KOMPASS 09I21 Soldat in Welt und Kirche - Katholische Militärseelsorge
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KOMPASS Die Zeitschrift des Katholischen Militärbischofs für die Deutsche Bundeswehr Soldat in Welt und Kirche 09I21 © Peacezeichen: Anne Punch – stock.adobe.com, Hintergrund: kastanka – stock.adobe.com ISSN 1865-5149
INHALT Titelthema Rubriken Frieden 4 Buch-Tipp: 6 Interview mit Michael Staack, Helmut-Schmidt-Universität Wenn Mama oder Papa in den Einsatz geht 10 Interview mit Bischof Jonas Dembélé, Mali 19 zum LKU: Identität 14 Doomsday Clock 24 Kolumne der Wehrbeauftragten 16 Frauen für Frauen 26 Auslegeware: Monarchie in Israel 28 Auf ein Wort: Vorstellungskraft 33 Film-Tipp: CHARLATAN 34 Buch-Tipp: Eine kurze Geschichte der Menschheit TIPP: 34 VORSCHAU: Unser Titelthema im Oktober Beilage 33 Betreuung aktuell 2/2021 der 35 Rätsel KAS / EAS und OASE Aus der Militärseelsorge im Mittelteil 20 11. September – 20 Jahre © trentinness – stock.adobe.com 22 Mission Statebuilding erledigt? 30 Gemeinsam für die Menschen da sein Glaube, Kirche, Leben 32 Interkulturelle Woche 22 Titelbild: © Peacezeichen: Anne Punch – stock.adobe.com (auch auf den folge Seiten), Hintergrund: kastanka – stock.adobe.com Impressum Herausgeber Hinweis KOMPASS. Soldat in Welt und Kirche Der Katholische Militärbischof Die mit Namen oder Initialen gekennzeich- ISSN 1865-5149 für die Deutsche Bundeswehr neten Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers wieder. Für das Redaktionsanschrift Druck unverlangte Einsenden von Manuskripten und KOMPASS. Soldat in Welt und Kirche ARNOLD group Bildern kann keine Gewähr und für Verweise Am Weidendamm 2 Am Wall 15 in 14979 Großbeeren in das Internet keine Haftung übernommen 10117 Berlin werden. Bei allen Verlosungen und Preisaus- schreiben in KOMPASS. Soldat in Welt und Telefon: +49 (0)30 20617-421 Kirche ist der Rechtsweg ausgeschlossen. E-Mail: kompass@katholische- soldatenseelsorge.de Internet www.katholische-militaerseelsorge.de Chefredakteurin Friederike Frücht (FF) Redakteur Jörg Volpers (JV) Social Media Bildredakteurin, Layout Doreen Bierdel Lektorat Schwester Irenäa Bauer OSF Leserbriefe Bei Veröffentlichung von Leserbriefen behält sich die Redaktion das Recht auf Kürzung vor. 2 Kompass 09I21
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, wir leben in einer Welt, die immer komplexer wird. Alles ist irgendwie miteinander verknüpft. Mein Verhalten hat möglicherweise nicht nur Auswirkungen auf mein Umfeld, sondern auch auf Menschen am anderen Ende der Welt oder die Natur. Manche Dinge kann ich positiv beeinflussen. So kann ich zum Beispiel versuchen, nur saisonales und regionales Gemüse einzukaufen. Auf anderes kann ich persönlich vermutlich keinen Einfluss nehmen, ob es zum Beispiel in anderen Regionen der Welt kriegerische Auseinandersetzungen gibt. Anders verhält es sich mit internationalen Organisatio- nen wie der NATO oder den Vereinten Nationen. Diese können in Absprache mit den einzelnen Ländern unter- schiedliche Unterstützungsangebote machen. Dabei fallen schnell Begriffe wie Statebuilding und Peace- keeping. Was diese eigentlich aussagen, können Sie in dieser Ausgabe lesen. Neben dieser wissenschaft- lichen Perspektive finden Sie aber auch persönlichere und individuelle Einblicke. So konnten wir mit einer ehemaligen Krankenschwester in Jordanien sprechen, © KS / Doreen Bierdel die uns über ihren Umgang mit Herausforderungen berichtete. Auch der Bischof aus Kayes in Mali hat auf einige unserer Fragen geantwortet. Die unterschiedlichen Perspektiven beziehen sich nicht alle auf die Vergangenheit, sondern zeigen vor allem, wie wir durch unser Handeln aktiv an der Gestaltung der Gegenwart teilnehmen können. Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre „Das Leben wird mit neuen Einblicken. „Das Leben wird vorwärts gelebt vorwärts gelebt undund Friederike Frücht, Chefredakteurin rückwärts verstanden.“ rückwärts verstanden.“ Søren Kierkegaard Kompass 09I21 3
BUCH-TIPP Wenn Mama oder Papa in den Einsatz geht Die zwei neuen Kinderbücher des Zentralinstituts für Ehe und Familie in der Gesellschaft (ZFG) für Soldatenfamilien im Rahmen der Kooperation mit dem Katholischen Militärbischofsamt TIPP: Alle Bücher der Kinderbuchreihe des ZFG können kostenlos beim Katholischen Militärpfarr- amt an Ihrem Standort bezogen werden. N ach dem überaus erfolgreichen Kinderbuch für Soldatenfa- milien „Jonas wartet aufs Wochenende“, das die Thematik des Pendelns und der Wochenendbeziehung aus Kinderpers- Die Besonderheit dieser Bücher ist, dass Lena und Max den Auslandseinsatz einmal erleben, wenn Mama als Soldatin in den Einsatz geht im Band 2: „Lena und Mamas Auslandsein- pektive behandelte, folgen nun zwei neue Bücher des ZFG. Im satz“, während Band 3 „Lena und Papas Auslandseinsatz“ Rahmen der Kinderbuchreihe werden die allgemein wichtigen den Einsatz aus der Kinderperspektive behandelt, wenn Papa Themen des Berufslebens von Soldatinnen und Soldaten so in den Einsatz verlegt. aufbereitet, dass sie insbesondere von Kindern von etwa drei bis acht Jahren leicht nachvollzogen werden können. Die zwei Damit kommt das Team des ZFG dem häufig geäußerten und neuen Werke behandeln die Herausforderung des Ausland- sehr gut nachvollziehbaren Wunsch nach, diese Herausforde- seinsatzes aus der Perspektive der kleinen Lena und ihres rung gesondert zu behandeln und die leichtere Vermittlung für Bruders Max. Kinder zu unterstützen. © ZFG / Illustration: Ilonka Baberg, aus dem Buch „Lena und Mamas Auslandseinsatz“ en! usmal Zuma 4 Kompass 09I21
