AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Das letzte Jahr der DDR - Bundeszentrale ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
69. Jahrgang, 35–37/2019, 26. August 2019 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Das letzte Jahr der DDR Ilko-Sascha Kowalczuk Martin Sabrow VON DER REVOLUTION „1989“ ALS ERZÄHLUNG ÜBER DEN MAUERFALL Mandy Tröger ZUR EINHEIT DIE TREUHAND UND Dieter Segert DIE PRIVATISIERUNG VERPASSTE CHANCEN DER DDR-PRESSE IM 41. JAHR Elke Kimmel Greta Hartmann · Alexander Leistner WEST-BERLIN. UMKÄMPFTES ERBE. STIMMUNGSBILDER ZUR AKTUALITÄT VON „1989“ AUS DEM LETZTEN JAHR ALS WIDERSTANDSERZÄHLUNG ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Das letzte Jahr der DDR APuZ 35–37/2019 ILKO-SASCHA KOWALCZUK MARTIN SABROW VON DER REVOLUTION ÜBER DEN „1989“ ALS ERZÄHLUNG MAUERFALL ZUR EINHEIT So epochal die Bedeutung des Umbruchs von In das Jahr 1989 gingen die meisten Ostdeut- 1989 ist, so diffus ist sein Platz im Gedächtnis schen hoffnungslos. Nur eine kleine Minderheit unserer Zeit. „1989“ ist ein prominenter wie engagierte sich für Veränderungen. Am Ende des zugleich bis heute vieldeutiger und unscharf Jahres war die Freude grenzenlos – die Hoff- markierter Erinnerungsort. Wie ist dieser Befund nungslosigkeit hatte sich in Glück verwandelt, zu erklären? für die absolut meisten Menschen ohne eigenes Seite 25–33 Zutun. Seite 04–11 MANDY TRÖGER DIE TREUHAND UND DIE PRIVATISIERUNG DIETER SEGERT DER DDR-PRESSE VERPASSTE CHANCEN IM 41. JAHR Auch das Pressewesen war Teil des Volkseigen- Nach den Feierlichkeiten der SED-Führung zum tums, das von der Treuhand privatisiert werden 40. Jahrestag der Republik begann am 7. Okto- sollte. Bei der Umwandlung wurden allerdings ber 1989 das 41. Jahr der DDR. In diesem Jahr nicht wie geplant ehemalige SED-Zeitungsmo- wurden mit dem raschen Beitritt nach Art. 23 nopole aufgespaltet, sondern von westdeutschen GG Chancen vertan – nicht nur für Ostdeutsch- Verlagen größtenteils weitergeführt. land, sondern für das ganze Deutschland. Seite 34–39 Seite 12–17 ELKE KIMMEL GRETA HARTMANN · ALEXANDER LEISTNER WEST-BERLIN. STIMMUNGSBILDER UMKÄMPFTES ERBE. ZUR AKTUALITÄT AUS DEM LETZTEN JAHR VON „1989“ ALS WIDERSTANDSERZÄHLUNG Schon in den ersten Tagen nach der Mauer- „1989“ als Legitimationssymbol für Proteste öffnung zeigte sich in West-Berlin, dass die ist bis heute von besonderer Bedeutung. Diese Umsetzung der Vereinigung mit dem Ostteil zeigt sich nicht zuletzt bei Straßenprotesten, der Stadt nicht ohne Einbuße zu haben war. Zu die in Form von „Montagsdemonstrationen“ diesen gehörte auch, dass die „Mauerstadt“ einen stattfinden und bei denen die Parole „Wir sind Teil ihrer Identität verlor. das Volk“ skandiert wird. Seite 40–46 Seite 18–24
EDITORIAL Mit dem offiziellen Jubiläumsfest zum 40. Jahrestag der Republik beginnt am 7. Oktober 1989 das letzte Jahr der DDR. Wirtschaftsprobleme und Massen- flucht setzen das SED-Regime unter Druck. Seit dem Sommer treffen sich republikweit immer mehr Bürgerinnen und Bürger, um gegen die Herrschen- den zu protestieren. Am 9. Oktober sind es 70 000 Menschen in Leipzig, am 4. November 500 000 auf dem Berliner Alexanderplatz. Fünf Tage später fällt die Mauer. Die ersten freien Wahlen in der DDR im März 1990 gewinnt die von der CDU geführte Allianz für Deutschland, die für einen schnellen Weg zur deut- schen Einheit steht. Nach fast 41 Jahren Teilung endet am 2. Oktober 1990 das letzte Jahr der DDR. Diese chronologische Auflistung ist Teil einer tradierten Erfolgsgeschichte, in der kaum abgebildet wird, dass der Ausgang der friedlichen Revolution ungewiss war. Nicht wenige – vor allem in Westdeutschland – meinen, im Herbst 1989 sei der Osten geradlinig auf die deutsche Vereinigung zugesteuert. In den Hintergrund tritt oft, dass in der verschwindenden DDR unterschied- liche Positionen um die Zukunft des Landes konkurrierten. Ebenso war im Erfolgsnarrativ wenig Platz für die erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen, die mit dem Vereinigungsprozess einhergingen. Das hat sich in jüngster Zeit geändert. Wofür steht die friedliche Revolution heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall? Wem „gehört“ die Revolution, wer darf sich auf sie berufen? Die gesellschaftli- che Auseinandersetzung mit diesen Fragen findet derzeit auf unterschiedlichen Ebenen statt: zum Beispiel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unter Historikern, DDR-Bürgerrechtlern und Leserinnen und Lesern in einer Debatte über den Einfluss der Oppositionellen auf die Revolution. Auf politischer Ebene taucht selbst der seinerzeit von der SED zur Einhegung der Proteste instru- mentalisierte Topos einer „Wende“ wieder auf, etwa wenn in Wahlkämpfen in Ostdeutschland Parallelen zwischen der Situation von 1989 und heutigen Ver- hältnissen gezogen werden. Lorenz Abu Ayyash 03
APuZ 35–37/2019 DAS ENDE DER DDR 1989/90 Von der Revolution über den Mauerfall zur Einheit Ilko-Sascha Kowalczuk Die Mauer fiel nicht einfach 1989. Die kommu- was verändern lassen. Jahrelang hatte die SED nistische Diktatur war an ihr Ende gekommen. versprochen, Morgen, in der Zukunft, wür- Angefangen hatte es mit der mächtigen freien Ge- de alles „noch“ besser werden. „Morgen“ blieb werkschaftsbewegung Solidarność in Polen am in den Vorhersagen der Ideologiewächter nicht Anfang des Jahrzehnts. Die Welt schaute dann nur stets weit weg von der Gegenwart, Mitte der im Herbst 1989 atemlos nach Ostdeutschland, 1980er Jahre entrückte die verheißungsvolle Zu- nach Ost-Berlin. „Wahnsinn“ war der meist ge- kunft immer stärker ins Nimmerland. Der ge- brauchte Ausruf. Es begann eine Zeit, als die Re- fühlte Abstand zum Westen und seine offenkun- alität fast täglich die Fantasie überholte. Bis dahin digen Verheißungen, wie sie via TV allabendlich war kaum einem Zeitzeugen bewusst geworden, in Millionen ostdeutsche Wohnzimmer flimmer- dass er sich inmitten eines rasanten historischen ten, wurden immer größer. Gleichzeitig schwan- Prozesses befand.01 Noch eben gerade, so schien den die Hoffnungen auf die Zukunft, je mehr es vielen, auf der Standspur verharrend, befanden sich die Crew um Honecker gegenüber der so sich auf einmal gleich mehrere Gesellschaften im wjetischen Reformpolitik abschirmte. Sie regier- Ostblock auf der Überholspur, und das mit über- te nicht nur gegen die Mehrheit der Bevölke- höhtem Tempo. rung, sie verlor auch immer mehr Terrain unter jenen, auf die sie sich bislang verlassen konnte: VON DER KRISE die 2,3 Millionen Mitglieder der SED und die ZUM AUFBRUCH nochmals knapp 500 000 Mitglieder der eng mit der SED verknüpften vier Blockparteien (CDU, Die Inthronisierung Michail Gor ba tschows im LDPD, DBD, NDPD). Zur Diktaturwirklichkeit März 1985 zum Führer des Weltkommunismus gehörte, dass Millionen Menschen das System ak- war der Versuch, das Projekt des Kommunis- tiv unterstützten und mittrugen. mus zu retten. Gorbatschow war nicht Refor- Die Revolution von 1989 lässt sich nicht mo- mator wider Willen, aber er wurde