Kompromisslos für die Kinder - 50 Jahre UNICEF Schweiz

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Kompromisslos für die Kinder - 50 Jahre UNICEF Schweiz
Kompromisslos für die Kinder

50 Jahre UNICEF Schweiz
Kompromisslos für die Kinder - 50 Jahre UNICEF Schweiz
Inhalt

         Die Geburtsstunde von UNICEF                          4

1959 – 1970
         Die Geburtsstunde von UNICEF Schweiz                  9

1971 – 1980
         Beteiligung der Menschen wird zum Schlüsselelement    17
         Im Zeichen der Wohltätigkeit                          18

1981 – 1990
         Vermeidbares vermeiden                                25
         Die Zeit der Umbrüche und neuen Arbeitsschwerpunkte   29

1991 – 2000
         Das Versprechen einlösen                              35
         Die Kinderrechtskonvention verändert die Welt und
         das Mandat                                            41

2001 – 2009
         Kinder im Zentrum der Entwicklungsagenda              49
         Wandel als Kontinuum                                  54
Kompromisslos für die Kinder - 50 Jahre UNICEF Schweiz
Impressum

Kompromisslos für Kinder – 50 Jahre UNICEF Schweiz
Jubiläumsbroschüre 2009

Herausgeber:
Schweizerisches Komitee für UNICEF
Baumackerstrasse 24
8050 Zürich

Texte:
Ursula Eichenberger
Adelbrecht van der Zanden
Elsbeth Müller

Fotos:
UNICEF Archiv New York und Zürich
Foto Seite 36: Keystone

Gestaltung, Layout, Satz:
Scherer Kleiber Creative Direction AG, Basel

Druck:
Hautle Druck AG

Bezugsadresse:
UNICEF Schweiz
Baumackerstrasse 24
8050 Zürich
Telefon +41 (44) 317 22 66
E-Mail: info@unicef.ch

www.unicef.ch
Kompromisslos für die Kinder - 50 Jahre UNICEF Schweiz
Editorial

                                          UNICEF Schweiz kann 2009 auf ihr 50-jähriges Bestehen zurückblicken.
                                          Was 1959 klein begann, weitete sich zu einem Engagement von respek-
                                          tabler Grösse aus. Das UN Kinderhilfswerk durfte dabei auf die grosse
                                          Treue von Menschen zählen. Sie haben ermöglicht, was UNICEF heute
                                          ist: eine mutige, kompromisslose Organisation für die Kinder unabhängig
                                          von Rasse, Religion, Herkommen und Geschlecht. Eine Organisation, der
                                          es gelang, die ungehörte Stimme der Kinder auf die politische Agenda
zu setzen, ihr Leiden zu mildern, Entwicklung zu bringen. Und eine Organisation, die nicht zurückschreckt. Nicht vor
den Despoten, den Ausbeutern, den Schamlosen, den Rebellenführern und Kriegsherren und nicht vor den Zynikern
und Resignierten.
Unsere Vision, Kinder als eigenständige, verantwortungsvolle und rücksichtsvolle Menschen frei von Ideologien
und Ausbeutung aufwachsen zu lassen und ihnen eine wohlbehaltene Kindheit zu sichern, ist unser Mandat. Dafür
arbeiten wir und darauf vertrauen Spenderinnen und Spender in der ganzen Schweiz.
UNICEF ist eine Organisation von Menschen für Menschen: für Kinder in erster Linie, für Mütter und Familien, für
Dörfer und Gemeinschaften, für Länder und Kontinente. Sie gehört den Menschen und sie ist nur so stark, wie die
Menschen sie machen. Als Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen ist sie dem Konsens verpflichtet. Und dahinter
verbirgt sich eine grosse Vielfalt von Fertigkeiten, ohne die Entwicklung nicht möglich wäre. Zuhören, Beobachten,
Beschreiben, Analysieren, Bedenken, Überzeugen, Entscheiden und Umsetzen gehören dazu wie das A und O zum
Alphabet.
Die Geschichte von UNICEF ist auch die Geschichte von UNICEF Schweiz. Der Wandel war dabei eine stete Heraus-
forderung. Es brauchte manchmal Mut, Durchhaltewillen und die beharrliche Zuversicht, es schaffen zu können, es
schaffen zu wollen. Heute dürfen wir zurückblicken und allen ein herzliches Dankeschön aussprechen. 50 Jahre
UNICEF Schweiz sind 50 Jahre Einsatz für Kinder – kompromisslos für alle Kinder.

Elsbeth Müller,                                      Wolfgang Wörnhard,
Geschäftsleiterin                                    Präsident
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1945 Aufbau

    Die Geburtsstunde von UNICEF

    1945 dreht David Miller Seeds of Destiny, einen preis-      UNRRA liefert Fett, Getreide, Saatgut, Düngemittel und
    gekrönten Film mit einer klaren politischen Botschaft:      Landwirtschaftsmaschinen. Damit werden das Überleben
    Die moderne Kriegsführung bedeutet für das Kind Grau-       der Menschen und die Wiederaufnahme der Nahrungs-
    samkeiten – Verbrennungen, Hunger, Tod der Eltern,          mittelproduktion gesichert.
    Anfälligkeit für alle nur erdenklichen Krankheiten. In      Bereits 1946 wird deutlich, dass die einstigen Kriegsver-
    den zerbombten Städten Europas leben Kinder, die eines      bündeten auseinanderdriften und die UNRRA nicht über-
    Tages die Geschicke ihres Landes lenken werden. Wenn        leben wird. Will Clayton, Delegierter der Vereinigten
    die Welt ihre Not ignoriert und wenn nur Härte und Ver-     Staaten, informiert seine Kollegen, «dass der Kuchen
    schlagenheit allein ihr Überleben gewährleisten, dann       zum letzten Mal verteilt wird». Der Marshall-Plan soll
    werden aus ihren Reihen eines Tages Führer kommen, die      die Haupttriebkraft für den Wiederaufbau in West- und
    jene Verbrechen gegen die Menschheit begehen werden,        Südeuropa sein. Einige meinen jedoch, dass zumindest
    weswegen vor kurzem noch Millionen sterben mussten.         für Kinder die internationale Nothilfe weitergehen muss.
    Seeds of Destiny ist produziert worden, um die Hilfsor-     Herbert Hoover, früherer Präsident der Vereinigten Staaten,
    ganisation United Nations Relief and Rehabilitation         und Ludwik Rajchman, polnischer Delegierter bei der
    Administration (UNRRA) in ihrer Arbeit zu unterstützen.     UNRRA, sind die grossen Stimmen für die Kinder. Hoover
    In Vorahnung dessen, was nach dem Krieg an katastro-        warnt die Weltöffentlichkeit Mitte 1946 mit folgenden
    phalen Verhältnissen zu erwarten ist, haben 40 Staaten am   Worten: «Von der russischen Grenze bis zum Ärmelkanal
    9. November 1943 die UNRRA, die Vorläuferorganisation       leben heute 20 Millionen Kinder, die nicht nur stark
    von UNICEF, gegründet.                                      unterernährt sind, sondern zunehmend auch unter Tuber-
                                                                kulose, Rachitis, Anämie und anderen Mangelkrankheiten
    Unvorstellbare Not in Europa                                leiden. Wenn Europa eine Zukunft haben soll, dann muss
    UNRRA führt 1944 und 1945 das grösste und schwierigste      für diese Kinder etwas getan werden.» Herbert Hoover
    Sofortprogramm durch. Millionen von Europäern leiden        darf als Vater von UNICEF bezeichnet werden. Er schafft
    unter unvorstellbarem Mangel an Nahrungsmitteln, Klei-      ein positives Klima für einen Kinderhilfsfonds der
    dung und Brennmaterial. In manchen Gegenden stirbt die      Vereinten Nationen und hilft mit, dass die Idee in diplo-
    Hälfte der Neugeborenen vor ihrem ersten Geburtstag.        matischen Kreisen an Unterstützung gewinnt. Ludwik
    4,5 Millionen US-Dollar werden eingesetzt. Sie stammen      Rajchman wirbt für ein Hilfswerk, das unter der Schirm-
4   hauptsächlich von den Vereinigten Staaten von Amerika.      herrschaft der UNO-Nahrungsmittel und ärztliche Versor-
Kompromisslos für die Kinder - 50 Jahre UNICEF Schweiz
gung für Kinder bereitstellt. Der Vorschlag stösst anfäng-
lich auf wenig Resonanz. Die Wende bringt der Film
Seeds of Destiny.

