KOMPASS 09I21 Soldat in Welt und Kirche - Katholische Militärseelsorge

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KOMPASS 09I21 Soldat in Welt und Kirche - Katholische Militärseelsorge
KOMPASS
                                                                                        Die Zeitschrift des Katholischen Militärbischofs für die Deutsche Bundeswehr

                                                                                        Soldat in Welt und Kirche                                     09I21
© Peacezeichen: Anne Punch – stock.adobe.com, Hintergrund: kastanka – stock.adobe.com
ISSN 1865-5149
KOMPASS 09I21 Soldat in Welt und Kirche - Katholische Militärseelsorge
INHALT

Titelthema                                                                               Rubriken
Frieden
                                                                                         4    Buch-Tipp:
6   Interview mit Michael Staack, Helmut-Schmidt-Universität                                  Wenn Mama oder Papa in den Einsatz geht

10 Interview mit Bischof Jonas Dembélé, Mali                                             19 zum LKU: Identität

14 Doomsday Clock                                                                        24 Kolumne der Wehrbeauftragten

16 Frauen für Frauen                                                                     26 Auslegeware: Monarchie in Israel

                                                                                         28 Auf ein Wort: Vorstellungskraft

                                                                                         33 Film-Tipp: CHARLATAN

                                                                                         34 Buch-Tipp:
                                                                                            Eine kurze Geschichte der Menschheit

                                                               TIPP:                     34 VORSCHAU: Unser Titelthema im Oktober
                                                            Beilage
33                                                     Betreuung aktuell
                                                          2/2021 der
                                                                                         35 Rätsel

                                                        KAS / EAS und
                                                             OASE
Aus der Militärseelsorge                                 im Mittelteil
20 11. September – 20 Jahre

                                                                                                                                                 © trentinness – stock.adobe.com
22 Mission Statebuilding erledigt?

30 Gemeinsam für die Menschen da sein

Glaube, Kirche, Leben

32 Interkulturelle Woche
                                                                                                                                  22
Titelbild: © Peacezeichen: Anne Punch – stock.adobe.com (auch auf den folge Seiten), Hintergrund: kastanka – stock.adobe.com

Impressum                                        Herausgeber                                       Hinweis
KOMPASS. Soldat in Welt und Kirche               Der Katholische Militärbischof                    Die mit Namen oder Initialen gekennzeich-
ISSN 1865-5149                                   für die Deutsche Bundeswehr                       neten Beiträge geben nicht unbedingt die
                                                                                                   Meinung des Herausgebers wieder. Für das
Redaktionsanschrift                              Druck                                             unverlangte Einsenden von Manuskripten und
KOMPASS. Soldat in Welt und Kirche               ARNOLD group                                      Bildern kann keine Gewähr und für Verweise
Am Weidendamm 2                                  Am Wall 15 in 14979 Großbeeren                    in das Internet keine Haftung übernommen
10117 Berlin                                                                                       werden. Bei allen Verlosungen und Preisaus-
                                                                                                   schreiben in KOMPASS. Soldat in Welt und
Telefon: +49 (0)30 20617-421                                                                       Kirche ist der Rechtsweg ausgeschlossen.
E-Mail: kompass@katholische-
        soldatenseelsorge.de                                                                       Internet
                                                                                                   www.katholische-militaerseelsorge.de
Chefredakteurin Friederike Frücht (FF)
Redakteur Jörg Volpers (JV)                                                                        Social Media
Bildredakteurin, Layout Doreen Bierdel
Lektorat Schwester Irenäa Bauer OSF
                                                 Leserbriefe
                                                 Bei Veröffentlichung von Leserbriefen behält
                                                 sich die Redaktion das Recht auf Kürzung vor.

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KOMPASS 09I21 Soldat in Welt und Kirche - Katholische Militärseelsorge
EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser,
wir leben in einer Welt, die immer komplexer wird. Alles
ist irgendwie miteinander verknüpft. Mein Verhalten
hat möglicherweise nicht nur Auswirkungen auf mein
Umfeld, sondern auch auf Menschen am anderen Ende
der Welt oder die Natur. Manche Dinge kann ich positiv
beeinflussen. So kann ich zum Beispiel versuchen, nur
saisonales und regionales Gemüse einzukaufen. Auf
anderes kann ich persönlich vermutlich keinen Einfluss
nehmen, ob es zum Beispiel in anderen Regionen der
Welt kriegerische Auseinandersetzungen gibt.

Anders verhält es sich mit internationalen Organisatio-
nen wie der NATO oder den Vereinten Nationen. Diese
können in Absprache mit den einzelnen Ländern unter-
schiedliche Unterstützungsangebote machen. Dabei
fallen schnell Begriffe wie Statebuilding und Peace-
keeping. Was diese eigentlich aussagen, können Sie
in dieser Ausgabe lesen. Neben dieser wissenschaft-
lichen Perspektive finden Sie aber auch persönlichere
und individuelle Einblicke. So konnten wir mit einer
ehemaligen Krankenschwester in Jordanien sprechen,

                                                                                                              © KS / Doreen Bierdel
die uns über ihren Umgang mit Herausforderungen
berichtete. Auch der Bischof aus Kayes in Mali hat auf
einige unserer Fragen geantwortet.

Die unterschiedlichen Perspektiven beziehen sich nicht
alle auf die Vergangenheit, sondern zeigen vor allem,
wie wir durch unser Handeln aktiv an der Gestaltung
der Gegenwart teilnehmen können.

Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre

                                                               „Das  Leben wird
mit neuen Einblicken.

                                                                „Das Leben wird
                                                               vorwärts   gelebt
                                                                vorwärts gelebt undund
                     Friederike Frücht, Chefredakteurin        rückwärts    verstanden.“
                                                                rückwärts verstanden.“
                                                                                      Søren Kierkegaard

                                                                      Kompass 09I21                       3
KOMPASS 09I21 Soldat in Welt und Kirche - Katholische Militärseelsorge
BUCH-TIPP

Wenn Mama oder Papa in den Einsatz geht
Die zwei neuen Kinderbücher des Zentralinstituts für Ehe und Familie in der Gesellschaft (ZFG)
für Soldatenfamilien im Rahmen der Kooperation mit dem Katholischen Militärbischofsamt

                                                                                                       TIPP:
                                                                                                  Alle Bücher der
                                                                                             Kinderbuchreihe des ZFG
                                                                                              können kostenlos beim
                                                                                             Katholischen Militärpfarr-
                                                                                              amt an Ihrem Standort
                                                                                                 bezogen werden.

N   ach dem überaus erfolgreichen Kinderbuch für Soldatenfa-
    milien „Jonas wartet aufs Wochenende“, das die Thematik
des Pendelns und der Wochenendbeziehung aus Kinderpers-
                                                               Die Besonderheit dieser Bücher ist, dass Lena und Max den
                                                               Auslandseinsatz einmal erleben, wenn Mama als Soldatin in
                                                               den Einsatz geht im Band 2: „Lena und Mamas Auslandsein-
pektive behandelte, folgen nun zwei neue Bücher des ZFG. Im    satz“, während Band 3 „Lena und Papas Auslandseinsatz“
Rahmen der Kinderbuchreihe werden die allgemein wichtigen      den Einsatz aus der Kinderperspektive behandelt, wenn Papa
Themen des Berufslebens von Soldatinnen und Soldaten so        in den Einsatz verlegt.
aufbereitet, dass sie insbesondere von Kindern von etwa drei
bis acht Jahren leicht nachvollzogen werden können. Die zwei   Damit kommt das Team des ZFG dem häufig geäußerten und
neuen Werke behandeln die Herausforderung des Ausland-         sehr gut nachvollziehbaren Wunsch nach, diese Herausforde-
seinsatzes aus der Perspektive der kleinen Lena und ihres      rung gesondert zu behandeln und die leichtere Vermittlung für
Bruders Max.                                                   Kinder zu unterstützen.

                                                                                                                               © ZFG / Illustration: Ilonka Baberg, aus dem Buch „Lena und Mamas Auslandseinsatz“
              en!
         usmal
    Zuma

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KOMPASS 09I21 Soldat in Welt und Kirche - Katholische Militärseelsorge
BUCH-TIPP
© ZFG / Illustration: Ilonka Baberg, aus dem Buch „Lena und Papas Auslandseinsatz“

                                                                                                                                                                                                    Zum
                                                                                                                                                                                                          aus
                                                                                                                                                                                                              mal
                                                                                                                                                                                                                 en!

