Forum Ausgabe 7-8 2017 - Zukunft der betrieblichen Betreuung - DGUV Forum
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80168 Fachzeitschrift für Prävention, Rehabilitation und Entschädigung Ausgabe 7-8 • 2017 Forum Zukunft der betrieblichen Betreuung Jahresbericht Kennziffern der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung 2016 Prävention und Arbeiten 4.0 Noch nicht überall angekommen
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, vom Touchscreen blicken zwei Augen scheinbar freundlich auf den Anwender. Sie gehören zu Baxter, einem lernenden Roboter von der Sorte, die die Au- tomatisierung unserer Werkshallen rasant voran- treiben werden. Maschinen wie er sind ein Symbol für den Wandel der Arbeitswelt, auf den sich auch Foto: Wolfgang Bellwinkel/DGUV die gesetzliche Unfallversicherung vorbereitet. Prävention immer wieder an die Bedürfnisse unter- schiedlicher Betriebe in einer sich verändernden Arbeitsumgebung anzupassen, das ist eine kom- plexe Aufgabe. Deshalb wird es wohl noch eine Weile dauern, bis Baxter auch unsere Aufgaben übernehmen kann. Bis dahin arbeiten wir weiter daran, unsere Betreuung der Betriebe zu „Wie können wir die 2011 optimieren. Dabei geht es nicht um Zukunftsvisionen, sondern eingeführte DGUV Vorschrift 2 um ganz analoge Fragen: (Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit) weiter Wie können wir die 2011 eingeführte DGUV Vorschrift 2 (Be- verbessern? Wie können wir triebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit) weiter verbes- die Arbeitsmedizin attraktiver sern? Wie können wir die Arbeitsmedizin attraktiver machen, um auch künftig die betriebsärztliche Betreuung sicherzustel- machen, um auch künftig len? Zum Stand der DGUV Vorschrift 2 werden wir noch in die- die betriebsärztliche Betreu- sem Jahr die Ergebnisse einer Evaluation veröffentlichen. Darü- ung sicherzustellen?“ ber hinaus hat ein Expertenkreis Vorschläge erarbeitet, wie wir auch in Zukunft die Betreuung der Betriebe gewährleisten kön- nen. Er schlägt zum Beispiel vor, die Weiterbildungsmöglichkeiten für Medizinerinnen und Mediziner zu verbessern, weitere Professionen wie Arbeits- und Organisations- psychologie, Arbeitshygiene oder Arbeitswissenschaft in die betriebliche Betreuung einzubeziehen und die Betreuung in trägerübergreifenden Zentren anzubieten. Dieses „Zentrumsmodell“ ist zwar noch Zukunftsmusik, aber die entsprechenden Blaupausen gibt es bereits: Das sind Arbeitsmedizinische und Sicherheitstechnische Dienste (ASD) einzelner Unfallversicherungsträger. Das Modell bietet eine große Chance: Es werden damit Betriebe erreicht, die bislang nicht oder unzureichend be- treut werden. Das sind vor allem die kleinen Unternehmen mit bis zu 50 Beschäf- tigten. Und sie machen etwa 98 Prozent aller Betriebe aus. Es wird uns nicht langwei- lig werden auf dem Weg in die Arbeitswelt 4.0. Mit den besten Grüßen Dr. Joachim Breuer Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung 2 DGUV Forum 7-8/2017
Inhalt > Editorial/Inhalt >>> 2–3 > Aktuelles >>> 4–7 > Nachrichten aus Brüssel >>> 8 > Titelthema >>> 9–29 Die Zukunft der betrieblichen Betreuung Eine Innen- und Außenansicht 9 Dr. Heinz Schmid Der Mensch im Mittelpunkt Die Zukunft hat bereits begonnen 11 9 Dr. Heinz Schmid Die Präventionsleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung Gut gerüstet für die Arbeitswelt von morgen 17 Heike Wenzel Fit für die Zukunft Qualifizierung von Aufsichtspersonen 20 Jürgen Da Pont, Dr. Bernd Schildge, Dr. Ingo Zakrzewski Der VDRI Weiterbildung aus der Praxis in die Regionen 23 Christoph Preuße Interview mit Dr. Walter Eichendorf 51 „Betreuung nach ASiG für weitere Professionen öffnen“ 25 Das Interview führte Dr. Frank Bell DGUV Vorschrift 2 Evaluation30 > Prävention >>> 46–50 Marlen Rahnfeld, Dr. Annekatrin Wetzstein Prävention und Arbeiten 4.0 DGUV Vorschrift 2 Noch nicht überall angekommen 46 Weitere Professionen für die betriebliche Betreuung 34 Dr. Klaus Große, Katrin Zittlau Dr. Torsten Kunz, Christian Schumacher Aus der Forschung DGUV Vorschrift 2 Epoxidharze auf „EIS“ 49 Das Zentrumsmodell als Lösung zur Sicherung Reinhold Rühl, Klaus Kersting, Karin Heine, der betrieblichen Betreuung 37 Fritz Kalberlah, Johannes Geier Dr. Frank Bell, Sabine Edelhäuser, Andrea Kuhn DGUV Vorschrift 2 – Blick zurück nach vorn! > Unfallversicherung >>> 51–67 ... aus Sicht der Arbeitgeberseite 38 Saskia Osing Jahresbericht Kennziffern der Deutschen Gesetzlichen DGUV Vorschrift 2 – Blick zurück nach vorn! Unfallversicherung 2016 51 ... aus Sicht der Arbeitnehmerseite 40 Wolfram Schwabbacher, Katharina Forsch Dr. Horst Riesenberg-Mordeja, Sabine Heegner DGUV Vorschrift 2 – Blick zurück nach vorn! ... aus Sicht des VDSI 42 > Aus der Rechtsprechung >>> 68 Michael Kloth, Prof. Dr. Arno Weber DGUV Vorschrift 2 – Blick zurück nach vorn! > Personalia >>> 69 … aus Sicht des VDBW 44 Dr. Wolfgang Panter > Medien >>> 70 DGUV Forum 7-8/2017 3
