-
    tions- und Entwicklungsfinanzierungsin-     Drucksache 13/9337 vom 28.11.1997. 8 Antwort der Bundes-
                                                regierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Manfred
    strument Rückhalt bei den Grünen und        Müller (Berlin), Heinrich Graf von Einsiedel, Andrea Gysi, wei-
    bei der PDS.7 Obwohl sich auch der da-      terer Abgeordneter und der Gruppe der PDS: Finanzkrise der
                                                UNO und Haltung der Bundesregierung, Bundestags-Druck-
    malige Bundesminister für Umwelt und        sache 13/5788 vom 14.10.1996.
gen, die Einführung einer Tobin-Steuer       Krankheit zu bekämpfen. Aber all diese                           7
prüfen zu wollen. Faktisch verfolgte auch    konkreten Vorstöße waren an die Bedin-
die Schröder-Regierung den Plan, mit-        gung geknüpft, die Einführung müsse in
hilfe diverser Finanzmarktfördergesetze      einer Staatengemeinschaft erfolgen, was
den großen Finanzplätzen in London und       utopisch war. Erst mit der globalen Fi-
New York nachzueifern. Sand im Getrie-       nanzkrise 2008/09 drehte sich der Wind.
be der Finanzmärkte war dafür genau das      Statt das Kapital gemäß der Doktrin effizi-
Gegenteil. Insofern blieb auch ein Auf-      enter Finanzmärkte genau dorthin zu len-
tragsgutachten des SPD-geführten Bun-        ken, wo es seine optimale Verwendung
desentwicklungsministeriums folgen-          findet, hatten die Märkte das Finanzsys-
los, obwohl es die Durchführbarkeit der      tem an den Rand des Abgrunds speku-
Tobin-Steuer belegte und zeigte, dass die    liert. Finanzinstitute, die ihre Führungs-
Steuer sogar wirksam wäre, wenn sie nur      kräfte über Jahre mit Geld überschüttet
in einer Zeitzone (das heißt in der gesam-   hatten, mussten mit öffentlichen Geldern
ten EU) eingeführt würde, so das Resü-       gerettet werden. Die Anti-Spekulations-
mee des Autors Paul Bernd Spahn.9 Um         Steuer war plötzlich ziemlich angesagt.
Währungsschwankungen besser kon-
trollieren zu können, schlug Spahn vor,      1.2 Legitimationsschub durch
dass Staaten mit schwächeren Währun-         die Finanzkrise
gen zusätzlich zu einer fixen Tobin-Steuer   Im Herbst 2008 erreichte die Finanzkri-
noch eine Zusatzsteuer erheben, deren        se in Deutschland ihren Höhepunkt. Der
Steuersatz bei starken Kursschwankun-        Bundestag beschloss ein riesiges Ban-
gen eskaliert («Tobin-Spahn-Steuer»).        kenrettungsprogramm, auf den wirt-
Das Gutachten schätzte das Aufkom-           schaftlichen Absturz reagierte er mit
men aus der Devisenbesteuerung für die       milliardenschweren Konjunkturprogram-
EU plus Schweiz auf insgesamt 17 bis         men. Der Staatshaushalt drehte tief ins
20 Milliarden Euro. Spahn schlussfolger-     Minus. Während die Finanzkrise zur Kri-
te: «Die wirklichen Probleme liegen nicht    se der Europäischen Währungsunion
auf technischem Gebiet. Sie liegen auf       mutierte, schnürte eine Regierung nach
dem Gebiet des politischen Willens, der      der anderen riesige Spar- und Kürzungs-
internationalen Kooperation zwischen         pakete.
Staaten und der legalen Durchsetzung.»       Daher war es wenig überraschend, dass
Mehr Mut als die rot-grüne Koalition be-     die Finanztransaktionssteuer ein wich-
wiesen Parlamente und Regierungen in         tiges Instrument in einem Strauß von
anderen Staaten. 2001 verabschiedete         Maßnahmen zur Finanzmarktregulie-
die französische Nationalversammlung         rung wurde. Dabei stand jedoch nicht die
ein Gesetz zur nationalen Ermöglichung       Regulierungswirkung im Vordergrund,
einer Tobin-Steuer – vorbehaltlich der       sondern mehr und mehr die Einnahme-
Einführung in allen anderen EU-Staa-         wirkung. Beim G-20-Gipfel in Pittsburgh
ten. Das belgische Parlament traf im Ju-     im September 2009 beauftragten die
li 2004 einen ähnlichen Beschluss. Ende
                                             9 Spahn, Paul Bernd: Zur Durchführbarkeit einer Devisentrans-
2004 schlug der französische Präsident       aktionssteuer (On the Feasibility of a Tax on Foreign Exchange
Jacques Chirac vor, mit dem Aufkom-          Transactions). Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums
                                             für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Bonn
men der Tobin-Steuer weltweit die AIDS-      2020.
8   Staats- und Regierungschefs den IWF           ne Bankenabgabe («Financial Crisis Res-
    mit einer Studie, wie der Finanzsektor ei-    ponsibility Fee»), die später jedoch vom
    nen «fairen und substanziellen Beitrag»       US-Kongress verhindert wurde.12 Schon
    zur Beseitigung der Krisenlasten leis-        bald rückte auch Gordon Brown wieder
    ten könne. Die Finanztransaktionssteuer       von seiner Unterstützung für eine Finanz-
    war ein mögliches Finanzierungsinstru-        transaktionssteuer ab und trieb ebenfalls
    ment. Kurz darauf, im Oktober 2009, be-       eine nationale Bankenabgabe voran.
    auftragte auch der Europäische Rat die        Vonseiten der deutschen Regierung wa-
    EU-Kommission mit einer Analyse, wie          ren die Signale eher verhalten. Im Sep-
    neue Finanzquellen zu erschließen sei-        tember 2009 war der Bundestag neu ge-
    en, wobei neben den Krisenlasten auch         wählt worden. Das Wahlprogramm der
    Finanzbedarfe beim Klimaschutz und bei        Unionsparteien hatte eine Steuer auf Fi-
    der Entwicklungsförderung aufgeführt          nanztransaktionen mit keinem Wort er-
    wurden.10                                     wähnt. Auch im Koalitionsvertrag von
    Die Finanztransaktionssteuer wurde in et-     CDU, CSU und FDP tauchte die Forde-
    lichen Staaten Teil der Regierungsagen-       rung nicht auf. Bestenfalls war an einer
    da. Frankreichs Präsident Sarkozy, der        Stelle verschämt von «neuen globalen
    gemeinsam mit seiner damaligen Finanz-        Steuerungsinstrumenten» die Rede.