                                                                                     Für viele Soldatenfamilien stellen, neben                                                  Es wird erzählt, wie sich das alles für
                                                                                     den Wochenendbeziehungen, insbeson-                                                        Lena und Max anfühlt. Und es wird auch
                                                                                     dere Auslandseinsätze, Manöver sowie         ziehen. Zum anderen bekommt es mit,           erzählt, wie schön es ist, wenn die Fa-
                                                                                     einsatzähnliche Verwendungen eine            wie ein anderes Kind damit umgeht und         milie wieder zusammen sein kann, z. B.
                                                                                     besondere Herausforderung dar. Diese         diese Situation bewältigt.                    daheim oder im Urlaub. Dabei wird nicht
                                                                                     dauern meist mehrere Wochen oder gar                                                       verschwiegen, dass diese Zeit durchaus
                                                                                     Monate.                                      Aus diesem Grund wurden die beiden            auch ihre traurigen und anstrengenden
                                                                                                                                  neuen Kinderbücher des ZFG konzipiert.        Seiten hat.
                                                                                     Kinder im Kindergarten- und Grundschul-      Kinder haben dadurch die Möglichkeit,
                                                                                     alter sind besonders verletzliche Fami-      in idealisierter Form einen Auslandsein-      Beide Bücher sind zeitlos und können
                                                                                     lienmitglieder. Diese befinden sich in       satz ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe         immer wieder vorgelesen werden. Die
                                                                                     einer Lebensphase, in der neuartige,         bis zum gemeinsamen Urlaub nach der           Kinder können sie aber auch einfach
                                                                                     unbekannte oder belastende Situationen       Rückkehr von Mutter oder Vater „nach-         und schnell selbstständig durchblät-
                                                                                     noch überwiegend emotional verarbeitet       zublättern“ oder vorgelesen zu bekom-         tern. Übrigens gelingt dies unabhängig
                                                                                     werden. Sie erleben ihre Umwelt stark        men – und so auch ihr eigenes Erleben         davon, ob sie schon in der Lage sind zu
                                                                                     visualisiert – also in Bildern – und haben   einzuordnen. Es entsteht Sicherheit,          lesen. Denn anhand der Bilder wird es
                                                                                     noch keinen bzw. einen eingeschränk-         wenn Kinder sich identifizieren können        den Kleinen möglich nachzuempfinden,
                                                                                     ten Zeitbegriff. Ab etwa dem siebten Le-     und beispielsweise sagen können: „Bei         in welcher Phase sich Lena gerade be-
                                                                                     bensjahr ist ein Kind überhaupt erst in      Lena ist es wie bei mir!“ Der Auslandsein-    findet – so wie sie vielleicht auch selbst.
                                                                                     der Lage, zunehmend abstrakt, global         satz mit seinen Herausforderungen und
                                                                                     und vorhersehbar zu denken. Wie also         aufkommenden Gefühlen wird für das            Natürlich ist bei anderen Soldatenfami-
                                                                                     können einem kleinen Kind die Heraus-        Kind leichter nachvollziehbar. Obwohl         lien daheim manches anders als bei Le-
                                                                                     forderungen, die ein Auslandseinsatz         die Kinderhauptrolle mit Lena als Mäd-        nas Familie. Das ist aber nicht entschei-
                                                                                     seiner Mutter bzw. seines Vaters mit         chen „weiblich“ besetzt ist, so hat diese     dend. Kindern hilft die Orientierung. Es
                                                                                     sich bringt, verständlich „vor Augen“        jedoch ihren Bruder Max, der nachvoll-        gilt dann zu thematisieren, was daheim
                                                                                     geführt“ werden? Wie können zugleich         ziehen lässt, dass sowohl Mädchen wie         „bei uns“ eben nicht so wie in der Ge-
                                                                                     Hilfestellungen angeboten werden, die        auch Jungen gleichermaßen betroffen           schichte ist. Dafür sind unterstützend
                                                                                     für das Kind nachvollziehbar und eine        sind.                                         leichte und interaktive Fragen eingefügt,
                                                                                     echte Unterstützung sind?                                                                  anhand derer jedes Kind kreativ die eige-
                                                                                                                                  In den beiden Büchern erzählt Lena, wie       ne Situation und das Erleben einordnen
                                                                                     Bereits ab ca. drei Jahren hilft es Kin-     sie und ihr Bruder Max die Zeit des Ein-      kann. Einfache Symbole im Buch helfen
                                                                                     dern, wenn sie sich mit einem anderen        satzes erleben: Was bis Mamas oder            außerdem beim Zuordnen, in welcher
                                                                                     Kind identifizieren können, welches ähnli-   Papas Abreise und nach dem Abschied           Phase des Einsatzes es sich befindet.
                                                                                     che oder sogar gleiche Dinge erfährt wie     zu Hause, mit Freunden, im Kindergarten       Beide Bücher sind die Mutmachbücher
                                                                                     sie selbst. Mit Hilfe eines Bilderbuchs      oder in der Schule passieren kann. Bis        für Soldatenfamilien.
                                                                                     kann das Kind zum einen schwierige,          Mama oder Papa endlich wieder nach                      Ihr Team vom ZFG Peter Wendl,
                                                                                     belastende Situationen im Bild nachvoll-     Hause kommt.                                    Alexandra Ressel und Peggy Puhl-Regler

                                                                                                                                                                               Kompass 09I21                             5
KOMPASS 09I21 Soldat in Welt und Kirche - Katholische Militärseelsorge
TITELTHEMA

                                    „Der Prozess des
                                      Friedenschaffens
                                      ist ein Prozess,
                                      der aus der Gesellschaft
                                          heraus kommen muss.“

                                     Kompass: Wie würden Sie den Unterschied definieren zwi-
                                     schen Frieden schaffen und Frieden sichern, also Peacebuil-
                                     ding und Peacekeeping?
                                     Michael Staack: Beim Frieden sichern kommt es zunächst
                                     darauf an, für die Voraussetzungen zu sorgen, dass Gewalt
                                     (militärische Gewalt, Gewalt zwischen Kräften in einer Gesell-
                                     schaft) beendet wird, damit ein sicheres Umfeld entsteht und
                                     Friedensentwicklungen überhaupt stattfinden können. Und
                                     dann greift die zweite Herausforderung, nämlich Frieden zu
                                     schaffen.

                                     Das Stichwort dafür ist sicherlich die Nachhaltigkeit, also Zu-
                                     stände zu schaffen in einem Staat oder in einer Gesellschaft,
                                     die es sehr unwahrscheinlich machen, dass Gewaltkonflikte
                                     wieder neu ausbrechen und in die Gesellschaft hingetragen
                                     werden.

                                                                                                        © kmlmtz66 – stock.adobe.com (2) / Andrei Kukla – stock.adobe.com (2)
                                     Kompass: Kann das denn Aufgabe von Streitkräften sein?
                                     Oder wäre es sinnvoller, wenn sich das Militär bei diesem
                                     Thema des Friedenschaffens zurückhält?
                                     Michael Staack: Frieden schaffen ist ja der zweite Schritt.
                                     Ich würde genau im Punkt Frieden sichern eine Aufgabe des
                                     Militärs sehen, also dann, wenn Gewaltkonflikte vorhanden
                                     sind – das ist zum Beispiel in Afghanistan der Fall, in Mali und
                                     in vielen anderen Staaten auch –, dass der Staat selbst nur
                                     noch eingeschränkt handlungsfähig ist. Dann ist es, ein Man-
                                     dat vorausgesetzt, die Aufgabe von internationalen Akteuren,

    Peac
                                     Sicherheit herzustellen, am besten dadurch, dass eine funkti-
                                     onierende Armee und funktionierende Polizeikräfte aufgebaut

        ebui                         werden. Wenn das zwanzig Jahre dauert ohne durchgreifenden

             ldin                    Erfolg, dann kann man es vergessen.

                           g         Und dann kommt der zweite Abschnitt, nämlich Frieden schaf-
                                     fen – das ist eine Aufgabe des Staates, der Zivilgesellschaft
                                     usw. Das Militär und die Polizei können nur aufpassen, dass
                                     keine Rückfälle in Gewaltkonflikte eintreten.

6          Kompass 09I21
KOMPASS 09I21 Soldat in Welt und Kirche - Katholische Militärseelsorge
TITELTHEMA

Interview mit Michael Staack,
Helmut-Schmidt-Universität /
Universität der Bundeswehr Hamburg

Kompass: Wie sehen Sie die Aufgabe von Nichtregierungs-
organisationen (Non-governmental organizations – NGOs) in
diesem Umfeld? Können einzelne Personen oder kleine Grup-
pierungen etwas dazu beitragen?
Michael Staack: Die können sehr viel dazu beitragen. Der Pro-
zess des Friedenschaffens in der Gesellschaft ist ein Prozess,
der aus der Gesellschaft heraus kommen muss. Der vollzieht
sich natürlich im Idealfall über die gewählten Institutionen
nach demokratischem Modell. Das können in vielen Staaten
– eben auch Afghanistan oder Mali – außerdem traditionelle
Autoritäten sein, die sehr wichtig sind und die wir im Westen
auch immer im Kopf und im Blick behalten sollten. Und das
können NGOs sein. Wobei ich diesen Begriff sehr weit fasse
und sage: gesellschaftliche Akteure. Dazu gehören natürlich
auch die Religionsgemeinschaften, die Gewerkschaften, aber
auch klassische NGOs.