Aktuelles Auf Erntezeit vorbereiten Obwohl Erntemaschinen über die Jahre An Erntemaschinen verursachen Entstö- Verstopfung per Hand beseitigt – so warnt technisch verbessert werden, verzeichnet rungsarbeiten die meisten Unfälle. Mäh- die SVLFG – besteht höchste Unfallgefahr. die Sozialversicherung für Landwirtschaft, drescher, Feldhäcksler und Ballenpresse Erste Regel in solchen Fällen: vorher den Forsten und Gartenbau (SVLFG) weiterhin neigen dazu, bei ungünstigen Erntebedin- Motor sowie alle Antriebe abschalten und hohe Unfallzahlen während der Ernte- gungen vermehrt zu verstopfen. Wird die den Nachlauf abwarten. saison. Daher empfiehlt die SVLFG, die Zeit vor der Ernte zu nutzen und alle Maschi- nen zu überprüfen. Am besten über die gesetzliche Fahrzeugprüfung hinaus, mindestens mit einer Sichtprüfung der Be- leuchtung, Reifen, tragenden Teile und Betriebsmittel. Ein Bremstest von Gespann und Maschinen gehört ebenfalls dazu. Um alle Zweifel aus dem Weg zu räumen, rät die SVLFG zu einem professionellen Check der Maschinen durch einen Land- maschinenhändler. Hauptunfallursache bei landwirtschaftlichen Transporten ist die mangelnde Sichtbarkeit von Gespan- nen. Retroreflektierende Folien an Anhän- Foto: SVLFG gern machen die Gespanne bei Dunkelheit im Straßenverkehr besser sichtbar. Auch Anhängerkabel mit Wackelkontakt zählen zu den häufigsten Mängeln. Maschinenprüfungen können helfen, Arbeitsunfällen bei der Ernte vorzubeugen Online checken, ob der Arbeitsschutz richtig und gut organisiert ist Prüfen, ob der Arbeitsschutz im eigenen konforme Organisation des betrieblichen gibt der BGW Orga-Check Erläuterungen Unternehmen richtig und gut organisiert Arbeitsschutzes. Themen sind zum Bei- und Hilfestellungen – sowie Tipps für ist: Dabei hilft ein neues Online-Tool der spiel die betriebsärztliche und sicher- kontinuierliche Verbesserungen jenseits Berufsgenossenschaft für Gesundheits- heitstechnische Betreuung, die Gefähr- der Mindestanforderungen. dienst und Wohlfahrtspflege (BGW). Der dungsbeurteilung, die Unterweisung der BGW Orga-Check lässt sich schnell und Beschäftigten, die arbeitsmedizinische unkompliziert einsetzen, um Schwach- Vorsorge sowie die Regelung zur Ersten Der BGW Orga-Check beruht auf stellen und Potenziale in der betriebli- Hilfe. Die Auswertung der eingegebenen einem Instrument der Gemeinsamen chen Arbeitsschutzorganisation zu er- Informationen erfolgt nach dem Ampel- Deutschen Arbeitsschutzstrategie kennen. Der Check ist als Selbstbewert- system: So werden Dringlichkeiten auf (GDA). Zu finden ist er unter: ungsinstrument angelegt und führt durch einen Blick deutlich – auch im Hinblick www.bgw-online.de/orga-check die wichtigsten Pflichten für eine rechts- auf behördliche Kontrollen. Gleichzeitig Risiko-Check „Wind und Wetter“ Aufgrund besonderer Wetterbedingungen tungsvolle Bewältigen von gefährlichen tern und Lkw, mit Fahrrädern oder zu Fuß passieren jedes Jahr viele Verkehrsun Verkehrssituationen anbieten. Die Bro- unterwegs sind. Praxisbezogene Tipps fälle, bei denen Menschen verletzt oder schüren und Kampagnenvideos sowie die helfen dabei, gefährliche Situationen getötet werden. Mit der diesjährigen Internetseite richten sich an Menschen, frühzeitig zu erkennen und verantwor- Schwerpunktaktion Risiko-Check „Wind die mit Pkw und Motorrädern, Transpor- tungsvolle Entscheidungen zu treffen. und Wetter“ möchten Unfallkassen, Be- rufsgenossenschaften und der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) für ein stär- keres Risikobewusstsein bei verschiede- Weitere Information zum Risiko-Check, zu den Präventionsmaterialien und über die nen Wetterbedingungen sensibilisieren beiden Gewinnspiele gibt es unter: www.risiko-check-wetter.de und Lösungsansätze für das verantwor- 4 DGUV Forum 7-8/2017
Aktuelles Neue Struktur des Internationalen A+A Kongress Der parallel zur Fachmesse A+A stattfin- besprochen, zu dem jeder interessierte Ein weiteres zentrales Thema sind die denden Kongress hat eine neue Gesamt- Kongressbesucher kommen kann. Die krebserzeugenden Gefahrstoffe wie As- struktur – er beginnt jetzt am 16. Oktober, Veranstaltungen zur Präventionskultur best, um die es unter dem Motto „Kampf dem Vorabend der Messe A+A. Der Deut- mit fachlicher Grundlegung bilden einen dem Berufskrebs“ im Rahmen einer EU- sche Arbeitsschutzpreis, bisher Teil der Kernbereich des A+A-Kongresses 2017. weiten Kampagne geht. A+A-Eröffnung, wird am Dienstagnach- mittag vergeben. Die Fachveranstaltungen des Arbeitsschutzes konzentrieren sich auf die ersten drei Tage, während der letz- te Laufzeittag - Freitag, 20. Oktober – dies- mal ganz unter dem „Focus Professionen“ steht. Dann geht es um Fragen der Ausbil- dung und der Kooperation der Professio- nen im Arbeitsschutz. Ebenfalls neu: Die Veranstaltungsreihe „Praxis Interaktiv“ mit praktischen Ansätzen der Weiterent- wicklung von Basiskonzepten und -The- men des betrieblichen Arbeitsschutzes wie Gefährdungsbeurteilung oder Be Foto: Messe Düsseldorf triebliche Gesundheitsförderung (BGF). Wichtige Fragen rund um diese Themen werden auch am „Tag der Betrieblichen Interessenvertretungen“ am 19. Oktober BG Kliniken setzen bei Kopfverletzung auf Brain-Check Gedächtnisstörungen, Wesensveränderun- logie am ukb, der das Testverfahren ent- gen, Lähmungen, Schwindel – die auch wickelt hat. Die Versicherten profitieren langfristig drohenden Auswirkungen eines von einem größtmöglichen Heilerfolg und Schädel-Hirn-Traumas (SHT) sind vielfäl- können in vielen Fällen einer sonst dro- tig. Doch oftmals werden neurologische henden Berufsunfähigkeit entgehen. Als Störungen nach einer Kopfverletzung nicht weiteres Diagnostikverfahren steht die richtig oder nicht vollständig diagnostiziert Funktionstestung des autonomen Nerven- und zielgerichtet behandelt. Ein neuartiges systems (FAN) zur Verfügung. Dabei geht Diagnoseverfahren, der so genannte Brain- es darum, bei Verletzungen unabhängig Check soll dazu beitragen, das zu ändern. vom Kopf