wider Willen nokausal erzählen oder erklären. Die DDR trug zum Sargnagel des kommunistischen Systems. in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre viele Züge Das bislang geschlossene System hatte seine Lo- einer Zusammenbruchsgesellschaft. Zugleich war gik. Der verschweißte Deckel hatte die Explosi- die Gesellschaft stark fragmentiert und zerrissen, on verhindert. Die leichte Öffnung des Deckels was durch die unterschiedlichen Positionen zur durch Gorbatschow aber ließ den Dampf in alle und Erfahrungen mit der SED-Herrschaft gekom- Richtungen heraus, unkontrolliert, unbeabsich- men war. Zudem hatte sich der Lebensstandard tigt und nicht mehr steuer- und kontrollierbar. seit Ende der 1950er Jahre zwar erheblich ver- Deshalb war die Abwehrhaltung gegenüber Glas- bessert. Aber die Menschen wurden nicht zufrie- nost und Perestroika von SED-Chef Erich Ho- dener, weil der Abstand zum Westen zusehends necker nicht widersinnig, sondern systemlogisch. wuchs. Honecker erfand 1971 eine Wirtschafts- Offenbar war ihm die Kesseltheorie eingeschrie- und Sozialpolitik, die im Kern von dem Gedan- ben, nämlich dass eine leichte Öffnung unweiger- ken getragen wurde: „So wie wir heute leben, wer- lich zur Explosion führe. den wir morgen arbeiten müssen.“ Die Menschen Gorbatschows Reformpolitik entfachte Hoff- sollten sozial befriedet werden. Offiziell verband nungen in der DDR-Gesellschaft. Wenn in Mos- sich damit ein sozialpolitisches Programm, das kau Reformen möglich waren, so die Meinung die Lebensbedingungen der Menschen verbessern vieler, so müsse sich doch auch in der DDR et- und die entbehrungsreiche Nachkriegszeit been- 04
Das letzte Jahr der DDR APuZ den und auf einer modernen und effizienten Wirt- programmatisch gegen die kommunistische Ideo- schaft basieren sollte, die die großzügige Sozialpo- logie standen. Mit ihren Synoden und ökumeni- litik wie im Selbstlauf finanzieren würde. schen Versammlungen wurden sie zu Orten, wo Heute neigen Wirtschaftshistoriker dazu, die demokratische Regeln und Verhaltensweisen ein- DDR als Schwellenland einzustufen.02 Die Ar- geübt wurden. Es war kein Zufall, dass im Herbst beitsproduktivität der DDR erreichte gegen Ende 1989 so viele Pfarrer und Theologen zu den Wort- der 1980er Jahre nur noch rund ein Drittel der führern der Bürgerrechtsbewegungen avancierten. bundesdeutschen. Die internationale Verschul- dung wuchs und führte die DDR an den Rand ANFÄNGE der Zahlungsunfähigkeit. Die Investitionsquote DER REVOLUTION schrumpfte in den 1980er Jahren. Die Menschen wurden satt, aber die Kosten dafür waren extrem. Der Fall der Berliner Mauer begann am 2. Mai 1989 Die Subventionen für die Agrarproduktion stie- in Ungarn. An diesem Tag kündigte die ungarische gen, die Nahrungsmittelpreise aber blieben kon- Regierung an, die Grenzbefestigungen zu Öster- stant. Die SED-Sozialpolitik wurde teuer erkauft. reich abzubauen. Außenminister Gyula Horn und Für den Staat war sie teuer, weil viele Ressour- sein österreichischer Amtskollege Alois Mock cen, die dringend in Investitionen hätten umgelei- zerschnitten am 27. Juni in einer öffentlichen In- tet werden müssen, für zukunftslose Subventio- szenierung symbolisch den ungarischen Stachel- nen und Sozialprogramme verschleudert wurden drahtzaun. In den Jahren und Monaten zuvor war und so genau das Gegenteil des politisch-ideolo- die Zahl derjenigen, die aus der DDR flüchteten, gischen Ziels – die Legitimierung des Systems – einen Ausreiseantrag gestellt hatten oder „offizi- bewirkten. Die Menschen nahmen am Ende der ell“ ausreisen durften, ständig gestiegen. Im ersten 1980er Jahre die Sozialleistungen des SED-Staa- Halbjahr hatten bereits rund 100 000 Menschen tes als Selbstverständlichkeit hin, ihre Legitimati- der DDR für immer den Rücken gekehrt. Darun- onskraft war verbraucht. Die Kehrseite der Sozi- ter waren vor allem junge, gut ausgebildete und alpolitik stand vor aller Augen: Man wusste, dass gut verdienende Männer und Frauen. billige Mieten zugleich eine heftig umstrittene Im Mai 1989 feierte auch die Opposition ih- Wohnungsbaupolitik als Schattenseite zur Folge ren ersten großen Erfolg. Die SED veranstaltete hatten. Die Menschen spöttelten: „Ruinen schaf- am 7. Mai eine Wahlfarce wie in all den Jahrzehn- fen ohne Waffen“. Günstige Fahrpreise konnten ten zuvor. Aber erstmals konnten Oppositions- die zerrüttete Infrastruktur, billige Bücher Zen- gruppen nachweisen, was ohnehin viele wussten: sur oder Mediengleichschaltung nicht kompen- Die Ergebnisse der landesweiten Kommunalwah- sieren. Hunderttausende Menschen hatten zwar len waren systematisch gefälscht worden. Die Em- einen festen Arbeitsplatz, ohne aber einer sinn- pörung über die plumpe Fälschung reichte bis vollen Arbeit nachgehen zu können. Die Lebens- weit in die SED-Reihen hinein und trug wesent- erwartung nahm seit Beginn der 1980er Jahre ent- lich dazu bei, dass auch innerhalb systemnaher gegen einem internationalen Trend leicht ab. Die Kreise die Zweifel an der SED-Politik zunahmen. Umwelt war ein besonderes Krisensymptom ge- Die verbreitete Empörung wuchs noch an, als die worden. Die DDR zählte in den 1980er Jahren zu DDR-Regierung die brutale militärische Nieder- den größten Umweltsündern Europas. schlagung der chinesischen Oppositionsbewegung Die Bundesrepublik als Schaufenster in den Anfang Juni 1989 lautstark begrüßte. Die Men- Westen wirkte wie ein Pfahl im Fleische. Auch schen in der DDR verstanden die Botschaft: Auch die Kirchen erfüllten diese Funktion bereits durch ihnen würde bei Massenprotesten und einem Auf- ihr bloßes Vorhandensein. Sie waren die einzigen stand die Niederschlagung mit Panzern drohen. Großinstitutionen, die im Weltanschauungsstaat Fortan war die Angst vor der „Chinesischen Lö- sung“ präsent. Im Sommer verschärfte sich die Krise durch 01 Siehe die umfassende Darlegung Ilko-Sascha Kowalczuk, mehrere Faktoren. Die SED-Führung schien sich Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 20153. in den Urlaub verabschiedet zu haben. Bis Ok- 02 Siehe z.B. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirt- schaftsgeschichte der DDR, Berlin 2007; ders. (Hrsg.), Überholen tober waren keine neuen Töne vernehmbar. Zu- ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen dem verabschiedeten sich Zehntausende Men- Geschichte?, Berlin 2006. schen für immer: Sie flüchteten über Ungarn 05