Kompass: Bedeutet Statebuilding oder Sicherung eines Staa-
tes in erster Linie Vermeidung von Korruption bzw. Sicherung
der Geldflüsse?
Michael Staack: Das ist ein Element. Aber ich glaube, der
wichtigste Punkt ist, dass sehr genau darauf geachtet wird,
und zwar nicht nur von außen, sondern immer in dem jewei-
ligen Staat und von außen, dass das Geld möglichst sinnvoll
fließt. Der Begriff Korruption ist schillernd. Aus unserer Pers-
pektive würde man sagen: auf keinen Fall Korruption! Und es

                                                                                        g
ist beispielsweise so, das trifft auch wieder auf diese beiden
genannten Staaten zu, dass sehr viel Geld an die Eliten fließt

                                                                                   pi n
                                                                                e
und nie dort angekommen ist, wo es hin sollte.

                                                                            k e
                                                                         ce
Auf der anderen Seite gibt es bestimmte Formen von Vorteil-

                                                                      Pea
nahme und Begünstigungen usw., die nicht unseren Stan-
dards entsprechen, die aber im Sinne von Grauzonen durchaus
sinnvolle, stabilisierende Funktionen erfüllen können. Ich will
das mal so sagen: Erfolge bei der Friedensbildung in fragilen
Ländern folgen nicht unbedingt den Vorgaben der Bundes-
haushaltsordnung.
                                                           >>

                                                                        Kompass 09I21       7
KOMPASS 09I21 Soldat in Welt und Kirche - Katholische Militärseelsorge
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Kompass: Als Beispielländer haben Sie Afghanistan und Mali       Die konkrete Verpflichtung besteht darin, dass nahezu alle
genannt, wo die Bundeswehr sehr stark vertreten war bzw. in      europäischen Staaten – einschließlich Deutschland – noch aus
Mali noch ist. Fallen Ihnen beispielhaft noch andere Staaten     der Kolonialzeit eine Verpflichtung haben. Wir haben vorhande-
ein, wo diese Themen Peacebuilding und Statebuilding sehr        ne Strukturen zerstört. Wir haben diese Gebiete ausgebeutet.
deutlich werden?                                                 Wir haben sie künstlich geteilt. Und wir wissen aus vielen
Michael Staack: Leider zu viele. Wobei es dieses Problem         Konflikten, dass diese eben eigentlich konstituiert wurden
immer gegeben hat, weil wir einerseits durch Auswirkungen        und sich zugespitzt haben aus der Kolonialzeit heraus. Das
wie Klimaveränderung oder ethnische Konflikte (die meistens      wird bei uns verdrängt. Erst in den letzten Jahren gibt es ein
soziale Konflikte sind), oder durch die Folgen der Koloniali-    Bewusstsein in Deutschland, dass die Kolonialzeit wichtig war.
sierung von Afrika mit künstlichen Grenzen und mangelnder        Zu Beginn meiner entsprechenden Seminare nimmt etwa
Vorbereitung auf die Unabhängigkeit, seit Jahrzehnten mit        die Hälfte der Studierenden an, dass Deutschland nie Kolo-
Konflikten befasst sind.                                         nialmacht gewesen sei. Ich bin überzeugt, dass diese Ver-
                                                                 pflichtung noch sehr viel stärker auf uns zukommen wird und
Das Besorgniserregende ist sicherlich, dass wir, wenn wir über   wir sie ernst nehmen müssen. Also konkrete Probleme plus
Mali sprechen, ja eigentlich nicht mehr nur über Mali selbst     historische Verpflichtung gleich Verantwortung im Sinne von
sprechen, sondern dass in den letzten acht Jahren in der ge-     sinnvoller Unterstützung.
samten Region eine Destabilisierung eingesetzt hat, also wir
auch über Niger, Burkina Faso, den Tschad und teilweise über     Kompass: Abschließend noch zwei Fragen zu konkreten Staa-
die Elfenbeinküste und andere angrenzende Länder sprechen        ten oder Ländern. Man kann den Eindruck gewinnen, dass,
müssen. Das ist äußerst besorgniserregend. Da kann man           nehmen wir auch wieder Deutschland, die EU oder auch die
sagen, in Afghanistan erfolgte der Fehlschlag in einem Land      NATO sich nur in bestimmten Staaten engagieren, überspitzt
und nicht in den angrenzenden Ländern. Von Mali ausgehend        gesagt, vielleicht nur da, wo es um Öl oder um bestimmte
hat sich inzwischen die gesamte Region destabilisiert. Die       Ressourcen geht und in andere eigentlich nicht oder weniger.
internationale Militärpräsenz hat das nicht verhindert.          Kann man das rechtfertigen, dass eben nicht jedes instabile
                                                                 Land, jeder Failed State die gleiche Aufmerksamkeit genießt?
Kompass: Wenn wir davon ausgehen, dass die NATO oder die         Michael Staack: Dafür gibt es Kriterien – oder besser: es sollte
EU aus funktionierenden, stabilen Staaten bestehen – würden      sie geben! Grundsätzlich ist es nicht möglich, in jedem Land
Sie sagen, dass wir grundsätzlich auch eine Verantwortung,       umfassend zu intervenieren. Da gibt es sicherlich Abstufun-
eine Verpflichtung haben, uns um solche Staaten zu küm-          gen und da sind unterschiedliche Interessen mitbestimmend.
mern? Oder könnte man auch sagen: Das ist weit weg! Da           Auch muss stets ein Mandat der Vereinten Nationen und eine
können wir sowieso von außen wenig machen?                       Einladung der Regierung des betreffenden Landes vorhanden
Michael Staack: Das Argument, dass man von außen wenig           sein. Ich würde Ihnen widersprechen, dass wirtschaftliche
machen kann, ist sehr ernst zu nehmen. Das Argument, dass        Interessen die wichtigsten sind. Im ehemaligen Jugoslawien
es weit weg ist, zählt heute nicht mehr. Ich würde aber immer    sind unsere wirtschaftlichen Interessen sehr nachrangig ge-
mit Interessen argumentieren und mit einer Verpflichtung.        wesen. Das trifft sicherlich aus deutscher Sicht auch auf grö-
Die konkreten Interessen sind, dass die meisten Probleme         ßere Teile Westafrikas zu. Die französische Perspektive sieht
in anderen Teilen der Welt mit Zeitverzögerung auch bei uns      anders aus. Frankreich zielt hauptsächlich auf die Sicherung
ankommen – Stichwort zum Beispiel Migration.                     von Ressourcen ab.
                                                                                                                                    © Andrei Kukla – stock.adobe.com (2)

                                   Destabilisierung

8                         Kompass 09I21
KOMPASS 09I21 Soldat in Welt und Kirche - Katholische Militärseelsorge
TITELTHEMA

                                       Das heißt also, es kommt auf einen Mix von wirtschaftlichen
                                       Interessen und konkreten Sicherheitsgefahren an und – was
                                       auch wichtig ist – der Art und Weise, wie das Thema in der
                                       Öffentlichkeit präsentiert wird, ob es überhaupt in die Medien
                                       kommt. Das sind eigentlich die drei Kriterien, nach denen
                                       Interventionen erfolgen.
                                                                                                           „Wir haben vorhandene
                                       Kompass: Und ein bisschen provokativ: Als besonders deut-
                                                                                                           Strukturen zerstört.
                                       liches Beispiel gilt Nordkorea, was zum einen die Friedensge-
                                       fährdung angeht – falls dort tatsächlich Langstreckenraketen
                                                                                                           Wir haben diese Gebiete
                                       und Atomwaffen zum Einsatz kommen würden – und als ein
                                       Staat, der von außen doch sehr stabil wirkt. Sehen Sie da
                                                                                                           ausgebeutet. Wir haben
                                       die Möglichkeit für uns, einerseits friedensichernd aktiv zu
                                       werden, oder auch auf den Staat Einfluss zu nehmen, der wohl
                                                                                                           sie künstlich geteilt.
                                       nur nach außen stabil wirkt und wahrscheinlich innenpolitisch
                                       gar nicht so stabil ist?
                                                                                                           Und wir wissen aus vielen
                                       Michael Staack: Nordkorea ist deshalb stabil, weil es sich
                                       nach außen abschottet. Würde es sich öffnen, dann wäre es
                                                                                                           Konflikten, dass diese
                                       mit der Stabilität sehr schnell vorbei. Die Menschen in Nord-
                                       korea würden erkennen, dass es den Menschen in Südkorea
                                                                                                           eben eigentlich konstituiert
                                       oder der Volksrepublik China viel besser geht. Das ist aber
                                       ein langfristiger Prozess, und mit einem kurzfristigen Zusam-
                                                                                                           wurden und sich zugespitzt
                                       menbruch ist niemandem gedient, weshalb humanitäre Hilfe
                                       notwendig ist. Und ergänzend muss wieder ernsthaft über das
                                                                                                           haben aus der Kolonialzeit
                                       Nuklearprogramm verhandelt werden.
                                                                                                           heraus.“
                                       Es besteht Einigkeit darüber, dass dieses Problem mit einem
                                       militärischen Eingreifen nicht gelöst werden kann. Darüber
                                       gibt es Übereinstimmung in der internationalen Gemeinschaft.
                                       Und es gibt eben keinen anderen Weg als die Kombination
                                       einerseits von geduldigen Verhandlungen und andererseits hu-
                                                                                                                                     g