    ministerin Christine Lagarde Anfang 2008      Die öffentliche Empörung über die teure
    noch die französische Aktiensteuer abge-      Bankenrettung und die Oppositionspar-
    schafft hatte, erklärte anlässlich des Kli-   teien setzten die Regierung jedoch un-
    magipfels in Kopenhagen, mit einer inter-     ter Druck. Das Wahlprogramm der SPD,
    nationalen Finanztransaktionssteuer die       die viele Jahre lang den Finanzminister
    internationale Klimaschutzpolitik finan-      gestellt hatte und dabei wenig Meriten
    zieren zu wollen. Kurz zuvor hatte bereits    mit der Finanztransaktionssteuer erwor-
    der britische Premierminister Gordon          ben hatte, hatte eine Börsenumsatzsteu-
    Brown als Gastgeber des G-20-Gipfels          er nach Vorbild der britischen Stempel-
    vor den versammelten Finanzministern          steuer vorgesehen. Gleichzeitig sollte die
    eine globale Finanztransaktionssteu-          Steuer europaweit und um weitere Fi-
    er ins Gespräch gebracht (als eines von       nanzprodukte ergänzt erhoben werden.
    vier möglichen Finanzierungsinstrumen-        Im Wahlprogramm der Grünen war eine
    ten). Die Hälfte der Einnahmen sollte laut    umfassende Finanztransaktionssteuer
    Brown für den nationalen Haushalt, die        unter dem Namen «Finanzumsatz­steuer»
    andere Hälfte für Entwicklung und Kli-
                                                  10 Hemmelgarn, Thomas: Steuern und Abgaben im Finanz-
    maschutz verwendet werden.11 Diese In-        sektor. Abgabenrechtliche Regulierung und neue Finanzmarkt-
    itiative war insofern hochinteressant, da     steuern in der Europäischen Union, IFSt-Schrift Nr. 468, Institut
                                                  Finanzen und Steuern, Berlin 2011. 11 Elliott, Larry: Gordon
    Großbritannien mit London das weltweit        Brown is right: rich western banks should pay for the develo-
    größte Finanzzentrum beheimatete. Al-         ping world to go green, in: The Guardian, 9.11.2009, unter:
                                                  www.theguardian.com/business/2009/nov/09/bank-tax-pays-
    lerdings war schnell klar, dass er damit      for-development. 12 Später wurde über Wikileaks enthüllt,
                                                  dass Gordon Brown die US-Regierung wiederholt bedrängt
    auf Ablehnung stieß. Neben US-Finanz-         hatte, sich der Finanztransaktionssteuer-Initiative anzuschlie-
    minister Timothy Geithner lehnten auch        ßen (siehe www.theguardian.com/world/us-embassy-cables-
                                                  documents/238904). Präsident Barack Obama fand die Idee
    die Regierungen von Kanada und Russ-          einer Finanztransaktionssteuer ursprünglich gut, soll aber von
                                                  seinem Wirtschaftsberater Larry Summers davon abgebracht
    land die Steuer ab. So favorisierte die       worden sein (siehe https://ips-dc.org/obama_supported_finan-
    US-Regierung unter Barack Obama ei-           cial_transactions_taxes_before_summers_nixed_it/).
enthalten. Bei den LINKEN war eine nicht     Maßgeblichen Anteil an diesem Sin-                                  9
näher spezifizierte «Börsenumsatzsteu-       neswandel hatten die Aktivitäten des
er» vorgesehen, wobei eigentlich eine        Kampagnenbündnisses «Steuer gegen
umfassende Finanztransaktionssteu-           Armut». Im Oktober 2009 gegründet,
er auf sämtliche Produktkategorien und       entwickelte sich aus einem Offenen Brief
den außerbörslichen Handel angedacht         und einer Petition an den Deutschen
war.13 Große Aufmerksamkeit erhielt zu       Bundestag eine Vielzahl von Kampag-
dieser Zeit eine Studie des österreichi-     nentätigkeiten.16 Von 32 Gründungsor-
schen Ökonomen Stephan Schulmeis-            ganisationen wuchs das Bündnis im Lauf
ter, die eine ausführliche Rechtfertigung    der Jahre auf über 100 zivilgesellschaft-
für die Einführung einer solchen Steu-       liche, kirchliche und gewerkschaftliche
er lieferte und auch das Ertragspotenzi-     Organisationen an. Dabei ging es der
al abschätzte. Eine Steuer in Höhe von       Kampagne neben dem Zurückdrängen
0,05 Prozent hätte demnach in Deutsch-       von Finanzspekulationen auch um die
land Einnahmen in Höhe von etwa einem        Finanzierung internationaler und natio-
Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP)       naler Armutsbekämpfung und des glo-
gebracht.14                                  balen Umwelt- und Klimaschutzes. Über
Während die FDP die Finanztransakti-         die kirchlichen Netzwerke ihres Initiators,
onssteuer weiter stur ablehnte, begann       Jesuitenpater Jörg Alt, hatte die Kampa-
der Widerstand der Unionsparteien un-        gne einen viel besseren Zugang zu den
ter dem öffentlichen Druck zu bröckeln.      Unionsparteien, als es für Organisatio-
Schon im Wahlkampfendspurt hatte             nen wie Attac, Oxfam oder die Gewerk-
Angela Merkel eine Finanztransaktions-       schaften denkbar gewesen wäre. Gera-
steuer nicht mehr ausgeschlossen, al-        de in den Anfangsjahren der Kampagne
lerdings, so ihre Einschränkung, müsse       gelang es dem Bündnis mit medial insze-
diese global erhoben werden. Doch auch       nierten Aktionen, Auftritten bei Bundes-
als international längst intensiv über die   tagsanhörungen, der Nutzung sozialer
Finanztransaktionssteuer diskutiert wur-     Netzwerke, einem internationalen Aufruf
de, konnten die Fachpolitiker*innen der      von Ökonom*innen und vielem mehr ei-
Union einer Finanztransaktionssteuer         ne sehr breite Öffentlichkeit zu erreichen.
wenig abgewinnen. Das beweist etwa           Für einen Filmspot stellten sich Heike
das Redeprotokoll einer aktuellen Stun-      Makatsch und Jan Josef Liefers zur Ver-
de im Bundestag vom 17. Dezember             fügung. So schaffte es die Finanztrans-
2009. 15 Die hohen Zustimmungswer-           aktionssteuer, von einem einstmals eher
te brachten die Position schließlich ins     Spezialist*innen vorbehaltenen Thema
Rutschen. Horst Seehofer, damals so-         zu einem Anliegen mit hoher Populari-
wohl CSU-Vorsitzender als auch baye-         tät zu werden. International gab es viele
rischer Ministerpräsident, beauftragte
seine Beamt*innen zum Jahreswech-            13 Siehe hierzu Troost, Axel/Reiners, Suleika: Die Finanztrans-
                                             aktionssteuer. Technisch machbar und ökonomisch überfällig,
sel 2009/10, die Einführung einer Fi-        Positionspapier, 2008, unter: www.axel-troost.de/serveDocu-
nanztransaktionssteuer zu prüfen. Mit-       ment.php?id=763&file=4/4/766.pdf. 14 Schulmeister, Stephan/
                                             Schratzenstaller, Margit/Picek, Oliver: A General Financial Tran-
te Januar 2010 sprach sich dann der          saction Tax. Motives, Revenues, Feasibility and Effects, WIFO,
CDU-Bundesvorstand für eine globale Fi-      Wien 2008. 15 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 17/12
                                             der Sitzung vom 17.12.2009, unter: https://dserver.bundestag.
nanztransaktionssteuer aus.                  de/btp/17/17012.pdf. 16 Siehe www.steuer-gegen-armut.org.