BUCH-TIPP © ZFG / Illustration: Ilonka Baberg, aus dem Buch „Lena und Papas Auslandseinsatz“ Zum aus mal en! Für viele Soldatenfamilien stellen, neben Es wird erzählt, wie sich das alles für den Wochenendbeziehungen, insbeson- Lena und Max anfühlt. Und es wird auch dere Auslandseinsätze, Manöver sowie ziehen. Zum anderen bekommt es mit, erzählt, wie schön es ist, wenn die Fa- einsatzähnliche Verwendungen eine wie ein anderes Kind damit umgeht und milie wieder zusammen sein kann, z. B. besondere Herausforderung dar. Diese diese Situation bewältigt. daheim oder im Urlaub. Dabei wird nicht dauern meist mehrere Wochen oder gar verschwiegen, dass diese Zeit durchaus Monate. Aus diesem Grund wurden die beiden auch ihre traurigen und anstrengenden neuen Kinderbücher des ZFG konzipiert. Seiten hat. Kinder im Kindergarten- und Grundschul- Kinder haben dadurch die Möglichkeit, alter sind besonders verletzliche Fami- in idealisierter Form einen Auslandsein- Beide Bücher sind zeitlos und können lienmitglieder. Diese befinden sich in satz ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe immer wieder vorgelesen werden. Die einer Lebensphase, in der neuartige, bis zum gemeinsamen Urlaub nach der Kinder können sie aber auch einfach unbekannte oder belastende Situationen Rückkehr von Mutter oder Vater „nach- und schnell selbstständig durchblät- noch überwiegend emotional verarbeitet zublättern“ oder vorgelesen zu bekom- tern. Übrigens gelingt dies unabhängig werden. Sie erleben ihre Umwelt stark men – und so auch ihr eigenes Erleben davon, ob sie schon in der Lage sind zu visualisiert – also in Bildern – und haben einzuordnen. Es entsteht Sicherheit, lesen. Denn anhand der Bilder wird es noch keinen bzw. einen eingeschränk- wenn Kinder sich identifizieren können den Kleinen möglich nachzuempfinden, ten Zeitbegriff. Ab etwa dem siebten Le- und beispielsweise sagen können: „Bei in welcher Phase sich Lena gerade be- bensjahr ist ein Kind überhaupt erst in Lena ist es wie bei mir!“ Der Auslandsein- findet – so wie sie vielleicht auch selbst. der Lage, zunehmend abstrakt, global satz mit seinen Herausforderungen und und vorhersehbar zu denken. Wie also aufkommenden Gefühlen wird für das Natürlich ist bei anderen Soldatenfami- können einem kleinen Kind die Heraus- Kind leichter nachvollziehbar. Obwohl lien daheim manches anders als bei Le- forderungen, die ein Auslandseinsatz die Kinderhauptrolle mit Lena als Mäd- nas Familie. Das ist aber nicht entschei- seiner Mutter bzw. seines Vaters mit chen „weiblich“ besetzt ist, so hat diese dend. Kindern hilft die Orientierung. Es sich bringt, verständlich „vor Augen“ jedoch ihren Bruder Max, der nachvoll- gilt dann zu thematisieren, was daheim geführt“ werden? Wie können zugleich ziehen lässt, dass sowohl Mädchen wie „bei uns“ eben nicht so wie in der Ge- Hilfestellungen angeboten werden, die auch Jungen gleichermaßen betroffen schichte ist. Dafür sind unterstützend für das Kind nachvollziehbar und eine sind. leichte und interaktive Fragen eingefügt, echte Unterstützung sind? anhand derer jedes Kind kreativ die eige- In den beiden Büchern erzählt Lena, wie ne Situation und das Erleben einordnen Bereits ab ca. drei Jahren hilft es Kin- sie und ihr Bruder Max die Zeit des Ein- kann. Einfache Symbole im Buch helfen dern, wenn sie sich mit einem anderen satzes erleben: Was bis Mamas oder außerdem beim Zuordnen, in welcher Kind identifizieren können, welches ähnli- Papas Abreise und nach dem Abschied Phase des Einsatzes es sich befindet. che oder sogar gleiche Dinge erfährt wie zu Hause, mit Freunden, im Kindergarten Beide Bücher sind die Mutmachbücher sie selbst. Mit Hilfe eines Bilderbuchs oder in der Schule passieren kann. Bis für Soldatenfamilien. kann das Kind zum einen schwierige, Mama oder Papa endlich wieder nach Ihr Team vom ZFG Peter Wendl, belastende Situationen im Bild nachvoll- Hause kommt. Alexandra Ressel und Peggy Puhl-Regler Kompass 09I21 5
TITELTHEMA „Der Prozess des Friedenschaffens ist ein Prozess, der aus der Gesellschaft heraus kommen muss.“ Kompass: Wie würden Sie den Unterschied definieren zwi- schen Frieden schaffen und Frieden sichern, also Peacebuil- ding und Peacekeeping? Michael Staack: Beim Frieden sichern kommt es zunächst darauf an, für die Voraussetzungen zu sorgen, dass Gewalt (militärische Gewalt, Gewalt zwischen Kräften in einer Gesell- schaft) beendet wird, damit ein sicheres Umfeld entsteht und Friedensentwicklungen überhaupt stattfinden können. Und dann greift die zweite Herausforderung, nämlich Frieden zu schaffen. Das Stichwort dafür ist sicherlich die Nachhaltigkeit, also Zu- stände zu schaffen in einem Staat oder in einer Gesellschaft, die es sehr unwahrscheinlich machen, dass Gewaltkonflikte wieder neu ausbrechen und in die Gesellschaft hingetragen werden. © kmlmtz66 – stock.adobe.com (2) / Andrei Kukla – stock.adobe.com (2) Kompass: Kann das denn Aufgabe von Streitkräften sein? Oder wäre es sinnvoller, wenn sich das Militär bei diesem Thema des Friedenschaffens zurückhält? Michael Staack: Frieden schaffen ist ja der zweite Schritt. Ich würde genau im Punkt Frieden sichern eine Aufgabe des Militärs sehen, also dann, wenn Gewaltkonflikte vorhanden sind – das ist zum Beispiel in Afghanistan der Fall, in Mali und in vielen anderen Staaten auch –, dass der Staat selbst nur noch eingeschränkt handlungsfähig ist. Dann ist es, ein Man- dat vorausgesetzt, die Aufgabe von internationalen Akteuren, Peac Sicherheit herzustellen, am besten dadurch, dass eine funkti- onierende Armee und funktionierende Polizeikräfte aufgebaut ebui werden. Wenn das zwanzig Jahre dauert ohne durchgreifenden ldin Erfolg, dann kann man es vergessen. g Und dann kommt der zweite Abschnitt, nämlich Frieden schaf- fen – das ist eine Aufgabe des Staates, der Zivilgesellschaft usw. Das Militär und die Polizei können nur aufpassen, dass keine Rückfälle in Gewaltkonflikte eintreten. 6 Kompass 09I21
TITELTHEMA Interview mit Michael Staack, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg Kompass: Wie sehen Sie die Aufgabe von Nichtregierungs- organisationen (Non-governmental organizations – NGOs) in diesem Umfeld? Können einzelne Personen oder kleine Grup- pierungen etwas dazu beitragen? Michael Staack: Die können sehr viel dazu beitragen. Der Pro- zess des Friedenschaffens in der Gesellschaft ist ein Prozess, der aus der Gesellschaft heraus kommen muss. Der vollzieht sich natürlich im Idealfall über die gewählten Institutionen nach demokratischem Modell. Das können in vielen Staaten – eben auch Afghanistan oder Mali – außerdem traditionelle Autoritäten sein, die sehr wichtig sind und die wir im Westen auch immer im Kopf und im Blick behalten sollten. Und das können NGOs sein. Wobei ich diesen Begriff sehr weit fasse und sage: gesellschaftliche Akteure. Dazu gehören natürlich auch die Religionsgemeinschaften, die Gewerkschaften, aber auch klassische NGOs. Kompass: Bedeutet Statebuilding oder Sicherung eines Staa- tes in erster Linie Vermeidung von Korruption bzw. Sicherung der Geldflüsse? Michael Staack: Das ist ein Element. Aber ich glaube, der wichtigste Punkt ist, dass sehr genau darauf geachtet wird, und zwar nicht nur von außen, sondern immer in dem jewei- ligen Staat und von außen, dass das Geld möglichst sinnvoll fließt. Der Begriff Korruption ist schillernd. Aus unserer Pers- pektive würde man sagen: auf keinen Fall Korruption! Und es g ist beispielsweise so, das trifft auch wieder auf diese beiden genannten Staaten zu, dass sehr viel Geld an die Eliten fließt pi n e und nie dort angekommen ist, wo es hin sollte. k e ce Auf der anderen Seite gibt es bestimmte Formen von Vorteil- Pea nahme und Begünstigungen usw., die nicht unseren Stan- dards entsprechen, die aber im Sinne von Grauzonen durchaus sinnvolle, stabilisierende Funktionen erfüllen können. Ich will das mal so sagen: Erfolge bei der Friedensbildung in fragilen Ländern folgen nicht unbedingt den Vorgaben der Bundes- haushaltsordnung. >> Kompass 09I21 7