APuZ 35–37/2019 und bundesdeutsche Botschaften in die Freiheit. DER REVOLUTIONSTAG: Und die kleine Opposition suchte nach alterna- 9. OKTOBER 1989 tiven Handlungsformen. In rascher Folge kamen Gründungsaufrufe für neue Bewegungen heraus. Am Montag, 9. Oktober, herrschte eine unglaub- Bislang hatten sich viele Menschen gefragt, ob sie liche Anspannung im gesamten Land. Es gab nur sich dem Flüchtlingsstrom anschließen sollten. ein Thema: Kommt heute Abend in Leipzig die Nun gab es eine Alternative, die nicht mehr nur „Chinesische Lösung“ oder kommt sie nicht? In Hierbleiben oder Weggehen, sondern nun auch vier Leipziger Kirchen hatten sich am Nachmit- Einmischen oder weiter Schweigen hieß. Und na- tag Tausende Bürgerinnen und Bürger zum Mon- türlich auch: weiterhin das Regime zu unterstüt- tagsgebet eingefunden. Als sie etwa eine Stunde zen. Die meisten verhielten sich, wie bei jeder Re- später die Kirchen verließen, warteten draußen volution, passiv, warteten ab, hofften im Stillen. bis zu 70 000 Demonstranten. Zehntausende skan- Revolutionen sind immer Kämpfe von Minder- dierten: „Wir sind das Volk!“ Um 18.35 Uhr ent- heiten um die Mehrheit. schieden Leipziger SED-Funktionäre, nicht ein- Die Opposition erschien mit ihren verschie- zugreifen. Um 19.15 Uhr rief der ZK-Sekretär für denen Aufrufen eigentümlich zersplittert. Aber Sicherheitsfragen Egon Krenz in Leipzig an und im September erwies sich dies als ein kaum zu segnete diese Entscheidung nachträglich ab. überschätzender Vorteil. Gerade weil die meisten Von diesem Tag an war klar, dass die Revolu- Oppositionellen bis auf wenige Ausnahmen weit- tion friedlich verlaufen würde, das Regime hatte hin unbekannt waren, trug dieses Gründungsfie- de facto kapituliert. Der 9. Oktober 1989 in Leip- ber erheblich zur Mobilisierung der Gesellschaft zig war zum symbolischen „14. Juli“ der ostdeut- bei. Denn die rasch aufeinanderfolgenden Nach- schen Revolution geworden. Initiiert worden war richten von immer neuen Aufrufen – der für das er von einer kleinen Gruppe Oppositioneller, die Neue Forum war der berühmteste und wirk- seit Jahren aktiv war. Sie hatten seit dem 4. Sep- mächtigste – erweckten in der Öffentlichkeit den tember den Rufen „Wir wollen raus“ von Aus- Anschein, dass an vielen Orten ganz unterschied- reisewilligen ihr trotziges „Wir bleiben hier“ ent- liche Personen völlig unabhängig voneinan- gegengesetzt. Ihnen schlossen sich erst Dutzende, der nicht mehr schweigend der Krise zuschauen dann Hunderte, schließlich Tausende und Zehn- wollten und andere Handlungsoptionen als die tausende an. Am 18. Oktober gab die SED den Flucht wählten. Das mobilisierte ungemein. Die Rücktritt Honeckers bekannt. Die Maueröffnung Westmedien trugen entscheidend dazu bei, dass am 9. November war von der SED-Führung be- die Aufrufe bekannt wurden und sich bald jeder reits in einem Planspiel im August 1989 erson- fragen musste, wo er eigentlich selbst steht. Das nen worden: den Kessel kurzzeitig öffnen, um hatte zur Folge, dass ab Mitte September 1989 die ihn dann wieder hermetisch abzuschließen. Nach DDR von einer wochen-, ja monatelangen Flut dem 9. November gelang dies nicht mehr, ob- von Aufrufen, Resolutionen, offenen Briefen und gleich auch noch solche Ideen erwogen wurden. bald auch immer wieder neuen Vereinsgründun- Die Inszenierung der Maueröffnung durch Egon gen überzogen wurde. Krenz und dem ZK-Sekretär für Informationswe- Mitte September begann Zeit in der DDR ei- sen Günter Schabowski war ein großes Schauspiel nen neuen Wert anzunehmen, was sich ab Mit- zweier politischer Dilettanten, die nicht einmal te Oktober geradezu dramatisch verstärken soll- ansatzweise mit diesen Folgen gerechnet hatten. te. Zeit war fast die einzige Sache, die es in der DDR zuhauf gab; sie schien bis zum Sommer VOM RUNDEN TISCH 1989 stillgestanden zu haben. Nun auf einmal ZU FREIEN WAHLEN raste alles. Die Zeit überholte sich dauernd selbst, so schien es jedenfalls. Ab Anfang September tra- Nach dem Mauerfall war das Schicksal von SED fen sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger in und DDR besiegelt. Die DDR war nur als poli- Leipzig und bald auch in anderen Städten zu re- tische, ökonomische, gesellschaftliche Alternati- gelmäßigen Demonstrationen. Die Gesellschaft ve zur Bundesrepublik denkbar. Mitte November war in Bewegung geraten, aber noch Mitte Okto- schien aber noch vieles ungewiss. Die Blockpar- ber wagte sich nur eine kleine Minderheit auf die teien profilierten sich von Tag zu Tag stärker als Straßen und in die Kirchen. eigenständige politische Kräfte. Mit der Wahl des 06
Das letzte Jahr der DDR APuZ Rechtsanwalts Lothar de Maizière zum Partei- Adresse von Kohl richtete. Der hatte das durchaus chef am 10. November begann die Ost-CDU auf verstanden: Die deutsche Einheit war zu haben, Reformkurs einzuschwenken, die LDPD hatte aber zugleich müsse Europa gestärkt daraus her- damit schon Mitte Oktober vorsichtig begonnen. vorgehen. Kohl eilte am 19. Dezember nach Dres- Die Oppositionsgruppen blieben für die Massen- den, um vor Mitterrand in der DDR politische mobilisierung zuständig. Nun, da die Zukunft Zeichen zu setzen. Zehntausende Dresdner emp- wieder offen schien, zeigten sich alle – ganz na- fingen ihn mit einem Fahnenmeer. Immer wieder türlich – überfordert. Die SED versuchte die un- skandierte die Menge „Deutschland, Deutsch- übersichtliche Situation zu nutzen, um selbst in land“ und feierte den Kanzler. Der zeigte sich tief die Offensive zu kommen. Nachdem bis Ende bewegt und forcierte anschließend das Tempo zur Dezember rund 900 000 Mitglieder die Partei ver- Einheit. Auch Kohl erlag dem Druck der Straße. In lassen hatten, betrug ihre Mitgliederzahl offiziell Ost-Berlin demonstrierten am nächsten Tag eben- immer noch 1,463 Millionen. Daneben kontrol- falls Zehntausende, nun aber, um gegen die „dro- lierte sie bis auf die Tageszeitungen der Block- hende“ Wiedervereinigung und Kanzler Kohl, der parteien alle DDR-Medien. Die gesamte Par- immer stärker zur Zielscheibe der Einheitsgegner teistruktur mit Zehntausenden hauptamtlichen und -kritiker wurde, zu protestieren. Funktionären sowie die flächendeckende Infra- Bis zum Wahltag am 18. März 1990 sah es so struktur waren komplett intakt. Den Oppositi- aus, als würden die Sozialdemokraten überle- onsgruppen stand davon nichts zur Verfügung. gen gewinnen. Alle Prognosen deuteten darauf Zwei Wochen vor seinem Rücktritt kündigte hin. Der Wahlkampf war allein geprägt von der Honeckers Nachfolger Krenz am 22. November an, Frage, wie die deutsche Einheit gestaltet werden sich an einem „Runden Tisch“ zu beteiligen – eine könnte. Die Allianz für Deutschland aus CDU, Forderung, die von der Opposition seit Wochen er- Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokra- hoben worden war. Die erste Sitzung des Zentralen tischem Aufbruch (DA) stand für den schnells- Runden Tisches, an dem Regierung und Opposition ten Weg zur Einheit. Ihre Formel lautete: „Sofor- über die Machtübergabe zu verhandeln begannen, tige Einführung der DM.