mögliche Auswirkungen bei Der Brain-Check wurde im BG Klinikum Schädigung des Nervensystems auf andere Unfallkrankenhaus Berlin (ukb) entwickelt Organsysteme zu ermitteln. Nur durch eine und kommt inzwischen auch in anderen korrekte Einordnung dieser Symptome ist Krankenhäusern der BG Kliniken – Klinik- eine gezielte Therapie möglich. FAN ist ein verbund der gesetzlichen Unfallversiche- interdisziplinäres Verfahren, die Ärztinnen rung zum Einsatz. und Ärzte der Neurologie arbeiteten dabei mit anderen Fachbereichen und Abteil- Der Brain Check dient zur Feststellung re- ungen wie Innere Medizin, Urologie, HNO levanter neurologischer Defizite und zur oder Handchirurgie zusammen. Einleitung stationärer Rehabilitationsmaß- nahmen. Dazu erfolgen unter anderem sys- Brain Check und FAN werden inzwischen tematische neuropsychologische, psychia- im BG Universitätsklinikum Bergmanns- trische und psychotraumatologische Tests. heil Bochum, imBG Klinikum Bergmanns- trost Halle, den BG-Kliniken Duisburg, „Nur der Brain Check schafft es, die Kom- Hamburg und Murnau eingesetzt. Die BG- Foto: BG Kliniken plexität eines Schädelhirntraumas und Kliniken Frankfurt, Ludwigshafen und dessen Folgen zu erfassen“, sagt Dr. Ingo Tübingen prüfen die Aufnahme der Diag- Schmehl, Direktor der Klinik für Neuro- nostik-Angebote in ihr Angebot. DGUV Forum 7-8/2017 5
Aktuelles BMAS stärkt Sozialpolitikforschung Das Bundesministerium für Arbeit und Die auf Grundlage des Votums des wissen- Deutschland zu unterstützen und einem Soziales (BMAS) unterstützt im Rahmen schaftlichen FIS-Beirats ausgewählten festgestellten Rückgang der Sozialpolitik- des Fördernetzwerks Interdisziplinäre Anträge zur Förderung von Professuren forschung entgegenzuwirken. Durch und Sozialpolitikforschung (FIS) neue Ansätze werden im Einzelnen zu folgenden The- über das FIS sollen vielversprechende in- in der wissenschaftlichen Erforschung men eingerichtet: „Digitalisierung der Ar- terdisziplinäre Ansätze in der Sozialpoli- sozialpolitischer Themen. In einer ersten beitwelt“, „Lebenslauforientierte Sozial- tikforschung gefördert und neue Dialog- Förderrunde werden mit Mitteln aus dem politik“, „Kommunale Sozialpolitik“ und formate für Wissenschaftler, Forschende, BMAS-Etat vier neue Professuren, vier „Sozialpolitik und Ungleichheit“. Lehrende und Praktiker geschaffen wer- Nachwuchsforschungsgruppen und sechs den. Auf diese Weise sollen auch neue Forschungsprojekte gefördert. Das BMAS hat Anfang 2016 begonnen, Möglichkeiten für einen inhaltlichen das FIS aufzubauen. Ziel ist es, die Be- Austausch zwischen Wissenschaft und Die ersten Projekte und Nachwuchsgrup- deutung der Sozialpolitikforschung in Politik entstehen. pen haben ihre Arbeit aufgenommen, alle weiteren und die Professuren an vier deutschen Hochschulen werden in den Für den 29. August 2017 ist das erste FIS-FORUM in Berlin geplant. Weitergehende kommenden Monaten folgen – die letzten Informationen über das Fördernetzwerk finden Sie unter: www.fis-netzwerk.de. sollen bis April 2018 berufen werden. „Schlauer Fuchs“ im Doppelpack „Sicher mit System“ – und das seit vielen schaft Holz und Metall (BGHM) teilgenom- Thema Gabelstapler und Logistik eine Jahren. Als erster Handwerksbetrieb in men – und wurde nun bereits zum vierten Hebevorrichtung entwickelt, mit der die Norddeutschland hat das Unternehmen Mal mit der Urkunde der BGHM für ein Ergonomie im Arbeitsalltag wesentlich GS-Gabelstapler Service GmbH aus Wol- erfolgreiches Arbeitsschutz-Management- verbessert wird. Für diesen vorbildlichen fenbüttel einst am Gütesiegel-Verfahren System ausgezeichnet. Jetzt hat das Un- Einsatz in Sachen Arbeitsschutz erhielt „Sicher mit System“ der Berufsgenossen- ternehmen für alle Belange rund um das das Unternehmen mit 42 Beschäftigten auf der Weltleitmesse für Maschinen, Anlagen und Werkzeuge zur Holzbe- und verarbei- tung Ligna am 24. Mai 2017 den „Schlauen Fuchs“, eine renommierte Auszeichnung der BGHM. Prokurist Olaf Oppermann nahm sie auf der Messe in Hannover von BGHM-Präventionsexperte Andreas Franzki entgegen. „Es ist uns wichtig, beim Thema Arbeitsschutz immer einen Schritt weiter und über das übliche Maß hinaus zu den- ken“, erklärt Oppermann. „Für uns als Handwerksbetrieb ist das Gütesiegel ein wichtiges Instrument, um Sicherheit und Gesundheit im Betriebsalltag stets im Blick zu haben – und auch eine Eintrittskarte zu vielen Kunden.“ Auch das Unternehmen Thyssen-Krupp Rasselstein konnte die Auszeichnung ent- gegennehmen. Mit dem Ziel „Null Unfälle“ anhand verschiedener Verbesserungen in den Handlungsfeldern Technik und Metho- den, Organisation, Verhalten und persön- liche Einstellung hat der Betrieb eine neue Foto: BGHM Präventionskultur im Arbeitsalltag einge- führt. Der Verantwortliche für Technik, CTO Oliver Hoffmann, nahm sie im Ander- Ausgezeichnet: Ralf Heinrici (BGHM), Olaf Oppermann (GS-Gabelstaplerservice GmbH) nacher Standort von BGHM-Präventions- und Andreas Franzki (BGHM) bei der Übergabe der Trophäe „Schlauer Fuchs“ (v.l.n.r.) experte Frank Mays entgegen. 6 DGUV Forum 7-8/2017