TITELTHEMA >> Kompass: Als Beispielländer haben Sie Afghanistan und Mali Die konkrete Verpflichtung besteht darin, dass nahezu alle genannt, wo die Bundeswehr sehr stark vertreten war bzw. in europäischen Staaten – einschließlich Deutschland – noch aus Mali noch ist. Fallen Ihnen beispielhaft noch andere Staaten der Kolonialzeit eine Verpflichtung haben. Wir haben vorhande- ein, wo diese Themen Peacebuilding und Statebuilding sehr ne Strukturen zerstört. Wir haben diese Gebiete ausgebeutet. deutlich werden? Wir haben sie künstlich geteilt. Und wir wissen aus vielen Michael Staack: Leider zu viele. Wobei es dieses Problem Konflikten, dass diese eben eigentlich konstituiert wurden immer gegeben hat, weil wir einerseits durch Auswirkungen und sich zugespitzt haben aus der Kolonialzeit heraus. Das wie Klimaveränderung oder ethnische Konflikte (die meistens wird bei uns verdrängt. Erst in den letzten Jahren gibt es ein soziale Konflikte sind), oder durch die Folgen der Koloniali- Bewusstsein in Deutschland, dass die Kolonialzeit wichtig war. sierung von Afrika mit künstlichen Grenzen und mangelnder Zu Beginn meiner entsprechenden Seminare nimmt etwa Vorbereitung auf die Unabhängigkeit, seit Jahrzehnten mit die Hälfte der Studierenden an, dass Deutschland nie Kolo- Konflikten befasst sind. nialmacht gewesen sei. Ich bin überzeugt, dass diese Ver- pflichtung noch sehr viel stärker auf uns zukommen wird und Das Besorgniserregende ist sicherlich, dass wir, wenn wir über wir sie ernst nehmen müssen. Also konkrete Probleme plus Mali sprechen, ja eigentlich nicht mehr nur über Mali selbst historische Verpflichtung gleich Verantwortung im Sinne von sprechen, sondern dass in den letzten acht Jahren in der ge- sinnvoller Unterstützung. samten Region eine Destabilisierung eingesetzt hat, also wir auch über Niger, Burkina Faso, den Tschad und teilweise über Kompass: Abschließend noch zwei Fragen zu konkreten Staa- die Elfenbeinküste und andere angrenzende Länder sprechen ten oder Ländern. Man kann den Eindruck gewinnen, dass, müssen. Das ist äußerst besorgniserregend. Da kann man nehmen wir auch wieder Deutschland, die EU oder auch die sagen, in Afghanistan erfolgte der Fehlschlag in einem Land NATO sich nur in bestimmten Staaten engagieren, überspitzt und nicht in den angrenzenden Ländern. Von Mali ausgehend gesagt, vielleicht nur da, wo es um Öl oder um bestimmte hat sich inzwischen die gesamte Region destabilisiert. Die Ressourcen geht und in andere eigentlich nicht oder weniger. internationale Militärpräsenz hat das nicht verhindert. Kann man das rechtfertigen, dass eben nicht jedes instabile Land, jeder Failed State die gleiche Aufmerksamkeit genießt? Kompass: Wenn wir davon ausgehen, dass die NATO oder die Michael Staack: Dafür gibt es Kriterien – oder besser: es sollte EU aus funktionierenden, stabilen Staaten bestehen – würden sie geben! Grundsätzlich ist es nicht möglich, in jedem Land Sie sagen, dass wir grundsätzlich auch eine Verantwortung, umfassend zu intervenieren. Da gibt es sicherlich Abstufun- eine Verpflichtung haben, uns um solche Staaten zu küm- gen und da sind unterschiedliche Interessen mitbestimmend. mern? Oder könnte man auch sagen: Das ist weit weg! Da Auch muss stets ein Mandat der Vereinten Nationen und eine können wir sowieso von außen wenig machen? Einladung der Regierung des betreffenden Landes vorhanden Michael Staack: Das Argument, dass man von außen wenig sein. Ich würde Ihnen widersprechen, dass wirtschaftliche machen kann, ist sehr ernst zu nehmen. Das Argument, dass Interessen die wichtigsten sind. Im ehemaligen Jugoslawien es weit weg ist, zählt heute nicht mehr. Ich würde aber immer sind unsere wirtschaftlichen Interessen sehr nachrangig ge- mit Interessen argumentieren und mit einer Verpflichtung. wesen. Das trifft sicherlich aus deutscher Sicht auch auf grö- Die konkreten Interessen sind, dass die meisten Probleme ßere Teile Westafrikas zu. Die französische Perspektive sieht in anderen Teilen der Welt mit Zeitverzögerung auch bei uns anders aus. Frankreich zielt hauptsächlich auf die Sicherung ankommen – Stichwort zum Beispiel Migration. von Ressourcen ab. © Andrei Kukla – stock.adobe.com (2) Destabilisierung 8 Kompass 09I21
TITELTHEMA Das heißt also, es kommt auf einen Mix von wirtschaftlichen Interessen und konkreten Sicherheitsgefahren an und – was auch wichtig ist – der Art und Weise, wie das Thema in der Öffentlichkeit präsentiert wird, ob es überhaupt in die Medien kommt. Das sind eigentlich die drei Kriterien, nach denen Interventionen erfolgen. „Wir haben vorhandene Kompass: Und ein bisschen provokativ: Als besonders deut- Strukturen zerstört. liches Beispiel gilt Nordkorea, was zum einen die Friedensge- fährdung angeht – falls dort tatsächlich Langstreckenraketen Wir haben diese Gebiete und Atomwaffen zum Einsatz kommen würden – und als ein Staat, der von außen doch sehr stabil wirkt. Sehen Sie da ausgebeutet. Wir haben die Möglichkeit für uns, einerseits friedensichernd aktiv zu werden, oder auch auf den Staat Einfluss zu nehmen, der wohl sie künstlich geteilt. nur nach außen stabil wirkt und wahrscheinlich innenpolitisch gar nicht so stabil ist? Und wir wissen aus vielen Michael Staack: Nordkorea ist deshalb stabil, weil es sich nach außen abschottet. Würde es sich öffnen, dann wäre es Konflikten, dass diese mit der Stabilität sehr schnell vorbei. Die Menschen in Nord- korea würden erkennen, dass es den Menschen in Südkorea eben eigentlich konstituiert oder der Volksrepublik China viel besser geht. Das ist aber ein langfristiger Prozess, und mit einem kurzfristigen Zusam- wurden und sich zugespitzt menbruch ist niemandem gedient, weshalb humanitäre Hilfe notwendig ist. Und ergänzend muss wieder ernsthaft über das haben aus der Kolonialzeit Nuklearprogramm verhandelt werden. heraus.“ Es besteht Einigkeit darüber, dass dieses Problem mit einem militärischen Eingreifen nicht gelöst werden kann. Darüber gibt es Übereinstimmung in der internationalen Gemeinschaft. Und es gibt eben keinen anderen Weg als die Kombination einerseits von geduldigen Verhandlungen und andererseits hu- g manitärer Unterstützung auch für Nordkorea und vergleichbare un Staaten – nicht im Interesse des Regimes, sondern im Inter- esse der Menschen, die unter diesem Regime leiden müssen. tz Die Fragen stellte Jörg Volpers. ü st ter Un © Universität der Bundeswehr Hamburg Michael Staack ist Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Theorie und Empirie der Internationalen Beziehungen an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg. Kompass 09I21 9