                                       manitärer Unterstützung auch für Nordkorea und vergleichbare
                                                                                                                               un

                                       Staaten – nicht im Interesse des Regimes, sondern im Inter-
                                       esse der Menschen, die unter diesem Regime leiden müssen.
                                                                                                                           tz

                                                                      Die Fragen stellte Jörg Volpers.
                                                                                                                       ü
                                                                                                                    st
                                                                                                               ter
                                                                                                         Un
© Universität der Bundeswehr Hamburg

                                                                                       Michael Staack ist Professor für
                                                                                       Politikwissenschaft, insbesondere
                                                                                       Theorie und Empirie der Internationalen
                                                                                       Beziehungen an der Helmut-Schmidt-Universität /
                                                                                       Universität der Bundeswehr Hamburg.

                                                                                                                        Kompass 09I21     9
KOMPASS 09I21 Soldat in Welt und Kirche - Katholische Militärseelsorge
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                                                        „Eine andere Hilfe als die
                                                        militärische Unterstützung
                                                        ist unabdingbar notwendig,
                                                        um einen Ausweg aus
                                                        der Krise zu finden.“

                                                                 Interview mit dem Katholischen Bischof
                                                                 von Kayes (Mali), Monsignore Jonas Dembélé,
                                                                 Ende Juli 2021

                                                                                                                                       © www.visualindia.de / Joerg Boethling
Kompass: Wie ist nach dem Militärputsch momentan die              ändern muss, ist die Einstellung der malischen Bevölkerung
Stimmung in Ihrem Land?                                           zum Gemeinwohl, zur Regierungsführung, zur Friedenssiche-
Bischof Dembélé: Die Menschen gehen ganz normal ihrer             rung und zur Staatsbürgerschaft.
Beschäftigung nach, als wenn nichts passiert wäre. Man be-
kommt den Eindruck, dass sie der Situation gleichgültig gegen-    Kompass: Was ist Ihrer Ansicht nach die Ursache der Gewalt?
überstehen, abgestoßen von der instabilen Lage im Land und        Welche Rolle spielt dabei die Religion?
den Versprechen der Regierung, die nie eingehalten wurden.        Bischof Dembélé: Am Ursprung der Gewalt stehen Armut, die
Die Menschen haben sicher das Gefühl, dass sie lange Zeit         Unwissenheit der Bevölkerung, schlechte Regierungsführung,
instrumentalisiert worden sind; sie vertrauen den Regierenden     Korruption, Straflosigkeit, Radikalisierung und religiöse Into-
nicht mehr.                                                       leranz, Waffen- und Drogenhandel, die Ausbeutung der na-
                                                                  türlichen Ressourcen durch sowohl interne als auch externe,
Etwa zwanzig Parteien haben am 27. Juli zu einem geordneten       sowohl private als auch staatliche Akteure und die Schwächung
Übergang aufgerufen. Diese Parteien fordern die Einhaltung        des malischen Staates.
des für die Wahlen festgelegten Datums und die Veröffentli-
chung eines detaillierten Zeitplans der Aufgaben bis zu den           „Die Priester fragten nicht: Wo ist der Herr?“
Wahlen.                                                                (Jeremia 2,8). Und der Prophet Hosea sagt:
                                                                    „Mein Volk kommt um aus Mangel an Erkenntnis“
Kompass: Welche Sorgen haben die Menschen, mit denen Sie                               (Hosea 4,6).
sich unterhalten? Was ist das Wichtigste, das sich ändern
muss?                                                             Die wichtigste Rolle der Religion ist es, eine Verbindung zwi-
Bischof Dembélé: Der Durchschnittsbürger macht sich Sorgen        schen Mensch und Gott sowie zwischen den Menschen herzu-
über die Ernährungssicherheit, die hohen Lebenshaltungskos-       stellen. Leider wird sie oft instrumentalisiert: Für die einen ist
ten und die wachsende Unsicherheit. Das Wichtigste, was sich      sie ein Geschäft und für die anderen ein Mittel zum sozialen

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                                 Aufstieg. Sie ist in vielerlei Hinsicht und für einen großen Teil   Kompass: Was gibt Ihnen Hoffnung?
                                 der Praktizierenden zu einer bloßen religiösen Hülle ohne Inhalt    Was macht Ihre Hoffnung zunichte?
                                 verkommen.                                                          Bischof Dembélé: Was mir Hoffnung gibt: „Gott lässt sein
                                                                                                     Volk niemals im Stich.“ Alles, was begonnen hat, wird auch
                                 Kompass: Wird die Religion als Mittel zur Machtergreifung           zu einem Ende kommen. Zu den Waffen des Gläubigen zählt
                                 genutzt?                                                            auch das Gebet.
                                 Bischof Dembélé: In einer Demokratie, in der ein großer Teil der
                                 Bevölkerung unwissend ist, bedeutet das Prinzip der Mehrheit,          „Wenn der Herr das Haus nicht baut, arbeiten
                                 dass die Religion instrumentalisiert wird, um an die Macht           seine Erbauer vergebens daran. Wenn der Herr die
                                 zu kommen. Die Welle fundamentalistischer islamistischer            Stadt nicht bewacht, wacht der Wächter vergebens“
                                 Bewegungen, die die Sahelzone erschüttern, ist ein klares                             (Psalm 127,1).
                                 Zeichen für eine Entwicklung hin zum Islam als Staatsreligion.
                                                                                                     Ein stetig wachsendes Bewusstsein in einigen jungen Men-
                                 Kompass: Welche Faktoren fördern den Dialog, das friedliche         schen für die Notwendigkeit des Wandels. Die Gründung der
                                 Zusammenleben? Welche Faktoren stehen dem entgegen?                 Organisation AN KA BEN (Lasst uns Frieden schaffen ...), die
                                 Bischof Dembélé: Was den Dialog fördert: Respekt und Wert-          vom Sohn des einflussreichen Imams Haïdara, dem aktuellen
                                 schätzung für andere Menschen sowie ein nuanciertes Den-            Vorsitzenden des Hohen Islamischen Rats, geleitet wird.
                                 ken, Vorsicht und Klarheit im rein theologischen Austausch.
                                 Gegenseitiger Respekt, gegenseitiges Kennenlernen, das An-          Meine Sorge: Eine beunruhigende Zunahme der religiösen
                                 erkennen und das Akzeptieren der Unterschiede. Die gemein-          Intoleranz. Ritualismus und Fundamentalismus. Die Instru-
                                 same Suche nach der Wahrheit.                                       mentalisierung der Religion.

                                 Was den Dialog schwächt: Unwissenheit, Hegemonie, der               Kompass: Sollten die ausländischen Streitkräfte bleiben oder
                                 Anspruch auf eine Vormachtstellung, mangelnder Respekt.             eher Ihr Land verlassen? Welchen Einfluss haben sie auf den
                                 Der fortschreitende Verlust der traditionellen und spirituellen     Friedensprozess?
                                 Werte, die von Gottesfurcht, Toleranz und Empathie bestimmt         Bischof Dembélé: Meiner bescheidenen Meinung nach sollten
                                 sind. Staatsfeindliche Aktivitäten, die das Zusammenleben           die ausländischen Streitkräfte in unserem Land bleiben. Denn
                                 gefährden. Die Verschlechterung der Sicherheitslage im gan-         sie sind nicht aus eigenem Antrieb gekommen. Sie kamen auf
                                 zen Land.                                                           Anfrage der malischen Regierung, die der Situation nicht Herr