10   ähnlich ausgerichtete Kampagnen. Die in       bzw. eine «Finanzaktivitätssteuer», eine
     Großbritannien gestartete «Robin Hood         Steuer auf Gewinne und Lohnzahlungen
     Tax Campaign»17 fand ein besonders pas-      von Finanzinstituten. Ins gleiche Horn
     sendes Motto.                                stieß eine ähnlich angelegte Ausarbei-
     Auch wenn zu Beginn des Jahres 2010          tung der EU-Kommission.
     eine große Mehrheit des Bundestags die       Diese Auseinandersetzung überlager-
     Finanztransaktionssteuer unterstützte,       te eine von den Oppositionsparteien für
     war damit noch nicht viel erreicht. Denn     Mitte Mai 2010 angesetzte öffentliche
     eine globale Steuer, wie sie die CDU for-    Anhörung im Finanzausschuss. Diese
     derte, zeichnete sich keineswegs ab. Da      Anhörung ging mehrheitlich zuguns-
     die USA und Großbritannien längst auf ei-    ten der Finanztransaktionssteuer aus.
     ne Bankenabgabe zusteuerten und sich         Dies dürfte der Tropfen gewesen sein,
     auch der EU-Rat der Wirtschafts- und Fi-     der nach einer monatelangen Debat-
     nanzminister (Ecofin) immer mehr für ei-     te das Fass zum Überlaufen brachte. Ei-
     ne Bankenabgabe nach schwedischem            nen Tag danach beschloss der Koaliti-
     Vorbild erwärmte, sah es so aus, als kä-     onsausschuss von CDU, CSU und FDP,
     me die Finanztransaktionssteuer ins Hin-     die Bundesregierung solle «sich auf eu-
     tertreffen. Umso mehr, als dann auch das     ropäischer und globaler Ebene für eine
     Bundeskabinett Ende März 2010 die Eck-       wirksame Finanzmarktsteuer – das heißt
     punkte einer Bankenabgabe beschloss.         Finanztransaktionssteuer oder Finanzak-
     Die Abgabe war allerdings nicht für den      tivitätssteuer – einsetzen». Die Nennung
     Bundeshaushalt, sondern für einen Ab-        der Finanzaktivitätssteuer diente augen-
     wicklungsfonds für zukünftige Banken-        scheinlich allein der Gesichtswahrung für
     pleiten vorgesehen. Insofern war sie nicht   die FDP, die mit der Finanztransaktions-
     geeignet, den Finanzsektor, wie vorge-       steuer über Kreuz lag. Tatsächlich wurde
     sehen, an den Kosten der Finanzkrise zu      diese Variante vom Finanzministerium
     beteiligen. Ohne einen solchen Krisenbei-    nie ernsthaft verfolgt. Presseberichten
     trag waren die für den Herbst geplanten      zufolge soll sich Angela Merkel auf der
     Einsparungen im Bundeshaushalt jedoch        Fraktionssitzung der Union «ohne Wenn
     kaum zu vermitteln. Hinzu kam, dass ab       und Aber» zur Finanztransaktionssteuer
     dem Frühjahr 2010 auch noch milliarden-      bekannt haben. Diese sei zu einem «po-
     schwere Summen für den Eurorettungs-         litischen Symbolthema» geworden, «die
     schirm aufgebracht werden mussten.           Bürger wollten diese Steuer». Beim kom-
     Ende April 2010 legte der Internationale     menden G-20-Gipfel wollte sie «im Not-
     Währungsfonds seinen Entwurf für das         fall Rabatz machen».18
     Gutachten zur Besteuerung des Finanz-         Trotz dieser Drohung fiel die Finanz-
     sektors vor. Er belegte zwar die Machbar-     transaktionssteuer im Juni 2010 beim
     keit einer Finanztransaktionssteuer und      ­G -20-Gipfel in Toronto erwartungsge-
     fand einige Argumente dafür, gleichwohl      mäß durch. Sie wurde noch nicht einmal
     empfahl er anstelle einer Finanztransakti-   in der Gipfelerklärung erwähnt. Die glo-
     onssteuer zwei Varianten von Finanzab-
     gaben: eine «Finanzstabilitätsabgabe»,       17 Siehe www.robinhoodtax.org.uk. 18 Schuler, Katharina:
     die von Finanzinstituten zur Finanzierung    Transaktionssteuer. Merkel droht mit Rabatz, in: Zeit Online,
                                                  18.5.2010, unter: www.zeit.de/politik/deutschland/2010-05/
     von Abwicklungsfonds gezahlt würde,          union-finanztransaktionssteuer.
bale Finanztransaktionssteuer war damit       Der EU-weiten Finanztransaktionssteu-                             11
faktisch beerdigt.                            er drohte zu diesem Zeitpunkt bereits ein
Schon vor dem Gipfel war Bundesfinanz-        ähnliches Schicksal wie der weltweiten
minister Wolfgang Schäuble von einer          Steuer. Denn Steuerfragen werden in der
globalen Einführung abgerückt: Wenn           EU nur einstimmig entschieden. Die bri-
die G20 sich verweigerten, müsse die          tische Regierung, inzwischen durch den
Steuer EU-weit geprüft werden und not-        konservativen Politiker David Cameron
falls auch nur in der Eurozone eingeführt     geführt, hielt generell nichts von EU-wei-
werden, so Schäuble am 21. Mai 2010 im        ter Steuerpolitik und wollte auch keine
Bundestag. Dies machte aus der Finanz-        Finanztransaktionssteuer, die sie, wenn
transaktionssteuer ein reales Projekt. Der    überhaupt, nur als globale Steuer akzep-
Protest der FDP ließ nicht lange auf sich     tiert hätte. Aber auch die schwedische
warten, war aber bereits einkalkuliert. Die   und die tschechische Regierung waren
CSU ging sogar noch deutlich weiter als       klar dagegen. Die notwendige Einstim-
Schäuble: Die Finanztransaktionssteu-         migkeit im Europäischen Rat war also auf
er sollte notfalls rein national eingeführt   absehbare Zeit nicht vorhanden.