“ Mehr konnte niemand fand am 7. Dezember statt. Die Einberufung be- bieten. Damit waren Wahlversprechen verbunden deutete einen politischen Sieg der Opposition. Der wie die Umstellung der Löhne, Renten und vor Zentrale Runde Tisch wollte die „Offenlegung der allem Sparkonten im Verhältnis von 1 : 1 (DDR- ökologischen, wirtschaftlichen und finanziellen Si- Mark zu D-Mark). Die Versprechen waren un- tuation in unserem Land“ bewirken und Vorschlä- haltbar. Heute nennt man so etwas Populismus. ge zur Krisenüberwindung vorlegen. Als Kontroll- Als am Wahlabend im Fernsehen die ersten organ forderte er „von der Volkskammer und der Hochrechnungen bekannt gegeben wurden, über- Regierung, rechtzeitig vor wichtigen rechts-, wirt- raschte lediglich die hohe Wahlbeteiligung nie- schafts- und finanzpolitischen Entscheidungen in- manden. Sie lag nach dem amtlichen Ergebnis bei formiert und einbezogen zu werden“. In diesem 93,4 Prozent. Die Allianz erhielt 48 Prozent der Selbstverständnis wird deutlich, wie sehr sich die op- Stimmen (CDU 40,8 Prozent, DSU 6,3 Prozent, positionellen Teilnehmer bewusst waren, dass ihnen DA 0,9 Prozent). Der prognostizierte Wahlsieger eine demokratische Legitimation fehlte, sie nur de- SPD lag bei 21,9 Prozent. Die SED/PDS folgte mokratische Wahlen vorbereiten könnten und daher mit 16,4 Prozent, fast 1,9 Millionen Wahlberech- Kontrollaufgaben wahrnehmen und die Öffentlich- tigte hatten sich für die Kommunisten und Post- keit informieren müssten. kommunisten entschieden. Das liberale Bündnis Der Wahlkampf begann am 19. Dezember. brachte es auf 5,3 Prozent. Die Bürgerrechtsbewe- Bundeskanzler Helmut Kohl hatte erfahren, dass gung ging unter. Die britische Premierministerin der französische Staatspräsident François Mitter- Margaret Thatcher gratulierte Kanzler Kohl zum rand am 20. Dezember zu einem offiziellen Staats- Wahlsieg, was den Nagel auf den Kopf traf. besuch nach Ost-Berlin kommen werde. Sein Auffällig am Wahlergebnis waren ein deutli- Besuch galt weniger Hans Modrow – das SED- ches Nord-Süd-, ein Stadt-Land-Gefälle sowie Politbüromitglied war seit 13. November Minis- Unterschiede zwischen „Hand- und Kopfarbei- terpräsident – und der DDR, sondern verdeutlich- tern“ im Wahlverhalten; je kleiner die Städte und te seine kritische Haltung zur Wiedervereinigung. Gemeinden, desto höher war der Anteil der Stim- Es war eine Machtdemonstration, die sich an die men für die Allianz. In fast 100 von 237 Stadt- und 07
APuZ 35–37/2019 Landkreisen, vor allem im Süden, erhielt die Alli- ronie ist nicht komisch, sondern tragisch: Denn anz über 50 Prozent der Stimmen. In 13 Kreisen ausgerechnet jene Wählergruppe, die der CDU erhielt die SPD weniger als zehn Prozent, davon ganz entscheidend zu den Wahlsiegen verhalf, war lagen zwölf im Bezirk Dresden. Mehr als 30 Pro- im Transformationsprozess jene soziale Gruppe, zent errang sie in 40 Stadt- und Landkreisen, da- die am meisten „verlor“: Wie sich schnell zeigte, runter alle elf Ost-Berliner Stadtbezirke, 15 von war keine Gruppe so von Arbeitslosigkeit und 19 Potsdamer Kreisen und neun von zwölf in „Strukturumbrüchen“ betroffen wie die Arbeiter. Frankfurt/Oder. Hinzu kamen die Städte Mag- deburg, Rostock und Wismar sowie die Kreise NEUE ERFAHRUNGEN Templin, Prenzlau und Grevesmühlen. Die SED/ PDS wurde in 35 Kreisen (Schwerpunkte der thü- Der Wahlausgang am 18. März bedeutete eine po- ringische Bezirk Erfurt und der sächsische Bezirk litische, wirtschaftliche und sozialpolitische Rich- Karl-Marx-Stadt) mit weniger als zehn Prozent tungsentscheidung. Die eingeschlagene Richtung Wähleranteilen abgestraft. Das beste Ergebnis mit wurde durch die Verträge, die zum 1. Juli 1990 die 38,4 Prozent erhielt sie in Berlin-Hohenschön- Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion einleite- hausen, wo besonders viele MfS-Mitarbeiter und ten, bestätigt und durch den Einigungsvertrag lang- SED-Funktionäre wohnten. In weiteren acht fristig befestigt. Die „Schockwirkungen“03 dieser Kreisen votierten mindestens 30 Prozent für die Entwicklungen wurden ab Sommer 1990 sichtbar, SED, darunter neben Frankfurt/Oder-Stadt, Neu- erstreckten sich über die nächsten Jahre und spitz- brandenburg-Stadt und Ueckermünde fünf wei- ten sich sozial immer weiter zu. Die Revolution tere Ost-Berliner Stadtbezirke. Die Listenverbin- hatte ihr institutionelles Korsett gefunden. Künf- dung Bündnis 90 (Neues Forum, Initiative Frieden tige Historikerinnen und Historiker werden darü- und Menschenrechte, Demokratie Jetzt) erhielt ber zu befinden haben, wann die Vereinigungsge- nur in den elf Ost-Berliner Stadtbezirken sowie schichte „beendet“ war – wahrscheinlich im ersten den Städten Leipzig und Dresden mehr als fünf Dezennium des 21. Jahrhunderts.04 Prozent Stimmenanteile. Die höchsten verbuchte Der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer sie im Prenzlauer Berg mit 8,5 Prozent. brachte Anfang August 1990 auf den Punkt, was Die Stimmen für die Allianz verteilten sich sich seit 1. Juli 1990 in der DDR abspielte: Ihm käme nach Männern und Frauen etwa gleich, bei den Al- es so vor, als würde versucht werden, während einer tersgruppen votierten überdurchschnittlich viele rasanten Autofahrt die Reifen zu wechseln.05 Die aus den Gruppen der 40- bis 59-Jährigen für die soziale Problemlage baute sich in der DDR schnel- Allianz, obwohl die Differenzen zu den Jüngeren ler auf als erwartet – aber der allgemein herrschen- wie den Älteren nicht sonderlich signifikant ausfie- de zukunftsorientierte Optimismus in der ostdeut- len. Doch die eigentliche Sensation bot die Wahl- schen Gesellschaft schien ungebrochen. Dies wurde analyse bezogen auf die soziale Zusammensetzung befördert durch Bilder von rasch „blühenden Land- der Wähler: Die Allianz „als Partei der Arbeiter“ schaften“ im Osten und dem noch im Sommer 1990 war unerwartet, überraschend, sensationell. Mehr von der Bundesregierung gebetsmühlenartig wie- als jeder zweite Wähler der Allianz war Arbeiter derholten „Versprechen“, die Lohn- und Lebensni- oder Arbeiterin – aber ebenso wählte mehr als je- veauanpassung an die alte Bundesrepublik würde in der zweite von ihnen die Allianz. Die Unterschie- drei bis fünf Jahren erreicht sein. de zum alten Bundesgebiet waren dramatisch, vor 1989 wies die DDR 9,7 Millionen Beschäftigte allem was die SPD anbelangte. Bereits bei den ers- auf, Ende 1993 waren es noch 6,2 Millionen. Be- ten freien Wahlen 1990 zeigte sich also, dass der reits im Laufe des ersten Halbjahres 1990 stieg die Osten anders tickt – ganz anders sogar. Zahl an Arbeitslosen rasch. Waren im Januar of- Zunächst aber gehörte es vielleicht zur beson- fiziell 7440 Menschen arbeitslos, lag deren Zahl deren Ironie der Geschichte, dass der „Arbeiter- und-Bauern-Staat“, die SED-Diktatur, den demo- 03 Jan Priewe/Rudolf Hickel, Der Preis der Einheit. Bilanz und kratisch legitimierten Todesstoß ausgerechnet von Perspektiven der deutschen Vereinigung, Frankfurt/M. 1991, S. 91. 04 Vgl. ausführlich Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme. Wie jenen erhielt, in deren Namen das Gesellschaftsex- Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019. periment jahrzehntelang gegen Widerstände, Wi- 05 Zit. nach Ulrike Füssel, Ein Reifenwechsel in voller Fahrt. derwillen und mit vielen Opfern durchgepeitscht Die Lage in den DDR-Betrieben ist schlimmer als befürchtet, in: worden war. Die andere Seite dieser Geschichtsi- Frankfurter Rundschau, 8. 8. 1990. 08