TITELTHEMA „Eine andere Hilfe als die militärische Unterstützung ist unabdingbar notwendig, um einen Ausweg aus der Krise zu finden.“ Interview mit dem Katholischen Bischof von Kayes (Mali), Monsignore Jonas Dembélé, Ende Juli 2021 © www.visualindia.de / Joerg Boethling Kompass: Wie ist nach dem Militärputsch momentan die ändern muss, ist die Einstellung der malischen Bevölkerung Stimmung in Ihrem Land? zum Gemeinwohl, zur Regierungsführung, zur Friedenssiche- Bischof Dembélé: Die Menschen gehen ganz normal ihrer rung und zur Staatsbürgerschaft. Beschäftigung nach, als wenn nichts passiert wäre. Man be- kommt den Eindruck, dass sie der Situation gleichgültig gegen- Kompass: Was ist Ihrer Ansicht nach die Ursache der Gewalt? überstehen, abgestoßen von der instabilen Lage im Land und Welche Rolle spielt dabei die Religion? den Versprechen der Regierung, die nie eingehalten wurden. Bischof Dembélé: Am Ursprung der Gewalt stehen Armut, die Die Menschen haben sicher das Gefühl, dass sie lange Zeit Unwissenheit der Bevölkerung, schlechte Regierungsführung, instrumentalisiert worden sind; sie vertrauen den Regierenden Korruption, Straflosigkeit, Radikalisierung und religiöse Into- nicht mehr. leranz, Waffen- und Drogenhandel, die Ausbeutung der na- türlichen Ressourcen durch sowohl interne als auch externe, Etwa zwanzig Parteien haben am 27. Juli zu einem geordneten sowohl private als auch staatliche Akteure und die Schwächung Übergang aufgerufen. Diese Parteien fordern die Einhaltung des malischen Staates. des für die Wahlen festgelegten Datums und die Veröffentli- chung eines detaillierten Zeitplans der Aufgaben bis zu den „Die Priester fragten nicht: Wo ist der Herr?“ Wahlen. (Jeremia 2,8). Und der Prophet Hosea sagt: „Mein Volk kommt um aus Mangel an Erkenntnis“ Kompass: Welche Sorgen haben die Menschen, mit denen Sie (Hosea 4,6). sich unterhalten? Was ist das Wichtigste, das sich ändern muss? Die wichtigste Rolle der Religion ist es, eine Verbindung zwi- Bischof Dembélé: Der Durchschnittsbürger macht sich Sorgen schen Mensch und Gott sowie zwischen den Menschen herzu- über die Ernährungssicherheit, die hohen Lebenshaltungskos- stellen. Leider wird sie oft instrumentalisiert: Für die einen ist ten und die wachsende Unsicherheit. Das Wichtigste, was sich sie ein Geschäft und für die anderen ein Mittel zum sozialen 10 Kompass 09I21
TITELTHEMA Aufstieg. Sie ist in vielerlei Hinsicht und für einen großen Teil Kompass: Was gibt Ihnen Hoffnung? der Praktizierenden zu einer bloßen religiösen Hülle ohne Inhalt Was macht Ihre Hoffnung zunichte? verkommen. Bischof Dembélé: Was mir Hoffnung gibt: „Gott lässt sein Volk niemals im Stich.“ Alles, was begonnen hat, wird auch Kompass: Wird die Religion als Mittel zur Machtergreifung zu einem Ende kommen. Zu den Waffen des Gläubigen zählt genutzt? auch das Gebet. Bischof Dembélé: In einer Demokratie, in der ein großer Teil der Bevölkerung unwissend ist, bedeutet das Prinzip der Mehrheit, „Wenn der Herr das Haus nicht baut, arbeiten dass die Religion instrumentalisiert wird, um an die Macht seine Erbauer vergebens daran. Wenn der Herr die zu kommen. Die Welle fundamentalistischer islamistischer Stadt nicht bewacht, wacht der Wächter vergebens“ Bewegungen, die die Sahelzone erschüttern, ist ein klares (Psalm 127,1). Zeichen für eine Entwicklung hin zum Islam als Staatsreligion. Ein stetig wachsendes Bewusstsein in einigen jungen Men- Kompass: Welche Faktoren fördern den Dialog, das friedliche schen für die Notwendigkeit des Wandels. Die Gründung der Zusammenleben? Welche Faktoren stehen dem entgegen? Organisation AN KA BEN (Lasst uns Frieden schaffen ...), die Bischof Dembélé: Was den Dialog fördert: Respekt und Wert- vom Sohn des einflussreichen Imams Haïdara, dem aktuellen schätzung für andere Menschen sowie ein nuanciertes Den- Vorsitzenden des Hohen Islamischen Rats, geleitet wird. ken, Vorsicht und Klarheit im rein theologischen Austausch. Gegenseitiger Respekt, gegenseitiges Kennenlernen, das An- Meine Sorge: Eine beunruhigende Zunahme der religiösen erkennen und das Akzeptieren der Unterschiede. Die gemein- Intoleranz. Ritualismus und Fundamentalismus. Die Instru- same Suche nach der Wahrheit. mentalisierung der Religion. Was den Dialog schwächt: Unwissenheit, Hegemonie, der Kompass: Sollten die ausländischen Streitkräfte bleiben oder Anspruch auf eine Vormachtstellung, mangelnder Respekt. eher Ihr Land verlassen? Welchen Einfluss haben sie auf den Der fortschreitende Verlust der traditionellen und spirituellen Friedensprozess? Werte, die von Gottesfurcht, Toleranz und Empathie bestimmt Bischof Dembélé: Meiner bescheidenen Meinung nach sollten sind. Staatsfeindliche Aktivitäten, die das Zusammenleben die ausländischen Streitkräfte in unserem Land bleiben. Denn gefährden. Die Verschlechterung der Sicherheitslage im gan- sie sind nicht aus eigenem Antrieb gekommen. Sie kamen auf zen Land. Anfrage der malischen Regierung, die der Situation nicht Herr >> © Bundeswehr / Frank Wiedemann Kompass 09I21 11
