Kultur Korea - Koreanisches Kulturzentrum
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Kultur Korea 한국문화 Ausgabe 2/2011 SPEZIAL: FREIZEITGESTALTUNG AUF KOREANISCH Drei Länder, sieben Städte, maximal zehn Tage… Endlich einmal Braut sein. Über den Besuch in einem Dress-Café in Seoul „Taekwondo? Kommt das nicht aus Thailand?“ – Ergebnisse einer Passantenbefragung
Titelbild: Nils Clauss Schwimmbad am Han-Fluss in Seoul Weitere Fotografien von Nils Clauss finden Sie in der Rubrik „Extrawelt”. Nils Clauss, geboren 1976, lebt und arbeitet seit Ende 2005 als Fotograf und Filmemacher in Seoul. Urbaner Raum und Archi- tektur sind seine wesentlichen Foto: privat Themenschwerpunkte. Kontakt und weitere Infos unter: www.nilsclauss.com
EDITORIAL Womit verbringen die Koreaner ihre freie Zeit am liebsten? Wie hat sich die Einführung der Fünf- Tage-Woche in Korea auf die Freizeitgestaltung ausgewirkt? Warum müssen Sonnenbäder und Hautaufhellung kein Widerspruch sein, und was macht eine koreanische Chorleiterin beim Bundes- präsidenten? Das vorliegende Heft ist das Ergebnis unserer vielfältigen Bemühungen, auf diese und andere Fragen Antworten zu finden, und es liefert einen bunten Querschnitt durch die koreanische Frei- zeitkultur. Wir berichten über die Wanderbegeisterung der Koreaner, die koreanische „Bang-Kultur“ (방, Bang: Raum),1 eine Generalprobe für potenzielle Bräute in einem Kostüm-Café, die Sinnsuche in Tempeln und Kirchen, die Liebe der Koreaner zu ihren TV- Serien und –Shows, den Stellenwert von Fußball und Taekwondo, das Wohnzimmer als Lebensmit- telpunkt der Familie, die koreanischen Reisege- pflogenheiten, die Stars der Baduk-Szene (바둑: koreanisches Brettspiel) und die interessantesten Ausgehviertel in Seoul. Erlaubt das Titelbild bereits einen Rückschluss auf die Freizeitkultur? - Ein Freibad ohne Badende an einem Sonnentag im Schatten omnipräsenter Schirmstaffeln… Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen! Die Mitarbeiter des Koreanischen Kulturzentrums 1 Die Bang-Kultur umfasst verschiedenste Arten der Freizeitgestaltung, die in einem eigens dafür vorgese- henen Raum ausgeübt werden: z.B. Noraebang (노래방, Karaokeraum), DVD-Bang (Raum zum Ansehen von DVDs), Manhwa-Bang (만화방, Raum zum Ansehen von Comics). Foto: Malte E. Kollenberg Noraebang (Karaokeraum) 1
INHALT 1 EDITORIAL 2 INHALT FREIZEITKULTUR 4 VON RÄUMEN, NETZEN,WENIG SCHLAF UND SCHÖNEN MENSCHEN von Malte E. Kollenberg 6 BADUK - DER REIZ UND DIE VIELSEITIGKEIT EINES BRETTSPIELS von Daniela Trinks 9 BLOß NICHT ZU HAUSE von Nicole Schmidt 12 AB IN DEN NORAEBANG! von Franziska Schaar 14 DREI LÄNDER, SIEBEN STÄDTE, MAXIMAL ZEHN TAGE von Malte E. Kollenberg 16 KOREANISCHE CHORKULTUR von Hongza Dörge 18 DAS NÄCHTLICHE SEOUL von Julia Kulewatz SPORT UND GESUNDHEIT 20 WANDERBLÜTEN von Anne Schneppen 22 TAEKWONDO: KÖRPERTRAINING, KONZENTRATION UND BEHARRLICHKEIT von Meister Rak Sun Pyo 24 „DIE FUßBALLER DER NATIONALMANNSCHAFT WERDEN VERGÖTTERT WIE POPSTARS “, Interview mit Marco Pezzaiuoli von Dr. Stefanie Grote 26 YOGA UND WELLNESS IN KOREA von Seohee Jang KALEIDOSKOP 28 ARBEITSALLTAG IN KOREA UND DEUTSCHLAND GESTERN UND HEUTE. UND MORGEN? von Dr. Stefanie Grote 30 „WIR WAREN DREI WOCHEN AUF TENERIFFA, ABER KEINE SEKUNDE AM STRAND“, Interview mit Sohyun Sung und Michael Vrzal von Dr. Stefanie Grote 33 „TAEKWONDO? KOMMT DAS NICHT AUS THAILAND?“ von Dr. Stefanie Grote 35 ENDLICH EINMAL BRAUT SEIN von Franziska Schaar 36 DIE SHINSEGAE ACADEMY IN SEOUL, Interview mit der Leiterin Ja-yeong Kim von Gesine Stoyke SINN 38 BUDDHISTISCHER GLAUBE IM ALLTAG - AUS DEM LEBEN VON HANSOOK CHO von Gesine Stoyke 40 EIN KLEINER EINBLICK IN DAS GEMEINDELEBEN KOREANISCHER KIRCHEN von Anna und Hans-Jürgen Rihlmann 2 Foto: Anne Schneppen
41 SINNSUCHE IM TEMPEL von Miran Kwak 43 NADEULGIL - BEDACHTSAMES GEHEN AUF DER INSEL GANGHWA von Sung-Ki Oh MEDIENKULTUR 46 KOREANER LIEBEN IHRE FILME von Juyeon Han 48 DAS LESEVERHALTEN DER KOREANER IN IHRER FREIZEIT von Dr. des. Yeon Jeong Gu 49 LESEPROBE Jo Kyung Ran: „Feine Kost“ 50 FANDOM ALS FREIZEITBESCHÄFTIGUNG von Theresa Maria Loske 52 AUS DER KOREANISCHEN FERNSEHWELT, Interview mit Hyomi Ahn von Gesine Stoyke 54 WEBTOONS AUS KOREA von Gesine Stoyke PORTRÄT 58 HODORI - PORTRÄT EINES KOREANISCHEN KÜNSTLERS von j.g. 60 HONGZA DÖRGE UND IHR CHOR DOKOREA von Gesine Stoyke EXTRAWELT 62 REPUBLIK KOREA Fotografien von Nils Clauss KOREA IM ALLTAG 66 REZEPT - Bulgogi (Koreanisches Barbecue) 67 KOREANISCHER SPRACHFÜHRER VERANSTALTUNGEN KOREANISCHES KULTURZENTRUM - RÜCKBLICK/ VORSCHAU 68 THE SINAWI - Schamanistische Klänge in Berlin von Esther Klung 70 AUSSTELLUNGEN 71 KONZERTREIHE „EXPLOSION DER GEFÜHLE“ 72 KURSE 73 BUNDESWEITE VERANSTALTUNGEN APRIL - JUNI 2011 76 IMPRESSUM Wanderweg in der Umgebung von Seoul 3
FREIZEITKULTUR VON RÄUMEN, NETZEN,WENIG SCHLAF UND SCHÖNEN MENSCHEN Freizeitgestaltung in Südkorea Von Malte E. Kollenberg Baseball auf den Dächern von Seoul F reizeit ist ein kostbares Gut in Südkorea. Denn Freizeit Verglichen mit Ländern wie Deutschland oder Finnland gibt es nicht so viel. Wer um neun Uhr im Büro anfängt, haben Koreaner weniger Freizeit und arbeiten mehr. Die hat nicht um fünf Uhr Feierabend. Es ist keine Selten- wenige Freizeit wird jedoch intensiv genutzt, muss aber heit, dass ein Angestellter die Firma um 19.00 Uhr, 20.00 Uhr der Lebenswirklichkeit in einer Stadt wie Seoul angepasst oder 21.00 Uhr verlässt. Die knappe Freizeit ist jedoch nicht werden. Viel Verkehr und Stau machen schon eine wenige allein ein Phänomen des koreanischen Arbeitslebens. Auch Kilometer kurze Strecke zu einem zeitaufwendigen Ausflug. Schüler und Studenten haben so straff durchorganisierte Da findet Freizeit am besten um die Ecke statt. Auch die Tage, dass sie für sich selbst nicht viel Zeit übrig haben. persönliche Wohnsituation bestimmt dabei die Freizeitge- staltung. Zum einen ist es weit weniger üblich, dass Freunde Geht es um Freizeit und Zeit für Beschäftigungen neben mit nach Hause genommen werden, zum anderen sind die Beruf und Studium, rangiert Korea in einer OECD-Studie aus Wohnungen durchschnittlich kleiner und bieten weniger dem Jahr 2009 im Vergleich mit 17 weiteren OECD-Ländern Platz. Verglichen mit Deutschland hat das Treffen mit Freun- durchgehend am unteren Ende. Ein Blick auf die Schlafge- den in Korea trotzdem einen wesentlich höheren Stellen- wohnheiten zeigt zum Beispiel: In Korea wird statistisch wert. Statistisch verbringt ein Koreaner 16 Prozent seiner im Durchschnitt weniger geschlafen als in allen anderen freien Zeit damit, Freunde zu treffen oder zu besuchen. Ländern. Die Deutschen schlafen durchschnittlich etwa 20 Minuten länger als die Koreaner, Franzosen sogar rund eine Stunde. 4