Ein Hilfswerk für die Kinder der Welt
Am 11. Dezember 1946 nimmt die Generalversammlung
der Vereinten Nationen einstimmig eine Resolution zur
Gründung des Weltkinderhilfswerks der Vereinten Nationen
an. Die folgende Begründung vermag die damaligen
Überlegungen zu präzisieren.
«Den Kindern Europas und Chinas fehlte es nicht nur
mehrere grausame Jahre lang an Nahrung, sie lebten auch
in einem Zustand ständigen Terrors, waren Zeugen von
Massakern an Zivilpersonen, erlebten die Schrecken der
wirtschaftlichen Kriegsführung und waren einem allmäh-
lichen Sinken der gesellschaftlichen Verhaltensnormen
                                                              1946 wird UNICEF gegründet mit dem Ziel, den Kindern in den
ausgesetzt. Die Vereinten Nationen stehen dem dringenden
                                                              kriegszerstörten Ländern Europas zu helfen.
Problem gegenüber, wie das Überleben dieser Kinder
gewährleistet werden kann. Kinder zu betreuen, ist ein        Exekutivdirektor wird Maurice Pate. Er hat Herbert Hoover
internationales Problem, dessen Lösung auf internationaler    auf seiner Mission nach Europa begleitet. Für die Erfüllung
Basis zu suchen ist, denn die Hoffnung der Welt richtet       der Aufgaben braucht er umfangreiche Mittel. Die USA
sich auf die kommende Generation.»                            setzen 40 Millionen Dollar frei – eine Ergänzung zu jenen
Das Mandat, das UNICEF von der Generalversammlung             Beiträgen, die andere Regierungen beisteuern, darunter
erhält, betont den unpolitischen Charakter der Organisation   Australien, Kanada, Neuseeland und die Schweiz.
und sieht ausdrücklich vor, dass jegliche Hilfe auf der       Die grössten von UNICEF, dem United Nations Interna-
Grundlage des Bedarfs ohne Diskriminierung aufgrund           tional Children’s Emergency Fund, organisierten Hilfs-
von Rasse, Glauben, Staatszugehörigkeit, Herkunft oder        lieferungen gehen in osteuropäische Länder und nach
politischer Überzeugung geleistet werden muss. Erster         Deutschland. Die Organisation leistet überdies Nothilfe für   5
Kompromisslos für die Kinder - 50 Jahre UNICEF Schweiz
1945 Aufbau

    die Bürgerkriegsopfer in Griechenland, China und dem              1950 vertraten die USA an der UNO-Generalversammlung
    Nahen Osten. Nebst der Nothilfe unterstützt UNICEF den            unter der Leitung von Eleanor Roosevelt den Standpunkt,
    Aufbau der eigenen Kapazitäten im jeweiligen Land für             dass UNICEF ein Nothilfefonds und nicht ein Werkzeug
    das Wohl und die Gesundheit der Kinder. UNICEF                    für die wirtschaftliche Entwicklung sei. Diese aber müsse
    erkennt dabei vollumfänglich an, dass die zuständigen             künftig gefördert werden. Der Präsident der Tagung, Pro-
    nationalen Ministerien und ihre Beamten die letzte Ver-           fessor Ahmed Bokhari, Pakistan, verlässt das Podium und
    antwortung für das Gelingen eines Programms tragen. Ein           hält mitten im Saal stehend eine flammende Rede. Pakis-
    Leitprinzip, das bis heute unter dem Begriff Hilfe zur            tan sei ebenso wie andere Länder Asiens erschüttert über
    Selbsthilfe gilt. Damals ist es jedoch eine Abweichung            die Bilder von ausgemergelten Kindern im Nachkriegs-
    von der üblichen Einstellung zur Entwicklungshilfe.               europa. «Noch erschütternder war es allerdings, sich zu
                                                                      vergegenwärtigen, dass diese europäischen Kinder nicht
                                                                      schlechter auszusehen schienen als Millionen von Kin-
                                                                      dern, die in den Entwicklungsländern ein so genannt nor-
                                                                      males Leben führen.» Das Votum verfehlt seine Wirkung
                                                                      nicht. 1953 wird UNICEF als permanente Organisation
                                                                      etabliert, zusammen mit dem Weltkindertag als Symbol
                                                                      der Unterstützung ihrer Ziele. Der Name steht nun für
                                                                      United Nations Children’s Fund.

                                                                      Von Wohltätigkeit zu Entwicklungshilfe
                                                                      UNICEF etabliert sich als gut organisiertes UN Hilfswerk,
                                                                      dessen Arbeit am meisten geschätzt und am wenigstens
                                                                      umstritten ist. Die entkolonialisierten Länder sind nun
                                                                      Mitglieder der Staatengemeinschaft. Partnerschaft
                                                                      zwischen den industrialisierten und den Entwicklungs-
                                                                      ländern – ein damals noch neuer Begriff – und der
                                                                      gemeinsame Kampf gegen die Armut ist moralische
    Die ersten Nothilfeprogramme bestanden darin, Decken, Milch und
6   Schuhe an Familien mit Kindern zu verteilen.                      Pflicht. Hinzu kommen strategische Motive. In der ideo-
Kompromisslos für die Kinder - 50 Jahre UNICEF Schweiz
logischen Auseinandersetzung des Kalten Krieges über
den Weg zur Überwindung der Armut bieten sich Chancen
zu Allianzen.
Auch das Pflichtenheft von UNICEF ändert sich. Kinder
werden nicht länger nur als Empfänger von wohltätiger
Hilfe gesehen. In einem umfassenden Bericht über die
Lage der Kinder in den Entwicklungsländern trägt
UNICEF 1960 die Erkenntnisse und statistischen Daten
der verschiedenen spezialisierten UN Organisationen wie
WHO, FAO, ILO und Unesco zusammen. Der Bericht
zeigt auf, welche Bedürfnisse in den verschiedenen Phasen   Die Verleihung des Friedensnobelpreises geht auf die Initiative von
                                                            Hans Conzett, Nationalrat und Präsident von UNICEF Schweiz, zurück.
der Kindheit und der Adoleszenz erfüllt sein müssen und
in der Entwicklungspolitik eines Landes Priorität haben     siegen würde. Maurice Pate setzt auf die Unterstützung
müssen. 1965 erhält UNICEF den Friedensnobelpreis.          durch Bürgergruppen. Er hält diese für ebenso wichtig
Die Vergabe zeugt von der weltweiten Anerkennung der        wie die Beiträge der Regierungen. 1948 wird auf Einla-
geleisteten Arbeit.                                         dung der First Lady Bess Truman das amerikanische
Die Geberländer verlangen nun von den Empfängerstaaten      Komitee für UNICEF gegründet. Im Jahr 1952 bittet
umfassendes Engagement zugunsten ihrer Kinder. Neben        Maurice Pate den ehemaligen Premierminister Belgiens,
den Aktivitäten und Einrichtungen, die Kindern direkt       Paul-Henri Spaak, sich bei den europäischen Regierun-
zugute kommen – Geburtshilfe, frühkindliche Betreuung       gen und führenden Persönlichkeiten für die Anliegen von
und Förderung, Gesundheitspflege oder Grundschul-           UNICEF einzusetzen. Auf seiner Reise wird er vom
bildung –, gilt es, gesellschaftliche Veränderungen zur     Schweizer Willy Meyer begleitet; sie wird Ausgangs-
Hebung des allgemeinen Lebensstandards zu bewirken,         punkt für ein Netz von nationalen UNICEF Komitees.
etwa durch den Ausbau der Wasserversorgung, von sani-       1953 entstehen die Komitees in Belgien und Deutsch-
tären Einrichtungen und Wohnungen sowie durch Stadt-        land, gefolgt von Dänemark, Schweden und Norwegen
entwicklung oder Einkommen fördernde Massnahmen.            im Jahr 1954. 1955 kommen Italien, die Niederlande und
In den ersten Jahren wird befürchtet, dass die amerikani-   Kanada hinzu, 1956 Grossbritannien, 1958 Luxemburg
sche Unterstützung nach der Gründung von UNICEF ver-        und schliesslich 1959 die Schweiz.                                    7
Kompromisslos für die Kinder - 50 Jahre UNICEF Schweiz
1959 – 1970
Kompromisslos für die Kinder - 50 Jahre UNICEF Schweiz
Die Geburtsstunde von UNICEF Schweiz                         gehenden Post aus Paris, dem damaligen UNICEF Sitz
Bei seinen Bestrebungen, ein nationales Komitee für          für Europa und Nordafrika, reichen. Doch die Schuh-
UNICEF auch in der Schweiz zu etablieren, stösst Willy       schachtel quillt bald über und Willy Meyer hat es unter-
Meyer anfänglich auf grosse Schwierigkeiten. Bereits         lassen, das Komitee über die Kartenaktion zu informieren.
bestehende Organisationen für Kinder sehen die neue          Als ein paar Monate vor Weihnachten 13 000 Schachteln
Organisation in Konkurrenz zu ihrer Arbeit. Daraufhin        mit UNICEF Karten eintreffen, ist die Überraschung
wendet er sich an Dr. Hans Conzett, einen alten Schul-       perfekt. Schnell sucht man eine geeignete Kraft, die sich
freund. Conzett war Verleger und Nationalrat und in die-     für die Arbeit von UNICEF begeistern kann und Erfah-
ser Funktion Mitglied der Kommission für auswärtige          rung in Organisation und Öffentlichkeitsarbeit mitbringt.
Angelegenheiten. Meyers Vorschlag entsprach der Tradi-       In den beiden für die PR bei der Schweizerischen Aus-
tion der schweizerischen Neutralität und der humanitären     stellung für Frauen in Zürich verantwortlichen Frauen,
Tätigkeit des Landes. Und er appellierte an Conzetts         Marei Lehmann und ihrer Assistentin Andrée Lappé, wird
Engagement für internationale Zusammenarbeit. Die            er fündig. Die Erste wird Vizepräsidentin, letztere Ge-
Schweiz hatte, obwohl nicht Mitglied der UNO, immer          schäftsleiterin des Komitees. Andrée Lappé schafft die
schon einen Sitz im UNICEF Verwaltungsrat; Die schwei-       Herkulesaufgabe und verkauft innerhalb von zwei Monaten
zerische Delegation gehörte mitunter zu den aktivsten.       11 697 Schachteln. Damit beginnt die Arbeit von UNICEF
Mit Unterstützung des damaligen schweizerischen UNO-         Schweiz.
Botschafters Felix Schnyder wandte Maurice Pate sich an
Max Petitpierre, den damaligen Vorsteher des Eidgenös-       Milchspende
sischen Departements für auswärtige Angelegenheiten.         Eine der grössten Leistungen in den 1950er Jahren ist die
Dieser versicherte Hans Conzett anschliessend der Unter-     Rolle, die UNICEF beim Aufbau der Genossenschaftsbe-
stützung der Regierung.                                      wegung für die Milchproduktion in Westindien spielt. Nach
Am 13. Juni 1959 wird im Berner Hotel Bristol das            der Wiederherstellung der Milchwirtschaft im zerstörten
Schweizerische Komitee für UNICEF mit Sitz in Zürich         Nachkriegseuropa befasst sich UNICEF in logischer
gegründet. Werner Erisman, Zentralsekretär des Schwei-       Fortführung mit der Milchversorgung in der Entwick-
zerischen Hilfswerks für aussereuropäische Gebiete           lungswelt. Damals gilt Milch als perfekte Zusatznahrung
(SHAG), der heutigen Helvetas, leitet das Sekretariat.       für fehlernährte Kinder. In Indien hilft UNICEF mass-
Vier jährliche Treffen sollen für die Bearbeitung der ein-   geblich mit, die Milchwirtschaft zu entwickeln, ein halbes   9
1959 – 1970