                                                                                                                                                               >>
© Bundeswehr / Frank Wiedemann

                                                                                                                        Kompass 09I21                          11
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werden konnte. Die Probleme, aufgrund derer sie hier sind,        Der Respekt vor dem Recht der Völker, über ihre eigenen
wurden noch nicht gelöst. Sie sollten jedoch ein robustes         natürlichen Ressourcen vor Ort für ihre eigene Entwicklung zu
Mandat haben.                                                     verfügen; die Einstellung der Ausbeutung oder Plünderung der
                                                                  natürlichen Ressourcen; das Ende der ungerechten Abkom-
Sie haben Einfluss auf den Friedensprozess: Sie beteiligen sich   men, die der Entwicklung der Staaten schaden; das Ende des
an Entwicklungsprojekten, an Projekten im sozialen Bereich und    Verkaufs von Waffen, der Konflikte schürt, Staaten destabili-
am Schutz der Zivilbevölkerung, auch wenn das nicht einfach       siert und zu Angriffen aufwiegelt, die Verzweiflung unter den
ist, sowie an der Neutralisierung bestimmter dschihadistischer    Bevölkerungsgruppen verbreiten.
Führer und bewaffneter Krimineller.
                                                                  Kompass: Stellen Sie sich Mali im Jahr 2026 vor: Wie wird
Kompass: Bräuchten Sie in Mali andere Hilfe als die militäri-     dann die Situation im Land sein? Was würden Sie gerne er-
sche Unterstützung?                                               reicht haben?
Bischof Dembélé: Eine andere Hilfe als die militärische Unter-    Bischof Dembélé: Ich kann unmöglich voraussagen, wie Mali
stützung ist unabdingbar notwendig, um einen Ausweg aus der       im Jahr 2026 sein wird.
Krise zu finden. Es geht um die Unterstützung bei der Befriedi-
gung der menschlichen Grundbedürfnisse: Selbstversorgung          Aber ich träume von einem Mali, das sich auf dem Weg der
mit Nahrungsmitteln, Kampf gegen die Jugend-Arbeitslosigkeit,     Besserung befindet, dank des verantwortlichen Handelns der
Kampf gegen den Klimawandel, die Ausbildung der jungen            Führungsschicht, der aktiven Teilnahme des Großteils der Ge-
Menschen durch hochqualitative Bildung, die an die Bedürf-        sellschaft und der Unterstützung der internationalen Partner.
nisse der Bevölkerung angepasst ist. Die Erziehung ehrlicher
Staatsbürger.                                                     Ich träume von einem Mali, das gegen Korruption und Straf-
                                                                  losigkeit angeht und für eine gute Regierungsführung kämpft.
Kompass: Was wünschen Sie sich von den Deutschen und              Ich träume von einem Mali, in der die Agenda der Parteien einer
Europäern?                                                        drastischen Reduzierung der politischen Parteien zustimmt.
Bischof Dembélé: Die Förderung einer echten Partnerschaft,
die auf dem Völkerrecht beruht, und eine offene Zusammen-         Ich träume von einem Mali, in dem der überkonfessionelle
arbeit.                                                           Charakter des Staates die Vorstellung der Trennung zwischen
                                                                  Staat und Religion prägt.

                                                                                                                                    © Bundeswehr / PAO MINUSMA

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                                               Ich träume von einem Mali, in dem
                                               die Religion ihre wichtigste Aufgabe
                                               wahrnimmt: eine Verbindung zwischen
                                               Mensch und Gott sowie zwischen den
                                               Menschen herzustellen.

                                                                                                                                                                           © Lesniewski – stock.adobe.com
                                               Ich träume von einem Mali, in dem die                          Mali
                                               Justiz dem Frieden dient.

                                               Ich verpflichte mich, mit allen Menschen
                                               guten Willens zusammenzuarbeiten, um                                                            Kontinent: Afrika
                                               sicherzustellen, dass das Töten und die                                                         Republik Mali:
                                                                                                                                               ≈ 1,24 Millionen km²
                                               Vertreibung von Bevölkerungsgruppen so                                                  mit 19,66 Millionen Menschen
                                               schnell wie möglich beendet und ihre Ur-                                                Hauptstadt: Bamako
                                               sachen beseitigt werden, dass die betrof-                                                                (Stand 2020)
                                               fenen Bevölkerungsgruppen nicht sich
                                               selbst überlassen werden und dass auf
                                               eine wirksame Konfliktverhütung, einen       Der bewaffnete Konflikte in Nordmali bewegt das Land. Angesichts der
                                               dauerhaften Frieden und ein dauerhaf-        Gebietsgewinne von militanten Islamisten begann am 11. Januar 2013
                                               tes Zusammenleben hingearbeitet wird,        die Opération Serval. Dabei unterstützten französische Streitkräfte die
                                               insbesondere durch Dialog, Gerechtigkeit     malische Armee beim Aufhalten, Zurückdrängen und Ausschalten der
                                               und Versöhnung.                              militanten Truppen. Der UN-Sicherheitsrat unterstützt seit 1. Juli 2013
                                                                                            den Friedensprozess mit der Entsendung der MINUSMA.
                                                     Die Fragen stellte Barbara Dreiling.
                     © Bundeswehr / PAO EUTM

                                                                                                                            Kompass 09I21                             13
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                                       © M-SUR – stock.adobe.com

                      Doomsday Clock

14   Kompass 09I21
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D    as englische Wort Doomsday bedeutet Weltuntergang,
     Weltgericht oder Jüngstes Gericht und ist zum Namensge-
ber für Science-Fiction-Filme geworden. So heißt beispielsweise
                                                                  Damit ist schon seit einigen Jahren Schluss. Der Zeiger der
                                                                  Atomkriegsuhr hat sich in den letzten zwanzig Jahren kontinu-
                                                                  ierlich Richtung Mitternacht bewegt. Abrüstungsverhandlungen
der Schurke, der von Superman besiegt wurde: Doomsday. Im         waren nicht mehr erfolgreich, neue Konflikte brachen auf,
britischen Kinofilm Doomsday (2008) geht es ironischerweise       lokale Konflikte wurden zum Schlachtfeld für Stellvertreterkrie-
um eine Pandemie. Das todbringende Virus Reaper (Sensen-          ge, Staaten rüsteten atomar auf statt Waffen zu vernichten,
mann) infiziert und tötet Menschen in Schottland.                 Staatspräsidenten setzen auf Provokation und Diskriminierung.

Keine Anteile von Science-Fiction enthält hingegen die Seit 2020 steht die Doomsday Clock auf 100 Sekunden vor
Doomsday Clock. Auf Deutsch „Atomkriegs-                                   Mitternacht, der höchste Wert seit 1947. Erstmals
uhr“ genannt, soll sie das jeweils aktuelle                                      2017 – als Donald Trump die US-Präsident-
Risiko für Atomwaffenexplosionen auf
der Erde anzeigen. Erstmals wurde
                                       1947                                          schaft antrat – wurde die Doomsday
                                                                                         Clock auch im Sekundenbereich ein-
die Atomkriegsuhr 1947 von ei-
ner internationalen Gruppe von
                                   sieben                          Minuten vor zwölf       gestellt; damals stand der Zeiger
                                                                                              auf zweieinhalb Minuten (150 Se-
Atomwissenschaftler:innen                                                                       kunden) vor zwölf. Diese neue
auf den symbolischen Wert
„Sieben Minuten vor zwölf“
                                 1953                                                            Feinheit verdeutlicht, dass
                                                                                                  bereits kleine diplomatische

seit fast 75 Jahren, wird die
                             zwei
gestellt. Seit dieser Zeit, also             Minuten vor zwölf		                                   Krisen als bedeutsam für
                                                                                                    die internationale Gefah-
Uhrzeit der Atomkriegsuhr
einmal im Jahr im „Bulle-
                                           1984                                                     renlage wahrgenommen
                                                                                                    werden.
tin of the Atomic Scien-
tists“ (Mitteilungsblatt der
                            			         drei                            Minuten vor zwölf
                                                                                                    Das „2021 Doomsday
Atomwissenschaftler:innen)
bekanntgegeben. Je näher
                                1991                                                               Clock Statement“ erklärt
                                                                                                   den aktuellen Wert der
sich der Zeiger Richtung 12
Uhr Mitternacht bewegt, desto
                              siebzehn                      Minuten vor zwölf                     Doomsday Clock nicht nur
                                                                                                 mit wachsenden Waffenarse-
näher soll sich die Welt demnach                                                               nalen in weltweiten nuklearen
an einem Atomkrieg befinden.          2021                                                   Hotspots, sondern auch mit dem
                                                                                          Klimawandel. Umweltkatastrophen,
Für viele Menschen ist die Doomsday100
Clock immer noch ein Symbol des Kalten
                                                           Sekunden vor zwölf          Unwetter und Ressourcenknappheit
                                                                                   führen zu Migrationsströmen und zu wei-
Kriegs im 20. Jahrhundert. Der drohende Atom-                                 teren Konflikten um Rohstoffe. Desinformati-
krieg zwischen den Supermächten war zu dieser Zeit im                 onskampagnen beeinflussen demokratische Wahlen und
allgemeinen Bewusstsein. Heute haben sich politische und können radikale Politiker:innen in Regierungen bringen.
gesellschaftliche Gegensätze aufgelöst, die Grenzen sind ge-
öffnet oder überwindbar. Die einstigen Machtblöcke existieren Vor allem adressiert das Statement konkrete Vorschläge an die
formal nicht mehr. Und trotzdem: Noch nie zeigte die Dooms- USA, Russland, Nordkorea und andere Staaten, mit welchen
day Clock eine größere atomare Bedrohung an als im Jahr Schritten sie die gegenseitige Gefährdung mit Massenver-
2021. In den letzten Jahren und auch in den dunkelsten Zeiten nichtungswaffen verringern können. An erster Stelle stehen
des Kalten Kriegs war die Gefahr eines Atomkriegs demnach neue Verhandlungen um Abrüstung, aber auch politische
nie so groß wie heute.                                           Entscheidungen zur Umsetzung des Klimaabkommens und
                                                                 Beachtung internationaler Abkommen gegen die Verbreitung
Erstmals 1953 stellten die Atomwissenschaftler:innen die von Atomwaffen.
Uhr auf zwei Minuten vor zwölf. Als Ursache werden heute
amerikanische und sowjetische Tests mit Wasserstoffbomben Die konkreten Schritte sind hier aufgelistet:
erwähnt. 1984, in der Zeit des sogenannten Wettrüstens, https://thebulletin.org/doomsday-clock/current-time/
stand der Zeiger auf drei Minuten vor zwölf. Am weitesten
entfernt von einem Atomkrieg war die Welt demnach 1991.                                                        Barbara Dreiling
Die beiderseits vereinbarte Abrüstung nach der Auflösung der
Machtblöcke ließ den Zeiger der Atomkriegsuhr auf 17 Minuten
vor zwölf zurückfallen.