Omnipräsent sind Karaokeräume, die Nora- Betrachters, aber folgt man der Statistik, ebangs (노래방), im Stadtbild Seouls. Und hat das Betrachterauge in Südkorea einen deren Beliebtheit zieht sich durch jegliche Einheitsgeschmack. Helle Haut, große Augen Altersschichten und gesellschaftlichen und eine möglichst westlich aussehende Stellungen. Überhaupt ist die ganze Stadt Nase gelten als schön. Sonnenstudios, wie es gepflastert mit „Bangs“ [방, Raum/Zimmer] sie in Deutschland an jeder Ecke gibt, sucht zur Freizeitgestaltung. Wer sich in Korea eine man in Seoul vergeblich. Zwar verstecken DVD anschauen möchte, braucht sich um sich hier und da mal ein paar Sonnenbänke, den heimischen Fernseher und die eigene aber Mainstream ist der braune Teint nicht. Tonanlage keine Gedanken zu machen. Doch auch dem Gegenteil kann künstlich Dafür gibt es ein paar Hundert Meter von nachgeholfen werden. Sobald die ersten der eigenen Wohnung entfernt einen DVD- Sonnenstrahlen herauskommen, wird mehr Bang (DVD-방). Ausgestattet mit einem und mehr auf den Schutz vor selbiger ge- gigantischen Flachbildfernseher und einer achtet. Regenschirme eignen sich schließlich Surround-Sound-Anlage bieten diese kleinen auch perfekt zum Schutz vor Sonne. Und Zimmer nochmal ein ganz anderes Filmer- um der ungewollten Hauttönung direkt ein lebnis als ein Kinobesuch. Selbst wer mit Schnippchen zu schlagen, wird Sonnen- dem halben Freundeskreis einen DVD- und creme bereits mit beigemischtem Hautauf- Fernsehabend plant, braucht nicht zu Hause heller verkauft. Auch in Männerpflegepro- zu bleiben. DVD-Bangs gibt es für zwei bis dukte sind die aufhellenden Zutaten bereits weit über zehn Personen. integriert. Kombiniert mit Lichtschutzfaktor 35 Minimum kommt garantiert niemand, der Mit dem Erfolg der Spielekonsole Wii ist es nicht unbedingt möchte, gut gebräunt noch ein weiterer Raum hinzugekommen. aus dem Urlaub zurück. Mittlerweile haben sich aus der Kombination sämtlich möglicher Aktivitäten ganze Enter- Dass die beste Freundin sich nach den tainment-Zimmer, so genannte Multibangs Semesterferien dennoch äußerlich verän- (멀티방), entwickelt. Ob Multi hier auf die dert hat, ist keinesfalls abwegig. Ein Besuch Multifunktionalität oder auf das Multimedia- in einer Schönheitsklinik ist in Korea nichts Foto: Malte E. Kollenberg erlebnis hindeuten soll, kann dahingestellt Außergewöhnliches, vor allem nicht bei bleiben. Singen, DVD gucken oder Konsole angehenden Studentinnen. Um das Selbst- spielen, alles kann am selben Ort erledigt bewusstsein zu steigern, wird dem Schön- werden - in einem Zimmer, das an eine Gum- heitsideal auch mal künstlich nachgeholfen. mizelle erinnert, weil Fußboden und Wände Nicht nur Studentinnen, selbst High-School- gepolstert sind und so den gesamten Raum Schüler und neuerdings auch Mittelschüler praktisch zu einem einzigen Sofa machen. werden zu einer begehrten Zielgruppe der Kliniken. Einer Umfrage der Stadt Seoul zu- Doch auch echte Outdoor-Aktivitäten haben folge, würden sich 41,4 Prozent der Jugendli- den urbanen Raum erobert. Wer mit dem chen unter 20 Jahren unter das Messer legen, Taxi oder dem Auto eine halbe Stunde um dem eigenen Aussehen nachzuhelfen. durch Seoul fährt, stellt nach kurzer Zeit fest: Ein Wert, der zehn Prozentpunkte höher als Zwischen den Hochhäusern der Hauptstadt der in der Altersgruppe zwischen 20 und 30 spannen sich grüne Netze wie ein roter Jahren ist. Verglichen mit über 40-Jährigen Foto: privat Faden. Golf- und Baseballabschlagplätze sogar fast 30 Prozentpunkte höher. Ohne zu zwischen spiegelnden Hochhausfassaden. übertreiben, kann man sagen: Alles, was mit In einer Stadt wie Seoul, mit zwölf Millionen der Verschönerung des eigenen Körpers zu Einwohnern auf gut 600 Quadratkilometern, tun hat, ist in Korea auch eine immer populä- ist vor allem in die Höhe gebaut worden. rer werdende Freizeitbeschäftigung. Malte E. Kollenberg, Platz für einen großflächigen Abschlagplatz? aufgewachsen in Bonn Fehlanzeige! Also werden sportliche Aktivitä- und Gummersbach, hat ten entweder elektronisch ins Untergeschoss in Bamberg und Seoul oder aufs Hochhausdach samt Sicherungs- Politik- und Kommu- netz verlegt. nikationswissenschaft studiert. 2007 hat er zusammen mit einem Für viele junge Koreaner, meist junge Frauen, Partner das Journalisten- nimmt die Beschäftigung mit dem eigenen büro KOLLENBECKER Aussehen einen ganz entscheidenden Teil ih- gegründet. Jetzt lebt und rer Freizeit ein. Schönheit wird großgeschrie- arbeitet er als Korres- ben. Zwar liegt die bekanntlich im Auge des pondent in Seoul. 5
FREIZEITKULTUR BADUK (바둑 棋) - DER REIZ UND DIE VIELSEITIGKEIT EINES BRETTSPIELS Von Daniela Trinks Baduk im Jjimjilbang (찜질방, koreanische Sauna) Foto: Daniela Trinks 6
„Noch eine Partie” be- in den öffentlichen Fernsehkanälen (MBC, KBS, EBS) zu sehen. Die Spiele werden kommentiert über- schlossen die Badukspieler. tragen – live oder zeitversetzt, um dem Zuschauer Das war gestern. die langen Bedenkzeiten (bis zu drei Stunden pro Spieler) zu verkürzen. Liebe und Leidenschaft zu einem Brettspiel waren der Grund, dass ich vor fünf Jahren nach Korea ging Neben dem Fernsehen wurde auch das Internet und bis heute dort lebe. In einer Stadt wie Yongin ein wichtiges Medium für die Baduk-Liebhaber, denn dort können Profipartien live verfolgt, mit Foto: privat (800.000 Einwohner) fällt man als nichtasiatische Ausländerin auf, in der Baduk-Welt, die zu 80-90% virtuellem Geld gewettet (wer gewinnt?) und vor männlich ist, umso mehr. Das Interesse an solch allem jederzeit selbst gespielt werden. Internetpro- einer „Spezies“ ist groß und war für mich durch- gramme versorgen die Badukspieler Tag und Nacht aus auch gewöhnungsbedürftig. Selbst Bus- oder online mit Spielpartnern - bequem am Computer zu Daniela Trinks wurde 1977 in Berlin geboren. Seit 1989 Taxifahrer, Toastverkäuferin oder Sauna-Besucherin Hause. Für viele ist natürlich die richtige Begegnung spielt sie Baduk, und seit erkundigen sich häufig nach Alter, Herkunft, Fami- am Baduk-Brett wichtig, denn neben der geistigen 1995 unterrichtet sie das lienstand und Beschäftigung. Oft erwarten sie die Herausforderung gilt es auch, Beziehungen zu Spiel. Anwort „Englischlehrerin“, wie von den meisten Aus- pflegen. Doch wer öfter als auf den regelmäßigen 2006 nahm sie ein Studium ländern. „Baduk-Studium“ ist überraschend, aber Freundschaftstreffen oder im Baduk-Klub spielen der Baduk-Wissenschaften jeder kennt Baduk aus den Medien, in Deutschland möchte, kann dies jederzeit im Internet tun. Dort in Korea auf. Ihre Masterar- mit dem allgemeinen Wissen über Schach gut werden auch die jüngsten Neuigkeiten aus der beit über Badukausbildung koreanischen und internationalen Baduk-Szene und vergleichbar. für Kinder in Korea und Veranstaltungstermine veröffentlicht. Der eigent- Deutschland schloss sie Baduk (바둑 棋), in Ländern außerhalb Ostasiens liche Ansporn besteht ja darin, sich auf Baduk- 2010 ab. Mail: daniela.trinks@gmx.de „Go“ genannt, ist seit langem in Korea