     Dutzend moderner Molkereibetriebe aufzubauen und                   vom 15. September bis 15. Oktober Gutscheine zu einem
     hygienisch verarbeitete Milch der Büffelkuh, angerei-              Franken als so genannte UNICEF Milchspende. Der für
     chert mit importiertem Magermilchpulver, an Kinder                 jene Zeit enorme Betrag von 1 910 000 Franken kommt
     abzugeben. Die Produzenten können so ein Zusatzein-                zusammen. Eingeläutet wird die Aktion am 18. Mai 1960
     kommen generieren und für ein paar wenige Rupien am                mit einem nationalen Milchtag. Der damalige Bundesrat
     Tag besseres Essen für sich und besseres Futter für die            Friedrich Traugott Wahlen unterstützte die Kampagne mit
     Tiere kaufen.                                                      einer flammenden Rede über den Kampf gegen Hunger
     UNICEF Schweiz lanciert 1960 in Zusammenarbeit mit                 und Fehlernährung. Wahlen war in einer früheren Funk-
     dem Zentralverband Schweizerischer Milchproduzenten                tion Landwirtschaftsdirektor der FAO.
     die grosse Spendenaktion Eine Tasse Milch pro Tag zu -             Durch die Kampagne erhält UNICEF in der Schweiz
     gunsten der Milchprogramme. UNICEF Schweiz will                    einen gewaltigen Auftrieb. Von langer Dauer ist er jedoch
     Milchkonserven im Wert von 2 Millionen Franken finan-              nicht, denn die Entwicklungsdebatte nimmt international
     zieren. Ein Teil der Kosten soll aus privaten Spenden              einen anderen Lauf. Die 1950er Jahre sind geprägt vom
     stammen. Rund 1500 Milch- und Lebensmittelläden,                   Kampf gegen Hunger und Seuchen wie die Himbeer-
     unter ihnen auch Migros und Coop, verkaufen in der Zeit            pocken, Malaria, Lepra, Trachom und Tuberkulose. Mitte
                                                                        der 1960er Jahre wird klar, dass diese Massenkrankheiten
                                                                        nicht allein mit Massenkampagnen, sondern mit verbes-
                                                                        serten gemeinschaftlichen Gesundheitsdiensten zu kon-
                                                                        trollieren sind. Für UNICEF Schweiz bedeutet dies, dass
                                                                        die Spendensammlung für konkrete Projekte zugunsten
                                                                        einer integrierten Hilfe weichen muss.

                                                                        UNICEF Grusskarten als Zeichen der guten Tat
                                                                        In den ersten Jahren ist der Verkauf von Weihnachts- und
                                                                        Grusskarten die wichtigste Einkommensquelle des Komi-
                                                                        tees. Er wird mit Hilfe von Freiwilligen organisiert. Von
     Dank der Spendenaktion Eine Tasse Milch pro Tag können in Delhi,
                                                                        Beginn an lehnt Conzett eine finanzielle Unterstützung
     Indien, Tausende von Kindern täglich mit eiweissreicher Nahrung
10   versorgt werden.                                                   des Komitees durch den Bund ab. Er ist überzeugt, dass
Die Worte «ehrlich» und «geradlinig»
                                              «Er packte alles                              Tradition begründet und weitergeführt
fallen in seinem Zusammenhang früher                                                        haben.»
oder später immer. So auch bei Andrée         fadengerade an»                               Was Hans Conzett anpackte, tat er mit
Lappé, der ersten Geschäftsführerin von                                                     Leib und Seele: Von 1951 bis 1971 sass er
UNICEF Schweiz – und damit der ersten                                                       als Mitglied der Bauern-, Gewerbe- und
Angestellten von Hans Conzett, als er                                                       Bürgerpartei (der späteren SVP) im
das Schweizerische Komitee für UNICEF                                                       Nationalrat, präsidierte dort die Petitions-
gründete: «Was er machte, packte er                                                         kommission und die Kommission für
fadengerade an. Er war hartnäckig und                                                       auswärtige Angelegenheiten und von
furchtlos; und für das, was er als sinnvoll                                                 1967 bis 1968 den Nationalrat. Mit eben-
und gerecht empfand, setzte er sich ohne                                                    solcher Energie hatte er sich Schöngeis-
Schonung eigener Kräfte und Bequem-                                                         tigem gewidmet: Nach dem Jurastudium
lichkeiten ein.»                                                                            war er 1942 in den Familienbetrieb Conzett
1959 gelangte Bundesrat Petitpierre an                                                      & Huber eingetreten und hatte zwei
Hans Conzett, damals 44-jährig und seit                                                     Produkte mit lanciert, die weltweit
acht Jahren BGB-Nationalrat. Im Zuge                                                        bekannt wurden: die Zeitschrift «Du»
der Überlegungen, wie die Schweiz ihr         hatte der Name Conzett fast alleine für die   und die «Manesse-Bibliothek der Welt-
aus Zeiten des Zweiten Weltkrieges ange-      Wiederwahl der Schweiz gebürgt», erin-        literatur». Und immer wieder hatte er
schlagenes Ansehen verbessern könnte,         nert sich der heutige Präsident, Wolfgang     aussergewöhnliche Ideen. So auch 1964,
kam die Idee auf, ein nationales Komitee      Wörnhard, «jedes Mal hatte die Schweiz        als er Schweizer Parlamentarier über-
für UNICEF zu gründen. Conzett sagte zu,      von den kandidierenden Ländern die            zeugen konnte, UNICEF für den Nobel-
und innert Kürze war das Komitee ge-          meisten Stimmen. Ein Kommentar dazu           preis vorzuschlagen. Den 10. Dezember
gründet. Auch wenn der Beginn beschei-        erübrigt sich; die Fakten sprechen genug      1965 dürfte er nie vergessen haben: Es
den organisiert war, musste Conzett in den    klare Worte.»                                 war der Tag, an dem Henri Labouisse,
ersten beiden Jahren rote Zahlen hinneh-      Als Conzett 1988 zurücktrat mit der Be-       damaliger UNICEF Generalsekretär, von
men. Auf Max Petitpierres Versprechen,        gründung, gehen zu wollen, bevor die          König Haakon in Oslo die Friedensnobel-
es werde sich «immer irgendwo ein             anderen fragten: «Wänn gaht dä alt            preis-Medaille und das Diplom im Namen
Kässeli finden», liess er sich indes nicht    Chlütterli äntli?», liessen ihn viele nur     des Kinderhilfswerkes übergeben wurden.
ein. Zu gross war seine Befürchtung,          ungern ziehen. So auch Bundesrat René
dass auch regiert, wer zahlt.                 Felber, der ihm schrieb: «Sie übergeben
Keinem seiner Grundsätze wurde er             Ihrem Nachfolger ein Werk, das ein Vor-
während seiner 29-jährigen UNICEF Kar-        bild aller andern nationalen Komitees
riere untreu. 1964 wurde er zum Delega-       geworden ist. (...) Ein jahrzehntelanger
tionschef der Schweiz im UNICEF Verwal-       Einsatz für die Gesundheit und die Ent-
tungsrat gewählt, von 1974 bis 1976 war       wicklung, für das Wohlbefinden und eine
er Vorsitzender, und während 24 Jahren        bessere Zukunft der Kinder dieser Welt
gehörte er dem UNICEF Verwaltungsrat          stellt Sie in die Reihe der grossen
an. «Immer wenn Neuwahlen anstanden,          Schweizer, welche unsere humanitäre                                                          11