Aktuelles „Soziale Sicherheit ist ein zentraler Schlüssel“ Im Mai haben sich die Arbeits- und Beschäftigungsminister der G-20-Staaten in Bad Neuenahr getroffen. Themenschwerpunkte waren Frauenerwerbstätigkeit, Integration von Migranten, nachhaltige globale Lieferketten und die Zukunft der Arbeit. Erstmals war mit Dr. Joachim Breuer auch ein Repräsentant der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) vertreten. Herr Dr. Breuer, Ihre Teilnahme Derzeit genießt nur ungefähr ein Drittel am G-20-Treffen war eine Premiere. der Weltbevölkerung einen Versiche- Was war Ihr Anliegen? rungsschutz gegen Arbeitsunfälle. Foto: Wolfgang Bellwinkel/DGUV BREUER: Mir ging es darum, auf die Be- Was kann die IVSS tun, um diese Zahl deutung der sozialen Sicherung für die zu erhöhen? weltweite Entwicklung hinzuweisen. So- Die IVSS hat zum Beispiel Leitlinien mit ziale Sicherheit ist ein zentraler Schlüssel, bester Praxis entwickelt und bietet eine um gesellschaftliche Konflikte zu vermei- Beratung durch ihre Mitgliedsinstitutio- den und ein gedeihliches Wirtschafts- nen an. Wir unterstützen so ganz konkret wachstum zu fördern. Was Institutionen den Aufbau von Versicherungssystemen, der sozialen Sicherung leisten können, die sich um Prävention, Rehabilitation Dr. Joachim Breuer ist Präsident der IVSS dafür ist die Unfallversicherung ein gutes und Kompensation kümmern. Die IVSS ar- Beispiel: Die Beschäftigten bekommen beitet darüber hinaus eng in der Interna- Sicherheit, wenn sie aufgrund eines Ar- tionalen Arbeitsorganisation (IAO) zu- beitsunfalls oder einer Krankheit vorüber- sammen. Die IAO verwaltet den Vision morgen an: Digitalisierung, Flexibilisie- gehend zu Hause bleiben müssen oder Zero Fund. Mit diesem Geld sollen Ar- rung von Arbeitszeit und Ort, neue und invalide werden. Die Arbeitgebenden be- beitsunfallsysteme in Ländern mit niedri- ungesicherte Formen von Beschäftigung. kommen Rechtssicherheit. Sie möchten gem Einkommen unterstützt werden. Wie können wir soziale Sicherheit unter ja eine Institution, die ihnen für ihre Haf- diesen Rahmenbedingungen gestalten? tung für Arbeitsunfälle eine Kompensati- Wird die IVSS beim nächsten G-20- Wie können wir mehr Menschen beteili- on anbietet. Und Regierungen können mit Treffen 2018 in Buenos Aires wieder gen? Die Expertise von Institutionen wie Hilfe dieser Institutionen den sozialen dabei sein? der IVSS ist da unverzichtbar. Das ist in- Frieden sichern und ein gutes Geschäfts- Davon gehe ich fest aus. Sehen wir uns die zwischen auch all jenen klar, die politi- klima schaffen. Herausforderungen der Arbeitswelt von sche Entscheidungen treffen müssen. Zahl des Monats: 11.059 Baumunfälle Die Anzahl der Unfälle mit Personen- nen hervor. Die Anzahl der Unfälle mit schaden durch Aufprall auf einen Baum Personenschaden lag der Vorlage zufolge sowie die Zahl der Getöteten und Schwer- im Jahr 2005 bei 16.103 und ging konti- verletzten, die mit diesen sogenannten nuierlich zurück auf 11.059 im Jahr 2015. „Baumunfällen“ in Verbindung stehen, Getötet wurden 2005 bei Baumunfällen ist deutschlandweit in den vergangenen 1.134 Personen, während es 2015 603 wa- Jahren gesunken. Das geht aus der Ant- ren. 7.511 Schwerverletzten im Jahr 2005 wort der Bundesregierung auf eine Kleine stehen den Angaben nach 5.096 Schwer- Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- verletzte im Jahr 2015 gegenüber. DGUV Forum 7-8/2017 7
Nachrichten aus Brüssel Rechte der Mitgliedstaaten beim Abschluss des EU-Singapur-Freihandelsabkommens Freihandelsabkommen, die von der EU fallen. So müssten die nationalen Parla- zum Nachhaltigkeitskapitel, da sie Be- für die Mitgliedstaaten verhandelt wer- mente unter anderem den Regelungen standteil der Gemeinsamen Handelspo- den, müssen nach Abschluss vom Minis- der Beilegung von Streitigkeiten zwi- litik seien. Das Gutachten des Europäi- terrat sowie vom Europäischen Parla- schen Investoren und Staaten zustim- schen Gerichtshofs dürfte für andere ment gebilligt werden. Das im Jahr 2013 men. Sie führten nach Auffassung der Freihandelsabkommen, so zum Beispiel unterzeichnete EU-Singapur-Freihan- Richter dazu, dass Streitigkeiten der ge- für die Ratifizierung des bereits abge- delsabkommen enthält jedoch Bestim- richtlichen Zuständigkeit der Mitglied- schlossenen Vertrages zwischen der EU mungen, die über den Inhalt traditionel- staaten entzogen würden, dies könne und Kanada (CETA), richtungweisend ler Freihandelsabkommen hinausgehen. nach Ansicht des EuGH nicht ohne de- sein. Die gesetzliche Unfallversicherung Zahlreiche Mitgliedstaaten, unter an- ren Einverständnis eingeführt werden. hatte die Verhandlungen zu CETA und derem auch Deutschland, hatten daher Der überwiegende Teil der Regelungen anderen Abkommen verfolgt, da die das Abkommen als ein „gemischtes Ab- des Abkommens fiele jedoch in die allei- darin enthaltenen Regelungen, unter kommen“ betrachtet, bei dem nationale nige Zuständigkeit der EU, so auch alle anderem zu Dienstleistungen, auch die Parlamente ein Mitspracherecht haben Regelungen zu Dienstleistungen und soziale Sicherheit berühren. und in den Ratifizierungsprozess ein- gebunden werden müssen. Die Kommission hatte daher den Euro- päischen Gerichtshof in Luxemburg ge- Foto: Eisenhans/fotolia.com beten, in Bezug auf das Freihandelsab- kommen mit Singapur diese Frage zu klären. In dem am 16. Mai veröffentlich- ten Gutachten kommen die Richter zum Schluss, dass nicht alle Teile des Vertra- ges in die alleinige Zuständigkeit der EU Debatte über die Zukunft der europäischen Gesundheits- und Sozialpolitik Die Diskussion um die Weiterentwick- Die Europäische Kommission stellt auf die EU verbunden wäre. Die EU- lung der sozialen Dimension der Euro- hier drei Szenarien für den weiteren Kommission nennt hier verschiedene päischen Union geht weiter. Nach dem Weg vor. Angefangen bei einem