Das letzte Jahr der DDR APuZ im Juni schon bei 142 096. Dieser Trend verstärkte 15 Prozent noch arbeiteten, berücksichtigt keine sich ab 1. Juli 1990. Ende Juli stieg die Zahl der Ar- Statistik. Weitere Phänomene waren die hohe Zahl beitslosen auf 272 017, im September auf 444 856 befristeter Arbeitsverträge sowie Teilzeitbeschäfti- und zum Jahresende auf 642 000. Auf Kurzarbeit gungsverhältnisse. Hinzu kam, dass noch 1990 der waren Ende September bereits 1 728 749 Men- Ausbildungsmarkt im Osten dramatisch einbrach schen. Der Anteil der Facharbeiter bei den Ar- und so ein Teil der Jugendlichen und jungen Er- beitslosen betrug etwa zwei Drittel, hinzu kamen wachsenen statistisch unberücksichtigt blieb. Mit noch rund 20 Prozent un- oder angelernte Arbei- anderen Worten: Die Arbeitslosenstatistiken spie- ter. Über die Hälfte der Arbeitslosen waren weib- geln nur einen Teil jener Problemlage, die für die lich, im Laufe des Jahres 1991 begann der Anteil sozialgeschichtliche Betrachtung des Transforma- zwei Drittel zu erreichen, sodass doppelt so vie- tionsprozesses entscheidend ist. Ganz zu schwei- le Frauen erwerbslos gemeldet waren als Männer. gen davon, was das bisher unbekannte Damokles- Die Verlierer(innen) waren Arbeiterinnen. schwert reale oder drohende Arbeitslosigkeit für Dieser Arbeitsmarktrend wurde dadurch die betroffenen Familien psychisch hieß, selbst noch verschärft, dass im Herbst 1990 die Arbeits- wenn nur eine Person betroffen war. Es gab wohl losenquote im alten Bundesgebiet auf den nied- kaum eine ostdeutsche Familie, die in den 1990er rigsten Stand seit 1981/82 sank, zugleich die Kon- Jahren nicht davon betroffen war: ein Phänomen, junktur im Westen deutlich angekurbelt wurde, das in keiner Lebensplanung vorgesehen war. das Bruttoinlandsprodukt stieg, während es im Die Sozialstruktur Ostdeutschlands veränder- Osten dramatisch einbrach. Der arbeitsmarkt- te sich grundlegend: „Nach der Vereinigung hat politische Kontrast zwischen Ost und West hätte sich das Wachstum des tertiären Sektors [Dienst- 1990/91 größer kaum sein können – ein Kontrast, leistungsbereich] zu Lasten des sekundären Sektors der in den 1990er Jahren bestehen blieb, obwohl [Industrie und Handwerk] und des bereits stark ge- es ab 1993 im alten Bundesgebiet ebenfalls zum schrumpften primären Sektors [Landwirtschaft] Konjunktureinbruch und zum signifikanten An- fortgesetzt. Die erhebliche Tertiärisierungslücke der stieg der Arbeitslosenzahlen kam. DDR – diese hinkte um ca. 25 Jahre hinter der Bun- Hinzu kommt noch, dass die statistisch er- desrepublik her – wurde quasi über Nacht beseitigt. rechnete Arbeitslosenquote für den Zeitraum 1990 Im Zuge der schmerzlichen Krisen der ostdeutschen bis 1994 die reale Arbeitslosigkeit nur sehr unzu- Industrie und Landwirtschaft wurde eine Entwick- reichend erfasst: Letztere war jedoch entscheidend lung, die in Westdeutschland 25 Jahre gedauert hatte, für ostdeutsche Wahrnehmungen des Einheitspro- innerhalb von drei Jahren nachgeholt.“06 zesses. Einerseits setzte sie die Erwerbstätigen 1989/90 galt in Ostdeutschland etwa die Hälf- erheblich unter Stress, weil Arbeitslosigkeit als te aller Beschäftigten als „Arbeiter“. Schnell war es Gefahr über fast allem schwebte. Andererseits be- weniger als ein Viertel – der ostdeutsche Arbeiter deuteten gerade Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen war bereits bis 1994 aus seiner sozialstrukturellen (ABM), Umschulungsmaßnahmen oder Kurzar- Dominanzrolle zur sozialstrukturellen Minorität beit in der ersten Hälfte der 1990er Jahre oft nichts geschrumpft, deren Zukunftsaussichten nicht son- anderes, als real arbeitslos zu sein oder zu werden. derlich rosig waren. Diese Entwicklung entspricht Die Maßnahmen brachten oft nichts und frustrier- einem Trend in westlichen Industriegesellschaften. ten nur noch mehr, Hunderttausende durchwan- Der Transformationsprozess hat diese Entwick- derten mehrere ABM oder Umschulungen, um lung radikal befördert, ist dafür aber nicht allein nach Auslaufen der „Förderungen“ endgültig und verantwortlich. Hier zeigte sich bereits eine andere nunmehr offiziell arbeitslos zu werden. Tendenz: In Ostdeutschland hatte sich der Wandel Besondere Formen der Arbeitslosigkeit, die in einer radikalen Beschleunigung gezeigt, wie es für den mentalen Teil des Vereinigungsprozesses bislang in der westlichen Welt untypisch war. Erst meist unterschätzt werden, finden gar keinen Ein- Jahre später sollte sich erweisen, dass das Tempo gang in die Statistiken: Die Vorruhestandsregelun- der Veränderungen in Ostdeutschland nicht etwas gen zum Beispiel haben ganze Jahrgänge der über ganz Spezifisches gewesen war, sondern im Zeit- 55-Jährigen aus dem Arbeitsprozess herausgelöst, alter von Globalisierung und Digitalisierung all- sodass sie in den offiziellen Statistiken gar nicht als arbeitslos gelten. Aber auch Männer und Frauen 06 Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Aktuelle Ent- im Rentenalter, von denen in der DDR 1989 etwa wicklungen und theoretische Erklärungsmodelle, Bonn 2010, S. 16. 09
APuZ 35–37/2019 gemein typisch werden sollte.07 Die nachholende Der Wahlausgang am 18. März 1990 war ein Modernisierung war so auch zu einem vorausge- Hinweis, wie stark die ostdeutsche Gesellschaft be- henden Entwicklungstrend geworden, zumindest reit war, die Diktatur gegen neue Heilsversprechen was die Geschwindigkeit anbelangte. einzutauschen. Ganz offenkundig hatte der Osten die „Schnauze voll“ von „Zukunft“. Kaum jemand HOFFNUNGEN hatte Lust, erneut auf den Sankt-Nimmerleins-Tag UND ERWARTUNGEN zu warten. Die Zukunft sollte jetzt und heute be- ginnen. Kanzler Kohl war der gute Onkel aus dem Kohls aus Anlass der Währungs-, Wirtschafts- Westen, der die Geschenke verteilen würde. Frei- und Sozialunion am 1. Juli 1990 in einer Fern- heit und Demokratie hieß für die meisten lediglich, sehansprache geäußerte Zuversicht, es würde nie- „richtiges Geld“ zu besitzen. Im Prinzip war das mandem schlechter gehen als zuvor und überall eine Situation, in der Kohl als neuer Patriarch agie- würden „blühende Landschaften“ entstehen, ent- ren musste – selbst wenn er es nicht gewollt hätte. sprach exakt den Vorstellungen der allermeisten In das Jahr 1989 gingen die meisten Ostdeut- Menschen im Osten, die am 18. März 1990 für die schen hoffnungslos – ohne Hoffnung, dass sich Allianz gestimmt hatten. Genug der Experimen- bald etwas ändern würde. Nur eine kleine Min- te, genug der Schaufenster, nun endlich wollte eine derheit engagierte sich für Veränderungen. Eine übergroße Mehrheit selbst im Schaufenster leben. größere Minderheit war so hoffnungslos, dass sie Im Prinzip hätte man bereits an diesem Wahl- wegging, flüchtete und große Gefahren für das ei- abend ahnen können, was das eigentlich für die Zu- gene Leben in Kauf nahm. Von diesem Staat war kunft des Landes hieß: Wenn eine Gesellschaft sich nichts zu erwarten, so der weitverbreitete Tenor. der Diktatur entledigt, ein großer Teil befreit wird, Am Ende des Jahres war die Überraschung, Freu- nur der kleinere Teil sich selbst befreit hat und zu- de bei allen, ob aktiv oder passiv, schier grenzen- gleich dem großen Teil die neue Freiheit schenkt, los – die Hoffnungslosigkeit hatte sich