                                                              Hans Conzett
                                                    (1915 bis 1996), Jurist, Nationalrat,
                                      Präsident der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (später SVP),
                           Verleger, Gründer und Präsident des Schweizerischen Komitees für UNICEF bis 1988.
1959 – 1970

     mit Staatsgeldern Einmischungsversuche einhergehen
     würden. Finanzielle Unabhängigkeit und eine schlanke
     Organisation sind seither ein wichtiges Leitprinzip von
     UNICEF Schweiz.
     Bereits 1961 verkauft das UNICEF Team, in dem alle bei
     allem mit anpacken, 390 000 Grusskarten. Andrée Lappé
     erzählt: «Die ersten 13 000 Kartenschachteln konnten wir
     glücklicherweise in der Waschküche des SHAG einlagern.
     Die Kartenprospekte mussten möglichst portofrei verteilt
     werden. Perle Buignon, die oberste schweizerische Pfad-
     finderin, erlaubte uns, den Prospekt der Pfadfinder-Zeit-
     schrift Trèfle beizulegen.» Dank persönlicher Kontakte
     und guter Beziehungen zu Papeterien, Detailhandelsketten
     und Frauenvereinen steigen die Verkaufszahlen rasch an.
     Bereits 1962 verdoppelt sich der Verkauf und 1965 wird
                                                                 UNICEF Schweiz sammelt in den Jahren 1959 und 1960
     die Millionengrenze überschritten. Die UNICEF Gruss-
                                                                 1,9 Mio. Franken für die Milchprogramme in Indien.
     karte mit Werken von bekannten und unbekannten Künst-
     lern, mit Ornamenten und Mustern aus verschiedenen          hohen humanitären Ziel, dem grossen praktischen Wert
     Kulturen wird zum Zeichen der guten Tat in der Weih-        ihrer Arbeit, verbunden mit der Pflege der universellen
     nachtszeit.                                                 Zusammenarbeit, eine ausserordentliche Leistung für die
                                                                 Weltgemeinschaft erbringt. Diese Arbeit sollte Anerken-
     Friedensnobelpreis für UNICEF                               nung finden durch das Nobelpreiskomitee in Norwegen.
     1964 liesse sich als Boomjahr für UNICEF bezeichnen.        Im Januar 1963 geht ein Brief, unterschrieben von den
     Der Verkauf der Glückwunschkarten erreicht die Rekord-      Nationalräten Hans Conzett, Hans Fischer, Matthias
     höhe von 40 Millionen Stück weltweit. Die Organisation      Eggenberger, Luis Guisan, Willy Sauser, Philipp Schmid,
     konzentriert sich jetzt mit Nachdruck auf die Bedürfnisse   Ernst Studer und Rolf Suter, nach Oslo. 1965 erhält
     der Kinder als Teil der nationalen Entwicklung. Hans        UNICEF den Preis und wird für ihren Beitrag zum Frieden
12   Conzett ist überzeugt, dass die Organisation mit ihrem      ausgezeichnet.
Es ist eine Stimme, die so energisch ist,
                                                 «Ich wäre für                                 einfach nicht mehr bewältigen und
dass sie nicht zu einem Menschen passen                                                        brauchte Hilfe. Es ging vor allem ums
will, der auf die achtzig zugeht. Es sind        UNICEF durchs                                 Verbuchen der Kartenaktionen. Wir num-
Augen, die eine Vitalität ausstrahlen, wie       Feuer gegangen»                               merierten die Rechnungen laufend, leg-
wenn der grössere Teil des Lebens noch                                                         ten alles in Kopie ab und ich schrieb von
zu leben wäre. Es ist eine Gestik, die                                                         Hand Liste um Liste. Mit 300 Rechnungen
sprühende Energie und grossen Taten-                                                           ging das noch, mit 30 000 pro Jahr aber
drang verrät. Es ist eine aussergewöhn-                                                        nicht mehr. Dann gab es einen Vorläufer
liche Persönlichkeit, die man am besten                                                        zum Computer: ein Monstrum, er füllte
selbst zu Wort kommen lässt:                                                                   das halbe Büro, konnte zwar viel spei-
«1959 ging es mit Volldampf los, nachdem                                                       chern, war aber sehr kompliziert. Auch
ich den Film Und Kinder lächeln wieder                                                         unter den Lochkarten litten wir. Wir
mit dem grossartigen Schauspieler Danny                                                        mussten die Administration auf andere
Kaye gesehen hatte. Darin ging es um                                                           Beine stellen. Das war dann die Haupt-
burmesische Kinder, wunderschöne Kin-                                                          aufgabe meiner Nachfolger.
der, mit schrecklich schmerzhaften Him-                                                        Ich bin ein ungeduldiger Mensch und
beer-Pocken. Eine Penicillin-Spritze von         und Bekanntenkreis. Alle gaben ihr Bestes,    wäre als Ehefrau und Mutter wohl nicht
UNICEF konnte diese Kinder heilen. Das           liessen sich von der Arbeit mitreissen        begabt gewesen. Überhaupt bin ich mehr
schien mir wie ein Wunder! Ich hatte             und waren voller Freude, sich für so          fürs Kollektiv gemacht und weniger für
damals ein eigenes kleines Büro an der           etwas Tolles einsetzen zu können. Immer       die Einzelfürsorge. Ich habe Kinder sehr
Zürcher Bahnhofstrasse und wollte frei-          wieder hatte ich das grosse Glück, aus-       gern, und mir ist ein grosses Anliegen,
beruflich Sekretariatsarbeiten durchfüh-         sergewöhnliche Persönlichkeiten kennen-       dass jeder Mensch, der auf die Welt
ren und Veranstaltungen organisieren.            zulernen. Da gab es Menschen, deren           kommt, eine Chance hat, gesund aufzu-
Am allerliebsten im humanitären Bereich.         wortlose Berührung meiner Schulter wie        wachsen und Gerechtigkeit zu erfahren.
Im Jahr zuvor hatte ich die gesamte Aus-         ein Ritterschlag wirkte.                      Genau in dieser Beziehung habe ich dank
stellungsorganisation der SAFFA (Bürg-           Eine Trennlinie zwischen Hobby, Vergnü-       der UNICEF ein Instrument gefunden,
schaftsgenossenschaft von Frauen für             gen und Arbeit konnte ich nie ziehen,         mich einzubringen. Ich hätte mir auch
Frauen) unter mir wie auch jene der Gar-         und jahrelang machte ich keine Ferien.        vorstellen können, Politikerin zu werden,
tenbau-Ausstellung. Als ich kurz nach dem        Mit Haut und Haaren widmete ich mich          und bedaure manchmal ein wenig, mich
Film ein Inserat in der Zeitung entdeckte,       dem Kartenverkauf, organisierte unzäh-        auf der Ebene nicht engagiert zu haben.
in welchem das Kinderhilfswerk der Ver-          lige Ausstellungen, Veranstaltungen, hielt    Aber noch heute glaube ich, dass UNICEF
einten Nationen eine Mitarbeiterin suchte,       Vorträge, reiste, und machte alles gern –     das Beste auf der Welt ist. Und es war es
wusste ich: Jetzt ist es so weit!                ausser die Buchhaltung. Anfang der            wert, sich hundert, manchmal auch zwei-
Das Inserat war zwar langweilig formu-           siebziger Jahre merkte ich, dass ich dies-    hundert Prozent einzusetzen. Ich wäre für
liert. Doch es sollte anders kommen.             bezüglich nicht nur an Grenzen gestossen      die UNICEF durchs Feuer gegangen.»
Schnell waren wir ein verschworenes              war, sondern daran beinahe kaputt ging.
Grüppchen, bestehend aus vielen Frei-            Das kann sich die heutige Generation
willigen vor allem aus meinem Freundes-          fast nicht mehr vorstellen. Ich konnte das                                                13

                                                               Andrée Lappé
                                    (*1930), von 1959 bis 1973 erste Geschäftsführerin von UNICEF Schweiz,
                                                           bis 2000 freie Mitarbeiterin.
1959 – 1970