werden, so CSU-Generalsekretär Alex-          Die Europäische Kommission saß nach
ander Dobrindt.19 Dies schloss Schäuble       dem G-20-Gipfel von Toronto zwischen
aber aus. Die niedrigste Ebene sei die Eu-    den Stühlen. Ihr Mitarbeiterstab war zu
rozone.                                       ähnlichen Empfehlungen gekommen
Am 1. September 2010 verabschiede-            wie der IWF: Die Finanztransaktions-
te das Bundeskabinett ein über mehrere        steuer sei machbar, aber eine Finanz-
Jahre angelegtes Sparpaket im Umfang          aktivitätssteuer sei vorzuziehen. Als
von 60 Milliarden Euro. 60 Prozent der        wichtigsten Grund dafür führte die EU-
Gesamtsumme sollten durch Kürzungen           Kommission die Verlagerungen an, die
vor allem im Sozialbereich erreicht wer-      eine europäische Finanztransaktions-
den, der Rest über zusätzliche Einnah-        steuer hervorrufen würde.20 Für Stephan
men. Ab 2012 sollte die Finanzbranche         Schulmeister, den Vordenker der Finanz-
mit jährlich zwei Milliarden Euro aus ei-     transaktionssteuer, drückten sich in den
ner Finanztransaktionssteuer beteiligt        Analysen weniger empirische Fakten als
werden – ein geringer Betrag, der aller-      eine Weltanschauung aus, wie Finanz-
dings längst nicht gesichert war. Neben       märkte im Modell der Gleichgewichts-
der Finanztransaktionssteuer sah das          theorie funktionieren sollen.21 Anders als
Haushaltspaket auch Einnahmen aus             die Finanztransaktionssteuer würde eine
einer Brennelementesteuer vor. Diese          an die Bilanzsumme geknüpfte Abgabe
Steuer auf den Betrieb von Kernkraftwer-      oder Steuer nicht das (häufige) Handeln
ken war jedoch so schlampig konstruiert,      von Finanzprodukten bestrafen, sondern
dass sie Jahre später vom Bundesverfas-       deren Halten zum Bilanzstichtag. Damit
sungsgericht gekippt und an die Kraft-
                                              19 Financial Times Deutschland, 27.5.2010. 20 European
werksbetreiber zurückgezahlt werden           Commission: Questions and answers: Financial Sector Taxa-
musste. Nicht nur die Oppositionspartei-      tion, MEMO/10/477, 7.10.2010, unter: https://ec.europa.eu/
                                              commission/presscorner/detail/en/MEMO_10_477. 21 Schul-
en bezeichneten das Sparpaket der Bun-        meister, Stephan: Bank levy versus transactions tax: A critical
desregierung als sozial unausgewogen.         analysis of the IMF and EC reports on financial sector taxati-
                                              on, WIFO, Wien 2010, unter: www.nachdenkseiten.de/upload/
Kritik kam auch aus den eigenen Reihen.       pdf/100423_FTT_Stephan_Schulmeister.pdf.
12   blieben etliche Transaktionen, die sich in   werden kann.23 Der optimale Ansatz sei
     der Finanzkrise als schädlich erwiesen       zwar, die Finanztransaktionssteuer zen-
     hatten, unbesteuert. Auch der gesam-         tral am Ort der Zahlungsabwicklung an-
     te kurzfristige algorithmische Handel        zusetzen (Territorialprinzip). Der politisch
     (Hochfrequenzhandel oder volkstümlich        leichter zu realisierende Ansatz, der kei-
     «Sekundenhandel») bliebe außen vor. Da       ne geschlossene internationale Einfüh-
     diese Weltanschauung der effizienten         rung voraussetze, sei aber die Ausgestal-
     Märkte über lange Zeit die Finanzwissen-     tung nach dem Personalprinzip: Dabei
     schaft dominiert habe, so Schulmeister,      sei nicht der Ort der Transaktion, sondern
     sei es auch kein Wunder, dass IWF und        die Nationalität der Transaktionsparteien
     EU-Kommission unabhängig voneinan-           Anknüpfungspunkt für die Steuer: Alle
     der zu ähnlichen Schlussfolgerungen ge-      Personen aus dem besteuernden Staat,
     kommen seien.                                die an beliebigen Handelsplätzen auf der
     Um der Popularität der Steuer und dem        Welt Transaktionen tätigten, würden auf-
     Drängen Frankreichs, Deutschlands und        grund ihrer Herkunft besteuert. Dieses
     Österreichs Rechnung zu tragen, tak-         Prinzip wurde später unter den Bezeich-
     tierte die EU-Kommission mit einer von       nungen «Ansässigkeitsprinzip», «Her-
     ihr so genannten Doppelstrategie: Sie        kunftslandprinzip», «Sitzlandprinzip»
     sprach sich zwar für eine globale Finanz-    oder «Residenzprinzip» zu einem we-
     transaktionssteuer aus, empfahl aber für     sentlichen Instrumentarium gegen Ver-
     die europäische Ebene eine Finanzaktivi-     meidungsstrategien.
     tätssteuer. Faktisch war dies eine Nebel-    Die EU-Kommission startete im Febru-
     kerze, denn eine globale Einführung be-      ar 2011 eine öffentliche Konsultation zur
     deutete nach dem Scheitern von Toronto       Beteiligung des Finanzsektors an den Kri-
     für die Finanztransaktionssteuer ein Be-     senkosten. Anders als sonst üblich be-
     gräbnis dritter Klasse.                      teiligten sich zahlreiche Akteur*innen
     Im Ecofin-Rat zog sich der Streit um die     aus der Zivilgesellschaft daran und un-
     Finanzmarktsteuer über längere Zeit hin.     terstützten die Finanztransaktions-
     Im Oktober 2010 machte die österrei-         steuer. Die deutsche und französische
     chische Regierung mit einem Positions-       Regierung bedrängten ebenfalls die EU-
     papier zu einer breit angelegten Finanz-     Kommission. Im Rahmen einer von der
     transaktionssteuer einen neuen Anlauf.22     Berichterstatterin Anni Podimata vorbe-
     Die Beratungen brachten aber wieder          reiteten Entschließung («Podimata-Re-
     keine Einigkeit und der Ecofin beschloss,    port») forderte schließlich auch das Eu-
     erst einmal diverse Studien erstellen zu     ropäische Parlament die EU-Kommission
     lassen. Die Lösung des Problems wurde        dazu auf, eine europäische Finanz­trans­
     wieder vertagt.                              aktionssteuer einzuführen und dazu rasch
     Immerhin brachte der Aufschub neue
     Einsichten. Eine wesentliche Innovation      22 Österreichisches Positionspapier zur Einführung einer all-
                                                  gemeinen und globalen Finanztransaktionssteuer, unter: www.