TITELTHEMA >> werden konnte. Die Probleme, aufgrund derer sie hier sind, Der Respekt vor dem Recht der Völker, über ihre eigenen wurden noch nicht gelöst. Sie sollten jedoch ein robustes natürlichen Ressourcen vor Ort für ihre eigene Entwicklung zu Mandat haben. verfügen; die Einstellung der Ausbeutung oder Plünderung der natürlichen Ressourcen; das Ende der ungerechten Abkom- Sie haben Einfluss auf den Friedensprozess: Sie beteiligen sich men, die der Entwicklung der Staaten schaden; das Ende des an Entwicklungsprojekten, an Projekten im sozialen Bereich und Verkaufs von Waffen, der Konflikte schürt, Staaten destabili- am Schutz der Zivilbevölkerung, auch wenn das nicht einfach siert und zu Angriffen aufwiegelt, die Verzweiflung unter den ist, sowie an der Neutralisierung bestimmter dschihadistischer Bevölkerungsgruppen verbreiten. Führer und bewaffneter Krimineller. Kompass: Stellen Sie sich Mali im Jahr 2026 vor: Wie wird Kompass: Bräuchten Sie in Mali andere Hilfe als die militäri- dann die Situation im Land sein? Was würden Sie gerne er- sche Unterstützung? reicht haben? Bischof Dembélé: Eine andere Hilfe als die militärische Unter- Bischof Dembélé: Ich kann unmöglich voraussagen, wie Mali stützung ist unabdingbar notwendig, um einen Ausweg aus der im Jahr 2026 sein wird. Krise zu finden. Es geht um die Unterstützung bei der Befriedi- gung der menschlichen Grundbedürfnisse: Selbstversorgung Aber ich träume von einem Mali, das sich auf dem Weg der mit Nahrungsmitteln, Kampf gegen die Jugend-Arbeitslosigkeit, Besserung befindet, dank des verantwortlichen Handelns der Kampf gegen den Klimawandel, die Ausbildung der jungen Führungsschicht, der aktiven Teilnahme des Großteils der Ge- Menschen durch hochqualitative Bildung, die an die Bedürf- sellschaft und der Unterstützung der internationalen Partner. nisse der Bevölkerung angepasst ist. Die Erziehung ehrlicher Staatsbürger. Ich träume von einem Mali, das gegen Korruption und Straf- losigkeit angeht und für eine gute Regierungsführung kämpft. Kompass: Was wünschen Sie sich von den Deutschen und Ich träume von einem Mali, in der die Agenda der Parteien einer Europäern? drastischen Reduzierung der politischen Parteien zustimmt. Bischof Dembélé: Die Förderung einer echten Partnerschaft, die auf dem Völkerrecht beruht, und eine offene Zusammen- Ich träume von einem Mali, in dem der überkonfessionelle arbeit. Charakter des Staates die Vorstellung der Trennung zwischen Staat und Religion prägt. © Bundeswehr / PAO MINUSMA 12 Kompass 09I21
TITELTHEMA © ASEF – stock.adobe.com Ich träume von einem Mali, in dem die Religion ihre wichtigste Aufgabe wahrnimmt: eine Verbindung zwischen Mensch und Gott sowie zwischen den Menschen herzustellen. © Lesniewski – stock.adobe.com Ich träume von einem Mali, in dem die Mali Justiz dem Frieden dient. Ich verpflichte mich, mit allen Menschen guten Willens zusammenzuarbeiten, um Kontinent: Afrika sicherzustellen, dass das Töten und die Republik Mali: ≈ 1,24 Millionen km² Vertreibung von Bevölkerungsgruppen so mit 19,66 Millionen Menschen schnell wie möglich beendet und ihre Ur- Hauptstadt: Bamako sachen beseitigt werden, dass die betrof- (Stand 2020) fenen Bevölkerungsgruppen nicht sich selbst überlassen werden und dass auf eine wirksame Konfliktverhütung, einen Der bewaffnete Konflikte in Nordmali bewegt das Land. Angesichts der dauerhaften Frieden und ein dauerhaf- Gebietsgewinne von militanten Islamisten begann am 11. Januar 2013 tes Zusammenleben hingearbeitet wird, die Opération Serval. Dabei unterstützten französische Streitkräfte die insbesondere durch Dialog, Gerechtigkeit malische Armee beim Aufhalten, Zurückdrängen und Ausschalten der und Versöhnung. militanten Truppen. Der UN-Sicherheitsrat unterstützt seit 1. Juli 2013 den Friedensprozess mit der Entsendung der MINUSMA. Die Fragen stellte Barbara Dreiling. © Bundeswehr / PAO EUTM Kompass 09I21 13
TITELTHEMA © M-SUR – stock.adobe.com Doomsday Clock 14 Kompass 09I21
TITELTHEMA D as englische Wort Doomsday bedeutet Weltuntergang, Weltgericht oder Jüngstes Gericht und ist zum Namensge- ber für Science-Fiction-Filme geworden. So heißt beispielsweise Damit ist schon seit einigen Jahren Schluss. Der Zeiger der Atomkriegsuhr hat sich in den letzten zwanzig Jahren kontinu- ierlich Richtung Mitternacht bewegt. Abrüstungsverhandlungen der Schurke, der von Superman besiegt wurde: Doomsday. Im waren nicht mehr erfolgreich, neue Konflikte brachen auf, britischen Kinofilm Doomsday (2008) geht es ironischerweise lokale Konflikte wurden zum Schlachtfeld für Stellvertreterkrie- um eine Pandemie. Das todbringende Virus Reaper (Sensen- ge, Staaten rüsteten atomar auf statt Waffen zu vernichten, mann) infiziert und tötet Menschen in Schottland. Staatspräsidenten setzen auf Provokation und Diskriminierung. Keine Anteile von Science-Fiction enthält hingegen die Seit 2020 steht die Doomsday Clock auf 100 Sekunden vor Doomsday Clock. Auf Deutsch „Atomkriegs- Mitternacht, der höchste Wert seit 1947. Erstmals uhr“ genannt, soll sie das jeweils aktuelle 2017 – als Donald Trump die US-Präsident- Risiko für Atomwaffenexplosionen auf der Erde anzeigen. Erstmals wurde 1947 schaft antrat – wurde die Doomsday Clock auch im Sekundenbereich ein- die Atomkriegsuhr 1947 von ei- ner internationalen Gruppe von sieben Minuten vor zwölf gestellt; damals stand der Zeiger auf zweieinhalb Minuten (150 Se- Atomwissenschaftler:innen kunden) vor zwölf. Diese neue auf den symbolischen Wert „Sieben Minuten vor zwölf“ 1953 Feinheit verdeutlicht, dass bereits kleine diplomatische seit fast 75 Jahren, wird die zwei gestellt. Seit dieser Zeit, also Minuten vor zwölf Krisen als bedeutsam für die internationale Gefah- Uhrzeit der Atomkriegsuhr einmal im Jahr im „Bulle- 1984 renlage wahrgenommen werden. tin of the Atomic Scien- tists“ (Mitteilungsblatt der drei Minuten vor zwölf Das „2021 Doomsday Atomwissenschaftler:innen) bekanntgegeben. Je näher 1991 Clock Statement“ erklärt den aktuellen Wert der sich der Zeiger Richtung 12 Uhr Mitternacht bewegt, desto siebzehn Minuten vor zwölf Doomsday Clock nicht nur mit wachsenden Waffenarse- näher soll sich die Welt demnach nalen in weltweiten nuklearen an einem Atomkrieg befinden. 2021 Hotspots, sondern auch mit dem Klimawandel. Umweltkatastrophen, Für viele Menschen ist die Doomsday100 Clock immer noch ein Symbol des Kalten Sekunden vor zwölf Unwetter und Ressourcenknappheit führen zu Migrationsströmen und zu wei- Kriegs im 20. Jahrhundert. Der drohende Atom- teren Konflikten um Rohstoffe. Desinformati- krieg zwischen den Supermächten war zu dieser Zeit im onskampagnen beeinflussen demokratische Wahlen und allgemeinen Bewusstsein. Heute haben sich politische und können radikale Politiker:innen in Regierungen bringen. gesellschaftliche Gegensätze aufgelöst, die Grenzen sind ge- öffnet oder überwindbar. Die einstigen Machtblöcke existieren Vor allem adressiert das Statement konkrete Vorschläge an die formal nicht mehr. Und trotzdem: Noch nie zeigte die Dooms- USA, Russland, Nordkorea und andere Staaten, mit welchen day Clock eine größere atomare Bedrohung an als im Jahr Schritten sie die gegenseitige Gefährdung mit Massenver- 2021. In den letzten Jahren und auch in den dunkelsten Zeiten nichtungswaffen verringern können. An erster Stelle stehen des Kalten Kriegs war die Gefahr eines Atomkriegs demnach neue Verhandlungen um Abrüstung, aber auch politische nie so groß wie heute. Entscheidungen zur Umsetzung des Klimaabkommens und Beachtung internationaler Abkommen gegen die Verbreitung Erstmals 1953 stellten die Atomwissenschaftler:innen die von Atomwaffen. Uhr auf zwei Minuten vor zwölf. Als Ursache werden heute amerikanische und sowjetische Tests mit Wasserstoffbomben Die konkreten Schritte sind hier aufgelistet: erwähnt. 1984, in der Zeit des sogenannten Wettrüstens, https://thebulletin.org/doomsday-clock/current-time/ stand der Zeiger auf drei Minuten vor zwölf. Am weitesten entfernt von einem Atomkrieg war die Welt demnach 1991. Barbara Dreiling Die beiderseits vereinbarte Abrüstung nach der Auflösung der Machtblöcke ließ den Zeiger der Atomkriegsuhr auf 17 Minuten vor zwölf zurückfallen. Kompass 09I21 15