                                                                                      Kompass 09I21                            15
TITELTHEMA

Frauen
für
Frauen
„Ich schlage Facetime vor, wenn Sie es
benutzen“, lautet der zweite Satz, den
ich mit Gertrud Khouri wechsle. Benutze
ich und zwei Tage später lächelt mich
eine blonde, fröhliche Frau an. Mit an-

                                                                                                                                      © Zarqa Life Center (3)
steckender Begeisterung berichtet Trudy,
wie sie 1966 nach Jordanien gekommen
ist. „Damals hatte ich ganz frisch mei-
ne Ausbildung zur Krankenschwester
beendet und wollte eigentlich mit einer
Freundin auf einem Schiff arbeiten und
so die Welt bereisen.“ Durch eine Anzei-
ge in ihrer Kirchenzeitung in Mannheim
wird sie darauf aufmerksam, dass in Jor-    Auch kriegerische Auseinandersetzungen
danien eine Krankenschwester gesucht        erlebt sie von Beginn an mit. So wird sie
wird und wirft ihre Pläne über Bord. Drei   bereits 1967 während des Sechstage-
Monate später findet sie sich in einer      kriegs für einige Wochen in den Iran
anderen Welt wieder. Dennoch fühlt sie      evakuiert.
sich schnell heimisch.
                                            Seit 2011 herrscht in Syrien ein bürger-
Heute, fast 60 Jahre später, schaut sie     kriegsähnlicher Konflikt, welcher zur Fol-
auf eine spannende Zeit zurück. Sie hat     ge hat, dass die Menschen in Scharen
in Jordanien geheiratet, Kinder bekom-      aus dem Land fliehen – auch nach Jor-
men, hat zeitweise auch in anderen Län-     danien. Von den 700.000 Gefllüchteten
dern gewohnt. Das Leben in Jordanien        in Jordanien kommen 94 % aus Syrien.
hat sich geändert. In den 60ern liefen      Gemeinsam mit einer deutschen Ärztin
Frauen selbstbewusst in Miniröcken          arbeitet sie zweimal in der Woche ehren-       „Wenn ich jetzt zurückschaue, war
durch die Stadt – heute undenkbar.          amtlich in einer Klinik.                      alles irgendwie eine Vorbereitung für
                                                                                               das, was ich jetzt mache“,

                                                                                         stellt Trudy Khouri fest. Zunächst kamen
                                                                                         hauptsächlich Frauen mit ihren Kindern
                                                                                         nach Zarqa, da alle davon ausgingen,
                                                                                         dass sich die Situation in Syrien wieder
                                                                                         beruhigen würde. Behandelte sie anfangs
                                                                                         50 Personen in der Woche, wurden es
                                                                                         mit der Zeit 500. Es blieb keine Zeit mehr
                                                                                         für zwischenmenschliche Kontakte. „In
                                                                                         den Flüchtlingscamps haben sich viele
                                                                                         Frauen mit ihren Kindern nicht sicher ge-
                                                                                         fühlt. Aber niemand hat sich um die Frau-
                                                                                         en gekümmert. Sie haben hingebungsvoll
                                                                                         ihre Kinder umsorgt und sich selber da-
                                                                                         bei vernachlässigt.“ Irgendwann kamen
                                                                                         vereinzelt Frauen mit Rückenschmerzen
                                                                                         oder ähnlichen Beschwerden und man
                                                                                         sah ihnen an, dass sich niemand nach
                                                                                         ihrem Wohl erkundigt hatte.
              Gertrud Khouri im Gespräch mit jungen Frauen im Zarqa Life Center

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                                                                                                                                Zarqa Life Center

                                                                                                                       Das Zarqa Life Center ist eine von
                                                                                                                       Frauen geführte Basisorganisation,
                                                                                                                       die seit 2015 städtische Geflüchtete
                                                                                                                       in Zarqa (Jordanien) unterstützt.

                                                                                                                       Das Zentrum beherbergt Frauen, die
                                                                                                                       vor dem Krieg aus Syrien geflohen
                                                                                                                       sind, und benachteiligte jordanische
                                                                                                                       Frauen vor Ort und ihre Familien.

                                                                                                                       Den gefährdeten Frauen und Kindern
                                                                                                                       wird hier ein sicherer Raum für Hei-
                                                                                                                       lung und Entwicklung gegeben.

                                                                                                                       Dabei ist die Philosophie, durch die
                                                                                                                       Arbeit der Frauen nicht nur eigenes
                                                                                                                       Geld zu verdienen, sondern auch die
                                                                                                                       eigene Identität wiederzufinden.
© Zarqa Life Center (2)

                                                                                                                       Der Zarqa Life Soap Shop ist ein Bei-
                                                                                                                       spiel dafür. Im Internet finden Sie ihn
                                                                                                                       unter: riwaorganic.com

                                                                                                                          Wir verlosen drei
                          „Das Härteste war, dass diese Frauen        Immer mehr Frauen hörten von diesem                 Geschenkboxen
                            nicht nur ihr Zuhause, ihre Männer,       Angebot und kamen so zu Trudy Khouri.
                             ihre Familienangehörigen verloren        Das führte dazu, dass es zu Ressen-                     mit Seife.
                           haben, sie haben auch ihre Identität       timents gegenüber den geflüchteten
                            verloren und waren nur noch diese         Frauen kam. „Die wirtschaftliche Situa-
                           Nummer, die sie von der UN erhalten        tion war bereits vor dem Bürgerkrieg
                          hatten. Die Flüchtlingsnummer wurde         in Syrien angespannt. Wohnraum und
                                     zu ihrer Identität.“             Arbeit waren nur begrenzt vorhanden.“
                                                                      Deshalb lud sie alle Frauen, Jordanierin-
                          Als in dieser Klinik die Wohnung des        nen, Syrerinnen und Palästinenserinnen
                          Pfarrers frei wurde, musste Trudy Khouri    gemeinsam an einen Tisch. Während
                          nicht lange überlegen und fragte spon-      des Gesprächs ergaben sich sofort
                          tan, ob sie diese Wohnung verwenden         Lösungsansätze. Mittlerweile ist das             Um eine Geschenkbox zu gewinnen,
                          durfte, um eine Anlaufstelle für Frauen     Zarqa Life Center nicht nur eine Begeg-          senden Sie eine E-Mail an kompass@
                          einzurichten. Ohne große Planung lud sie    nungsstätte, die von Frauen geleitet wird.       katholische-soldatenseelsorge.de
                          die Frauen ein und so ergab eins das an-    Das Center ist mehr als nur ein Ort ge-          Kennwort: Jordanien. Viel Glück!
                          dere. Sie unterrichtete Englisch und half   meinsamer Treffen. Es ist Lebensmittel-
                          bei der Einwanderung. Sie fragte, was die   punkt von über 400 Frauen und Kindern
                          Frauen benötigten. Sie unterstützte sie     geworden. Es gibt einen Kindergarten,
                          dabei, Arbeit zu finden und bot Möglich-    eine Catering Initiative und den Zarqa Life
                          keiten der Kinderbetreuung.                 Soap Shop. Durch diese Arbeit verdienen
                                                                                                            >>

                                                                                                                    Kompass 09I21                           17
TITELTHEMA

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die Frauen nicht nur eigenes Geld, sondern fin-
den auch wieder eine Identität.