     1959                                                  liegt in unserer Hand richtet UNICEF Schweiz      Die Migros kann für eine gemeinsame Kampa-
     Das Schweizerische Komitee wird am 13. Juni           eine Ausstellung im Schloss Rapperswil ein –      gne gegen Hunger gewonnen werden. Der Erlös
     1959 in Bern gegründet. Dr. Hans Conzett,             mit dem Ziel, die Organisation und ihr Wirken     von 440 000 Franken ist für Ernährungspro-
     Nationalrat und Verleger, wird zum Präsidenten        bekannt zu machen. Im folgenden Jahr wird die     gramme in Afrika bestimmt.
     gewählt. Zu den Gründungsmitgliedern gehören          Ausstellung im Verkehrshaus Luzern gezeigt.       1967
     u.a. Perle Buignon-Sécretan, Dr. Suzanne Oswald,      1963                                              Die Schweizer Schulen sammeln am Solidaritäts-
     Zürich, Marianne Jöhr, Bern, Berta Hohermuth,         Eine neue Chance zur Verbreitung der UNICEF       tag für die Kinder in Kambodscha. Der Krieg in
     St. Gallen, Isabelle Thormann, Bern, René Steudler,   Idee bietet sich in der Zusammenarbeit mit der    Vietnam trifft die Kinder auf beiden Seiten ent-
     Lausanne, Werner Erisman, Zürich. Das Komitee         Kinderzeitschrift Junior. Sie wird viele Jahre    lang des Ho-Chi-Minh-Pfads.
     bildet einen so genannten Arbeitsausschuss. Das       halten. Dreimal jährlich erhält UNICEF die        1968
     Schweizerische Hilfswerk für aussereuropäische        Gelegenheit, über die Situation der Kinder in     Die gesellschaftliche Diskussion über Entwick-
     Gebiete (SHAG) übernimmt das Sekretariat.             anderen Ländern zu informieren.                   lungshilfe erreicht ein neues Stadium. Handel
     1960                                                  UNICEF Schweiz nutzt die internationale           statt Hilfe gewinnt durch die UNO-Konferenz
     Die erste grosse Spendenaktion heisst Aktion          Schriftenreihe Les carnets de L’ENFANCE für       über Handel und Entwicklung in Delhi weltweite
     Milchspende. Der Sammelerlös beträgt 1,9 Mil-         die Öffentlichkeitsarbeit.                        Anerkennung. Das Komitee unter der Führung
     lionen Franken.                                       1964                                              von Hans Conzett diskutiert die möglichen Ver-
     UNICEF Generalsekretär Maurice Pate besucht           UNICEF Schweiz zieht um an die Staufacher-        änderungen, die sich für die UNICEF Hilfe
     den Bundesrat und nimmt die Naturalspende             strasse 27 in Zürich.                             abzuzeichnen beginnen.
     von 5000 Kilogramm Milchpulver des Zentral-           Der Bundesrat unterstützt UNICEF mit 1,9 Mil-     1969
     verbandes der Schweizer Milchproduzenten mit          lionen Franken. UNICEF Schweiz trägt zusätz-      Die grosse Hungerkatastrophe in Biafra bringt
     Dank entgegen.                                        lich 276 363 Franken bei.                         Bilder des Grauens in die Schweizer Stuben. Die
     Der Kartenverkauf ist für das SHAG zu aufwen-         Dr. Hans Conzett engagiert sich zusammen mit      Spendenkampagne erbringt 1 358 265 Franken.
     dig. Der Arbeitsausschuss entscheidet sich des-       den Fraktionspräsidenten des Schweizer Parla-     Ein Teil der Gelder stammt aus der Oliver-Gala
     halb zur Anstellung einer Mitarbeiterin. Andrée       ments für die Vergabe des Friedensnobelpreises    in Genf und Zürich. Erstmals treffen hier Wohl-
     Lappé wird zur ersten Geschäftsleiterin gewählt.      an UNICEF.                                        tätigkeit und politische Korrektheit aufeinander.
     1961                                                  1965                                              Vor den beiden Hotels demonstrieren Jugendliche
     Die langjährige Zusammenarbeit mit dem Bund           UNICEF erhält den Friedensnobelpreis.             gegen den Krieg in Vietnam und sorgen mit ihrer
14   Schweizerischer Pfadfinderinnen beginnt mit           Die Schweizer Schulen führen den traditionellen   Ablehnung von «High-Society-Galas» für Auf-
     einem Treffen im Calancatal. Die Initiative           Mai-Solidaritätstag zugunsten von UNICEF          sehen.
     kommt durch die Vermittlung von Perle Buignon         durch.                                            1970
     zustande.                                             1966                                              Die Hungerkatastrophe von Biafra kostet Mil-
     Die Kongo-Krise erfährt breite öffentliche Auf-       Danny Kaye wird von UNICEF Direktor Maurice       lionen von Kindern das Leben. In der Schweiz
     merksamkeit. Die Spendenkampagne für die              Pate zum UNICEF Botschafter ernannt. Das          flaut die Solidarität ab. Für Biafra fliessen noch
     UNICEF Hilfsleistungen beginnt mit einer Film-        Engagement des beliebten und bekannten Stars      593 315 Franken.
     premiere im Kino Scala in Zürich.                     ermöglicht UNICEF Schweiz den Eingang ins         Gertrud Lutz, ehemalige UNICEF Vizedirektorin,
     1962                                                  Fernsehprogramm. Die internationale Danny         wird Mitglied des Komitees. Aus Platzgründen
     Unter dem Titel Die Zukunft der Welt liegt in         Kaye Show wird auf allen Landessendern ge-        zieht die Geschäftsstelle von der Stauffacher-
     den Händen des Kinder – die Zukunft der Kinder        zeigt und löst eine Welle der Solidarität aus.    strasse an die Werdstrasse 36.
1971 – 1980
Beteiligung der Menschen wird zum                            sen die Ausbildung in einfachen Aufgaben der Säuglings-
Schlüsselelement                                             pflege bis hin zum technischen Unterhalt von Wasser-
Bei Entwicklungshilfe-Organisationen macht sich Anfang       pumpen. Besondere Aufmerksamkeit erhält die Mutter-
der 1970er Jahre vielfach Ernüchterung breit. Obwohl         und-Kind-Betreuung vor, während und nach der Geburt.
das vorangegangene Jahrzehnt als ein Entwicklungsjahr-       Die Grundversorgungsdienste erwecken grosses Interesse,
zehnt der Weltwirtschaft bezeichnet werden kann, ist die     in einigen Kreisen aber auch Bedenken, dass sie für die
Kluft zwischen armen und reichen Ländern und zwischen        ärmsten Länder zweitklassige Dienstleistungen bedeuten
armen und reichen Menschen gegen sein Ende wesentlich        könnten.
breiter. Die Erwartung, dass der Transfer von Kapital und
technischem Know-how von selbst Wirtschaftswachstum          Wasser: die Quelle des Lebens
bringen und der schlimmsten Armut rasch ein Ende setzen      Dürrekatastrophen und Überschwemmungen veranlassen
würde, erweist sich als Trugschluss. Zusätzlich verschärft   UNICEF Ende der 1960er und Anfang der 70er Jahre,
eine Reihe von Krisen und Katastrophen die Not der Ent-      sich mehr mit Wasser zu beschäftigen. Zwar hat sich die
wicklungsländer. Sie müssen zum Teil mehr als die Hälfte     Organisation bereits in den 1950er Jahren an der Errich-
der Exporteinnahmen für Nahrungsmittel, Medikamente,
Kunstdünger, Transport und andere lebenswichtige Güter
einsetzen – mit ernsthaften Folgen für 500 Millionen
Kinder. Die Einsicht reift, dass Entwicklungshilfe gezielt
den Lebensbedingungen der Armen gelten muss, indem
man den Menschen hilft, ihre eigenen Grundbedürfnisse
zu erfüllen. Massgeblich gefördert wurde dieser Gedanke
von der Internationalen Arbeitsorganisation. Geberorga-
nisationen wie die Weltbank forderten die Regierungen
der Entwicklungsländer auf, das Wohl der ärmsten Bevöl-
kerungsgruppen oben auf die Agenda zu setzen.
UNICEF entwickelt eine Strategie zur Errichtung von
Grundversorgungsdiensten. Als Schlüsselelement gilt die
                                                             Die Entwicklung der Handpumpe Mark II markiert den Beginn von
Beteiligung der Gemeinschaft. Die Massnahmen umfas-          umfangreichen Brunnenprogrammen in zahlreichen Ländern.         17
1971 – 1980