TITELTHEMA Frauen für Frauen „Ich schlage Facetime vor, wenn Sie es benutzen“, lautet der zweite Satz, den ich mit Gertrud Khouri wechsle. Benutze ich und zwei Tage später lächelt mich eine blonde, fröhliche Frau an. Mit an- © Zarqa Life Center (3) steckender Begeisterung berichtet Trudy, wie sie 1966 nach Jordanien gekommen ist. „Damals hatte ich ganz frisch mei- ne Ausbildung zur Krankenschwester beendet und wollte eigentlich mit einer Freundin auf einem Schiff arbeiten und so die Welt bereisen.“ Durch eine Anzei- ge in ihrer Kirchenzeitung in Mannheim wird sie darauf aufmerksam, dass in Jor- Auch kriegerische Auseinandersetzungen danien eine Krankenschwester gesucht erlebt sie von Beginn an mit. So wird sie wird und wirft ihre Pläne über Bord. Drei bereits 1967 während des Sechstage- Monate später findet sie sich in einer kriegs für einige Wochen in den Iran anderen Welt wieder. Dennoch fühlt sie evakuiert. sich schnell heimisch. Seit 2011 herrscht in Syrien ein bürger- Heute, fast 60 Jahre später, schaut sie kriegsähnlicher Konflikt, welcher zur Fol- auf eine spannende Zeit zurück. Sie hat ge hat, dass die Menschen in Scharen in Jordanien geheiratet, Kinder bekom- aus dem Land fliehen – auch nach Jor- men, hat zeitweise auch in anderen Län- danien. Von den 700.000 Gefllüchteten dern gewohnt. Das Leben in Jordanien in Jordanien kommen 94 % aus Syrien. hat sich geändert. In den 60ern liefen Gemeinsam mit einer deutschen Ärztin Frauen selbstbewusst in Miniröcken arbeitet sie zweimal in der Woche ehren- „Wenn ich jetzt zurückschaue, war durch die Stadt – heute undenkbar. amtlich in einer Klinik. alles irgendwie eine Vorbereitung für das, was ich jetzt mache“, stellt Trudy Khouri fest. Zunächst kamen hauptsächlich Frauen mit ihren Kindern nach Zarqa, da alle davon ausgingen, dass sich die Situation in Syrien wieder beruhigen würde. Behandelte sie anfangs 50 Personen in der Woche, wurden es mit der Zeit 500. Es blieb keine Zeit mehr für zwischenmenschliche Kontakte. „In den Flüchtlingscamps haben sich viele Frauen mit ihren Kindern nicht sicher ge- fühlt. Aber niemand hat sich um die Frau- en gekümmert. Sie haben hingebungsvoll ihre Kinder umsorgt und sich selber da- bei vernachlässigt.“ Irgendwann kamen vereinzelt Frauen mit Rückenschmerzen oder ähnlichen Beschwerden und man sah ihnen an, dass sich niemand nach ihrem Wohl erkundigt hatte. Gertrud Khouri im Gespräch mit jungen Frauen im Zarqa Life Center 16 Kompass 09I21
TITELTHEMA Zarqa Life Center Das Zarqa Life Center ist eine von Frauen geführte Basisorganisation, die seit 2015 städtische Geflüchtete in Zarqa (Jordanien) unterstützt. Das Zentrum beherbergt Frauen, die vor dem Krieg aus Syrien geflohen sind, und benachteiligte jordanische Frauen vor Ort und ihre Familien. Den gefährdeten Frauen und Kindern wird hier ein sicherer Raum für Hei- lung und Entwicklung gegeben. Dabei ist die Philosophie, durch die Arbeit der Frauen nicht nur eigenes Geld zu verdienen, sondern auch die eigene Identität wiederzufinden. © Zarqa Life Center (2) Der Zarqa Life Soap Shop ist ein Bei- spiel dafür. Im Internet finden Sie ihn unter: riwaorganic.com Wir verlosen drei „Das Härteste war, dass diese Frauen Immer mehr Frauen hörten von diesem Geschenkboxen nicht nur ihr Zuhause, ihre Männer, Angebot und kamen so zu Trudy Khouri. ihre Familienangehörigen verloren Das führte dazu, dass es zu Ressen- mit Seife. haben, sie haben auch ihre Identität timents gegenüber den geflüchteten verloren und waren nur noch diese Frauen kam. „Die wirtschaftliche Situa- Nummer, die sie von der UN erhalten tion war bereits vor dem Bürgerkrieg hatten. Die Flüchtlingsnummer wurde in Syrien angespannt. Wohnraum und zu ihrer Identität.“ Arbeit waren nur begrenzt vorhanden.“ Deshalb lud sie alle Frauen, Jordanierin- Als in dieser Klinik die Wohnung des nen, Syrerinnen und Palästinenserinnen Pfarrers frei wurde, musste Trudy Khouri gemeinsam an einen Tisch. Während nicht lange überlegen und fragte spon- des Gesprächs ergaben sich sofort tan, ob sie diese Wohnung verwenden Lösungsansätze. Mittlerweile ist das Um eine Geschenkbox zu gewinnen, durfte, um eine Anlaufstelle für Frauen Zarqa Life Center nicht nur eine Begeg- senden Sie eine E-Mail an kompass@ einzurichten. Ohne große Planung lud sie nungsstätte, die von Frauen geleitet wird. katholische-soldatenseelsorge.de die Frauen ein und so ergab eins das an- Das Center ist mehr als nur ein Ort ge- Kennwort: Jordanien. Viel Glück! dere. Sie unterrichtete Englisch und half meinsamer Treffen. Es ist Lebensmittel- bei der Einwanderung. Sie fragte, was die punkt von über 400 Frauen und Kindern Frauen benötigten. Sie unterstützte sie geworden. Es gibt einen Kindergarten, dabei, Arbeit zu finden und bot Möglich- eine Catering Initiative und den Zarqa Life keiten der Kinderbetreuung. Soap Shop. Durch diese Arbeit verdienen >> Kompass 09I21 17
TITELTHEMA >> die Frauen nicht nur eigenes Geld, sondern fin- den auch wieder eine Identität. So viel Engagement bleibt nicht versteckt. Mi- litärseelsorger Sylwester Walocha ist seit Mai 2021 in der Einsatzbegleitung in Al Azraq. Ihm war es ein persönliches Anliegen, auch die Be- völkerung vor Ort zu unterstützen. So konnte er sich persönlich von der Initiative überzeugen und durfte im Namen des Katholikenrats eine Spende überreichen. „So viel Lebensfreude und Energie ist inspirierend. Ich habe Frauen erlebt, die stolz und selbstwirksam sind.“ © Zarqa Life Center Tief beeindruckt von der Lebensfreude und dem selbstlosen Engagement von Gertrud Khouri verabschiede ich mich – Facetime ist beendet, doch meine Gedanken sind noch bei Trudy Khouri. Friederike Frücht Im Namen des Katholikenrats überreicht Militärseelsorger Walocha 10.000 € an Gertrud Khouri für das Zarqa Life Center. Bundeswehr vor Ort: Seit Juni 2021 ist Oberst Joachim Kaschke Kontingentführer Einsatzkon- tingent Counter Daesh/Capacity Buil- ding Iraq. Im Gespräch berichtete er von seiner Arbeit vor Ort: „Der Kernauftrag ist die Absicherung der erzielten Erfolge im Kampf gegen den IS. Dazu haben wir ins- gesamt in meinem Kontingent rund 250 Soldatinnen und Soldaten. Das Spektrum, mit dem wir unseren militärischen Beitrag hier leisten, reicht vom Tankflugzeug in Jordanien über die Durchführung von Beratungen im Nord- und Zentralirak bis hin zum Radar im Irak als Beitrag zur Luftraumüberwachung. © Bundeswehr / JPAO Counter Daesh (2) Das machen wir nicht alleine, sondern in einer breiten internationalen Koalition.“ Oberst Kaschke ist dabei auch immer im Kontakt mit dem katholischen Mili- tärseelsorger Sylwester Walocha. „Mir persönlich würde etwas fehlen, wenn Militärseelsorge nicht hier vor Ort wäre.“ FF 18 Kompass 09I21