So viel Engagement bleibt nicht versteckt. Mi-
litärseelsorger Sylwester Walocha ist seit Mai
2021 in der Einsatzbegleitung in Al Azraq. Ihm
war es ein persönliches Anliegen, auch die Be-
völkerung vor Ort zu unterstützen. So konnte
er sich persönlich von der Initiative überzeugen
und durfte im Namen des Katholikenrats eine
Spende überreichen. „So viel Lebensfreude und
Energie ist inspirierend. Ich habe Frauen erlebt,
die stolz und selbstwirksam sind.“

                                                                                                                         © Zarqa Life Center
Tief beeindruckt von der Lebensfreude und
dem selbstlosen Engagement von Gertrud
Khouri verabschiede ich mich – Facetime ist
beendet, doch meine Gedanken sind noch bei
Trudy Khouri.

                                Friederike Frücht    Im Namen des Katholikenrats überreicht Militärseelsorger Walocha
                                                                10.000 € an Gertrud Khouri für das Zarqa Life Center.

                                                                                 Bundeswehr vor Ort:
                                                                                 Seit Juni 2021 ist Oberst Joachim
                                                                                 Kaschke Kontingentführer Einsatzkon-
                                                                                 tingent Counter Daesh/Capacity Buil-
                                                                                 ding Iraq. Im Gespräch berichtete er
                                                                                 von seiner Arbeit vor Ort:

                                                                                 „Der Kernauftrag ist die Absicherung
                                                                                    der erzielten Erfolge im Kampf
                                                                                  gegen den IS. Dazu haben wir ins-
                                                                                  gesamt in meinem Kontingent rund
                                                                                    250 Soldatinnen und Soldaten.

                                                                                 Das Spektrum, mit dem wir unseren
                                                                                   militärischen Beitrag hier leisten,
                                                                                      reicht vom Tankflugzeug in
                                                                                 Jordanien über die Durchführung von
                                                                                 Beratungen im Nord- und Zentralirak
                                                                                 bis hin zum Radar im Irak als Beitrag
                                                                                      zur Luftraumüberwachung.
                                                                                                                                        © Bundeswehr / JPAO Counter Daesh (2)

                                                                                     Das machen wir nicht alleine,
                                                                                        sondern in einer breiten
                                                                                       internationalen Koalition.“

                                                                                 Oberst Kaschke ist dabei auch immer
                                                                                 im Kontakt mit dem katholischen Mili-
                                                                                 tärseelsorger Sylwester Walocha.
                                                                                     „Mir persönlich würde etwas
                                                                                  fehlen, wenn Militärseelsorge nicht
                                                                                           hier vor Ort wäre.“

                                                                                                                    FF

18                         Kompass 09I21
ZUM LKU

                                                                 Zur Praxis moralischer Bildung

                                                                      Iden·ti·tät [die]

                                         O
                                                                                Soziale Gesundheit – Teil II

                                „Liebe Mutti, kannst du mir sagen,                                                                  schaftler Francis Fukuyama in sei-
                                wer ich bin?“ – so die Identitäts-                                                                  nem Buch „Identität“ sogar auf die
                                frage der 68er-Generation in Lutz                                                                   zentrale gesellschaftliche Bedeu-
                                Dammbecks „Overgames“, einer                                                                        tung und weltpolitische Tragweite
                                eindrücklichen Essay-Dokumenta-                                                                     des Themas hin: „Das Verlangen
                                tion aus dem Jahre 2015. Der Film                                                                   nach Anerkennung der eigenen
                                beginnt in einem Labor und endet                                                                    Identität vereint als Leitmotiv vie-
                                in einem Sanatorium. Entideologi-                                                                   les von dem, was sich heutzutage
                                siert und enttäuscht von der poli-                                                                  in der Weltpolitik abspielt.“ Weil
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                                tisch verschlossenen Kriegskinder-                                                                  aber zur Identität des Menschen
                                Generation ihrer Eltern versuchten                                                                  untrennbar auch dessen Würde
                                im Nachkriegsdeutschland junge                                                                      gehöre, lenkt der Autor im Unter-
                                Menschen, sich mittels eines ge-                                                                    titel „Wie der Verlust der Würde
                                genteiligen Lebensstils möglichst                                                                   unsere Demokratie gefährdet“.
                                radikal von der Identität ihrer Mütter                                                              die Aufmerksamkeit des Lesers
                                und Väter zu unterscheiden. Deren                                                                   auf das gegenwärtige Kernproblem
                                überwiegend unpolitische Haltung                                                                    würdeloser „Identitäts-Politik“: Die-
                                verstärkte das bereits schwelende                                                                   se bedürfe eines demokratischen
                                „transgenerationale Kriegstrauma“ (Ray-      Dringlichkeit, aber auch schon den an-          Habitus, der sich vorrangig auf die Unan-
                                mond Unger), so dass die teils heftige       tiken griechischen Philosophen Platon           tastbarkeit menschlicher Würde und die
                                Identitätssuche der jungen Generation        beschäftigte die Frage nach der Identität       darauf gründenden Menschenrechte kon-
                                schließlich in den bekannten politischen     des Menschen, der von „Kindesbeinen             zentriere und notwendige politische und
                                Ausschreitungen der späten 60er Jahre        an immer derselbe genannt wird, wenn            gesellschaftliche Antworten jeweils aus
                                endete. Beispielhaft für diesen einstigen    er auch ein Greis geworden ist“. Wie sei        dieser sittlichen Mitte her ableite.
                                Mangel an staatsbürgerlicher Mündigkeit      es zu rechtfertigen, fragt er, dass einer
                                kann Heinrich Bölls Interview-Bekenntnis     Person – trotz aller sichtbaren körperli-       Die bewusste Mitgestaltung demokrati-
                                bezüglich des nach 1945 laufenden Re-        chen Veränderungen derselben im Laufe           scher Lebensformen durch mündige und
                                Education-Programms der Amerikaner in        ihres Lebens – über die ganze Zeit hin-         kompetente Staatsbürger erfordert in plu-
                                Deutschland stehen:                          weg „Selbigkeit“ zugeschrieben werden           ralen Gesellschaften ein „kommunikati-
                                                                             kann? Auch Platons Schüler Aristoteles          ves Modell“. Ein solches Menschenbild-
                                   „Ich habe mich kaum um Politik            setzte sich intensiv mit der philosophi-        Modell beschreibt beispielsweise den
                                 gekümmert. Ich drücke das so banal          schen Frage auseinander, wie denn diese         Menschen in seiner Würde, vermittelt
                                aus, weil mein Vertrauen in die Sieger-      „Einerleiheit“ von Individuen jeglicher Art     also allgemeinverständlich dessen körper-
                                 mächte unverantwortlich hoch war“.          zu denken, zu erkennen und begrifflich          liche, psychische, geistige und seelische
                                                                             darzustellen sei. Seine Unterscheidung          Dimension als „unantastbare Selbigkeit“.
                                Bölls eigene Wahrnehmung von mensch-         in numerische und generische bzw. qua-          So kann menschliche Identität ganz im
                                licher Identität war hier eher eine Frage    litative Identität prägt bis heute den logi-    Sinne des Artikels 1,1 GG im lebendigen
                                nach Autorität, weniger eine Frage nach      schen und ontologischen Diskurs unter           Spannungsbogen von Autorität und Frei-
                                seiner Freiheit. Und im Grunde steht er in   „Identitäts-Suchenden“.                         heit betrachtet und gesellschaftlich ver-
                                seiner Generation auch nicht allein, die                                                     nünftig diskutiert werden.
                                Frage nach Identität und die damit stets     Im aktuellen politischen Diskurs unserer
                                einhergehende Frage nach Autorität und       Tage hingegen weist der Politikwissen-          Der Oktober-Beitrag zur Praxis moralischer
                                Freiheit ist uralt und zugleich aktueller                                                    Bildung wird sich deswegen beispielhaft
                                denn je.                                                                                     diesem von der Würde des Menschen
                                                                                                                             getragenen „identitätsbildenden Span-
                                In Zeiten von Internet, Facebook, YouTube,                                                   nungsbogen“ mit Blick auf die christliche
                                Diversität, digitalen Identitätsausweisen                                                    Identität widmen.
                                und Impfpässen stellt sie sich zwar in                                                                                 Franz J. Eisend,
                                neuer Qualität und bemerkenswerter                                                                Wissenschaftlicher Referent, KMBA

                                                                                                                            Kompass 09I21                             19
11. SEPTEMBER – 20 JAHRE

Ein Tag, an dem die Welt stillstand
An den 11. September 2001 kann sich jeder und jede erinnern.
Wir fragen drei Militärdekane, wie sie vor 20 Jahren von diesem Terroranschlag
erfahren haben, was ihre ersten Gedanken waren und wie der Terror an ihrem
Standort von Soldatinnen und Soldaten wahrgenommen wurde?

I ch war Wehrbereichsdekan III in Düsseldorf und kam gerade
  von einer Dienstbesprechung mit meinen Militärseelsorgern
nach Hause. Als ich zufällig n-tv einschaltete, sah ich gerade
das erste Flugzeug in den einen Turm des World Trade Centers
rasen. Mein erster Gedanke war: Das ist die Vorschau auf
einen neuen Action-Film. Danach begann erst langsam die
Realisierungsphase und ich alarmierte den mir unterstellten
Bereich. Unsere Wahrnehmung an den Standorten war: Es
wird Krieg geben!