in pures ohne dass dieser etwas dafür tun musste, ohne dass Glück verwandelt, für die absolut meisten Men- dieser anschließend irgendetwas tun muss, dann schen ohne eigenes Zutun. kann das nicht folgenlos bleiben. Demokratie, Frei- Die Gesellschaft ging dementsprechend in das heit und Rechtsstaatlichkeit hatten 1990 in Ost- Jahr 1990 und die folgende Wiedervereinigung ganz deutschland von Anfang an einen schweren Stand, anders als in das Jahr zuvor mit sehr, sehr hohen Er- weil die offene Gesellschaft als Geschenk „von wartungen. Sie waren gespeist von einem traditio- oben“ für die Mehrheit daherkam und „von un- nellen Etatismus. Dieser neue Staat versprach dann ten“ sie nur von einer Minderheit angestrebt wor- auch das Blaue vom Himmel herunter: „D-Mark“, den war. Hinzu kam, dass die ersten Erfahrungen „blühende Landschaften“, „es wird niemanden mit dem neuen Staat für viele Menschen unerfreu- schlechter gehen“ – die Hochglanzkataloge der Ver- lich waren: Arbeits- und Sozialämter sowie Institu- sandhäuser und das Westwerbefernsehen schienen tionen des Rechtsstaats. Zudem saßen in fast allen nicht mehr nur Schaufensterversprechen zu sein, wichtigen Führungspositionen bald schon Personen sondern alsbald Lebensrealität. Der bundesdeut- aus dem Westen, die nicht selten wenig Verständ- sche Staat würde dafür sorgen. Für Ostdeutsche nis für die anders gelagerten Erfahrungen der ihnen änderte sich alles. Die kaum Grenzen kennenden nun unterstellten Ostdeutschen aufbrachten.08 Sozi- Hoffnungen bargen ein sehr hohes Enttäuschungs- alpsychologisch gesehen, geht der Mensch mit dem potenzial bereits in sich, weil sich viele einer Täu- Selbsterrungenen, dem Selbsterkämpften sorgsamer schung hingaben: Der Staat würde es richten. um, ist es eher bereit zu verteidigen, als wenn ihm Für viele Ostdeutsche wurde der Westen tat- etwas geschenkt wird. Hinzu kam, dass Millionen sächlich zum Glück, zum Erfolg, zum erträumten Menschen sich nun in einem System zurechtfinden oder wenigstens erwarteten Leben in Freiheit und mussten, das ihnen nie jemand erklärt hat, und auch Wohlstand. Für viele andere trat das nicht ein. Sie später vielen nie erklärt wurde. wurden tief enttäuscht, nicht nur, weil sie über- spannte Erwartungen gehegt hatten, sondern weil sie gar keine Chance bekamen, ein Leben jenseits 07 Vgl. etwa Hartmut Rosa, Beschleunigung, Frankfurt/M. 200511; ders., Unverfügbarkeit, Wien-Salzburg 2018; ders., staatlicher Alimentierungen zu entfalten. Und vie- Beschleunigung und Entfremdung, Berlin 20186. le Gruppen wurden enttäuscht: Opfer der Kom- 08 Siehe dazu ausführlich Kowalczuk (Anm. 4). munisten, weil sie der Rechtsstaat nicht gebüh- 10
Das letzte Jahr der DDR APuZ rend zu würdigen und entschädigen wusste. Treue und wahrgenommene Missachtung können in Ge- SED-Systemgänger, weil sie sich benachteiligt walt münden.10 Und Anerkennung ist eine oft un- und gedemütigt vorkamen. Arbeiter, weil sie kei- terschätzte Vorbedingung für Freiheit, die „als eine ne Arbeit mehr fanden. Kinder, weil ihre Eltern Art von nach innen gerichtetem Vertrauen zu ver- aufgrund sozialer Nöte mental abwesend waren. stehen“ ist, „das dem Individuum Sicherheit so- Wissenschaftler, weil ihr Wissen niemand mehr zu wohl in der Bedürfnisartikulation als auch in der benötigen schien. Bauern, weil die Landwirtschaft Anwendung seiner Fähigkeiten schenkt“.11 Überall ohne sie auskam. Bürgerrechtler, weil die Bürger auf der Welt sehen wir große Gesellschaftsgruppen, ihren Rat und ihr Engagement nicht würdigten, die sich nicht anerkannt fühlen, die sich als zurück- nicht benötigten. Die Liste ließe sich lange fortset- gesetzt wahrnehmen, die sich als ausgegrenzt be- zen. Wie vor 1989 erscheint Ostdeutschland auch zeichnen. Es geht nicht einmal um die Frage, ob es heute als eine stark fragmentierte, tief gespaltene, so ist oder nicht – und meistens stimmt das durch- in sich zerrissene und zerstrittene Gesellschaft.09 aus –, denn tatsächlich ist die Macht von Emotio- Keine Frage: Dies ist der Normalfall menschlicher nen wirkungsvoller als jede Sozialstatistik.12 Emo- Gesellschaften, aber auch ein Problem, wenn eine tionen verbinden, Statistiken sind kalt. solche Gesellschaft in die Zukunft aufbricht. Heu- Ostdeutschland hat bis heute einen vergebli- te fehlt dem Osten die Jugend und damit der Zu- chen Kampf um Selbstanerkennung geführt. Die kunft wichtigster Garant. in der DDR existierende Spaltung der Gesellschaft schien 1989/90 kurzzeitig aufgehoben zu sein – ANERKENNUNG doch diese Wahrnehmung war eine Illusion. Noch UND MISSACHTUNG 1990 ist die alte Spaltung öffentlich geworden, die sich nun rasch durch neue Spaltungstendenzen auf- Der größte politische Irrtum in Deutschland und grund der gesellschaftspolitischen Entwicklungen Europa liegt am Beispiel Ostdeutschlands offen: erweiterte, verfestigte und zugleich von ihnen über- Die Annahme, wer sozial befriedet und zufrieden lagert worden ist. Deswegen kann die heutige Situ- sei, werde Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat, ation in Ostdeutschland auch nicht allein mit den sprich die westlichen Werte, wie von selbst stützen, Jahren seit 1990 erklärt werden.13 Die ostdeutschen stimmt nicht. In dem Maße, in dem die Ostdeut- Erfahrungsräume im 20. Jahrhundert parzellierten schen sozial im Westen angekommen waren, fingen die Gesellschaft – je nachdem, wie man wo in den sie an, sich von ihm zu distanzieren. Zunächst nutz- verschiedenen Staatssystemen stand. Der Transfor- te dafür ein Drittel bis zur Hälfte der Gesellschaft mationsprozess hat das verstärkt, weil die hinzuge- die PDS beziehungsweise Die Linke und andere tretenen Führungskräfte fast durchweg mit ande- Populisten, seit Mitte der 2010er Jahre die AfD und ren Erfahrungen, Einstellungen, Vorstellungen und deren Umfeld. Dieses Reaktionsmuster ist kein ty- Herangehensweisen Takt und Richtung vorgaben. pisch ostdeutsches. Es lässt sich so oder ähnlich in Eine „Durchmischung“ Ost und West fand in der vielen Regionen der Welt beobachten. Anerken- Breite nicht statt, „Westler“ traten vorwiegend als nung und Missachtung gehen Hand in Hand. Fehlt Vorgesetzte in Erscheinung. Die „Ostler“ nahmen Anerkennung, wird das als Missachtung wahr- sich häufig als unterlegen, deklassiert und Befehls- genommen. Anerkennung ist eine Bedingung für empfänger war. Die Rolle hatten die Ostdeutschen Selbstanerkennung. Fehlende Selbstanerkennung zwar lange genug gelernt. Ihnen ist aber seit 1990 unentwegt mitgeteilt worden, sie seien nun selbst die Macher. Das wurden sie aber nicht: Weil die ei- 09 Exemplarisch steht dafür der jüngste Streit um die Fragen, nen nicht konnten, die anderen nicht durften, die ob Gregor Gysi am 9. Oktober 2019 in Leipzig eine Festrede nächsten nicht wollten und diejenigen, die es aus- halten sollte oder wie der Charakter der Revolution von 1989 einzuschätzen sei. Siehe hierzu www.havemann-gesellschaft.de/ füllten, in den Augen der anderen Ostdeutschen themen-dossiers/streit-um-die-revolution-von-1989. alsbald nicht mehr als Ostdeutsche galten. 10 Vgl. Amin Maalouf, Mörderische Identitäten, Frankfurt/M. 2000. ILKO-SASCHA KOWALCZUK 11 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen ist Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt verglei- Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 19982, S. 278 f. 12 Vgl. Didier Eribon, Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitä- chende Widerstands- und Revolutionsgeschichte. Er ist ten, Wege, Frankfurt/M. 2017. Autor zahlreicher Bücher über die DDR. Gegenwärtig 13 Vgl. Kowalczuk (Anm 5.). schreibt er eine Biografie über Walter Ulbricht. 11