bekannt, eini- Turnieren mit anderen zu messen. In der Welt des ge Legenden und Aufzeichnungen stammen aus “Höher, Schneller, Weiter” gilt es auch im Baduk, der Zeit des Joseon-Reiches (1392 - 1910). Damals in Wettkämpfen zu zeigen, was man kann, und so wurde Baduk als eine der Vier Großen Künste (금기 versammeln sich mehrere hundert bis tausend 서화, geumgi seohwa) der Aristokratie angesehen, Amateure jeden Alters in einer Sporthalle zum zusammen mit Musik, Schreibkunst (Kalligrafie und geistigen Kräftemessen. Dichtkunst) und Malerei. Baduk war zu der Zeit nur der oberen sozialen Schicht vorbehalten. Seit der “Tagsüber bin ich in der Firma, und am Abend Industrialisierung Koreas ab den frühen 1960er spiele ich Baduk, um den Stress abzubauen“ - so der Jahren genießen die Menschen mehr Freizeit, und Geschäftsmann Herr Baek (65). Vor 35 Jahren hatte somit war auch dem Baduk der Weg in alle Bevölke- er begonnen, Baduk zu fördern. Damals musste das rungsschichten geebnet. niedrige Gehalt sparsam verwendet werden. Doch um seine Baduk-Treffen zu organisieren, scheute 1945 - der Krieg mit Japan war beendet und Korea Herr Baek weder Kosten noch Mühen, sogar Pro- lag in Trümmern - hatte Herr Cho Nam-chul (조 fispieler aus der entfernten Großstadt wurden für 남철) den folgenden Gedanken: “Warum sind wir bezahlte Lehrstunden eingeladen. ärmer als Japan? Das liegt daran, dass wir keine Spezialisten in den einzelnen Industrien haben. Wenn sich Baduk-Spieler kennenlernen, verbindet Also entschied ich mich, ein Baduk-Spezialist zu sie ein lebenslanges Band. Herr Baek hat zahlreiche sein. Andererseits, braucht unser zerstörtes Land Beziehungen in der Baduk-Welt aufgebaut. Mit vie- wirklich Baduk beim Wiederaufbau? Aber ich war len Baduk-Spielern pflegt er enge Freundschaften, mir sicher: Baduk ist eine Freizeitbeschäftigung und er liebt es ebenso, neue Kontakte zu knüpfen, und der Mensch kann nicht 24 Stunden am Tag nur so dass er sich seit einigen Jahren ausschließlich arbeiten.“1 seinem Geschäft und seinem Hobby Baduk widmet. Herr Cho, der aufgrund seines unermüdlichen Gleich nach der Arbeit macht er sich auf den Weg Engagements „Pionier und Vater des koreanischen zum Baduk-Klub (koreanische Bezeichnung: 기원, Baduk” genannt wird, gründete bereits 1945 einen Kiwon), um dort seine Freizeit zu genießen. „Das ist koreanischen Baduk-Verband und erschuf das pro- das Schöne. Die Baduk-Spieler haben grundsätz- fessionelle System für Korea. lich ein reines Herz. Geschäftsleute sind brilliant im Rechnen, auch im sozialen Bereich rechnen sie Heute gibt es ca. 250 Profispieler in Korea. Zahl- heimlich exakt aus. In der Baduk-Gemeinschaft reiche Turniere sind für die Profis Lebensunterhalt kämpfen die Leute zwar auf dem Brett, aber (Spitzenspieler verdienen bis zu 632.000.000 KRW ansonsten sind sie warmherzig. Das mag ich ganz = 416.000 EUR im Jahr) und für die Anhänger eine besonders.“ Möglichkeit, die Spiele in den Magazinen, Tages- zeitungen und nicht zuletzt auch im Fernsehen Auch Herr Jang (40), Inhaber einer erfolgreichen zu verfolgen. Seit den 1990er Jahren gibt es zwei koreanischen Architekturfirma, hat vor einem Jahr Kabelsender, die sich rund um die Uhr nur mit ein neues Steckenpferd entdeckt: Baduk. Seitdem Baduk beschäftigen, davor war Baduk regelmäßig lernt er eifrig mit Hilfe von Übungsbüchern, die als 7
Lehrmaterial für Kinder in der Baduk-Schule dienen, in die voraussagen, wer mit wie vielen Medaillen nach Hause auch sein Sohn und seine Tochter gehen. gehen würde. Umso überraschender war es, dass Korea Herr Jang lädt gern zu einem Baduk-Treffen im Jimjilbang alle drei Goldmedaillen gewann. Doch jeder Wettkampf (찜질방) ein. Er liebt diese koreanischen Saunen, besucht war denkbar knapp, und die Chinesen haben sich erneut sie bis zu drei Mal pro Woche, immer gewappnet mit als ebenbürtige Gegner erwiesen. seinen Baduk-Büchern, um die körperliche Entspannung mit geistigem Training zu verbinden. Baduk hat also seine Grenzen als reine Freizeitbeschäfti- gung, als Spiel, längst überschritten, ist gleichermaßen Eine wissenschaftliche Studie hatte im letzten Jahr bewie- olympische Disziplin, Denksport, Unterrichtsmittel, um sen, was bisher schon als koreanischer Volksglaube galt: Geist und Charakter zu bilden, und Jahrtausende alte wer Baduk lernt, steigert seine intellektuellen Fähigkeiten. Kunst. So widmet sich der 1997 gegründete Fachbereich Und so schicken viele Eltern wie Herr Jang ihre Kinder „Baduk-Wissenschaften“ (바둑학과, Baduk Hakgwa) an in die Baduk-Schulen, wo sie täglich eine Stunde lernen. der Myongji-Universität nicht nur den rein spieltechni- Doch was Kinder „mit links“ aufnehmen, fällt Erwach- schen Aspekten, sondern z.B. auch der Erforschung und senen mitunter nicht ganz so leicht. Etwas Neues und Vermittlung von Baduk-Kultur, Baduk-Geschichte, Baduk- inbesondere so Vielseitiges zu lernen wie Baduk, braucht Unterrichtsmethoden, Baduk-Medien, Baduk-Marketing - seine Zeit. Doch Herr Jang gibt nicht auf, löst pro Tag 100 Grundwissen also für die Baduk-Berufe. An der Universität Übungsaufgaben, spielt im Internet viele Lehrpartien studieren überwiegend sehr starke Amateurspieler, die es und lässt auch kein wöchentliches Treffen des lokalen aufgrund des harten Wettbewerbs nicht geschafft haben, Baduk-Vereins aus, das er selbst finanziell und organisa- Profispieler zu werden. Jedoch sind auch einige Profispie- torisch unterstützt . Fällt das Vereinstreffen wegen eines ler unter den Studenten, da sie ihren Lebensunterhalt Feiertages aus, fehlt ihm etwas. Also begibt sich Herr nicht nur im Turniergeschäft verdienen wollen (und kön- Jang in einen Baduk-Klub. In diesen sogenannten Kiwons nen). Seit einigen Jahren sind auch Ausländer aus Europa, bezahlen die Besucher einen Tagesbeitrag von etwa 5.000 China, Thailand, Singapur, Brasilien und Kanada mit dabei, KRW (3 Euro) und können dort den ganzen Tag beliebig denn es gibt zurzeit weltweit nur diese einzige Universi- lange Baduk spielen. Diese Einrichtungen haben eine tät, die Baduk als akademisches Studienfach anbietet. sehr lange Tradition. Die Mehrzahl ihrer Besucher ist männlich und älter als 50 Jahre. Die Senioren kommen Ein freundlicher Bankangestellter fragte mich einmal : „In bereits am Nachmittag, die Werktätigen nach der Arbeit unserer Bankfiliale kommt Lee Changho (이창호) auch am Abend, um ihrem Hobby zu frönen. häufig vorbei, möchten Sie vielleicht ein Autogramm von ihm haben?“ Ich lächelte. Lee Changho ist im koreani- Einer Studie zufolge spielen ca. 20% der erwachse- schen Baduk das, was Franz Beckenbauer oder Uwe See- nen koreanischen Bevölkerung Baduk, also mehr als ler für den deutschen Fußball sind – ein Star, eine Ikone, 7,5 Millionen Menschen. 