In den dann unmittelbar folgenden Gottesdiensten für die mili-
tärischen wie zivilen Gemeinden, für die ich zuständig war, und
für mein Dekanat insgesamt, wurde intensiv für den Frieden,
für die Opfer und ihre Angehörigen, aber auch (schwer genug!)
für die Täter gebetet.
                                  Monsignore Rainer Schadt,
                               Leiter des Militärdekanats Kiel

F  ür eine realistische Einschätzung dessen, was am 11. Sep-
   tember 2001 in New York geschehen ist, war es an diesem
Tag viel zu früh. Der Schrecken, das Unfassbare und das bis
dahin nicht erlebte Ausmaß eines Terroranschlages ließ kaum
einen Gedanken hochkommen, welche politischen und militä-
rischen Konsequenzen dieses Ereignis haben würde.
Es war eben nicht begreifbar. Ich erinnere mich an viele Tele-
fonate an diesem Nachmittag und Abend. Es musste einfach
darüber gesprochen werden, damit allmählich die Realität die-
ses Tages klar wurde. Wenn ich mich richtig erinnere, gehörte
zur Erfassung dieser Realität auch unter den Soldatinnen und
Soldaten am 11. September noch nicht der Gedanke, dass
dieses Ereignis sie selbst existenziell in ihrem soldatischen
Leben treffen würde. Dafür war das noch nie Dagewesene
zu unbegreiflich. Aber das Gefühl, dass dieser Tag die Welt
verändern würde, das spürten wir alle.

Einprägsam bis heute und Konsequenzen erahnen lassend war
am folgenden Tag, dem 12. September, die Erklärung des da-
maligen Bundeskanzlers Schröder von der ‚uneingeschränkten
Solidarität‘ mit dem amerikanischen Volk. Die Beteiligung an
den Auslandseinsätzen ‚meiner‘ Soldatinnen und Soldaten der
Panzerbrigade 21 in Augustdorf und des ABC-Abwehrbataillons
                                                                  M     ir persönlich war noch am Abend des 11. September klar,
                                                                        dass es in Deutschland nicht möglich sein wird, sich den
                                                                  Folgen dieses islamistischen Angriffs zu entziehen und baldige
in Höxter ließ erahnen, dass diese ‚uneingeschränkte Solidari-    Militäraktionen mit deutscher Beteiligung folgen würden. Dass
tät‘ auch für sie, in welcher Weise auch immer, Konsequenzen      ich allerdings selbst schon knapp vier Monate später in Kabul
haben würde. Dies bewahrheitete sich dann schnell, auch           eintreffen würde, habe ich noch nicht geahnt.
für mich. Schon fünf Monate später befand ich mich mit den
Soldatinnen und Soldaten aus Höxter im Rahmen der Opera-          Zunächst erinnerte ich mich an den ersten islamistischen
tion Enduring Freedom als Deutsches ABC-Abwehrbataillon in        Anschlag auf das World Trade Center acht Jahre zuvor und
Kuwait.                                                           dachte mir: „Gegen einen Terroranschlag per Flugzeug sind
                                Monsignore Rainer Schnettker,     alle seitdem getroffenen Sicherheitsvorkehrungen vergeblich.“
                                Leiter des Militärdekanats Köln   Dann dachte ich an die Passagiere in den Flugzeugen, ihre

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11. SEPTEMBER – 20 JAHRE

                                           „Als dann zum Jahresende 2001
                                          der Einsatz näher rückte, hörte ich
                                               bisweilen warnende Stimmen:
                                         ‚Das wird schlimmer werden als die
                                                  Einsätze auf dem Balkan‘.“
                                                                                                       Joachim Simon

Todesängste von dem Moment an, wo sie durch die Ansagen          Katholische Militärseelsorge bei allen Auslandseinsätzen der
der Terroristen erfuhren, dass sie gleich sterben werden. Was    Bundeswehr übertragen. Seitdem habe ich als „Einsatzdekan“
waren ihre letzten Gedanken? Konnten sie noch beten? Wie         unzählige Male unsere Militärgeistlichen an allen Stationie-
hätte ich mich in dieser Situation verhalten, wäre ich an Bord   rungsorten in Afghanistan besucht.
                                                                                                                                   © inigocia – stock.adobe.com

gewesen?
                                                                 Rückblickend tut mir die afghanische Bevölkerung leid, weil sie
Dieser Terroranschlag und die knapp 20 folgenden Jahre haben     so viel erleiden und erdulden musste. An „Nine-Eleven“ war
mein Leben in einem Ausmaß verändert, wie ich es am 11.          kein einziger Afghane beteiligt.
September 2001 nicht einmal ansatzweise erahnen konnte.
Zur Einsatzbegleitung des ISAF-Vorauskommandos war ich                                                 Leitender Militärdekan
zwar nur für zwei Monate in Kabul. Aber schon im folgenden                                         Monsignore Joachim Simon
Jahr hatte mir unser Militärbischof die Verantwortung für die

                                                                                     Kompass 09I21                           21
20 JAHRE EINSATZ IN AFGHANISTAN

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     Mission Statebuilding erledigt?
     von Heinz-Gerhard Justenhoven

D    ie internationalen Truppen sind aus
     Afghanistan abgezogen – ist die
Mission Statebuilding in Afghanistan
                                                     Statebuilding braucht Zeit

                                               All diesen Menschen sind wir es schul-
                                                                                           Mali – ein multiethnischer Staat ist und
                                                                                           die verschiedenen Volksgruppen selbst
                                                                                           untereinander nicht in allen Punkten ei-
erledigt? Um eine angemessene Ant-             dig, offen und ehrlich über Möglichkeiten   nig sind. Aber auch zwischen modernen
wort darauf geben zu können, muss die          und Grenzen des externen Statebuilding      Afghanen der urbanen Elite und eher
Bundesregierung eine ausführliche und          zu diskutieren. Was bedeutet es, einen      traditionell islamischen Vorstellungen
kritische Auswertung dieses politisch-         Staat nach einem langen (Bürger-)Krieg      erscheint eine Einigkeit kaum möglich.
militärischen Einsatzes durchführen.           durch externe Intervention aufzubauen?      In diesem innerafghanischen Streit um
                                               Ein Staat hat die Aufgabe, das öffentli-    die richtige Lebensform und die Gestal-
Aber schon jetzt ist klar, dass die            che Leben seiner Bürgerinnen und Bür-       tung des staatlichen Zusammenlebens
 ehrgeizigen Ziele, die sich die in-           ger so zu gestalten, dass sie in Frieden,   haben sich die intervenierenden Staaten
ternationale Gemeinschaft in den               Sicherheit und (bescheidenem) Wohl-         de facto auf die Seite der „fortschrittli-
ersten Jahren nach 2001 gesteckt               stand leben können. Was das bei den         cheren“ und damit gegen die traditionell
 hat, nicht erreicht worden sind –             verschiedenen Völkern der Welt im Detail    orientierten Afghanen gestellt.
wohl auch nicht erreichbar waren.              bedeutet, wie ein gutes Zusammenleben
                                               funktionieren kann, darüber gibt es so         Wir können nicht anders, als
Daraus müssen wir alle miteinander             viele Vorstellungen wie Völker existie-       uns beispielsweise für Bildung
Lehren ziehen: Am Beginn des Einsat-           ren. Sie unterliegen vielen kulturellen       auch für Mädchen und für die
zes stand die Idee, eine funktionieren-        und historischen Gegebenheiten, wie           Gleichberechtigung von Mann
de rechtsstaatliche Demokratie mit ef-         wir in Afghanistan schmerzlich gelernt            und Frau einzusetzen.
fektiven staatlichen Institutionen nach        haben. Daher sind auch die Rechtsord-
westlichem Vorbild zu errichten. Hierfür       nungen der Völker nicht überall gleich:     In unserer Gesellschaft ist die menschli-
sind international enorme Ressourcen           Sie enthalten Regeln, die sich Gesell-      che Person mit ihrer unverlierbaren Wür-
mobilisiert worden, finanzieller Art; viele    schaften im Laufe von Jahrhunderten         de der Fokus jeden politischen Handelns.
Soldaten, Beamte und zivile Aufbauhel-         gegeben haben. Wir haben diese kul-
fer haben Lebenszeit investiert, einige        turellen Unterschiede zu wenig ernst        Nachdem wir uns nun 2001 dafür ent-
mit ihrer Gesundheit oder gar mit ihrem        genommen! Erschwerend kommt hinzu,          schieden hatten, an der Seite der „fort-
Leben bezahlt.                                 dass Afghanistan – wie im übrigen auch      schrittlicheren“ Afghanen dem Land einen

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