APuZ 35–37/2019 ESSAY VERPASSTE CHANCEN IM 41. JAHR Dieter Segert Nach den pompösen Feierlichkeiten der SED- Nebeneinanders zweier demokratischer deut- Führung zum 40. Jahrestag der Republik be- scher Staaten gewesen? Eine dadurch mögliche gann am 7. Oktober 1989 das 41. Jahr der DDR.01 behutsamere Vereinigung zweier unterschiedli- Was weiß man heute noch von dem Jahr, das am cher Gesellschaften, Kulturen und Wirtschafts- 2. Oktober 1990 endete? Was bleibt unbeachtet? systeme hätte den DDR-Bürgerinnen und -Bür- Im Folgenden geht es vor allem um vergessene gern Zeit gegeben, ihre Interessen zu artikulieren. Alternativen deutscher Entwicklung. Dabei han- Das hätte im Osten zu einer lebendigeren Zivilge- delt es sich nicht allein um verpasste Gelegenhei- sellschaft geführt. ten für die DDR oder Ostdeutschland. Auch für Die Argumente gegen diese Alternative sind das ganze Deutschland boten sich in jenem Jahr bekannt: Die DDR-Bürger selbst hätten das nicht Chancen. geduldet. Sie wollten damals so schnell wie mög- lich in die reichere Gesellschaft kommen. An- ALTERNATIVE dernfalls hätte eine noch stärkere Auswande- ZUM BEITRITT? rungsbewegung gedroht. Als Beleg hierfür gilt zum Beispiel die auf Demonstrationen geäußerte Ab Frühjahr 1990 schien es nur zwei Szenarien Parole „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt für die Zukunft zu geben: Eine Vereinigung bei- sie nicht, geh’n wir zu ihr“. der deutscher Staaten nach Art. 23 GG („Beitritts- Man kann dieser Sichtweise Folgendes ent- artikel“) und eine Vereinigung nach Art. 146 GG gegenhalten: Politik ist durchaus in der Lage zu (Ablösung des Grundgesetzes durch eine gesamt- gestalten. Die berechtigten Erwartungen der Be- deutsche Verfassung). Die zweite Option wur- völkerung auf eine Verbesserung ihrer Lebens- de bekanntlich ausgeschlagen. Sie wäre mit einer bedingungen hätten auch eine andere Antwort umfassenden Verfassungsdiskussion verbunden finden können. Diese hätte mehr auf die eige- gewesen, in die die Erfahrungen der DDR-Be- nen Anstrengungen gesetzt, zwar einige Zumu- völkerung hätten einfließen können. Weil die tungen bedeutet, aber langfristig hätte sie durch- Diskussion ausblieb, sind vor allem die west- aus Erfolg versprochen. Man kann das an dem deutschen Bürgerinnen und Bürger ihrer Mit- Erfolg der polnischen oder tschechischen Wirt- wirkungsmöglichkeiten verlustig gegangen. Der schaftstransformation ablesen. Es gab Teile der damalige DDR-Bildungsminister Hans Joachim politischen Klasse der DDR im 41. Jahr, die eine Meyer (CDU) brachte es auf den Punkt: „Ich hät- weniger hektische Gangart der deutsch-deutschen te es begrüßt, wenn damals im Westen mehr Leu- Annäherung vorgezogen hätten. Hierzu gehörten te die Chance gesehen hätten, diese vierzig Jah- etwa die besonders Aktiven der DDR-Zivilge- re alte Bundesrepublik bei der Gelegenheit auch sellschaft, die den Wandel in den späten 1980er ein wenig rundzuerneuern.“ Er ergänzte resig- Jahren vorangetrieben hatten, aber auch die Mit- niert: „Sieger denken halt nicht über ihre Fehler glieder der SED, die sich für eine Demokratisie- nach.“02 rung und Reform von Staat und Gesellschaft im Die nicht realisierte Alternative im 41. Jahr Herbst und Winter 1989/90 engagiert hatten. Am meint nicht etwa die Verewigung der deutschen Zentralen Runden Tisch hatten sich beide Grup- Zweistaatlichkeit, sondern eine langsamere Ent- pen ab Anfang Dezember 1989 organisiert. In der wicklung des Vereinigungsprozesses. Letzteres DDR-Volkskammer waren jene Politiker nach war ursprünglich auch vonseiten der Mitglieder der Wahl im März 1990 in der Minderheit ge- der letzten DDR-Regierung erwartet worden.03 blieben. Doch immerhin war die SPD der DDR Was wäre der Gewinn dieser längeren Phase des als neue Partei (zunächst SDP), die sich für einen 12
Das letzte Jahr der DDR APuZ Beitritt nach Artikel 146 GG eingesetzt hatte, bis wicklung nicht verhindern können. Deshalb ist es Ende August Teil der Koalitionsregierung unter rückblickend auch abwegig, zu behaupten, dass Lothar de Maizière (CDU). Und auch in anderen es nur ein kleines Zeitfenster für die Wiederver- Koalitionsparteien jener letzten DDR-Regierung einigung gegeben hätte und die Einheit entweder gab es Politikerinnen und Politiker, die eine sich zeitnah oder gar nicht hätte stattfinden können. behutsamer erneuernde DDR bevorzugten.04 Mit Unterstützung von bundesdeutschen Politikern WENDEPUNKTE wäre eine langsamere Gangart möglich g ewesen. Als weiteres Argument gegen den zeitintensi- Im 41. Jahr der DDR gab es drei entscheidende veren Vereinigungsprozess wird die internationa- Ereignisse, die den weiteren Verlauf bestimmten: le Konstellation genannt. So habe eine reaktionä- erstens der Besuch einer DDR-Regierungsdele- re Wende in der Sowjetunion gedroht, wenn nicht gation unter dem Vorsitzenden des Ministerrates, schnell genug gehandelt worden wäre. Tatsächlich Hans Modrow, in Bonn im Februar 1990, in der putschten im August 1991 in Moskau konservati- auch Vertreterinnen und Vertreter der DDR-Op- ve Mitglieder der KPdSU gegen den sowjetischen position mitgereist waren. Im Gedächtnis blieb Staatschef Michail Gorbatschow – unter anderem die würdelose Behandlung jener DDR-Politiker mit dem Argument, er sei gegenüber dem Wes- durch Bundeskanzler Helmut Kohl. Ihre Bit- ten zu nachgiebig in der deutschen Frage gewe- te um einen Überbrückungskredit wurde abge- sen. Die politische Führung der Sowjetunion war schmettert.05 Die West-CDU war sich angesichts nicht zuletzt durch die US-amerikanische Regie- der bevorstehenden DDR-Parlamentswahl am rung und deren Wunsch, das vereinigte Deutsch- 18. März und der sich abzeichnenden deutlichen land in der NATO zu halten, unter Druck gera- Niederlage der reformierten Staatspartei PDS sie- ten. De facto verlangten die Amerikaner damit gessicher, und sie wollte den Kräften, die für eine von der sowjetischen Seite, eine Revision der Er- reformierte, aber souveräne DDR eintraten, kei- gebnisse des Zweiten Weltkriegs zu akzeptieren. nen Spielraum verschaffen. Dass Gorbatschow darauf einging, trug im eige- Das zweite Ereignis war das im selben Monat nen Land zum Widerstand konservativer Kräfte durch Kohl verkündete Angebot einer baldigen gegen ihn bei. Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Die Der erfolglose Ausgang des Putsches zeigt, Übernahme der Währung ohne wirtschaftlichen wie schwach die konservativen Beharrungskräfte Anpassungsprozess ab Juli 1990 hatte weitrei- in der Sowjetunion waren. Sie hätten die Einheit chende und widersprüchliche soziale Konsequen- Deutschlands auch bei deren langsamerer Ent- zen. Einerseits brachte sie den DDR-Bürgern rasch den Zugang zur ersehnten starken Wäh- rung, andererseits leitete sie den Niedergangs- 01 Das 41. Jahr der DDR wurde vom damaligen Rektor der Humboldt-Universität, Heinrich Fink, in einem Gespräch mit dem prozess der DDR-Wirtschaft ein und schadete so Verfasser als besonderer Zeitraum mit vielen neuen Möglichkei- den langfristigen Interessen der Bevölkerung. Die ten des Gestaltens hervorgehoben. In diesem Sinn kann das „41. Strategie der Bundesregierung bestand darin, die Jahr“ als Symbol für die damalige Suche und das tatkräftige En- im März gewählte DDR-Regierung an der kur- gagement für eine gewandelte DDR stehen. Vgl. Dieter Segert, zen Leine zu führen. Die westdeutschen Berate- Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR, Wien 2008, S. 195. rinnen und Berater spielten dabei eine wichtige 02 Zit. nach Olaf Jacobs (Hrsg.), Die Staatsmacht, die sich Rolle. Sie sollten nicht zuletzt die nach der Ein- selbst abschaffte. Die letzte DDR-Regierung im Gespräch, Halle gliederung der DDR-Wirtschaft durch die Wirt- 2018, S. 371. schafts- und Währungsunion möglichen Auswir- 03 Siehe hierzu die Äußerungen Lothar de Maizières, seines kungen auf die Bundesrepublik kontrollieren.06 Außenministers Markus Meckel, des Innenministers Peter-Mi- chael Diestel sowie der letzten Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl, in: Jacobs (Anm. 2), S. 28, S. 59, S. 67, S. 185, 05 Siehe Holger Schmale, Treffen von Hans Modrow und S. 230, S. 283. Helmut Kohl 1990. Die Delegation aus Ost-Berlin fühlte sich 04 Siehe v. a. die Berichte über häufig vergebliche Bemühun- gedemütigt, 15. 2. 2015, www.berliner-zeitung.de/treffen-von- gen von DDR-Ministern, sinnvolle Regelungen aus der DDR zu hans-modrow-und-helmut-kohl-1990-die-delegation-aus-ost- erhalten, etwa in den Interviews mit den Ministern Schirmer berlin-fuehlte-sich-gedemuetigt-3307722. (Kultur, CDU), Schmidt (Familie und Frauen, CDU), Pollack (Land- 06 Vgl. Alle meine Kumpels. Viele West-Beamte gehen den wirtschaft, parteilos – SPD nominiert) und Meyer (Bildung, CDU), unerfahrenen Ost-Regierenden zur Hand, 14. 5. 1990, www. in: Jacobs (Anm. 2), S. 203, 232, 237, 258, 360. spiegel.de/spiegel/print/d-13498963.html. 13
APuZ 35–37/2019 Auch die Verträge zur deutschen Einheit wur- neue DDR abgebrochen wurden, war ein ech- den stark durch die westdeutsche Seite bestimmt. ter Mangel. Demokratie steht für das bewusste Regierung und die Interventionen der westdeut- Parteiergreifen für und damit auch gegen mögli- schen Lobbygruppen sorgten dafür, dass sich che Zukunftsentwürfe. Vielfältige Informationen kaum jemals andere Regelungen als die bestehen- sind nötig, man muss lernen, zwischen sicheren den altbundesdeutschen durchsetzten.07 Kenntnissen und wohlmeinenden Vermutungen Drittes wichtiges Ereignis war der Bruch der zu unterscheiden, zwischen ernsthaften Angebo- DDR-Regierungskoalition Ende August 1990. ten und hohler Werbung. Demokratie zu lernen, DDR-Ministerpräsident de Maizière entließ benötigt Zeit. Diese fehlte gerade, als der Weg zur den sozialdemokratisch nominierten parteilo- deutschen Vereinigung radikal verkürzt wurde. sen Landwirtschaftsminister Peter Pollack sowie Viermal wurde in diesem kurzen 41. Jahr den sozialdemokratischen Finanzminister Wal- der DDR gewählt: ein wirklicher Wahlmara- ter Romberg und provozierte damit den Ausstieg thon, aber ohne ausreichende Vorbereitung. Zu- der SPD aus der Regierung. Dieser Bruch erfolgte erst wurden die Parlamentswahlen von Anfang nach Einschätzung damaliger Politiker auf Druck Mai 1990 auf den 18. März vorgezogen. So schon der bundesdeutschen CDU, die sich dadurch bes- wurde die Zeit, in der sich die Bürger mit den sere Wahlchancen für die anstehende Bundestags- politischen Alternativen vertraut machen konn- wahl ausrechnete.08 ten, deutlich verkürzt. Die souveräne Entschei- Die frühe Währungsunion vom 1. Juli redu- dung der Bürgerinnen und Bürger der DDR zierte den Handlungsspielraum der DDR-Regie- wurde auch beeinträchtigt dadurch, dass die Par- rung erheblich. Die wichtigsten Entscheidungen teien der Bundesrepublik auf den Wahlkampf zur wurden von nun an im Bonner Finanzministeri- DDR-Volkskammer am 18. März massiv Einfluss um getroffen. Zumindest hätte bei einer alternati- nahmen. So wurde die Bildung von Wahlallian- ven Regelung – bei einem Vorrang der Sanierung zen durch CDU beziehungsweise CSU (zur Al- von bestehenden Unternehmen vor der schnellen lianz für Deutschland aus CDU, DSU und DA) Privatisierung – der wirtschaftliche Umbau nicht sowie FDP (Bund Freier Demokraten aus DFP, so sehr als ein „Vermögenstransfer von Ost- nach LDP und F. D. P.) vorangetrieben. Auf zentralen Westdeutschland“ ablaufen müssen.09 Es gab of- DDR-Wahlveranstaltungen traten westdeutsche fenbar auch Bemühungen von DDR-Landwirt- Spitzenpolitiker, so Helmut Kohl, Willy Brandt schaftsminister Pollack für einen anderen Um- und Hans-Dietrich Genscher auf. Der Zentrale gang mit dem Bodeneigentum, verbunden mit Runde Tisch hatte sich am 5. Februar mehrheit- Absprachen mit dem Treuhandchef Detlev Roh- lich gegen eine solche Wahlkampfhilfe ausgespro- wedder, die mit seiner Ermordung jedoch obso- chen.11 Am 6. Mai fanden die Kommunalwahlen let wurden.10 statt. Schließlich mussten die ostdeutschen Län- der gebildet werden. Vorgesehen war ihre Bil- LERNPROZESS dung per Gesetz der DDR-Volkskammer für den ABGEBROCHEN 14. Oktober. Sie wurde auf den 3. Oktober vor- gezogen, den Tag des Beitritts der ostdeutschen Der Sprung aus der „unrenovierten“, autoritären Länder zur Bundesrepublik nach Art. 23 GG. DDR in die demokratische Ordnung der Bundes- Am 2. Dezember fand schließlich die erste ge- republik führte zu einem Freiheitsgewinn für die samtdeutsche Bundestagswahl statt. Diese Abfol- Ostdeutschen. Die hohe Geschwindigkeit dieses ge brachte es mit sich, dass die ostdeutschen Bür- Prozesses entwickelte sich jedoch zu einem zen- ger insgesamt nur oberflächliche Kenntnisse über tralen Problem. Dass die anfänglichen autonomen das Wahl- und Parteiensystem ausbildeten. Le- Lernprozesse auf dem Weg von der alten in eine diglich eine Minderheit konnte auf Kenntnissen beruhende Entscheidungen treffen. 07 Vgl. dazu Jacobs (Anm. 2), S. 203, S. 232, S. 237, S. 258, S. 360. 08 Vgl. ebd., S. 164, S. 263. 11 Siehe Hannes Bahrmann/Christoph Links, Chronik der Wen- 09 Petra Köpping, Integriert doch erst mal uns! Eine Streit- de, Bd. 2, Stationen der Einheit, Die letzten Monate der DDR, schrift für den Osten, Berlin 2018, S. 29. Berlin 1995, S. 104; Otto Langels, Eine Schule der Demokratie, 10 Siehe das Interview mit Landwirtschaftsminister Pollack in: 1. 1. 2015, www.deutschlandfunk.de/runder-tisch-in-ost-berlin-ei- Jacobs (Anm. 2), S. 257 f. ne-schule-der-demokratie.724.de.html?dram:article_id=307547. 14
Sie können auch lesen