1992, kurz nach den ersten die noch lebt, aber schon als unsterbliche Legende gilt... internationalen koreanischen Erfolgen, waren es sogar 1 36% (16 Millionen). Damals wurde wahr, wovon Herr Cho http://english.dashn.com/history_baduk/memorials_03_06.htm geträumt hatte: Die Ära des koreanischen Triumphs über Japan begann. Bis dahin dominierte der koreanische Nachbar das Geschehen, und keiner zweifelte Japans in- ternationale Führung in der Baduk-Welt an. Doch plötzlich gewann ein Koreaner das erste interna- tionale Baduk-Turnier, und in Korea brach großer Jubel aus. Der Sieger Cho Hun-hyun (조훈현) wurde wie ein Nationalheld mit einer Autoparade in der Heimat begrüßt. Seitdem folgten viele wei- tere koreanische Siege, und die internationalen Errungenschaften brachten weltweite Beachtung. Nach fast 20 Jahren hat es nun China geschafft, den Koreanern ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die internationalen Titel zu liefern, und es ist schwer zu sagen, wer die Nummer 1 ist. Doch gerade dies macht es interessant für die Anhänger zu Hause, ihre Stars bei den Turnieren anzufeuern und die Partien zu verfolgen. Bei den Asiatischen Spielen 2010 in Guangzhou (China) war Baduk erstmals eine der Disziplinen, und kein Experte konnte Foto: Daniela Trinks 8 Kinder in einer Baduk-Schule
FREIZEITKULTUR Foto: Nicole Schmidt Fischmarkt in Sokcho BLOß NICHT ZU HAUSE Von Nicole Schmidt Koreaner lieben es, in ihrer Freizeit auszuschwärmen – Foto: privat zum Shoppen, Sightseeing, Essen, Saunieren und Meditieren Nackt sitzen sie in einem dampfenden Bassin. Es ihr Mann, ein Schiffsbauingenieur. Sie verbringen Nicole Schmidt hat ihre sind nur Frauen. Alte und junge gemeinsam. Ein am liebsten ihr Wochenende woanders als zu Hause Leidenschaft, das Reisen, weißes Handtüchlein liegt flach auf ihrem Kopf. Und - so wie fast alle koreanischen Familien, die sich das zum Beruf gemacht. Als jetzt? Erst zögere ich, ich bin die einzige Fremde. leisten können. Jetzt wird mir klar, warum westliche Reisejournalistin ist sie in Aber dann hocke ich mich einfach dazu. Sie lächeln. Touristen erstaunt sind über die meist total überfüll- der ganzen Welt unterwegs, schreibt unter anderem für Stetig fließt Wasser aus einer Öffnung in der Ecke. ten Sehenswürdigkeiten in Südkorea. „Wir kommen Brigitte, GEO Saison und die Es ist heiß, sehr heiß und dampft. Welch Wonnen in aus Ulsan, einer reinen Industriestadt. Da wollen wir Frankfurter Rundschau. Dort der Wanne! Bereits nach drei, vier Minuten beginnt einfach mal was anderes erleben.“ In Gyeongju, der lernte sie nach ihrem Diplom die Welt draußen zu zerfließen. Und ich mit. „Ist das Hauptstadt des alten Silla-Reiches [57 v. Chr. – 935 in Soziologie auch den Jour- nicht eine wunderbare Entspannung?“, fragt eine n.Chr., Anm. d. Red.], waren sie schon ein paarmal. nalismus von der Pike auf. junge Frau neben mir. Ob sie mir den Rücken ab- „Immer wieder herrlich“, sagt Su-Jin, „um den See Sie war bei dieser Zeitung schrubben solle? Ich schaue wohl ziemlich irritiert, zu spazieren, die alten Tumuli-Königsräber zu erfor- zunächst jahrelang fest ange- denn sie lacht: „So ist es üblich in einer koreanischen schen, zum formvollendeten meterhohen Buddha stellte Redakteurin, bevor sie Sauna. Eine unserer liebsten Freizeitbeschäftigun- aus Granit in der Felsengrotte hochzusteigen.“ für drei Jahre nach Barcelona gen“. Das Kontrastprogramm hatte die Familie zwei Wo- ging und sich dort auch ent- schloss, als freie Mitarbeite- Su-Jin Ha, eine Englischlehrerin, lerne ich während chen davor: Sie schaute im Wiedervereinigungs-Ob- rin weiterzuarbeiten. meiner Südkorea-Rundreise im Wellness-Bereich servatorium Odusan nach Nordkorea hinüber und des Hyundai-Hotels in Gyeongju kennen. Es ist ei- stand wenig später im Imjingak-Park auf der „Brücke nes mit vier Sternen, schön gelegen am See, mit zur Freiheit“; unzählige bunte Wunsch-Fähnchen Karaoke-Bar und reichhaltigem Frühstücksbuffet. am Stacheldraht-Zaun im Blick. Solche Touren zur Deshalb haben sie es gewählt, Su-Jin, ihr Sohn und Entmilitarisierten Zone1 und zu Schauplätzen des 9
Foto: Nicole Schmidt Vielfalt der Beilagen, die zu jedem koreanischen Essen gehören Korea-Krieges [1950-1953, Anm. d. Red.] sind ein Renner auch junge Ehepaare, sind gehüllt in mausgraue Kutten, Größe XXL, bei Südkoreanern. Weil sie immer an die Wiedervereinigung und starren schlaftrunken den Mönch vor uns an. Topfit und hell- denken? „Nein. Für uns Junge ist das nicht mehr das große The- wach turnt er im Gästehaus des Haeinsa-Tempels herum, der die ma. Für uns gehört so ein Besuch einfach zum Freizeitvergnü- berühmte Tripitaka Koreana, die umfassendste Sammlung aller gen. Unser Sohn darf dann im Park auch Karussell fahren, an buddhistischen Texte, beherbergt.2 Ein Kulturerbe der Mensch- Klebreisbällchen knabbern, und alle sind glücklich“, sagt Su-Jin. heit abseits der Welt, tief in den Bergen des Nationalparks Ga- Inzwischen fühle ich mich porentief rein. Die anderen Frauen yasan. sind das auch. In einer koreanischen Sauna versickert der Stress Der Seunim [스님],3 wie er sich vorstellt, faltet die Hände vor nicht wie in Deutschland in luxuriösen 1001-Nacht-Sauna- dem Brustbein, wirft sich auf die Knie, drückt Stirn und Hände Landschaften, hier geht es richtig zur Sache. Fast jede Frau hat auf den Boden, führt die Hände mit der Innenfläche nach oben ihren eigenen Korb mit einer Menge an Toilettenartikeln dabei. am Ohr vorbei, rollt sich wieder auf, kommt federnd zum Stehen, Mit Seife und rauem Lappen und Bürste rücken sie sich zu Lei- und von vorn das Ganze. Danach, lächelt der Mönch, seien alle be, reiben sich mit Salz ein, um abgestorbene Hautschuppen zu Laster, Leidenschaften und Begierden abgearbeitet und seine entfernen, putzen sich die Zähne und die Zunge, spritzen sich Gäste reif für die Meditation; eine Stunde lang im Lotussitz, mit mit dem Schlauch ab. „Das strafft, ist ein wunderbares Peeling völlig geradem Rücken. und ein traditionelles Reinigungsritual noch dazu“, erklärt Su-Jin. Alle stöhnen im Stillen. Aber die 108 Kniefälle schaffen wir tat- Jetzt sei es Zeit, ins kalte Becken zu steigen. Ich quietsche vor sächlich mit nur ein klein wenig Schummeln. Der Seunim ist Vergnügen. Die Mitsauniererinnen kichern. Meine Befangenheit zufrieden. Jetzt schreitet er hinter seinen Zöglingen auf und ab, – wie weggeblasen. richtet Rücken gerade, zieht Schultern zurück, zeigt, wie man den Mutig geworden, schrubbe ich jetzt auch Su-Jins Rücken und Fuß über den linken Oberschenkel bettet, ohne umzufallen. Alle frage dabei, wie traditionell sie eigentlich sei. Nun, die Familie ächzen. Der Meister lächelt fein mit einem Blick, der in etwa sagt: halte die Tradition sehr hoch, habe Ehrfurcht vor dem Alter. Aber Habt wohl gedacht, Mönchsein sei ein Zuckerschlecken und gläubige Buddhistin sei sie nicht. „Wie die meisten Jungen. Trotz- man braucht einfach bloß mal ein Stündchen dazusitzen – und dem habe ich einmal mit ein paar Freunden bei einem Temple- schon ist die Erleuchtung da? Nein, das geht nur mit eiserner Dis- Stay-Wochenende mitgemacht“, sagt sie. Aus reiner Neugier, „um ziplin. Und deshalb ist das Klosterleben in Korea knallhart. Jetzt zu sehen, wie das so ist.