weniger Beispiele, die dabei angestrebt werden im März veröffentlichten Weißbuch zur an Europa, in dem sich gemeinsame könnten, so etwa die Einführung einer Zukunft der Europäischen Union hat die Regeln lediglich auf den Binnenmarkt einheitlichen europäischen Sozialversi- Europäische Kommission ein umfang- beschränken. Damit würde auch eine cherungsnummer oder die Aufstellung reiches Paket von verschiedenen Initia- Weiterentwicklung im Bereich der Si- gemeinsamer Regeln für den Status der tiven vorgelegt. Neben der Europäi- cherheit und Gesund bei der Arbeit aus- Beschäftigten von digitalen Plattfor- schen Säule sozialer Rechte ist das bleiben. Alternativ steht ein mehr an men. Die Europäische Kommission wird Reflexionspapier zur sozialen Dimensi- Europa entweder der Willigen oder aller die Debatte sowohl in Brüssel als auch on ein wichtiger Baustein. Es soll zur Mitgliedstaaten zur Diskussion. Damit in den einzelnen Mitgliedstaaten voran- Diskussion über die zukünftige Ausge- würde eine Vertiefung der sozialen Di- treiben. Welchen Weg die Europäische staltung der Europäischen Union beitra- mension einhergehen, die unter Um- Union dann schließlich einschlagen gen, insbesondere im Gesundheits- und ständen mit einer weiteren Übertragung wird, können jedoch nur die Mitglied- Sozialbereich. von Kompetenzen der Mitgliedstaaten staaten gemeinsam entscheiden. Weitere Informationen: ilka.woelfle@dsv-europa.de und stefani.wolfgarten@dsv-europa.de 8 DGUV Forum 7-8/2017
Titelthema Die Zukunft der betrieblichen Betreuung Eine Innen- und Außenansicht Es sind atemberaubende Veränderungen, denen sich Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Industrie und öffentliche Hand zurzeit ausgesetzt sehen. Welche Folgen diese Veränderungen für die Zukunft der betrieblichen Betreuung haben, soll mit diesem Schwerpunkt beleuchtet werden. Dem Schwerpunktthema vorangestellt leistungen der gesetzlichen Unfallversi- Deutscher Revisions-Ingenieure e. V. (VD- wird der Übersichtsartikel „Der Mensch cherung – Gut gerüstet für die Arbeitswelt RI) auf. Der VDRI ist ein Zusammenschluss im Mittelpunkt – Die Zukunft hat bereits von morgen“ und einer an den betriebli- von Präventionsfachleuten der Unfall begonnen“, mit dem der Versuch unter- chen Veränderungsprozessen ausgerich- versicherungsträger. Der gemeinnützige nommen wird, einerseits die Vielschich- teten Qualifizierung der Aufsichtsperso- Verein wurde im Jahr 1894 gegründet. tigkeit des Wandels und andererseits die nen in „Fit für die Aufgaben der Zukunft – Wechselwirkungen zwischen den techno- Qualifizierung von Aufsichtspersonen“ Der zweite Teil des Schwerpunkts blickt logischen, gesellschaftlichen, wirtschaft- kann diese Frage aktuell eindeutig mit ,Ja‘ nach außen und legt den Fokus zum einen lichen und politischen Umbrüchen aus beantwortet werden. Nichtsdestotrotz auf die Erfahrungen der Betriebe mit der unterschiedlichen Blickwinkeln zu be- wendet sich die Unfallversicherung schon überarbeiteten und 2011 in Kraft getretenen trachten. Dabei ist von besonderer Rele- heute der Frage zu, ob und, falls ja, wie DGUV Vorschrift 2 „Betriebsärzte und Fach- vanz, dass die gesetzliche Unfallversiche- zum Beispiel die Präventionsleistungen kräfte für Arbeitssicherheit“. Diese Vor- rung seit ihrem Bestehen bereits drei Beratung und Überwachung künftig wei- schrift bot allen Unfallversicherungsträgern industrielle Revolutionen betriebs- und terentwickelt werden müssen. Oder wie erstmals eine einheitliche und gleichlau- branchennah miterlebt hat und somit auf die Ausbildung der Aufsichtspersonen tende Konkretisierung des Arbeitssicher- umfangreiches Wissen und einschlägige auszurichten ist, um mit der von digitaler heitsgesetzes. Zum anderen werden auf der Erfahrungen zurückgreifen kann. Das Vernetzung, globaler Konkurrenz und al- Basis der Rückmeldungen Vorschläge un- heutige Präventionshandeln der Unfall- ternden Belegschaften zunehmend ge- terbreitet, wie die betriebsärztliche und si- versicherung und damit auch die betrieb- prägten betrieblichen Realität weiterhin cherheitstechnische Betreuung zukunfts- liche Betreuungresultieren sozusagen aus Schritt halten zu können. fest geregelt werden kann. Eingeleitet wird den Erkenntnissen der Vergangenheit. dieser zweite Teil mit einem Interview, in dem Dr. Walter Eichendorf, stellvertre- Im ersten Teil des Schwerpunkts steht die „Sind die Präventionsdienste der tender Hauptgeschäftsführer der DGUV, Innenansicht im Vordergrund, das heißt, Unfallversicherung gerüstet, um Rede und Antwort steht zu der Frage, wie der Blick richtet sich auf die Folgen des dem Wandel in der Arbeitswelt die betriebsärztliche und sicherheitstech Wandels für die betriebliche Betreuung erfolgreich begegnen zu können?