     kam wieder von Stephan Schulmeister.         steuer-gegen-armut.org/fileadmin/Dateien/Kampagnen-Seite/
     In einer neuen Studie führte dieser aus,     Unterstuetzung_Ausland/Einzelstaaten/2010/A-101001_oes-
                                                  terreichisches_positionspapier.pdf. 23 Schulmeister, Stephan:
     wie eine Finanztransaktionssteuer auch       Short-term Asset Trading, long-term Price Swings, and the Sta-
     von einzelnen Ländern, die eine Vorrei-      bilizing Potential of a Transactions Tax, WIFO, Wien 2010, unter:
                                                  http://stephan.schulmeister.wifo.ac.at/fileadmin/homepage_
     terrolle einnehmen wollen, eingeführt        schulmeister/files/FinSpec_IMF_10_10.pdf.
eine ­Durchführungsstudie sowie konkre-       Ende September 2011 war es dann end-                           13
te Legislativvorschläge ­vorzulegen.24 EU-    lich soweit. Der von der EU-Kommission
Steuerkommissar ­Algirdas Semeta, der         vorgelegte Entwurf (siehe Kasten) über-
diesen Beschluss als unverant­wortlich        traf die Erwartungen bei Weitem. Zwar
zurückwies, geriet zunehmend in die           waren Devisentransaktionen wegen der
Defensive. Innerhalb von kurzer Zeit ap-      in den EU-Verträgen fixierten Kapitalver-
pellierten 380.000 Unter­s tützer*in­n en     kehrsfreiheit von der Besteuerung aus-
einer Online-Petition an Semeta, den Be-      genommen, aber mit der Einbeziehung
schluss des Europaparlaments ernst zu         sämtlicher Wertpapierklassen (Anleihen,
nehmen. Der von der EU-Kommission             Aktien, Derivate) und des untertägigen
betriebenen Umfrageplattform Euro-Ba-         Handels wären bei Umsetzung beträcht-
rometer zufolge unterstützten EU-weit         liche regulatorische Effekte und Ein-
mehr als 60 Prozent der Befrag­ten eine Fi-   nahmen verbunden. In einer separaten
nanztransaktionssteuer.                       Richtlinie sollte die Mittelverwendung für
Dies zeigte Wirkung. Anfang Juni 2011         den EU-Haushalt geregelt werden. Dies
kündigte EU-Kommissionspräsident Jo-          wurde aber von den Mitgliedstaaten ab-
sé Manuel Barroso an: «Ich bin für ei-        gelehnt. Zudem hatten einzelne Regie-
ne Finanzmarkttransaktionssteuer und          rungen angekündigt, den Vorschlag für
werde dazu in sehr naher Zukunft einige       eine Finanztransaktionssteuer-Richtlinie
Ideen einbringen.» Kurz darauf kündigte       mit ihrem Veto zu blockieren.
Semeta für den Herbst einen Richtlinie-
                                              24 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. März
nentwurf an: Die Steuer sollte bis 2018       2011 zur innovativen Finanzierung auf globaler und europäi-
als EU-Steuer eingeführt und direkt an        scher Ebene (2010/2105[INI]), unter: www.europarl.europa.eu/
                                              sides/getDoc.do?type=TA&reference=P7-TA-2011-0080&lang
das EU-Budget abgeführt werden.               uage=DE&ring=A7-2011-0036.

RICHTLINIENENTWÜRFE DER EU-KOMMISSION ZUR
EINFÜHRUNG EINER FINANZTRANSAKTIONSSTEUER

EU-weite Richtlinie                           sätze beschließen können. Der beson-
Der Vorschlag der EU-Kommission vom           dere Clou des Kommissionsvorschlags
28. September 2011 sah die Besteu-            war, dass nicht der Ort der Transakti-
erung des Handels von Finanzinstitu-          on, der leicht verlagert werden kann,
ten mit Aktien, Anleihen und Deriva-          entscheidend sein sollte, sondern das
ten vor. Aufgrund des EU-Primärrechts         jeweilige Sitzland der Transaktionspar-
wurden Devisen bei der Besteuerung            teien (Ansässigkeitsprinzip). Damit hät-
ausgeklammert. Käufer*innen wie               te jeder Handel, an dem ein Finanzins-
Verkäufer*innen würden jeweils mit ei-        titut aus der EU beteiligt ist, besteuert
nem Mindestsatz von 0,1 Prozent beim          werden müssen, unbeschadet davon,
Handel mit Aktien und Anleihen besteu-        wo genau gehandelt wurde. Das hätte
ert, Derivate mit einem Mindestsatz von       eine hohe Hürde geschaffen: Wer die
0,01 Prozent des Nominalwerts. Die            Steuer hätte vermeiden wollen, hätte
Mitgliedstaaten sollten höhere Steuer-        seinen Firmensitz in Länder außerhalb
14
     der EU verlagern müssen, was für die al-     Duty», die weltweit den Handel mit Ak-
     lermeisten Finanz­institute mit großem       tien britischer Unternehmen besteuert,
     Aufwand und anderen Nachteilen ver-          soll auch der Handel mit Wertpapieren,
     bunden wäre.                                 die in den elf Staaten ausgegeben wer-
     Die jährlichen Einnahmen der damals          den, weltweit besteuert werden. Dieses
     27 EU-Staaten wurden auf 57 Milliar-         Prinzip soll nicht nur bei Aktien, son-
     den Euro geschätzt. Die Einnahmen            dern auch bei Anleihen zur Anwendung
     aus dieser Steuer sollen ganz oder teil-     kommen, würde jedoch nicht für die al-
     weise als neue Eigenmittel in den EU-        lermeisten Derivate gelten, die im Prin-
     Haushalt fließen, die Beiträge der Mit-      zip ein Vertrag zwischen zwei Parteien
     gliedstaaten sollten entsprechend            mit frei vereinbartem Rechtsort sind.
     abgesenkt werden.                            Die EU-Kommission schätzte das Steu-
                                                  eraufkommen in den elf beteiligten
     Richtlinie für die Verstärkte                Staaten auf 30 bis 35 Milliarden Euro.