“ Ich nicke. Mir ist das auch so gegangen. eins zählen und tief einatmen, bei zwei ausatmen, starr einen Während Westler solche Aufenthalte im Tempel über Studienrei- Punkt einen Meter vor sich auf dem Boden fixieren, die Augen severanstalter buchen können, hat Su-Jin einfach angerufen und schließen, sein „Inneres betrachten“. Dann werde der Kopf schon sich angemeldet. Viele der Tausenden von Tempeln in Südkorea irgendwann frei. Es funktioniert einfach nicht. Nur die Knochen bieten solche Programme an. Und während Su-Jin und ich wie- tun weh. Alle sind froh, als sie aufstehen dürfen. In Zweierreihen der in das warme Becken steigen, erzählen wir uns, wie es war. antreten zum Frühstück. Selbst morgens gibt es Kimchi [김치], 108 Kniefälle für Buddha. Ohne Unterbrechung, alle gemeinsam eingelegtes Gemüse, allerdings nur zwei Sorten, dazu kalten im vorgegebenen Takt. Und das um vier Uhr morgens, nach nur Reis, eine dünne Suppe, kurz blanchiertes Gemüse und Tee, alles wenigen Stunden Nachtruhe auf dem blanken Boden. Das gro- ziemlich geschmacksneutral. Und selbstverständlich fleischlos. ße Getrommel und den Gottesdienst haben wir da schon hin- Schweigend setzen sich die Klosterbewohner an einen Tisch, die ter uns. Wir Touristen, sieben Westler und zwei südkoreanische Touristen-Mönche sitzen wortlos daneben. Bloß nicht den Kopf 10
neugierig herumschwenken, sondern gesenkt halten. Kein lang. Doch wir feiern auch gerne, und es macht uns Spaß, Reiskorn darf übrig bleiben. Essen ist kostbar. beim Essen mit vielen Leuten zusammen zu sein.“ Aber nie Die Westler dürfen hinterher im ersten Licht des Morgens zu lange, denn es müsse eigentlich alles immer ganz schnell zusammen mit dem Seunim den Tempel anschauen, noch gehen. Ich berichte von meinem ersten Essen in Seoul, das bevor die Touristenbusse anrollen. Su-Jin als Einheimische ich nur bestellen konnte, weil es auf allen Tischen stand, an musste auch fegen, Geschirr waschen und andere Tempel- denen Koreaner saßen - ich zeigte einfach drauf. Nach nur dienste verrichten. „Es war kein reines Vergnügen, aber eine zehn Minuten kam es: Ein Gericht im heißen Tontopf. Ge- spannende Erfahrung. Diese intime Begegnung mit den dünsteter Reis, frisches Gemüse, hauchdünn geschnittene Mönchen werde ich nie vergessen“, sagt sie. Nonne, nein, das Rindfleischstreifen, Sesamöl, rote Chilipaste, reichlich Kräuter sei nichts für sie. „Ich muss wissen: Morgen kann ich wieder und ein Spiegelei. Dazu als Beigabe mindestens ein Dutzend shoppen.“ Und wieder nicke ich. Schüsselchen mit „Kimchi“, eingelegtem Chinakohl, See- Su-Jin holt nach zwei weiteren Heiß-Kalt-Runden eine Kör- tang, Süßkartoffeln, Lotoswurzeln, Shrimps, Pilzen. „Mitunter perlotion aus ihrem Korb. Der Duft von Zitronengras steigt fremdartige Geschmackserlebnisse von süß und scharf bis mir in die Nase. Oder doch lieber Granatapfel? „Habe ich ge- sauer und salzig“, schwärme ich. Su-Jin guckt mich an, ich kauft in Seoul in einem Shopping-Center im Mode-Viertel sie. Schnell ziehen wir uns um, nehmen ein Taxi und lassen Hayedung. Manche sind rund um die Uhr geöffnet. Wir schät- uns in eine Suppenküche bringen. Preiswert, frisch und Bal- zen es sehr, dort auch noch weit nach Feierabend einzukau- sam für den Magen. „Suppe lieben wir, und sie ist gut für jede fen“, sagt sie. Oder in Insadong, dem Lieblingsviertel aller kleine Pause”, sagt Su-Jin. Aber ich müsse auf jeden Fall noch Touristen in Seoul. Wo es nach Tee und Kräutern und gebra- auf einen koreanischen Fischmarkt gehen. „Der in Sokcho ist tenem Hühnchen riecht, Pinsel so groß sind wie Besen, die einen Ausflug wert. Dafür nehmen auch wir uns viel Zeit.“ Ich in Kalligrafie-Spezialgeschäften von der Decke baumeln, wo befolge ihren Rat und bummle zwei Tage später am Hafen Verkäufer in Kramläden neben ihren Kollegen in den Souve- von Sokcho entlang. Die Besucher des Fischmarktes schie- nirshops, dämmrigen Antiquitätendepots und glasüberdach- ben sich an den Ständen vorbei, in Fünferreihen. Was für eine ten zeitgenössischen Galerien auf Kundschaft warten, und Auswahl! Gerade noch zappelte der Fisch in der roten Plastik- wo Su-Jins Sohn sich kaputtgelacht hat über die rappenden Wanne – drei Minuten später liegt er, perfekt filetiert und mit Spaßmacher an den Süßigkeiten-Imbissen. Synchron und Wasabi [와사비, Meerrettichsoße] und Salatblättern garniert, gekleidet wie Chirurgen verwandeln sie in einer werbespot- als Sashimi [사시미, roher Fisch] auf dem Teller des kleinen reifen Nummer einen mehligen Honigklumpen in haarfei- Restaurants mit Meerblick. Fürwahr - eine prima Freizeitbe- ne weiße Fäden, schneiden sie bleistiftlang ab, wickeln ein schäftigung. Stück Walnuss hinein, verpacken es hübsch als Drachenbart. Schmeckt köstlich. Ob ich keinen Hunger habe, fragt Su-Jin, als wir am Ende un- serer Sauna-Orgie erschöpft am Beckenrand sitzen. Und er- zählt begeistert von den Straßenverkäufern in Seoul, die an jeder Ecke duftende Waffeln feilbieten, Chilisoße unter Reis- kuchen rühren, Fischstücke auf Holzstäbe spießen, von den vollbesetzten Cafés und Restaurants. „Wir arbeiten hart und 1 Grenzgebiet zwischen Süd- und Nordkorea (Anm. d. Red.). 2 Koreanische Kunsthandwerker schnitzten die gesamten buddhistischen Schriften in mehr als 80.000 hölzerne Druckplatten - die so genannte Tripitaka Koreana. Die Aufzeichnung des buddhistischen Kanons stammt aus der Goryeo-Zeit (918–1392 n.Chr.). Die hölzernen Druckplatten werden heute in Janggyeongpanjeon, einem Gebäude im Haeinsa-Tempel, aufbewahrt (Anm. d. Red.). 3„Seunim“ [스님] bedeutet im Koreanischen „buddhistischer Mönch“ (Anm. d. Red.). 11
FREIZEITKULTUR AB IN DEN NORAEBANG! Von Franziska Schaar Foto: privat Franziska Schaar studiert im 5. Semester Kultur- wissenschaften mit den Schwerpunkten Sozial- und Literaturwissenschaften an der Europa-Universität Via- drina. Das letzte Semester hat sie an der Sookmyung Women’s University in Seoul verbracht, wodurch ihr Interesse für Korea gestärkt wurde. In dieser Ausgabe berichtet sie über ihre Erfahrungen, die sie im Dress-Café und in Karaokebars in Seoul gemacht hat. Illustrationen von Jo Seung-yeon 12