“ nische Betreuung der Zukunft konkret aus der Präventionsdienste der Unfallversiche- sehen könnte. Zunächst, so Dr. Eichendorf, rung. Im Kern geht es dabei um die Frage: müsse das Ergebnis der Evaluation der Sind die Präventionsdienste der Unfall- Auch die erfahrenen Aufsichtspersonen DGUV Vorschrift 2 bewertet und der Anpas- versicherung gerüstet, um dem Wandel in werden sich künftig mehr denn je neue sungsbedarf identifiziert werden. Mit Blick der Arbeitswelt erfolgreich begegnen zu Kompetenzen aneignen müssen. Wie sie auf neue Herausforderungen an eine wirk- können? Anhand einer exemplarischen sich in ihrer Region fachlich weiterbilden same innerbetriebliche Prävention schätzt Auswahl aus den zehn Präventionsleistun- können, greift der Artikel „Weiterbildung Dr. Eichendorf die Einbindung weiterer gen in der Abhandlung „Die Präventions- aus der Praxis in die Regionen“ des Vereins Professionen sowie die Schaffung eines Zentrumsmodells als ausgesprochen viel- versprechend ein. Autor Bereits mit Inkrafttreten der überarbeiteten Dr. Heinz Schmid Vorschrift 2 im Jahre 2011 wurde festgelegt, Referat Präventionsdienste der DGUV unter anderem den Umsetzungsgrad der E-Mail: heinz.schmid@dguv.de Vorschrift in den Betrieben zu evaluieren. Die ausführlichen Resultate einer repräsen- tativen Erhebung sind im Beitrag „DGUV Vorschrift 2 – Evaluation“ zusammenge- fasst. Zentrale Ergebnisse der Untersuchung Foto: DGUV sind: Bei 41 Prozent der Fälle ist die Vor- schrift den Verantwortlichen in den Betrie- ▸ DGUV Forum 7-8/2017 9
Titelthema „Die Unfallversicherung bewegt sich sozusagen von Beginn an ‚mittendrin‘ und begleitet seit jeher die fundamentalen Umwälzungen in der Arbeitswelt.“ ben nicht bekannt. Betriebe, die von der Und welche Betreuungsmodelle sind cherheit, Gesundheit und Umweltschutz Vorschrift wissen, setzen sie in der Regel zielführend, um künftig KMU stärker als bei der Arbeit (VDSI) und der Verband auch um. Der Umsetzungsgrad der Vor- bisher zu erreichen? Darauf gibt die Ab- deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW) schrift ist in größeren Betrieben zudem si- handlung „DGUV Vorschrift 2 – Das Zent- legen ihre Sichtweisen dar. gnifikant höher als in kleinen und mittel- rumsmodell als Lösung zur Sicherung der ständischen Unternehmen. betrieblichen Betreuung“ eine Antwort. Die Autorinnen und Autoren sind sich da- Mit dem Zentrumsmodell, das sich an Ar- rin einig, dass die Vorschrift 2 ein Schritt Um welche weiteren Professionen es sich beitsmedizinischen und Sicherheitstech- in die richtige Richtung war. Mit Blick auf konkret handelt und welche Kompetenzen nischen Diensten (ASD) verschiedener die Zukunft der betrieblichen Betreuung Fachleute mitbringen müssen, um Be- Unfallversicherungsträger orientiert, sol- und den Erfahrungen aus der Vergangen- triebsärztinnen und -ärzte zielgerichtet len die begrenzt vorhandenen Ressourcen heit haben sie konkrete Vorschläge für unterstützen zu können, wird im Artikel passgenauer eingesetzt werden und ins- eine noch stärkere, an der betrieblichen „Weitere Professionen für die betriebliche besondere KMU einen besseren Zugang Praxis orientierten Reform der Vorschrift. Betreuung“ ausführlich erläutert. Die zu- zur Betreuung erhalten. Dazu zählen beispielsweise: den Bekannt- nehmende Komplexität der Arbeitswelt, heitsgrad der Vorschrift zu erhöhen – ins- ein damit verbundenes verändertes Ge- Mit einem „Blick zurück nach vorn!“ unter- besondere in kleinen und mittelständi- fährdungsspektrum und die schon heute schiedlicher Interessenvertretungen findet schen Unternehmen –, die Komplexität nicht mehr flächendeckend zu gewähr- das Schwerpunktthema seinen Abschluss. der Vorschrift weiter zu verringern und leistende betriebsärztliche Betreuung, vor Die Sozialpartner, die Bundesvereinigung die Flexibilität der arbeitsmedizinischen allem in kleinen und mittelständischen der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) Vorsorge im betriebsspezifischen Teil der Unternehmen (KMU), machen die Einbin- und die Vereinte Dienstleistungsgewerk- Betreuung ohne Vorgabe starrer Einsatz- dung weiterer Professionen unabdingbar. schaft (ver.di) sowie der Verband für Si- zeiten beizubehalten. • Foto: bakhtiarzein/fotolia.com Der gesellschaftliche Wandel hat spürbare Folgen für alle Lebens- und Arbeitsbereiche 10 DGUV Forum 7-8/2017
Titelthema Wandel der Arbeitswelt Die Zukunft hat bereits begonnen Nicht nur die Arbeitswelt steht vor revolutionären Umbrüchen. Inzwischen hat die Digitalisierung nahezu alle Lebensbereiche erfasst. Dennoch befindet sie sich erst in ihren Anfängen. Mit diesem Beitrag werden globale Herausforderungen, die auch die gesetzliche Unfallversicherung (UV) betreffen, beispielhaft skizziert und in den Kontext ihrer Erfahrungen mit früheren industriellen Revolutionen gesetzt. Die (Arbeits-)Welt steht vor immer neuen ander kommunizieren. Roboter sind inzwi- (KI). Das, was im ersten Moment wie ein und komplexer werdenden Herausforde- schen aus ihrer Einhausung ,befreit‘ und Science-Fiction-Szenario klingt, in dem rungen – wirtschaftlich, gesellschaftlich, arbeiten heute nicht nur in der Automo Mensch und Roboter wie selbstverständ- technologisch und politisch (Tabelle). Der bilindustrie mit Menschen Hand in Hand. lich miteinander umgehen und auf Augen- weiter steigende Druck durch die Globali- Theoretisch können in absehbarer Zeit alle höhe kommunizieren, könnte in abseh- sierung des Wirtschaftslebens, der demo- physischen Objekte miteinander kommu- barer Zeit Wirklichkeit werden. Google grafische Wandel mit einer tiefgreifenden nizieren – nicht nur am Arbeitsplatz, son- DeepMind ist ein Unternehmen, das sich Alterung von Gesellschaften, die zuneh- dern auch im Privatbereich. Einer Studie auf die Programmierung von KI speziali- mende Digitalisierung in der Arbeitswelt, der Bosch-Gruppe zufolge werden in we- siert hat, um selbstlernende Maschinen zu die Entstehung neuer Arbeitsformen, die nigen Jahren etwa sechs Milliarden inter- entwickeln. Dass das besser funktioniert Entwicklung selbstlernender Maschinen netfähige Endgeräte zur Verfügung stehen, und voranschreitet, als es selbst die opti- (künstlicher