     tung von Wasserleitungen und Abwasseranlagen beteiligt.     Song, der Auftakt zum Internationalen Jahr des Kindes.
     Doch die Dürre in Bihar verlangt nach neuen Massnahmen      Künstler wie ABBA, Bee Gees, Olivia Newton-John u.a.
     mit schnellen Resultaten. Erstmals bringt UNICEF 1967       schenkten ihre Lieder UNICEF. Sie reihten sich damit ein
     auf dem Luftweg 11 Halco-Bohrtürme nach Indien. Dank        in die lange Liste berühmter Persönlichkeiten, die ihren
     ihnen kann innerhalb von 2 Monaten Zugang zu sauberem       Namen und ihre Zeit UNICEF zur Verfügung stellten.
     Wasser für 222 Dörfer geschaffen werden. 1974 wird mit      Angefangen beim legendären Weltstar Danny Kaye, der
     Partnerorganisationen und der indischen Firma Richardson    von Maurice Pate zum UNICEF Botschafter des guten
     & Cruddas die Handpumpe aus Schweissstahl Mark II           Willens ernannt wurde, zu Peter Ustinov, Audrey Hepburn,
     entwickelt. Sie wird zum Prototyp einer äusserst stabilen   Roger Moore, Shakira, Angélique Kidjo und vielen mehr.
     und dennoch körperlich leicht bedienbaren Handpumpe.        Sie alle arbeiteten bzw. arbeiten unentgeltlich für UNICEF.
     Sie markiert den Beginn von umfangreichen Brunnen-          Das Internationale Jahr des Kindes (IJK) 1979 markiert
     bauprogrammen in zahlreichen asiatischen und afrikani-      einen Meilenstein in der Geschichte von UNICEF und
     schen Ländern.                                              UNICEF Schweiz. Es ist Anlass für eine Flut von Erklä-
     1972 kehren 10 Millionen Flüchtlinge in den neuen Staat     rungen, Entschliessungen und Feiern. Ins Zentrum des
     Bangladesch zurück. In dieser Notlage beteiligt sich        weltweiten Interesses rückt die Situation der Strassen-
     UNICEF an grossangelegten Wasserversorgungspro-             kinder und der behinderten Kinder.
     jekten für die Dörfer. Niemand hat zu diesem Zeitpunkt      1980 löst James Grant Henri Labouisse als UNICEF
     Kenntnis von der durch arsenhaltige Gesteinsschichten       Generalsekretär ab. Am 10. Dezember orientiert er in
     verursachten Wasserverseuchung in weiten Teilen des         New York erstmals über die Situation der Kinder in der
     Landes. 20 Jahre später werden die Folgen sichtbar und      Welt. Das Statement markiert den Beginn einer neuen
     erfordern neue Strategien. Tausende von Brunnen werden      Ära und gipfelt in der jährlich erscheinenden Publikation
     überprüft und neu gebaut. UNICEF Schweiz wird das           Zur Situation der Kinder in der Welt.
     Programm Ende der 1990er Jahre unterstützen.
                                                                 UNICEF Schweiz: Im Zeichen der Wohltätigkeit
     Das Internationale Jahr des Kindes                          Die 1970er Jahre stehen ganz im Zeichen des Grusskar-
     Am 9. Januar 1979 war die Generalversammlung der Ver-       tenverkaufs. Er erfordert den Einsatz aller Kräfte. Jedes
     einten Nationen zum Bersten voll mit einem ungewöhn-        Jahr wird ein neues Produkt geschaffen, das die Bot-
18   lichen Publikum. Es war die Galavorstellung A Gift of       schaften von UNICEF auf vielfältige Weise verbreitet. Es
Die Zeilen lesen sich wie eine Liebeser-
                                            «Sie hat Berge                                Bei ihrem Abschied 1965 wurde sie zur
klärung: «Du hast unsere Herzen gewon-                                                    Ehrenbürgerin einer Reihe brasilianischer
nen! Deine Arbeitsfreude, Deine Liebe zu    versetzt»                                     Staaten. Und die Zeitung «Brazil Herald»
den Menschen, die zur grossen UNICEF                                                      vermeldete vor ihrem Weiterzug nach
Familie gehören, Dein Gefühl der Verant-                                                  Istanbul: «Der Engel fliegt in die Türkei.»
wortung gegenüber den notleidenden                                                        Vor ihrer Pensionierung amtete sie als
Kindern hast Du auf uns übertragen. Das                                                   Vizepräsidentin von UNICEF in Paris. Dann
wurde zum eigentlichen Grundstein un-                                                     zog sie in ihr Elternhaus im bernischen
serer Tätigkeit. Dass sie erfolgreich war                                                 Zollikofen – und wurde Gemeinderätin.
und ist, haben wir daher zu einem ganz                                                    Doch auch dieser Schritt hielt sie nicht
wesentlichen Teil Dir zu verdanken»,                                                      davon ab, häufig zu reisen und viel unter-
schrieb das Schweizer UNICEF Komitee                                                      wegs zu sein – bis zu ihrem letzten Tag,
zu Beginn der neunziger Jahre.                                                            als sie im Zug nach Zürich fuhr, um im
Gertrud Lutz war eine Frau, die sich auf                                                  Fernsehen an einem «Sternstunden»-
gerader Linie in die Herzen ihrer Mit-                                                    Gespräch zum Gedenken an Carl Lutz
menschen hineinbewegte. Sie war eine                                                      teilzunehmen. Es sollte ihre letzte Reise
ungewöhnliche Frau mit einer ungewöhn-      Resignation aber hatte in ihrem Herzen        sein: Gertrud Lutz starb unterwegs an
lichen Schaffenskraft und einem unge-       nie Platz. Gertrud Lutz engagierte sich für   Herzversagen. «Sie glaubte daran, dass
wöhnlichen Werdegang: 1911 kommt sie        die Hilfsorganisation «Schweizer Spende»      man Berge versetzen kann, wenn man
als Tochter eines Käsers im Emmental zur    in Sarajewo, Finnland und Polen, bevor        wirklich und ernsthaft an die Arbeit geht»,
Welt. Mit 18 fasst sie den Entschluss, in   sie 1948 für UNICEF tätig wurde. Sie star-    sagte Andrée Lappé, erste Geschäftsfüh-
die USA auszuwandern. Das Handels-          tete als Leiterin in Warschau, daraufhin      rerin von UNICEF Schweiz, an der Abdan-
diplom in der Tasche, findet sie eine       übernahm sie für 14 Jahre die UNICEF          kung. Und: «Sie hat Berge versetzt!»
Stelle beim Schweizerischen Konsulat in     Vertretung in Brasilien. Vor ihrem Einsatz
Louisiana. 1933 begegnet sie dort dem       äusserten die Angestellten wiederholt
Schweizer Diplomaten Carl Lutz. Die         den Wunsch, einen Mann an ihrer Spitze
beiden heiraten. Noch am Hochzeitstag       zu haben. Schliesslich entschied UNICEF
reist das Paar nach Palästina, wo es bis    Direktor Maurice Pate, Gertrud Lutz
1941 bleibt. Die nächste Station heisst     einen Begleiter zur Seite zu stellen. Nach
Budapest. Zwischen 1942 und 1944 rettet     wenigen Wochen erwies sich dieser
Vizekonsul Lutz über 60 000 Juden vor       Schritt als überflüssig. Selbst der skepti-
dem Tod. Seine Frau unterstützt ihn nach    sche brasilianische Gesundheitsminister
Kräften; während Monaten versorgt sie       musste feststellen, Gertrud Lutz denke
50 Personen, die sie im Keller der          wie ein Mann, habe aber das Herz einer
Schweizerischen Gesandtschaft versteckt     Frau. Oft war sie in Männergremien die
hält. Umso schmerzhafter muss die Er-       einzige Frau. Sie baute das Speisungs-
fahrung sein, als ihr Mann sie wegen        programm auf, schuf Mütterheime, grün-
einer Ungarin verlässt.                     dete Fachschulen für Kinderpflegerinnen.                                                    19

                                                           Gertrud Lutz
                                         (1911–1995), 1949/50 Leiterin von UNICEF in Polen,
                                               1951–1964 Missions-Chefin in Brasilien,
                           1966–1971 Vizepräsidentin von UNICEF und Direktorin für Europa und Nordafrika;
                                bis 1988 Komiteemitglied und bis zum Tod Ehrenmitglied des Komitees.
1971 – 1980