L angeweile in Korea? So etwas gibt es dank der vielfältigen Freizeitaktivitäten nur äußerst selten. Dies ist nicht zuletzt dem Noraebang [노래방], der koreanischen Version des bekannten Karaoke aus Japan, zu verdanken. Wortwörtlich ist darunter ein Singraum zu verstehen. Doch wer denkt, dass es sich dabei um ein verrück- tes Hobby der jungen Koreaner handelt, der irrt. Denn in den für Europäer gewöhnungsbedürftigen Einrichtungen sind alle Altersklassen vertreten. Der Schritt in einen Noraebang ist mit dem Schritt in eine andere Welt zu vergleichen. Dabei gleicht kein Noraebang dem anderen. Sie variieren in ihrer Größe, ihrem Angebot und ihrer Ausstattung. Nur eines haben sie alle gemeinsam – sie sind überall zu finden. Es gibt wohl nur wenige Straßenzüge in Seoul, in denen sich kein Noraebang befindet. Fi- nanziell gesehen ist es kein zu teures Hobby, denn eine Stunde kostet meist um die 15.000 Won (etwa zehn Euro) plus Getränke, die in dem Noraebang genauso viel kosten wie in dem GS25 (einem klei- nen 24h-Supermarkt) um die Ecke. Aber Achtung, omnipräsenten Verhaltensregeln einmal vergessen nicht jeder Noraebang bietet auch Getränke an. können. Der Noraebang sollte aber keinesfalls als Einmal in die Welt des Noraebang eingetaucht, ge- reine Gruppenbeschäftigung gesehen werden. Es lingt einem meist erst nach mehreren Stunden die kommt nicht selten vor, dass man auf dem Weg zur Rückkehr in die Normalität. Gleich nach dem Be- Toilette an einem Zimmer vorbeikommt, in dem treten beginnt die Zimmerauswahl. Meist ist diese ein einzelner Koreaner im Anzug über die große recht begrenzt und abhängig von der Personenan- Liebe singt. Auch Pärchen sind nicht selten in zahl der Singwütigen. Wenn dann aber erst einmal einem Noraebang anzutreffen, da dieser Ort ihnen das Zimmer betreten wurde, geht es sofort los. die Möglichkeit bietet, der elterlichen Aufsicht für Die Karaokemaschine spielt das erste Lied, und die kurze Zeit zu entkommen. oder der erste Mutige steht am Mikrofon. Während- Wie populär der Noraebang in Korea ist, wird dessen können sich die anderen einen Überblick spätestens nach der Entdeckung des Norae-Busses über das Songangebot in der großen Liederbibel deutlich. Auf längeren Strecken kann der Reisebus, verschaffen und über einen Controller bereits wei- der in Deutschland durch seine bunte Dekoration tere Lieder eingegeben, denn eine Pause zwischen ohnehin schon als extravagant gelten würde, in den einzelnen Liedern ist ein absolutes No-Go. Ist einen mobilen Noraebang verwandelt werden. dies erledigt, wird die Freundin oder der Freund Für die geübten Sänger gibt es Shows, in denen sie am Mikrofon tatkräftig unterstützt. Ob stimmlich, ihr gesangliches Können im Fernsehen präsen- mit Applaus oder mit einem der bereitgestell- tieren dürfen. Ob allein oder im Duett spielt dabei ten Perkussionsinstrumente, fast alles ist beim nur selten eine Rolle. Wie im privaten Noraebang Anfeuern der Sänger erlaubt. Mit dem Mikrofon steht der Spaß im Vordergrund - auch wenn das in der Hand und im Schein der Partybeleuchtung Publikum im Gegensatz zu den Freunden bei gibt es einfach kein Halten mehr. Im Noraebang schlechten Darbietungen das eine oder andere Mal gelingt es den oft zurückhaltenden Koreanern, ihre gerne etwas rabiater reagiert. ruhige Art für kurze Zeit zu vergessen und zum Das Fazit kann also lauten: Wer die koreanische Popstar zu werden. Das anfängliche Zögern und Lebensweise kennenlernen möchte, sollte den Zweifeln wird spätestens nach dem ersten Bier Besuch eines Noraebang nicht scheuen, denn er über Bord geworfen, und dann wird die Tanzfläche gehört fast genau so sehr zum Leben der Koreaner, gestürmt, um in den Gesang einzustimmen. Es wie das tägliche Kimchi [김치]. scheint fast so, als wäre der private Karaokeraum einer der wenigen Orte, an dem die Koreaner die 13
FREIZEITKULTUR DREI LÄNDER, SIEBEN STÄDTE, MAXIMAL ZEHN TAGE - Reisen auf Koreanisch Von Malte E. Kollenberg E in ganz normaler Spätnachmittag am Flugha- Frankreich ist für die Museen bekannt, und in Italien fen Incheon in der Nähe von Seoul. Der Flieger ist der Vatikan die Hauptattraktion. Global gesehen Richtung Frankfurt ist voll. So, wie fast immer. ist aber Europa definitiv eines der Hauptziele. „Dort Flüge von Korea nach Deutschland sind begehrt. gibt es eine ganze Reihe Länder, die die Fantasie Viele Koreaner nutzen die zentrale Lage des Frank- vieler Koreaner anregen“, glaubt Kim. Doch meis- furter Flughafens, um dort eine Europarundreise zu tens sind die Urlaubstage knapp. Wer nur zehn Tage beginnen. „Die meisten reisen aber nach England, für eine Europarundreise hat, der hat schon mit drei Frankreich und Italien weiter“, sagt Kim Taek-hoon. Ländern sehr viel Programm. Pro Land zwei bis drei Er betreibt ein Reisebüro im Herzen von Seoul und Städte, da bleibt automatisch etwas auf der Strecke. kennt sich aus mit koreanischen Reisegewohn- Und zehn Tage Zeit sind dabei schon Luxus. heiten. „Mit Deutschland verbinden viele Korea- ner nicht so viel“, erklärt er. Deutschland gilt als Luxus, den, wie in Deutschland, auch viele Korea- kaltes Land, als Land der Autos und der Autobahn. ner vor allem während des Studiums haben. Doch Generell aber ist das Europa-Bild sehr stark von selbst da ist der Stundenplan eng und einfach meh- den Medien geprägt. Wegen Park Ji-sung [korea- rere Wochen reisen nicht ohne Weiteres möglich. nischer Fußball-Nationalspieler, Anm. d. Red.] und Und dann sind da auch noch die Studiengebühren. Manchester United fahren sehr viele nach England. Für viele Studenten heißt der Ausweg „Auslands- Foto: Malte E. Kollenberg 14
projekt“. So etwas bietet fast jede Uni an. Mit ein paar Kommilito- Gästehäusern übernachtet, weil es dort zum Frühstück Kimchi nen wird nach Europa, Afrika oder Amerika gereist und nach ein gibt. Das gibt es zwar, aber die Mehrheit macht genau das nicht. paar Tagen Projektarbeit noch die eine oder andere Woche Urlaub „Manchmal werden wir gefragt, ob wir auch koreanische Gästehäu- ‘drangehängt. ser vermitteln können. - Sie können Infos dazu im Internet finden, sagen wir den Kunden dann“, erklärt Herr Kim von der Reiseagentur. Erst einmal im Berufsleben stehend, werden Reisen über zehn Koreanische Gästehäuser in Europa sind mehr eine informelle Art oder mehr Tage nahezu unmöglich. Länger als fünf Tage am Stück der Übernachtung, die vor allem in Weblogs auf den populären Urlaub nehmen? Danach traut sich kaum jemand im Unternehmen koreanischen Internetportalen Naver oder Daum kursieren. Selbst zu fragen. Davon kann auch Nam Shin berichten. Anfang 30 ist sie, das Reisebüro in Seoul rät davon ab, in einem dieser „Korean Guest- und Reisen wie zu Studienzeiten ist nicht mehr so einfach. Die junge houses“ zu schlafen, mit Verweis auf die Sicherheit. Eigentlich sei Frau hat einen Jobwechsel genutzt, um ihre lange geplante Reise das aber sowieso kein Thema, erklärt Kim: „Die meisten Touristen nach Ägypten unternehmen zu können. „Ich wollte mindestens zwei wollen in ein ganz normales Hotel.