Intelligenz) einerseits sowie die miteinander verbunden, ein enormes mistischsten Fachleute zu träumen wagten, der Anstieg chronischer Krankheiten (zum Potenzial darstellen. Diese globale Vernet- zeigt das Computerprogramm AlphaGo. Es Beispiel Muskel-Skelett-Erkrankungen) an- zung wird die Gesellschaften weltweit handelt sich dabei um einen selbstlernen- dererseits führen zu der Frage: Inwieweit verändern (digitale Gesellschaften). Das den Computer, gegen den man Go spielen sind die aktuellen Präventionsstrategien Internet ermöglicht dann nicht nur eine kann, ein strategisches Brettspiel aus Asi- an ihre Grenzen gestoßen und was bedeu- aktive Beteiligung und kreative Gestaltung en. Das Besondere daran: Bei der Program- ten diese einschneidenden Veränderun- von Netzinhalten durch die Nutzergemein- mierung von AlphaGo sind die lernenden gen für die Präventionsdienste der Unfall- de, wie das mit dem Begriff Web 2.0 zum neuronalen Netzwerke des menschlichen versicherung (UV)? Ausdruck gebracht wird. Auch die Interak- Gehirns die Blaupause gewesen. AlphaGo tion und der Austausch mit intelligenten wurde anschließend mit riesigen Daten- Kommunizierende Fabriken – Objekten in der Umgebung wird kein Pro- mengen in Form historischer Go-Partien selbstlernende Maschinen: blem sein. Die reale (physikalische) Welt gefüttert. Im nächsten Schritt hat der Com- eine neue Dimension und die virtuelle (der Cyber-Space) werden puter monatelang gegen sich selbst ge- Das Thema Industrie 4.0 ist in der breiten zum sogenannten Cyber-Physical-System spielt, um anschließend den amtierenden Öffentlichkeit angekommen, wie die Han- (CPS) verschmelzen. Weltmeister und Go-Genie Lee Sedol „her- nover Messe 2016 gezeigt hat. Bereits 2014 auszufordern“. Einen Sieg hielten Fachleu- wurde dort die Fabrik der Zukunft präsen- Und als wäre das nicht genug an neuen te für eher unwahrscheinlich. Doch im tiert. In ihr sind Produkte, Produktions- Herausforderungen, wurde vor wenigen März 2016 war die Sensation perfekt. Die und Informationstechniken, die derzeit Monaten die Existenz der ersten selbst- Künstliche Intelligenz schlug die mensch- noch weitgehend unabhängig voneinan- lernenden Maschinen belegt – und damit liche in fünf Partien mit 4:1. Wie sich zeigte, der arbeiten, vernetzt und können mitein- eine höhere Stufe künstlicher Intelligenz hat der Computer Go-Strategien entwickelt, die es ihm ermöglichten, aus sich heraus Lösungen zu finden, auf die bisher kein Autor Mensch gekommen ist. Dieser Turniersieg markiert einen Wendepunkt, der weit über Dr. Heinz Schmid das Spiel AlphaGo hinausragt und den Referat Präventionsdienste der DGUV man historisch nennen muss, weil er in ei- E-Mail: Heinz.Schmid@dguv.de ne weitere Dimension vorstößt. Wenn Maschinen und Computer die Intel- ligenz ihrer Entwickler bisher, wenn über- haupt, nur punktuell übertreffen konnten, Foto: DGUV hat die KI nun ein neues Tor aufgestoßen. Selbst die einschlägigen Expertenkreise ▸ DGUV Forum 7-8/2017 11
Titelthema Zusammenarbeit von Mensch und Künstlicher Intelligenz fentlichung und soll daher in diesem Bei- trag nicht näher beleuchtet werden. Dass die dargelegten Entwicklungen Auswir- kungen auf die Arbeitswelt und das Zu- Foto: Sergey/fotolia.com sammenleben in Gesellschaften haben werden, wenn sie flächendeckend im Ein- satz sind, scheint unbestritten. Wie die Auswirkungen allerdings konkret ausse- hen, ist noch offen. Gesellschaftlicher Wandel – alternde Belegschaften, räumen ein, nicht mehr genau nachvoll- ne zusätzliche Dimension. Sie wirft unter die Generationen Y und Z ziehen zu können, welche inneren Pfade anderem die Frage auf, wie Betriebe mit Die Alterung der Belegschaften als Folge KI genommen hat. Damit befinden sich sicherheitstechnischen Aspekten umge- des demografischen Wandels ist inzwi- künstliche ,Wesen‘ auf der Schwelle zur hen, wenn KI künftig die Prozesse in der schen in den Betrieben spürbar. Betriebe Emanzipation von ihren Schöpfern. Mit Produktion ohne menschliches Zutun müssen stärker dafür sorgen, rechtzeitig selbstlernenden Maschinen wird nicht kontinuierlich verändert, so dass Beschäf- Nachwuchs für ausscheidende Betriebs- nur die Fabrik der Zukunft intelligent. Al- tigte in jedem Augenblick vor einer ande- angehörige zu finden und zu binden. Mit le digitalen Arbeitsbereiche werden lern- ren ,Black Box‘ stehen. Die gesamtgesell- der Einführung der Rente ab 67 ist es wei- fähig und verändern ihr ,Verhalten‘, wenn schaftlich zu klärende Kernfrage, welche terhin im Eigeninteresse der Unterneh- sie neue Einsichten gewonnen haben, un- Rolle der Mensch in einer ,selbstdenken- men, Maßnahmen zu treffen, damit ihre abhängig vom Menschen. Das verleiht der den Arbeitswelt‘ noch spielen wird, wäre Belegschaft von der Lehre bis zum Eintritt aktuellen Diskussion um Arbeiten 4.0 ei- Gegenstand einer eigenständigen Veröf- ins Rentenalter gesund bleibt. 12 DGUV Forum 7-8/2017