     ist die Zeit der Adventskalender, der EDUCOLL-Bastel-        abweicht und die Länder der Erde in ihrer wahren Grösse
     spiele, Bücher wie Sing mit uns, Spiele der Welt, Koch mit   abbildet. 1989 wird UNICEF Schweiz den Peters-Atlas
     uns oder Themenplakate wie beispielsweise jener über         publizieren und damit in die Kritik der Öffentlichkeit
     die Rechte des Kindes. Sie finden den Weg in die Schulen     geraten, denn Arno Peters gilt als ein Historiker, der den
     und Kinderzimmer.                                            realexistierenden Sozialismus verklärt.
     Die hohe Priorität des Kartenverkaufs hat noch einen         Mit Jute statt Plastik nimmt die Öffentlichkeit die ent-
     zweiten Grund: Mit dem Verkauf finanzierte sich die          wicklungspolitische Diskussion auf. Aktivisten verschie-
     Geschäftsstelle. In den ersten zwei Jahren ihres Beste-      denster kirchlicher und Entwicklungsorganisationen
     hens durfte UNICEF Schweiz 10 Prozent des Kartenum-          bieten Jutetaschen zum Tausch gegen Plastiktaschen an.
     satzes für sich behalten, ab 1961 20 Prozent und ab 1965     Der Erfolg ist so gross, dass die Frauen in Bangladesch
     25 Prozent. Die Balance zwischen professionellem Spen-       sogar in Produktionsnöte geraten. Die Aktion zeugt vom
     densammeln, Öffentlichkeits- und Mobilisierungsarbeit        Bewusstsein, dass wir in einer Welt leben, in einem glo-
     und schlanker Organisation beschäftigt Vorstand und          balen Dorf, einander brauchen und uns gegenseitig unter-
     Geschäftsleiter/-innen durch alle Jahrzehnte gleicher-       stützen müssen.
     massen.                                                      Die neue Sicht über weltweite Interdependenzen wird
     Zwar beschloss der UNICEF Verwaltungsrat bereits 1964,       unter dem Begriff Erziehung zur Entwicklung als Arbeits-
     für die Komitees die Finanzierung so genannter adoptierter   schwerpunkt aufgenommen. UNICEF Schweiz sucht die
     Projekte zuzulassen, und ermöglichte so das Spenden-         Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen und startet eine
     sammeln für ein bestimmtes Projekt. Umgesetzt wird es        Initiative, die zum Ziel die Erweiterung der Bildungs-
     in der Schweiz jedoch zögerlich. Die Entwicklung der         horizonte als Folge der zunehmenden Globalisierung hat.
     Computertechnik bringt die Wende. Die automatische           Kinder sollen befähigt werden, aus der Sicht der eigenen
     Adressselektion lässt 1976 erstmals einen Versand an         Identität heraus mit anderen Menschen in offenen Kontakt
     65 000 Schweizer Haushalte zu. Im Jahr 1979 wird dieser      zu treten, die Welt auch aus der Sicht anderer zu betrachten
     erweitert und geht nun an alle Haushalte. Beigelegt wird     und auf der Basis verschiedener Betrachtungsweisen
     der Kindermeter. Die Botschaft Am Wohlergehen der Kinder     innerhalb der globalen Gesellschaft Urteile zu bilden.
     Mass nehmen verdeutlicht die Kernarbeit des Kinder-
     hilfswerks. 1980 folgt eine Weltkarte nach der Peters-
20   Projektion, die von der üblichen Mercator-Projektion
Unermüdliche                                                                                   Spritzen. Und trotzdem: Als Afrikanerin
                                                                                               habe ich vielleicht dank dieser Impfungen
Botschafter                                                                                    überlebt. Mit meinem Engagement als
Sie verschenken ihren Namen, ihre Zeit                                                         Botschafterin kann ich etwas zurückge-
und ihre Überzeugungskraft: die Sonder-                                                        ben, nicht nur meinem Heimatland, son-
botschafter, die für UNICEF rund um die                                                        dern dem gesamten Kontinent.» Dabei
Welt reisen, Vorträge halten, Interviews                                                       kann sie sich auf ihre Überzeugungskraft
geben und Veranstaltungen organisieren.                                                        verlassen, die ansteckend ist – sei es in
Man verehrte sie, man bewundert sie:                                                           Sachen Kinderfragen, im Kampf gegen
                                                                                               Polio oder gegen die Mädchenbeschnei-
                                                                                               dung. Ein besonderes Anliegen ist ihr die
                                               mich automatisch mit den Vereinten              Bildung von Mädchen: «Die Bildung
                                               Nationen verbunden», sagte Ustinov              junger Menschen ist der Schlüssel zur
                                               einmal: sein Vater war halb Russe und           Entwicklung.» Gerade beim Anblick der
                                               halb Deutscher, seine Mutter halb Russin,       Kinder Afrikas scheint der Sängerin,
                                               ein Viertel Französin und ein Viertel Italie-   «dass alle Träume Wirklichkeit werden
                                               nerin. Und mit ebensolchem Stolz ver-           können».
                                               kündete er, es sei in seinem Leben ein
                                               grosses Glück gewesen, in viele Rolle zu
                                               schlüpfen zu können; eine der befriedi-
Audrey Hepburn (1929–1993) spielte sich        gendsten sei gewesen, für die Anliegen
mit Charme und ihrer Schönheit in die          der Kinder rund um die Welt zu reisen.
Herzen unzähliger Menschen. Mit eben-
solcher Hingabe setzte sie sich für UNICEF
ein und schenkte der Organisation ihre
letzten Lebensjahre. Sie war die erste Frau,
die nach ihrer Ernennung 1988 als Sonder-
botschafterin für UNICEF unterwegs war.
Bis kurz vor ihrem Tod besuchte sie zahl-                                                      Auch in der Schweiz kann UNICEF auf
reiche Länder Afrikas, Südamerikas und                                                         Prominente mit einem grossen Herzen
Asiens, hielt nach ihrer Rückkehr Vorträge,                                                    für die Anliegen von Kindern zählen:
nahm an Wohltätigkeitsveranstaltungen                                                          etwa auf Kurt Aeschbacher (*1948). Der
teil, gab Interviews – mitunter mehr als ein                                                   Fernsehmoderator wurde 2004 zum ers-
Dutzend pro Tag, selbst als sie vom Krebs      Zu den Sonderbotschaftern zählt auch            ten UNICEF Botschafter für die Schweiz
bereits gezeichnet war. «Audrey Hepburn        eine Schar junger Prominente, wie etwa          und setzt sich seither für die Anliegen
machte eine zweite grosse Karriere als         seit 2002 Angélique Kidjo (*1960). Die          der   Jüngsten   der     Gesellschaft   ein.
UNICEF Botschafterin», sagte ihr Schau-        Sängerin aus Benin setzt sich seit Jahren       Aeschbacher nimmt an Projektreisen teil,
spielkollege Roger Moore einmal.               für Menschenrechtsfragen ein und nutzt          spendet regelmässig seine Gage an              21

Zur Sonderbotschafter-Crew der ersten          Konzerte regelmässig als Plattform für ihre     UNICEF,    organisiert    und   moderiert
Stunde zählte auch Sir Peter Ustinov           Anliegen. Ihre frühesten Erinnerungen an        Anlässe wie die «Sternenwoche» und
(1921–2004). Seine Ausstrahlung und            UNICEF sind indes nicht nur positiv; sie        unterstützt Kampagnen. Er ist überzeugt:
sein Humor liessen ihn überall zum Mittel-     stehen in Zusammenhang mit Nadelsti-            «Sich für Kinder einzusetzen, heisst,
punkt werden. Der Schauspieler, Regisseur,     chen: mit den Impfungen, die UNICEF in          allen Menschen eine bessere Zukunft zu
Produzent und Drehbuchautor wirkte bei         Benin durchführte. «Meine Mutter musste         geben.»
über 80 Filmen mit und wurde zweimal           mich immer regelrecht hinschleppen.
mit einem Oskar ausgezeichnet. «Ich fühle      Noch heute habe ich eine Höllenangst vor
1971 – 1980