“ Wochen dorthin“, sagt sie. Urlaub hat sie nicht bekommen, da blieb ihr nichts anderes übrig, als die Reise einzuschieben, bevor sie ihren neuen Job als Projektleiterin einer kleinen Animationsfirma angetre- ten hat. Auch im Moment würde sie gerne reisen. Nach Südostasien, Laos vielleicht. Aber auch mindestens zwei Wochen. Und die muss sie vom Arbeitgeber erst einmal frei bekommen. Wenn das aktuelle Projekt abgeschlossen ist, dann vielleicht. Aber sicher ist sie sich da auch nicht. Wer bei Samsung, Hyundai oder einem anderen großen Unterneh- men Karriere machen möchte, der hat noch schlechtere Karten, die Welt sehen zu können. Schon wer während des Studiums ein langes Praktikum macht und den Urlaub auf einmal nehmen möchte, um Korea für zwei Wochen zu verlassen, stellt nach der Rückkehr schnell fest, dass die Auszeit vor allem eines war: eine Ausnahme. Nach einer möglichen Übernahme ins Unternehmen ist bei fünf Tagen Urlaub am Stück Schluss. Kim Taek-hoon vom Reisebüro Mode Tour in Seoul meint, ein auffälliges Muster ausgemacht zu haben. Bei den meisten steht am Anfang des Berufslebens die eine oder andere kurze Reise nach Südostasien, obwohl bei vielen eigentlich Europa ganz oben auf der Liste steht. „Aber Europa braucht viel mehr Zeit und ist wesent- lich teurer“, sagt Kim. Und auch, wenn das Geld da ist - meist fehlt einfach die Zeit. Wen das Fernweh richtig gepackt hat und wer es nicht abwarten kann, für den hat Seoul allerdings etwas zu bieten. Denn im The- men-Park „Aiins World“ wird die Welt ausgestellt. Die berühmtesten Gebäude der Welt, alle im Miniaturformat. Auch Neuschwanstein steht dort. Fast jeder Koreaner, der schon einmal in Deutschland war, hat auch das echte gesehen. Rein geografisch kein Wunder, denn „wer nach Deutschland fragt, der interessiert sich vor allem für das Oktoberfest“, grinst Kim im Reisebüro. Wer dann schon mal in Deutschland ist, noch dazu in München, der fährt auch noch nach Füssen, um sich das Schloss anzuschauen. Wenn er nicht sowieso wegen Neuschwanstein in der Gegend ist. Bayern, Burgen und Lederhosen erfüllen dabei ungefähr im selben Maße das Klischee von Deutschland, wie es die Geschichte vom koreanischen Touristen im Fall Koreas tut, der nur in koreanischen Foto: Malte E. Kollenberg 15
FREIZEITKULTUR KOREANISCHE CHORKULTUR Die Koreaner sind so ähnlich wie die Deutschen - sie dichten gern, sie schreiben gern, und sie singen gern Von Hongza Dörge Foto: Soobin Ahn Hongza Dörge ist mit einem deutschen Musiker verheiratet und hat zwei Kinder. Sie studierte Chorgesang an der Universität der Künste (UdK) in Berlin und sang lange Zeit im Chor des Theaters des Westens. Seit 20 Jahren leitet sie das Korea Musicmanagement (KMM), das Konzerte und Tanzveranstaltungen aus Korea und Deutschland organisiert und Künstler vermittelt. Hongza Dörge ist auch als Beauftragte für koreanische Kulturangelegenheiten tätig und Leiterin des 2009 gegründeten koreanisch-deutschen Chores DOKOREA. Am 13. Januar 2011 wurde sie vom deutschen Bundespräsidenten zum offiziellen Neujahrs- empfang eingeladen und dort für ihr ehrenamtliches Engagement ausgezeichnet. 16
I n Korea ist das gemeinschaftliche Singen sehr beliebt. Schon in mei- mehr ausübten und in ihrer Freizeit singen wollten. Das Repertoire ner Kindheit kamen die alten Frauen bei uns zusammen, um Mak- bestand aus europäischen und koreanischen Liedern. Geleitet wurde geolli [막걸리, koreanischen Reisschnaps] zu trinken und zu feiern. der Chor von einem Professor der Seoul National University. Darüber Wir hatten ein großes Haus, und immer war es Treffpunkt. Dann tanz- hinaus hatte ich die Gelegenheit, an einer Probe des koreanischen Na- ten und sangen sie, dass man es bis weithin hören konnte. Die Korea- tionalchors teilzunehmen, um mir ein Bild davon zu machen, welche ner sind so ähnlich wie die Deutschen: Sie dichten gern, sie schreiben Techniken der Chor beim Einstudieren koreanischer Lieder anwendet. gern, und sie singen gern. Der Nationalchor wird übrigens im Mai nach Deutschland kommen.1 Nach dem Korea-Krieg [1950 - 1953] hielten in Korea erst einmal Po- Hobbychöre für Jung und Alt sind wirklich sehr aktuell in Seoul. Neu- pulärmusik und Karaoke Einzug. Die leichte Schlagermusik kam gut erdings hat auch jeder Bezirk seinen eigenen Chor für Senioren, in an, da die Menschen vom Krieg sehr traumatisiert waren und schwere dem koreanische Lieder gesungen werden. Früher gab es keine An- Zeiten durchlebten. Sehr großen Anklang fand zum Beispiel das kore- gebote für diese Altersgruppe, aber jetzt haben die einzelnen Bezirke anische Volkslied „Gartenbalsam“ [봉선화, Bongseonhwa], das habe einen Kulturbeauftragten oder eine Kulturbeauftragte, der oder die ich vor 30 Jahren sogar im deutschen Fernsehen gesungen. Mein sich um die Freizeitgestaltung älterer Menschen kümmert. In Korea Mann, der Musiker ist, hatte es für Violine und Klavier arrangiert. gibt es inzwischen zahlreiche kostenlose Angebote für Rentner. So ist für sie ja auch der öffentliche Nahverkehr umsonst. Freie Fahrkarten Nach der japanischen Kolonialzeit [1910 - 1945] sind viele Koreaner liegen für die Senioren an den Eingängen der U-Bahnen aus. In den ins Ausland gegangen, darunter auch viele Musiker. Der Abschied fiel Nachbarschaftshäusern, die den alten Menschen als Treffpunkte die- insbesondere den Zurückbleibenden sehr schwer. Deshalb sind auch nen, steht immer ein Reistopf für sie bereit, und dort können sie auch die Lieder und Schlager, die damals entstanden, so melancholisch. umsonst essen. Irgendwann kam dann die amerikanische Unterhaltungsmusik nach Korea. In den einzelnen Provinzen gibt es jeweils ein bekanntes Chorensem- ble, das nur traditionelle koreanische Lieder singt. Eines dieser Lieder Der deutsche Einfluss auf die koreanische Musik bestand schon seit ist beispielsweise das Arirang [아리랑], von dem jede Provinz ihre ei- Ende des 19. Jahrhunderts. Den Grundstein hierfür legte der kaiser- gene Version besitzt. Das bekannteste ist das der Provinz Gyeonggi, lich-koreanische Musikkapellmeister Franz Eckert, der im Dienste des und es basiert wie die anderen Arirangs auf einer Fünf-Ton-Melodie. koreanischen Kaiserhofes stand. Ich erinnere mich, dass in meiner Diese Weise wurde früher vom Volk zu allen Anlässen angestimmt: Kindheit und Jugend in den 1950er/ 1960er Jahren die Rundfunksta- Wenn es sich freute, wenn es traurig war. Manchmal gab es Situati- tionen immer die Werke deutscher Komponisten und deutsche Mär- onen, in denen einem die Worte fehlten, und dann haben die Men- sche sendeten. Westliche Musik und Lieder aus Deutschland werden schen eben dieses Lied gesungen, um ihre Gefühle auszudrücken. in Korea auch heute noch viel gehört, gespielt und gesungen. Ich Der Text handelt vom Abschiedsschmerz. In alten Zeiten durfte man habe ganz alte Liederbücher, die viel deutsches Liedgut enthalten. Als ja gegenüber dem Ehemann oder dem Geliebten seine Tränen nicht ich in den 1960er Jahren hierher kam, habe ich diese Notenbücher zeigen, und wenn man sich verabschiedete und seinen Fuß über den mitgebracht. Langsam kamen in Korea auch koreanische Volkslieder Gipfel des Berges setzte, schmerzten eben die Füße. Ich habe vor kur- auf, aber zunächst einmal waren die Koreaner damit beschäftigt, das zem gelesen, dass der Text des