     ­Zusammenarbeit                              Das Mehraufkommen aus dem ergänz-
      Im Februar 2013 legte die EU-Kommis-        ten Ausgabeprinzip hätte hierbei ledig-
      sion einen Vorschlag für die Einführung     lich 1,2 Milliarden Euro ausgemacht, da
      einer Finanztransaktionssteuer in Ver-      die meisten dem Ausgabeprinzip unter-
      stärkter Zusammenarbeit vor, das heißt      worfenen Transaktionen schon durch
      dem Zusammenschluss von damals elf          das Sitzlandprinzip abgedeckt gewe-
      EU-Staaten (Frankreich, Belgien, Est-       sen wären. Die EU-Kommission wies in
      land, Griechenland, Spanien, Italien, Ös-   ihrer zugehörigen Folgenabschätzung
      terreich, Portugal, Slowenien, die Slo-     erstmals auch nationale Steueraufkom-
      wakei und Deutschland). Deren Inhalt        men aus, allerdings wurden diese nicht
      entspricht im Wesentlichen dem Vor-         aus Transaktionsdaten, sondern grob
      schlag für die gesamte EU. Wichtigs-        anhand der Wirtschaftskraft auf die
      ter Unterschied ist, dass zusätzlich zum    einzelnen Staaten heruntergebrochen.
      Ansässigkeitsprinzip auch noch das          Entsprechend ergab sich für Deutsch-
      Ausgabe- bzw. Emissionsprinzip grei-        land ein hypothetisches Steueraufkom-
      fen soll. Analog zur britischen «Stamp      men von 11,75 Milliarden Euro.

     Insofern war es nur folgerichtig, dass im    Abgesehen von einem erfolglosen Ver-
     Oktober das CDU-Präsidium ankündig-          such des französischen Präsidenten Ni-
     te, die Finanztransaktionssteuer notfalls    colas Sarkozy, die Finanztransaktions-
     nur in der Eurozone einführen zu wollen.     steuer beim G-20-Gipfel in Cannes zu
     Die widerspenstigen Briten, Schweden         einem Schwerpunkt zu machen (und
     und Tschechen wären damit außen vor          darüber die UN-Millenniumsziele und
     geblieben. Dass der Finanzplatz London       den Klimaschutz zu finanzieren), war der
     ausgespart werden sollte, sorgte aber        Rest des Jahres 2011 von Gezerre um die
     wiederum in anderen Staaten für Beden-       EU-Richtlinie geprägt. Im Januar 2012
     ken. Daher war auch die Eurozonen-Lö-        überraschte dann Sarkozy mit der An-
     sung politisch heikel.                       kündigung, dass er demnächst auf na-
tionaler Ebene eine Finanztransaktions-     ner Gruppe aus mindestens neun Staa-                            15
steuer einführen wolle. Bald stellte sich   ten umgesetzt werden kann.
heraus, dass es sich dabei lediglich um     Die schwarz-gelbe Koalition tat sich mit
eine der britischen Stempelsteuer nach-     dieser Idee jedoch schwer. Schon im Ja-
empfundenen Aktiensteuer handelte.          nuar hatte FDP-Chef Philipp Rösler die
Der Vorstoß wurde anscheinend direkt        EU-weite Einführung einer Aktiensteu-
im Präsidentenpalast ausgeheckt und         er nach britischem Vorbild gefordert, die
war nicht mit dem französischen Finanz-     noch um einige Derivate ergänzt wer-
ministerium abgestimmt, das seit einiger    den sollte. 26 Ein entsprechendes, von
Zeit mit dem deutschen Finanzministeri-     der Bundesregierung in den Ecofin ein-
um an einem gemeinsamen Alternativ-         gebrachtes Kompromisspapier von Ende
vorschlag zur EU-Richtlinie arbeitete.      März 2012 ging in diese Richtung. Für die
Ähnlich wie die britische Stempelsteu-      Briten war aber auch dieser Vorschlag ein
er, die der Finanzkrise nichts entgegen-    Affront. Sie hätten zwar nichts weiter be-
gesetzt hatte, war auch die französische    schließen müssen, aber eine EU-Steuer
Aktiensteuer kein mit der umfassenden       an sich war schon zu viel verlangt. In eine
Finanztransaktionssteuer vergleichba-       andere Richtung als die FDP marschier-
res Regulierungsinstrument. Sie war         te die CSU: Der damalige bayerische Fi-
vielmehr der Versuch des Präsidenten,       nanzminister Markus Söder sprach sich
vor den Wahlen im Mai mit einer Alibi-      notfalls für einen Alleingang Deutsch-
Steuer zu punkten. Tatsächlich gewann       lands aus, denn «Deutschland habe in
die Wahl aber nicht Sarkozy, sondern        Europa eine Führungsfunktion».27 Auch
sein Konkurrent François Hollande. Die-     sein damaliger Chef Horst Seehofer un-
ser hatte im Wahlkampf verkündet, die       terstützte einen nationalen Alleingang als
Finanztransaktionssteuer zum Bestand-       letzten Ausweg (siehe Zitate auf S. 30).
teil eines europäischen Wachstums­          Gegen diesen stellte sich jedoch nicht
pakts machen zu wollen.25 Die Erwar-        nur die FDP, er war auch mit der CDU
tung, dass Frankreich unter Hollande ein    nicht zu machen.
echter Vorkämpfer für die Finanztrans-      Da die EU-weite Steuer nun auch in der
aktionssteuer sein würde, wurde später      Form einer Aktiensteuer gescheitert war
herb enttäuscht.                            und zudem die Eurozonen-Lösung aus-
Bereits vorher hatte sich abgezeichnet,     schied, lief es am Ende doch auf eine Ver-
dass eine Finanztransaktionssteuer so-      stärkte Zusammenarbeit hinaus. Den An-
wohl in der EU als auch in der Eurozone     lass für eine entsprechende Initiative der
nicht politisch durchsetzbar war. Gegen     Bundesregierung bot die Ratifizierung
die Eurozonen-Lösung sperrten sich un-      des Fiskalvertrags durch Bundestag und
ter anderem die Niederlande und Irland,
aber auch Luxemburg, Zypern und Mal-        25 «Merkel will europäischen Wachstumspakt», in: Rhei-
                                            nische Post Online, 30.4.2012, unter: https://rp-online.
ta. Nun blieb nur noch die Einführung       de/politik/merkel-will-europaeischen-wachstumspakt_
                                            aid-14345859. 26 «Regierung will schnell Klarheit über
in einer «Koalition der Willigen». Im EU-   neue Finanzsteuer», Reuters, 14.3.2012, unter: https://
Recht gab es dafür sogar ein passendes      uk.reuters.com/article/schuldenkrise-finanzsteuer-zf-idDE-
                                            BEE82D0BN20120314. 27 «Söder für Alleingang Deutsch-
Verfahren: die Verstärkte Zusammenar-       lands bei Finanztransaktionssteuer», in: Die Welt, 19.5.2012,
beit. Diese bedeutet, dass ein Vorhaben,    unter: www.welt.de/newsticker/news3/article106343577/
                                            Soeder-fuer-Alleingang-Deutschlands-bei-Finanztransakti-
das auf EU-Ebene gescheitert ist, von ei-   onsteuer.html.