ZUM LKU Zur Praxis moralischer Bildung Iden·ti·tät [die] O Soziale Gesundheit – Teil II „Liebe Mutti, kannst du mir sagen, schaftler Francis Fukuyama in sei- wer ich bin?“ – so die Identitäts- nem Buch „Identität“ sogar auf die frage der 68er-Generation in Lutz zentrale gesellschaftliche Bedeu- Dammbecks „Overgames“, einer tung und weltpolitische Tragweite eindrücklichen Essay-Dokumenta- des Themas hin: „Das Verlangen tion aus dem Jahre 2015. Der Film nach Anerkennung der eigenen beginnt in einem Labor und endet Identität vereint als Leitmotiv vie- in einem Sanatorium. Entideologi- les von dem, was sich heutzutage siert und enttäuscht von der poli- in der Weltpolitik abspielt.“ Weil © Alexander – stock.adobe.com tisch verschlossenen Kriegskinder- aber zur Identität des Menschen Generation ihrer Eltern versuchten untrennbar auch dessen Würde im Nachkriegsdeutschland junge gehöre, lenkt der Autor im Unter- Menschen, sich mittels eines ge- titel „Wie der Verlust der Würde genteiligen Lebensstils möglichst unsere Demokratie gefährdet“. radikal von der Identität ihrer Mütter die Aufmerksamkeit des Lesers und Väter zu unterscheiden. Deren auf das gegenwärtige Kernproblem überwiegend unpolitische Haltung würdeloser „Identitäts-Politik“: Die- verstärkte das bereits schwelende se bedürfe eines demokratischen „transgenerationale Kriegstrauma“ (Ray- Dringlichkeit, aber auch schon den an- Habitus, der sich vorrangig auf die Unan- mond Unger), so dass die teils heftige tiken griechischen Philosophen Platon tastbarkeit menschlicher Würde und die Identitätssuche der jungen Generation beschäftigte die Frage nach der Identität darauf gründenden Menschenrechte kon- schließlich in den bekannten politischen des Menschen, der von „Kindesbeinen zentriere und notwendige politische und Ausschreitungen der späten 60er Jahre an immer derselbe genannt wird, wenn gesellschaftliche Antworten jeweils aus endete. Beispielhaft für diesen einstigen er auch ein Greis geworden ist“. Wie sei dieser sittlichen Mitte her ableite. Mangel an staatsbürgerlicher Mündigkeit es zu rechtfertigen, fragt er, dass einer kann Heinrich Bölls Interview-Bekenntnis Person – trotz aller sichtbaren körperli- Die bewusste Mitgestaltung demokrati- bezüglich des nach 1945 laufenden Re- chen Veränderungen derselben im Laufe scher Lebensformen durch mündige und Education-Programms der Amerikaner in ihres Lebens – über die ganze Zeit hin- kompetente Staatsbürger erfordert in plu- Deutschland stehen: weg „Selbigkeit“ zugeschrieben werden ralen Gesellschaften ein „kommunikati- kann? Auch Platons Schüler Aristoteles ves Modell“. Ein solches Menschenbild- „Ich habe mich kaum um Politik setzte sich intensiv mit der philosophi- Modell beschreibt beispielsweise den gekümmert. Ich drücke das so banal schen Frage auseinander, wie denn diese Menschen in seiner Würde, vermittelt aus, weil mein Vertrauen in die Sieger- „Einerleiheit“ von Individuen jeglicher Art also allgemeinverständlich dessen körper- mächte unverantwortlich hoch war“. zu denken, zu erkennen und begrifflich liche, psychische, geistige und seelische darzustellen sei. Seine Unterscheidung Dimension als „unantastbare Selbigkeit“. Bölls eigene Wahrnehmung von mensch- in numerische und generische bzw. qua- So kann menschliche Identität ganz im licher Identität war hier eher eine Frage litative Identität prägt bis heute den logi- Sinne des Artikels 1,1 GG im lebendigen nach Autorität, weniger eine Frage nach schen und ontologischen Diskurs unter Spannungsbogen von Autorität und Frei- seiner Freiheit. Und im Grunde steht er in „Identitäts-Suchenden“. heit betrachtet und gesellschaftlich ver- seiner Generation auch nicht allein, die nünftig diskutiert werden. Frage nach Identität und die damit stets Im aktuellen politischen Diskurs unserer einhergehende Frage nach Autorität und Tage hingegen weist der Politikwissen- Der Oktober-Beitrag zur Praxis moralischer Freiheit ist uralt und zugleich aktueller Bildung wird sich deswegen beispielhaft denn je. diesem von der Würde des Menschen getragenen „identitätsbildenden Span- In Zeiten von Internet, Facebook, YouTube, nungsbogen“ mit Blick auf die christliche Diversität, digitalen Identitätsausweisen Identität widmen. und Impfpässen stellt sie sich zwar in Franz J. Eisend, neuer Qualität und bemerkenswerter Wissenschaftlicher Referent, KMBA Kompass 09I21 19
11. SEPTEMBER – 20 JAHRE Ein Tag, an dem die Welt stillstand An den 11. September 2001 kann sich jeder und jede erinnern. Wir fragen drei Militärdekane, wie sie vor 20 Jahren von diesem Terroranschlag erfahren haben, was ihre ersten Gedanken waren und wie der Terror an ihrem Standort von Soldatinnen und Soldaten wahrgenommen wurde? I ch war Wehrbereichsdekan III in Düsseldorf und kam gerade von einer Dienstbesprechung mit meinen Militärseelsorgern nach Hause. Als ich zufällig n-tv einschaltete, sah ich gerade das erste Flugzeug in den einen Turm des World Trade Centers rasen. Mein erster Gedanke war: Das ist die Vorschau auf einen neuen Action-Film. Danach begann erst langsam die Realisierungsphase und ich alarmierte den mir unterstellten Bereich. Unsere Wahrnehmung an den Standorten war: Es wird Krieg geben! In den dann unmittelbar folgenden Gottesdiensten für die mili- tärischen wie zivilen Gemeinden, für die ich zuständig war, und für mein Dekanat insgesamt, wurde intensiv für den Frieden, für die Opfer und ihre Angehörigen, aber auch (schwer genug!) für die Täter gebetet. Monsignore Rainer Schadt, Leiter des Militärdekanats Kiel F ür eine realistische Einschätzung dessen, was am 11. Sep- tember 2001 in New York geschehen ist, war es an diesem Tag viel zu früh. Der Schrecken, das Unfassbare und das