Arirang eigentlich unbedeutend sei, vom Krieg zerstörte Land wieder aufzubauen. aber dennoch ist es unser nationales Volkslied Nr. 1. Inzwischen gibt Heute existieren in Korea Chöre für jede Altersstufe – für Kinder, Men- es viele Variationen, und es wurde als Werk der Chor- und Orchester- schen mittleren und höheren Alters. Neben Laienchören gibt es auch musik arrangiert. viele professionelle Chöre; darunter sind Ensembles, die sich nur aus Das Repertoire der meisten Chöre in Korea ist eine Mischung aus Solisten zusammensetzen. Sängervereinigungen wie die städtischen westlicher Klassik und traditionellen koreanischen Liedern. Unabhän- Chöre und die Universitätschöre sind von staatlicher Seite organisiert. gig davon, ob es sich um einen Laienchor oder einen professionellen Die meisten Laienchöre finanzieren sich über einen Mitgliederbeitrag, Chor handelt, nimmt jedes Chormitglied die Proben sehr ernst. Die wobei die wohlhabenderen Mitglieder mehr spenden. Von den Städ- Chöre treffen sich gewöhnlich einmal in der Woche und vor einem ten und Gemeinden gegründete Einrichtungen erhalten Zuschüsse Konzert mehrmals. Sie unternehmen Konzerttourneen innerhalb und von der Regierung. Die alten Menschen brauchen beispielsweise für manchmal auch außerhalb Koreas. Diejenigen, die im Ausland konzer- die Teilnahme an den Chören, die im Rahmen der Freizeitgestaltung tieren, fahren meist nach Amerika. Es ist so schwierig für Chöre, hier für Senioren angeboten werden, nichts zu zahlen. nach Deutschland zu kommen. Kirchenchöre haben das Glück, dass Jedes Mal, wenn ich Korea besuche, singe ich in einem Ensemble für sie meist von einer Kirchengemeinde eingeladen werden und preis- alte Musik mit, in einer so genannten Chang-Gruppe. Das ist ein En- günstig bei den Gemeindemitgliedern unterkommen können. Aber semble für traditionelle koreanische Volkslieder [창, Chang], also für sonst ist es wegen der hohen Kosten nicht einfach, einen Chor nach Volkslieder, die entstanden, bevor die westliche Musik in Korea einge- Deutschland zu bringen. Jetzt habe ich vor, einen Solisten-Männer- führt wurde und die koreanische Musik beeinflusste. Diese Melodien chor, der in Korea ganz bekannt ist, für eine Tournee hierher einzu- stammen noch aus der Zeit der alten koreanischen Königreiche. In der laden; der Chor besteht aus ungefähr 60 Personen. Er war bereits in Chang-Gruppe wird nachgesungen, was die Lehrerin vorgibt. Dort Amerika und würde nun gern hierher kommen. gibt es keine Noten, sondern nur Schriftzeichen und Symbole. Zum Beispiel orientiert sich der Sänger an einem Text mit Markierungen, Generell denke ich, dass die Koreaner heutzutage noch mehr als frü- die ihm anzeigen, an welcher Stelle er die Melodie betonen muss. Oft her dazu neigen, ein musikalisches Hobby auszuüben und zu singen wird der Gesang von einer koreanischen Fasstrommel [북, Buk] beglei- oder zu musizieren. Solche Freizeitbeschäftigungen haben sie früher tet. Viele Koreaner verbringen ihre Freizeit in einer solchen Gruppe. ja nicht gepflegt, aber jetzt interessieren sie sich auch für die traditio- Auch mein Vater war bis zu seinem Lebensende in einer davon aktiv. nelle koreanische Musik. Im Gespräch mit Gesine Stoyke In Korea habe ich einmal in einem Chor mitgewirkt, der aus Frauen 1 Den genauen Termin finden Sie unter der Rubrik „Veranstaltungen“ (Anm. d. Red.). meiner Generation bestand. Dieser Chor war ein Weiterbildungsange- bot von einer Universität für akademische Frauen, die keinen Beruf
FREIZEITKULTUR DAS NÄCHTLICHE SEOUL Von Julia Kulewatz „Nachts sind alle Katzen grau“ große Bedeutung beigemessen; es hilft über besagt ein bekanntes deutsches Sprichwort. Ge- anfängliche Schwierigkeiten beim Kennenlernen wiss sind diese auch im koreanischen Seoul nicht hinweg, intensiviert Freundschaften und hat weniger grau. Aber wer des Nachts schon einmal auch schon das eine oder andere unverhoffte durch Seouls Straßen gezogen ist, wird das sprü- Liebesgeständnis am frühen Abend zu Tage hende Funkeln jener Augen niemals vergessen. gefördert. Bei meinen ersten Trinkspielen habe Das nächtliche Seoul ist in seiner Vielfalt so un- ich mich ganz wacker geschlagen. Einige funkti- Foto: privat erschöpflich, wie die Menschen interessant sind, onieren sogar, ohne dass man des Koreanischen denen man in den zahlreichen Bars, Diskotheken mächtig sein muss, aber sicher ist sicher, denn und Clubs begegnen kann. Ob man am frühen schon so manchem arglosen Austauschstuden- Abend durch die junge, von vielen Künstlern ten ist die Sprachbarriere spätestens bei dieser Julia Kulewatz studiert Gelegenheit zum Verhängnis geworden. bewohnte Straßentheater-Zone Hyehwa flaniert seit 2006 Literaturwissen- In Seoul hat jeder Koreaner wie viele Menschen schaft, Journalismus und oder sich auf einem der vielen Nachtmärkte wie Dongdaemun, Namsan oder Itaewon mit mitter- bei uns auch seine Lieblingsbar, aber man Philosophie in Erfurt und nächtlichem Shopping auf den bevorstehenden scheut sich nie, Neues auszuprobieren. Dem seit 2009 Literatur, Politik, Philosophie, Kunst, Tanz & Tanz- und Trinkspaß einstimmt, bleibt jedem Neuen kann man in Seoul auch überhaupt nicht Choreografie in Seoul an der selbst überlassen. entkommen, zumal sich diese Stadt in einem ra- Sungkyunkwan University, Meistens wird die entsprechende Feierstimmung senden Tempo verändert und mit immer neuem der ältesten Universität Se- mit dem traditionellen Genuss von purem Soju Gesicht inszeniert und präsentiert. Wem das zu ouls. Zeitweise arbeitete sie (소주) eingeleitet. Soju ist wörtlich übersetzt schnell geht, der kann lediglich versuchen, seine auch für das Goethe-Institut „Branntwein“, ein hochprozentiges, alkoholisches einstige Lieblingsbar nach bspw. drei Monaten in Seoul. wiederzufinden; diese könnte jedoch bereits Getränk, welches hauptsächlich aus der Süßkar- toffel hergestellt wird, meistens wird es mit ande- einem der beliebten koreanischen Coffeeshops ren Zutaten wie Weizen oder Gerste abgerundet. gewichen sein. Nachts erstrahlt die Metropole Man trinkt es in Korea seit dem 14. Jahrhundert, in unendlich vielen verschiedenen Lichtern, und es genießt den Ruf (so hat es mir jedenfalls wobei sich der historische Kern ganz besonders meine koreanische Freundin erklärt), ebenso wie in Szene setzt. Seoul ist eine Stadt der Kontraste, das scharfe koreanische Essen, Sorgen einfach und das erfährt man meines Erachtens vor allem „herauszubrennen“. nachts. Koreanische Trinkspiele sind dabei natürlich Alle 25 Bezirke, aus denen sich Seoul zusam- ein Muss, und eines der ersten koreanischen mensetzt, sind jeder für sich mit kleinen Städten Ausgehrituale, dem sich der Durchschnittstourist vergleichbar, und ganz egal, wonach man sucht, zu stellen hat. Dem gemeinsamen Trinken wird man wird auf seine Kosten kommen. Es ist immer 18
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