16   Bundesrat, die eine Zwei-Drittel-Mehr-         in Verstärkter Zusammenarbeit vor. Auf
     heit und damit die Zustimmung von Tei-         diese hatten sich elf Staaten geeinigt, da-
     len der Opposition benötigte. Zwar war         runter Deutschland, Frankreich, Italien
     klar, dass SPD und Grüne den Fiskalver-        und Spanien. Die Niederlande knüpften
     trag begrüßten (anders als die ­LINKE, die     ihren Beitritt an eine Ausnahmeregelung
     den Vertrag ablehnte und daher auch kei-       für Pensionsfonds, konnte sich damit
     ne Bedingungen stellen konnte). Sie ver-       aber nicht durchsetzen. Die neue Richt-
     langten aber, in den «Pakt für nachhalti-      linie orientierte sich im Wesentlichen an
     ges Wachstum und Beschäftigung» (der           der vorherigen Richtlinie für die EU-weite
     gemeinsamen Erklärung von CDU, CSU,            Steuer, zusätzlich wurde jedoch das An-
     FDP, SPD und Grünen anlässlich der Ra-         sässigkeits- durch das Ausgabeprinzip
     tifizierung des Fiskalvertrags) die Finanz-    ergänzt, das heißt, es sollten auch Akti-
     transaktionssteuer in Verbindung mit der       en und Anleihen besteuert werden, die in
     Verstärkten Zusammenarbeit aufzuneh-           den Staaten der Verstärkten Zusammen-
     men. Darüber hinaus sollten sowohl Ak-         arbeit ausgegeben werden (siehe Kas-
     tien als auch Anleihen, Devisen und De-        ten auf S. 13). Die EU-Kommission ver-
     rivate besteuert werden und im Fall des        anschlagte 30 bis 35 Milliarden Euro an
     Scheiterns der Verstärkten Zusammen-           Einnahmen.
     arbeit eine intergouvernementale Einfüh-
     rung mit möglichst vielen Mitgliedstaa-        1.3 Der Vorschlag der EU-Kommis-
     ten angestrebt werden. Relativiert wurde       sion für die Verstärkte Zusammen-
     die Forderung aber dadurch, dass ange-         arbeit
     mahnt wurde, negative Folgen für Klein­        Der Vorschlag der EU-Kommission für
     sparer*innen, die Altersvorsorge und die       die Verstärkte Zusammenarbeit stellte
     Realwirtschaft zu vermeiden – was auch         jedoch nicht, wie von vielen Menschen
     immer das genau bedeuten sollte.28             erwartet, den Auftakt zu einer zügigen
     Tatsächlich wurde im Juni 2012 die EU-         Einführung der Finanztransaktionssteu-
     weite Richtlinie im Ecofin offiziell für ge-   er dar. Vielmehr markierte er den vorläufi-
     scheitert erklärt und unterstützt von der      gen Höhepunkt des Gesetzgebungspro-
     Bundesregierung vom Europäischen Rat           zesses, der in eine bis heute andauernde
     der Weg über die Verstärkte Zusammen-          Hänge- und Verwässerungspartie über-
     arbeit angekündigt. Es dauerte allerdings      ging.
     noch erstaunlich lange, nämlich bis zum        Zum 1. März 2013 trat eine vom italie-
     Oktober 2012, bis Deutschland und              nischen Parlament beschlossene nati-
     Frankreich tatsächlich genug Regierun-         onale Mini-Finanztransaktionssteuer in
     gen für die Verstärkte Zusammenarbeit          Kraft. Diese ähnelte der bereits in Frank-
     gefunden hatten. Nachdem die Euro-             reich neu eingeführten Steuer und wird
     päische Kommission formal das Verfah-          auf den Handel mit Aktien großer italieni-
     ren eröffnet hatte und das Europäische         scher Unternehmen und auf davon abge-
     Parlament und der Ecofin grünes Licht          leitete Derivate erhoben. Dabei werden
     gegeben hatten, legte die Europäische
                                                    28 Gemeinsame Erklärung von CDU, CSU, SPD, FDP und
     Kommission dann im Februar 2013 den            Bündnis 90/Die Grünen vom 21.6.2012 (Pakt für nachhaltiges
     Entwurf für die neue Richtlinie zur Ein-       Wachstum und Beschäftigung), unter: www.bundesregierung.
                                                    de/breg-de/aktuelles/pakt-fuer-nachhaltiges-wachstum-und-
     führung einer Finanztransaktionssteuer         beschaeftigung-392442.
außerbörsliche Transaktionen mit Aktien      che die Finanztransaktionssteuer un-                            17
mit einem fast doppelt so hohen Steuer-      terstützten. Im Koalitionsvertrag zwi-
satz (0,22 Prozent) wie börsliche Transak-   schen CDU, CSU und SPD wurde die im
tionen (0,12 Prozent) belastet. Die Steuer   Rahmen des «Paktes für nachhaltiges
bescherte Italien dringend benötigte Ein-    Wachstum und Beschäftigung» (Fiskal-
nahmen, gleichzeitig wurde der Druck         vertrag-Kompromiss, siehe S. 16) ver-
auf die EU-Länder, eine gemeinsame           einbarte Formulierung aufgegriffen und
Lösung zu finden, weiter geschwächt.         eine «Finanztransaktionssteuer mit brei-
Gleichzeitig erhob die italienische Regie-   ter Bemessungsgrundlage und niedri-
rung auch die Forderung, Staatsanleihen      gem Steuersatz» angestrebt, die im Rah-
von der europäischen Steuer auszuneh-        men der Verstärkten Zusammenarbeit
men.                                         umgesetzt werden sollte.
Faktisch wurde die europäische Steu-         Präsident Hollande bildete Anfang 2014
er bereits aber von einer ganz anderen       nach einer verlorenen Kommunalwahl
und unerwarteten Seite hintertrieben,        sein Kabinett um und ersetzte Moscovi-
nämlich von der sozialistisch/sozialde-      ci durch Michel Sapin. Die Haltung des
mokratischen Regierung unter Präsident       französischen Finanzministeriums än-
Hollande. Offiziell stand die französische   derte sich dadurch aber nicht. Immerhin
Regierung fest hinter der Finanztransak-     konnten die Versuche Frankreichs, die
tionssteuer. Doch Finanzminister Pierre      Richtlinie zu verwässern, von den ande-
Moscovici bezeichnete den Entwurf der        ren Staaten abgewehrt werden. Laut ei-
Kommission als zu «exzessiv» und «kon-       ner Erklärung von zehn Finanzministern
traproduktiv» (wenig später sollte er in     aus Ländern, die sich an der Verstärkten
seiner neuen Funktion als EU-Kommissar       Zusammenarbeit beteiligten (Sloweni-
den Entwurf wieder brav verteidigen).29      ens Minister hielt sich wegen einer Re-
Wie interne Beratungsdokumente zei-          gierungskrise heraus), vom Mai 2014
gen, kam es in der Verhandlungsgrup-         sollte die Steuer nun zum 1. Januar 2016
pe zu regelrechten Sabotageakten der         stufenweise in Kraft treten. Zuerst sollten
französischen Fachbeamt*innen. Diese         nur Aktien und einige Derivate besteu-
stellten zentrale Elemente des Entwurfs      ert werden. Damit blieb das Langzeitziel
wie das Ansässigkeitsprinzip oder die        einer umfassenden Finanztransaktions-
Besteuerung jeder einzelnen Transakti-       steuer erhalten; der erste Schritt sollte je-
on infrage. Allem Anschein nach wollte       doch kleiner ausfallen.