bis dahin nicht erlebte Ausmaß eines Terroranschlages ließ kaum einen Gedanken hochkommen, welche politischen und militä- rischen Konsequenzen dieses Ereignis haben würde. Es war eben nicht begreifbar. Ich erinnere mich an viele Tele- fonate an diesem Nachmittag und Abend. Es musste einfach darüber gesprochen werden, damit allmählich die Realität die- ses Tages klar wurde. Wenn ich mich richtig erinnere, gehörte zur Erfassung dieser Realität auch unter den Soldatinnen und Soldaten am 11. September noch nicht der Gedanke, dass dieses Ereignis sie selbst existenziell in ihrem soldatischen Leben treffen würde. Dafür war das noch nie Dagewesene zu unbegreiflich. Aber das Gefühl, dass dieser Tag die Welt verändern würde, das spürten wir alle. Einprägsam bis heute und Konsequenzen erahnen lassend war am folgenden Tag, dem 12. September, die Erklärung des da- maligen Bundeskanzlers Schröder von der ‚uneingeschränkten Solidarität‘ mit dem amerikanischen Volk. Die Beteiligung an den Auslandseinsätzen ‚meiner‘ Soldatinnen und Soldaten der Panzerbrigade 21 in Augustdorf und des ABC-Abwehrbataillons M ir persönlich war noch am Abend des 11. September klar, dass es in Deutschland nicht möglich sein wird, sich den Folgen dieses islamistischen Angriffs zu entziehen und baldige in Höxter ließ erahnen, dass diese ‚uneingeschränkte Solidari- Militäraktionen mit deutscher Beteiligung folgen würden. Dass tät‘ auch für sie, in welcher Weise auch immer, Konsequenzen ich allerdings selbst schon knapp vier Monate später in Kabul haben würde. Dies bewahrheitete sich dann schnell, auch eintreffen würde, habe ich noch nicht geahnt. für mich. Schon fünf Monate später befand ich mich mit den Soldatinnen und Soldaten aus Höxter im Rahmen der Opera- Zunächst erinnerte ich mich an den ersten islamistischen tion Enduring Freedom als Deutsches ABC-Abwehrbataillon in Anschlag auf das World Trade Center acht Jahre zuvor und Kuwait. dachte mir: „Gegen einen Terroranschlag per Flugzeug sind Monsignore Rainer Schnettker, alle seitdem getroffenen Sicherheitsvorkehrungen vergeblich.“ Leiter des Militärdekanats Köln Dann dachte ich an die Passagiere in den Flugzeugen, ihre 20 Kompass 09I21
11. SEPTEMBER – 20 JAHRE „Als dann zum Jahresende 2001 der Einsatz näher rückte, hörte ich bisweilen warnende Stimmen: ‚Das wird schlimmer werden als die Einsätze auf dem Balkan‘.“ Joachim Simon Todesängste von dem Moment an, wo sie durch die Ansagen Katholische Militärseelsorge bei allen Auslandseinsätzen der der Terroristen erfuhren, dass sie gleich sterben werden. Was Bundeswehr übertragen. Seitdem habe ich als „Einsatzdekan“ waren ihre letzten Gedanken? Konnten sie noch beten? Wie unzählige Male unsere Militärgeistlichen an allen Stationie- hätte ich mich in dieser Situation verhalten, wäre ich an Bord rungsorten in Afghanistan besucht. © inigocia – stock.adobe.com gewesen? Rückblickend tut mir die afghanische Bevölkerung leid, weil sie Dieser Terroranschlag und die knapp 20 folgenden Jahre haben so viel erleiden und erdulden musste. An „Nine-Eleven“ war mein Leben in einem Ausmaß verändert, wie ich es am 11. kein einziger Afghane beteiligt. September 2001 nicht einmal ansatzweise erahnen konnte. Zur Einsatzbegleitung des ISAF-Vorauskommandos war ich Leitender Militärdekan zwar nur für zwei Monate in Kabul. Aber schon im folgenden Monsignore Joachim Simon Jahr hatte mir unser Militärbischof die Verantwortung für die Kompass 09I21 21
20 JAHRE EINSATZ IN AFGHANISTAN © trentinness – stock.adobe.com Mission Statebuilding erledigt? von Heinz-Gerhard Justenhoven D ie internationalen Truppen sind aus Afghanistan abgezogen – ist die Mission Statebuilding in Afghanistan Statebuilding braucht Zeit All diesen Menschen sind wir es schul- Mali – ein multiethnischer Staat ist und die verschiedenen Volksgruppen selbst untereinander nicht in allen Punkten ei- erledigt? Um eine angemessene Ant- dig, offen und ehrlich über Möglichkeiten nig sind. Aber auch zwischen modernen wort darauf geben zu können, muss die und Grenzen des externen Statebuilding Afghanen der urbanen Elite und eher Bundesregierung eine ausführliche und zu diskutieren. Was bedeutet es, einen traditionell islamischen Vorstellungen kritische Auswertung dieses politisch- Staat nach einem langen (Bürger-)Krieg erscheint eine Einigkeit kaum möglich. militärischen Einsatzes durchführen. durch externe Intervention aufzubauen? In diesem innerafghanischen Streit um Ein Staat hat die Aufgabe, das öffentli- die richtige Lebensform und die Gestal- Aber schon jetzt ist klar, dass die che Leben seiner Bürgerinnen und Bür- tung des staatlichen Zusammenlebens ehrgeizigen Ziele, die sich die in- ger so zu gestalten, dass sie in Frieden, haben sich die intervenierenden Staaten ternationale Gemeinschaft in den Sicherheit und (bescheidenem) Wohl- de facto auf die Seite der „fortschrittli- ersten Jahren nach 2001 gesteckt stand leben können. Was das bei den cheren“ und damit gegen die traditionell hat, nicht erreicht worden sind – verschiedenen Völkern der Welt im Detail orientierten Afghanen gestellt. wohl auch nicht erreichbar waren. bedeutet, wie ein gutes Zusammenleben funktionieren kann, darüber gibt es so Wir können nicht anders, als Daraus müssen wir alle miteinander viele Vorstellungen wie Völker existie- uns beispielsweise für Bildung Lehren ziehen: Am Beginn des Einsat- ren. Sie unterliegen vielen kulturellen auch für Mädchen und für die zes stand die Idee, eine funktionieren- und historischen Gegebenheiten, wie Gleichberechtigung von Mann de rechtsstaatliche Demokratie mit ef- wir in Afghanistan schmerzlich gelernt und Frau einzusetzen. fektiven staatlichen Institutionen nach haben. Daher sind auch die Rechtsord- westlichem Vorbild zu errichten. Hierfür nungen der Völker nicht überall gleich: In unserer Gesellschaft ist die menschli- sind international enorme Ressourcen Sie enthalten Regeln, die sich Gesell- che Person mit ihrer unverlierbaren Wür- mobilisiert worden, finanzieller Art; viele schaften im Laufe von Jahrhunderten de der Fokus jeden politischen Handelns. Soldaten, Beamte und zivile Aufbauhel- gegeben haben. Wir haben diese kul- fer haben Lebenszeit investiert, einige turellen Unterschiede zu wenig ernst Nachdem wir uns nun 2001 dafür ent- mit ihrer Gesundheit oder gar mit ihrem genommen! Erschwerend kommt hinzu, schieden hatten, an der Seite der „fort- Leben bezahlt. dass Afghanistan – wie im übrigen auch schrittlicheren“ Afghanen dem Land einen 22 Kompass 09I21
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