     1971                                               1975                                                1979
     An einem internationalen Zeichenwettbewerb         UNICEF Schweiz beteiligt sich aus Anlass des        Es ist das Internationale Jahr des Kindes (IJK).
     für Kinder bis zu 15 Jahren zum Thema Freund-      Jahres der Frau am Frauenkongress in Bern und       UNICEF Schweiz ist Mitglied der schweizeri-
     schaft nehmen auch Schweizer Kinder teil. Am       an der Sonderausstellung der Frauen an der          schen Kommission für das IJK und leitet deren
     Comptoir Suisse in Lausanne finden eine Aus-       MUBA. Unter dem Thema Entwicklung für und           Sekretariat. 90 Solidaritätsprojekte für Kinder
     stellung und eine vom Fernsehen übertragene        mit Frauen wird die Bedeutung der Frau für die      in der Schweiz erhalten Beiträge von annähernd
     internationale UNICEF Gala statt.                  Entwicklung der ganzen Gesellschaft dargestellt.    600 000 Franken. Für 14 Solidaritätsprojekte
     1972                                               UNICEF Schweiz beginnt mit dem Aufbau des           zugunsten der Kinder einer Welt werden 1,3 Mil-
     Die Spendenaufrufe gelten den Flüchtlingen         Informationszentrums Quipu. Lehrer/-innen sollen    lionen Franken bereitgestellt. Höhepunkt ist die
     des gerade beendeten Bangladesch-Krieges.          zu Fragen der Erziehung zur Entwicklung sensi-      1.-August-Feier im Puschlav mit Schülern/-innen
     Die Spendensammlung ergibt 385 727 Franken.        bilisiert und beraten werden.                       aus allen Kantonen.
     1973                                               1976                                                1980
     Durch die Ölkrise wird der 1973 publizierte und    Der erste gemeinsame Spendenaufruf mit der          UNICEF Schweiz nimmt an der Didacta, der
     international anerkannte Bericht des Club of       Glückskette wird lanciert. UNICEF Schweiz           nationalen Messe für die Lehrer/-innen, teil und
     Rome mit dem Titel Grenzen des Wachstums           erhält 260 000 Franken für Wasserprojekte in        veröffentlicht einen Katalog mit Besprechun-
     von der Wirklichkeit eingeholt. Die Stimmung       Afrika.                                             gen von rund 70 Publikationen, die sich für den
     im Lande ist geprägt von Zukunftsängsten. Das      Ein Versand an 65 000 Haushalte stellt den Beginn   Schulunterricht zum Thema Schule für eine
     Friedensabkommen in Vietnam vermag diesen          der breit angelegten, direkten Spendenaufrufe       Welt eignen.
     wenig entgegenzusetzen. Die Erwartung, dass        durch Briefe an die Spender/-innen dar.             Die entwicklungspolitischen Umwälzungen sind
     die Sorge um die Zukunft sich in Solidarität für   Im Seedamm-Zentrum in Pfäffikon präsentiert         Stoff für die Information an Spender/-innen.
     den Wiederaufbau wandeln würde, erfüllte sich      UNICEF Schweiz die Ausstellung UNICEF hilft         Unter dem Titel Neue Dimensionen – gerechte
     nicht. Der Nahe Osten bleibt ein Anziehungs-       Kindern.                                            Verhältnisse nutzt UNICEF Schweiz eine Welt-
     punkt für die Medien.                              1977                                                karte mit der Peters-Projektion.
     1974                                               Eine weitere grosse Ausstellung zeigt UNICEF
     Dr. Hans Conzett wird zum Präsidenten des          Schweiz im Jahr darauf an der KID 77 in Lau-
     UNICEF Verwaltungsrates gewählt; er wird die       sanne. Unter dem Titel Wir haben nur eine Welt
     folgenden drei Jahre dem höchsten Organ der        soll sie Kindern die weltweiten Abhängigkeiten
     Organisation vorstehen.                            aufzeigen. UNICEF Schweiz veröffentlicht die
     In Zürich wird das erste in Zusammenarbeit mit     Publikation zu den Grundsätzen der Erziehung
22   René Gardi und Fred Bauer entwickelte Bastel-      zur Entwicklung.
     spiel, Bauen und Wohnen in Westafrika, heraus-     Die Stadt Biel willigt in ein Arbeitslosenprojekt
     gebracht.                                          ein, das die Führung des UNICEF Kartenlagers
                                                        und die Abwicklung des Grusskartenversands
                                                        übernimmt. UNICEF Schweiz baut die Freiwil-
                                                        ligenarbeit ab.
1981 – 1990
Vermeidbares vermeiden                                      rung von Fehl- oder Unterernährung), Oral Rehydration
Mit Anbrechen der 1980er Jahre kühlt sich die Weltwirt-     (orale Rehydratation gegen Durchfallerkrankungen),
schaft ab. Das Wachstum bricht ein, die Arbeitslosenzah-    Breastfeeding (Stillen) und Immunization (Impfen). Für
len in den Industrieländern steigen. Die Folgen für die     sich allein können diese Massnahmen nicht alle Probleme
Entwicklungs- und Schwellenländer sind schwerwie-           der hohen Kindersterblichkeit und der Kinderkrankheiten
gend. Sie haben enorme Schulden angehäuft und müssen        lösen, als Paket aber können sie entscheidend dazu bei-
mit den Auflagen der Geberländer fertig werden. 1982        tragen. FFF steht für Familienplanung, Abgabe von
stellt Mexiko die Rückzahlung seiner Auslandschuld ein      Zusatznahrung an schlecht ernährte Kinder und stillende
und löst eine Schuldenkrise aus. Viele afrikanische und     Mütter sowie die Förderung der Alphabetisierung der
lateinamerikanische Länder rutschen mit in die Krise.       Frauen. Mit der Revolution für das Überleben der Kinder
Die Weltbank gewährte Kredite unter der Voraussetzung       rücken die Mütter ins Zentrum. UNICEF wehrt sich, zu
der Zustimmung zu Strukturanpassungsprogrammen. Die         stark in Frauenfragen eingebunden zu werden, obwohl in
Auswirkungen auf die Kinder sind gross. 1987 veröffent-
licht UNICEF die Studie Anpassung mit einem menschli-
chen Gesicht. Sie zeigt auf, dass Politiker/-innen und
Bürokraten bei der Durchführung von Anpassungsme-
chanismen gleichzeitig die Schwächsten und Verletz-
lichsten der Gesellschaft durch gezielte Massnahmen
schützen müssen. Wirtschaftsprogramme von Ländern
müssen Sicherheitsnetze für Kinder berücksichtigen, so
die Studie.

GOBI-FFF
1982 lanciert UNICEF Direktor James Grant die Revo-
lution für das Überleben der Kinder, die vier kostengüns-
tigen und zugleich äusserst wirksamen Techniken und
                                                            Mit der Initiative GOBI FFF sichert UNICEF das Überleben von
Methoden umfasst – mit dem Namen GOBI-FFF für
                                                            Kindern. Wachstumskontrolle, Oral Rehydratation, Stillen und Impfen
Growth Monitoring (Wachstumskontrolle zur Verhinde-         sind dabei Kernprogramme.                                             25
Müssen wir beunruhigt sein angesichts       «UNICEF kann am meisten                          verfügen über Alternativen zur alleinigen
     des Anwachsens der Weltbevölkerung?         am gesunden Fundament                            Rolle als Mutter und Ehefrau, haben ein
     Mich beunruhigt nicht nur das Bevölke-      der Gesellschaft bewirken,                       höheres Einkommen und dadurch auch
     rungswachstum in verschiedenen Regio-                                                        eine grössere familieninterne Verhand-
                                                 bei den Kindern»
     nen der Welt, sondern vor allem auch die                                                     lungsmacht. Geld, das Frauen verdienen,
     Frage, an welche anderen Belastungs-                                                         fliesst zu 90 Prozent ins Wohl der Familie.
     grenzen unsere Erdengemeinschaft stösst:                                                     Das ist bei Geld, das die Männer verdienen,
     Können nachfolgende Generationen mit                                                         längst nicht so. Wo Frauen mehr wissen,
     den Ressourcen, die ihnen in der Zukunft                                                     ist der Geburtenabstand grösser und die
     zur Verfügung stehen, noch auf eine wür-                                                     Gesundheit der Kinder besser. Das ist
     dige Art und Weise leben? Beunruhigend                                                       eine Investition, deren Ertrag eine grosse
     ist für mich schon, dass das Thema Be -                                                      Breitenwirkung hat.
     völkerungswachstum weitgehend aus der                                                        Welche Rolle kann UNICEF in diesem
     öffentlichen Diskussion verschwunden                                                         Prozess spielen?
     ist – aber vieles, was Menschen in Indus-                                                    Als grösstes Kinderhilfswerk weltweit
     trieländern bei ihrem Ressourcenver-                                                         kann UNICEF am meisten am gesunden
     brauch für «normal» halten, ist auch        Schaffung menschenwürdiger Lebens-               Fundament der Gesellschaft bewirken.
     nicht zukunftsfähig.                        bedingungen.                                     Es gibt keine Organisation, die in dieser
     Worauf müsste aus entwicklungspoliti-       Ja, wobei ich das nicht als ein Entweder-        Beziehung mehr bewirken kann. Niemand
     scher Perspektive für in Armut lebende      oder betrachte, sondern als ein «Und-            anderes versteht sich derart als Anwalt der
     Menschen das grösste Augenmerk              und». Zunächst einmal: Menschen überall          Kinder und strahlt zugleich eine so grosse
     gelegt werden?                              auf der Welt möchten nicht in erster Linie       Glaubwürdigkeit aus. Die Organisation
     Darauf, nachhaltig die Grundbedürfnisse     «geborene Babys», sondern «überlebende           hat einen makellosen Ruf und verfügt
     zu befriedigen – und zwar ohne Unter-       Nachkommen». Erst also, wenn die Kinder-         über einen enormen Leistungsausweis.
     brüche und durchgängig für alle Kinder,     sterblichkeit gesunken ist, werden Eltern        Was wünschen Sie UNICEF Schweiz
     Frauen und Männer. Das bedeutet nicht       für familienpolitische Themen ansprech-          zum runden Geburtstag?
     nur ausreichende und gesunde Ernährung,     bar. Dann aber gibt es viele Frauen, die         Ich wünsche ihr, dass sie für alle Projekte,
     Zugang zu sauberem Wasser, menschen-        keine Kinder mehr wollen oder noch nicht         die sie aus der Problemanalyse für lösbar
     würdige sanitäre Grundbedingungen,          schwanger werden möchten. Ihnen müs-             hält, die nötigen Ressourcen zusammen-
     sondern vor allem auch Ausbildung. Nur      sen empfängnisverhütende Mittel und              bringt. Denn es gibt nichts Zermürben-
     wenn die Grundbedürfnisse der Menschen      Methoden zugänglich sein und sie müs-            deres, als wenn es an den Finanzen fehlt.
     gedeckt sind, sind Menschen auf bevöl-      sen wissen, wie diese zu gebrauchen              Wenn man sich vor Augen führt, welche
     kerungspolitische Themen ansprechbar.       sind. Und dafür braucht es Ressourcen.           Mittel in die vermeintliche Abwehr der
     So lautet auch die Kernaussage in Ihren     Wie wichtig ist in diesem Prozess die            Finanzkrise gesteckt wurden, dann handelt
     Publikationen: Um die Überbevölkerung       Besserstellung der Frau?                         es sich um einen Bruchteil der Beträge.
     einzudämmen, muss der Fokus nicht in        Sie ist der wichtigste zentrale entwick-         Und nachhaltiger wäre die Investition
     erster Linie aufs Senken der Geburten-      lungspolitische Indikator überhaupt. Bes-        ohnehin. Denn wir investieren in Kinder,
26   zahlen gelegt werden, sondern auf die       ser ausgebildete Frauen heiraten später,         also in unsere Zukunft.

                                                              Klaus M. Leisinger
                                         (*1947), Professor für Entwicklungssoziologie Universität Basel,
                                   Präsident und Geschäftsführer Novartis Stiftung für nachhaltige Entwicklung,
                                         Autor des in Zusammenarbeit mit UNICEF entstandenen Buches
                                   «Hoffnung als Prinzip – Bevölkerungswachstum: Einblicke und Ausblicke».
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