sich die französische Regierung mit der      Die Verhandlungen wurden jedoch von
bereits national eingeführten Mini-Fi-       weiteren Störmanövern aufgehalten und
nanztransaktionssteuer begnügen. Der         gingen nur schleppend voran. Großbri-
ursprüngliche Vorschlag wäre dadurch         tannien hatte vor dem Europäischen
extrem verwässert worden.                    Gerichtshof eine Klage gegen die Ver-
Die Verhandlungen wurden zusätzlich          stärkte Zusammenarbeit eingereicht, die
dadurch verzögert, dass in Deutsch-          jedoch später als verfrüht und damit un-
land im September 2013 der Bundes-
tag neu gewählt wurde. Überraschend          29 «France wants changes to EU financial transaction tax»,
flog die FDP aus dem Parlament, in           Reuters, 11.6.2013, unter: https://uk.reuters.com/article/uk-
                                             france-tax-eu/france-wants-changes-to-eu-financial-transac-
dem nun nur noch Parteien saßen, wel-        tion-tax-idUKBRE96A0GH20130711.
18   zulässig abgewiesen wurde. Mit einem         geordneten der sozialistischen Partei an
     Gastkommentar im Handelsblatt gab der        Hollande hatten offenbar dazu geführt,
     französische Finanzminister deutlich zu      dass der immer unpopulärere Hollande
     verstehen, dass er von einer umfassen-       das Thema zur Chefsache erklärt hatte.
     den Finanztransaktionssteuer nichts hielt    Kurz darauf regten Michel Sapin und
     und gemäß der französischen Steuer le-       dessen österreichischer Amtskollege
     diglich Aktien nach dem Ausgabeprinzip       Schelling in einem Brief an ihre Minister­
     und ungedeckte Credit Default Swaps          kolle­g *innen einen Neustart der Ver-
     besteuern wolle.30 Die kleineren Staaten     handlungen an. Die inhaltliche Neuaus­
     versuchte er mit dem Vorschlag zu kö-        richtung an einer «weitmöglichsten
     dern, Einnahmen nach dem Ansässig-           Steu­er­basis bei niedrigeren Steuersät-
     keitsprinzip zu verteilen.                   zen» sollte um eine organisatorische er-
     Auch Unionspolitiker wie der CSU-Ob-         gänzt werden: Die Verhandlungen soll-
     mann im Finanzausschuss Hans Mi-             ten von einem festen Vorsitz organisiert
     chelbach31 oder die Wirtschaftspolitiker     und geleitet werden und die EU-Kommis-
     Michael Fuchs und Carsten Linnemann          sion sollte fest eingebunden werden.
     wagten sich mit Kritik aus der Deckung.32
     Die vielen Störmanöver brachten den ös-      1.4 Der österreichische
     terreichischen Finanzminister Hans Jörg      ­Kompromissvorschlag
     Schelling zu der Aussage, er stehe für ei-    Die Vorschläge trafen auf Zustimmung
     ne «Feigenblattsteuer» nicht zur Verfü-       und die österreichische Regierung wur-
     gung. Er präsentierte nun einen eigenen       de zum Koordinator ernannt. Nachdem
     Kompromissvorschlag. Dabei ging es            Frankreich «eingefangen» war, gingen
     «um eine möglichst breite Einbeziehung        die Verhandlungen zunächst gut struk-
     aller Derivate. Nur Staatsanleihen sollten    turiert und zielgerichtet weiter. Der neue
     ausgenommen sein, im Gegensatz könn-         Schwung hielt aber nur kurz an. Schon
     te dann der Steuersatz geringfügig redu-      vor der Sommerpause hatte die österrei-
     ziert werden.»33                              chische Regierung eine Vorlage zu den
     Die Verhandlungen schienen im Dezem-          Kernelementen der Steuer (core engine)
     ber 2014 völlig festgefahren. Sehr über-      präsentiert. Diese sah eine weitgehen-
     raschend folgte Anfang Januar ein Um-         de Besteuerung von Derivaten vor (über-
     schwung: Präsident Hollande visierte          gangsweise sollten lediglich Derivate mit
     plötzlich in einer Neujahrsansprache eine     vollständigem Bezug auf Staatsanleihen
     Finanztransaktionssteuer mit möglichst        ausgenommen werden). Aktien sollten
     breiter Bemessungsgrundlage an.34 Er          nur besteuert werden, wenn sie in einem
     habe seinen Finanzminister gebeten,
     mit seinen Amtskolleg*innen dazu eine        30 «Nägel mit Köpfen», in: Handelsblatt, 4.11.2014. 31 «Ge-
     neue Initiative zu starten. Mit Blick auf    fährliche Wirkung», in: Handelsblatt, 7.7.2014. 32 «Unions-
                                                  politiker mahnen bei Börsensteuer zu Vorsicht», Reuters,
     den Klimagipfel Ende 2015 in Paris soll-     2.7.2014, unter: https://de.reuters.com/article/deutschland-
                                                  b-rsensteuer-union-idDEKBN0F70FL20140702. 33 «Schel-
     ten ab 2017 ein Teil, wenn nicht sogar al-   ling: London bereit zur Ratenzahlung», in: Der Standard,
     le Einnahmen in den 100 Milliarden Euro      7.11.2014, unter: www.derstandard.at/story/2000007829606/
                                                  eu-finanzminister-suchen-loesung-fuer-budget-streit-mit-lon-
     schweren internationalen Klimaschutz-        don. 34 Hulverscheidt, Claus: Neue Hoffnung für die Börsen-
     fonds (Green Climate Funds) fließen.         Abgabe, in: Süddeutsche Zeitung, 16.1.2015, unter: www.
                                                  sueddeutsche.de/wirtschaft/finanztransaktionssteuer-frank-
     Druck von unten und ein Brief von Ab-        reich-lenkt-bei-boersen-abgabe-ein-1.2298707.
Sie können auch lesen