Der Mensch steht im Mittelpunkt In den letzten Jahren hat sich eine weitere ment-Index verweist, wonach mehr als den letzten Jahrzehnten erfasst hat. Von gesellschaftliche Entwicklung gezeigt, die zwei Drittel der Belegschaft in deutschen Jobs auf Lebenszeit, an die ihre Eltern Betriebe vor neue Herausforderungen Betrieben Dienst nach Vorschrift machen noch glaubten, hat sie sich längst verab- stellt. Sie werden zunehmend mit jungen, und 15 Prozent sogar innerlich gekündigt schiedet. Und mit einer sicheren Rente hochqualifizierten und selbstbewussten haben.2 Für gewerbliche wie öffentliche kann man diese Generation nicht locken: Frauen und Männern konfrontiert, die ih- Betriebe hat das gravierende Konsequen- Die wird es für sie, so glauben die Jungen, re Zusage, für ein Unternehmen zu arbei- zen. Die Generation Y nennt sich selbstbe- nach ihrem derzeitigem Ermessen gar ten, mit klaren Forderungen an die be- wusst digitale Nomaden. Die Möglichkeit, nicht mehr geben. Und es scheint, als sei trieblichen Rahmenbedingungen knüpfen. so zu arbeiten, wie sie möchte, und vor al- ihr die Frage nach ihrer eigenen Alterssi- Es ist die Altersgruppe von Frauen und lem gerne zu arbeiten und dabei glücklich cherung nicht einmal ansatzweise be- Männern, die zwischen 1980 und 1995 ge- zu werden, gab ihr das Internet. Diese deutsam. Die Generation Y hat keine boren wurde und von den Soziologen als Technologie erlaubt dieser Generation, schlechten Karten bei ihrem Ansinnen auf Generation Y bezeichnet wird. „Was wir mit geringen Mitteln ihre eigenen Ideen flexibleres Arbeiten und dem Wunsch auf verlangen, kommt einem gewaltigen Um- weltweit umzusetzen. Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ihre bruch gleich“, so Kerstin Bund in ihrem Trumpfkarte ist der Mangel: der Mangel Artikel „Wir sind jung ... und brauchen das In Zeiten des spürbaren Fachkräfteman- an gut ausgebildeten Fach- und Füh- Glück“ in der Wochenzeitung DIE ZEIT gels wird künftig nicht nur das Gewinnen, rungskräften, der sich anbahnt und sich vom 27. Februar 2014.1 „Wir“, so Bund wei- sondern auch das Binden neuer Mitarbei- in den nächsten Jahren weiter verschär- ter, „fordern eine neue Berufswelt.“ In der ter an den Betrieb oder eine kommunale fen wird. Anders als die Generationen vor aktuellen, so Bund, „herrsche in erster Li- Verwaltung zur Herausforderung. Die ihnen ist sie in der komfortablen Rolle, nie Frust“.1 Kerstin Bunds Aussage wird Generation Y will mehr Flexibilität und mit künftigen Chefs ihre Rahmenbedin- durch eine Umfrage des Gallup-Instituts mehr Freiräume von ihren künftigen Ar- gungen im Betrieb gelassener verhandeln belegt, das in seiner Pressemitteilung vom beitgebenden. Diese Generation hat die und bei Nichtgefallen ablehnen zu kön- 22. März 2016 auf den aktuellen Engage- Unsicherheit verinnerlicht, die die Welt in nen. Sie verhandeln dabei keineswegs ▸ DGUV Forum 7-8/2017 13
Titelthema um Statussymbole wie die Ausstattung ihres Büros oder die Fahrzeugklasse ihres Dienstwagens. Wenn man den soziologi- schen Untersuchungen glauben darf, legt diese Generation mehr Wert darauf, dass ihnen die Arbeit Freude macht und Sinn stiftet. Die Frage nach Geld oder Glück wird von ihr mehrheitlich mit Glück be- antwortet. Sofern diese Generation dann arbeiten kann, wann und wo sie möchte, verspricht sie im Gegenzug ein hohes Maß an fruchtbarer, schöpferischer und damit dem Betrieb nutzbringender Arbeitser- gebnisse. Mit Internet und Vernetzung groß geworden, hat die Generation Y die Foto: Andrew Stefanovsky/fotolia.com kreativen Möglichkeiten und die Flexibi- lität, die diese neuen Medien bieten, so verinnerlicht, dass sie auch von ihren künftigen Arbeitgebenden kreative und flexible Lösungen verlangen, um zum Bei- spiel Familie und Beruf vereinen zu kön- nen. Und die Betriebe werden, wie oben dargelegt, künftig verstärkt Beschäftigte suchen, die die intelligenten Fabriken der Zukunft steuern. Generationen Y und Z: Zwischen Verbindung und Abgrenzung von Arbeit und Leben Seit kurzem drängt nun eine weitere Gene- ration auf den Arbeitsmarkt. Sie wird von Management auf neuen Wegen – Management‘, das allerdings eine gelebte den Soziologen als Generation Z bezeich- der Mensch als Ganzes und offene Fehlerkultur voraussetzt. net. Es sind die seit 1995 Geborenen, die in Auch im Management scheint man mit eine bereits in weiten Teilen digitalisierte den bisherigen Modellen an Grenzen ge- Und „Führung, die nicht mit dem Boden Welt hineingeboren wurden, während stoßen zu sein. Ökonomen rücken zuneh- verhaftet ist, ist keine“, so Thomas Sattel- die Generation Y als Pioniere sozusagen mend ganzheitliche Methoden in den berger.5 Er sieht ein Führungsversagen6 digital sozialisiert wurde. Der Generation Fokus. Mit Blick auf die Einführung von und fordert mehr Demut von den Füh- Z ist der Umgang mit digitalen Medien Managementsystemen plädiert der So rungskräften. Für Sattelberger, ehemali- noch vertrauter. Die Generation Z sucht zialökonom und Rechtswissenschaftler ger Personalvorstand der Deutschen Tele- nach Auffassung von Soziologen keine Günther Bauer für einen „systemischen kom und aktuell Themenbotschafter der emotionale Bindung an das Unternehmen. Zugang zum Thema Management“. Syste- Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA), Sie ist leistungsbereit wie die Generation Y, misch bedeutet in diesem Zusammenhang befindet sich die Arbeitswelt erneut im aber nur innerhalb zeitlich und räumlich für Bauer, dass die Qualität von Manage- Umbruch. Vier seiner insgesamt zwölf klar definierter Grenzen. Arbeiten nach 17 mentsystemen nicht mehr primär an der Thesen zur Arbeitswelt 20236 lauten: Uhr, im Urlaub oder an den Wochenenden Umsetzung einer Methode oder Technik, möchte diese Generation keinesfalls. Sie sondern an der ganzheitlichen Haltung • Steile Hierarchien werden durch möchte weder von zu Hause aus arbeiten, und Einstellung der Führung gemessen Netzwerkstrukturen abgelöst. noch ständig erreichbar sein. Freizeit ist ihr werden muss.3 Was für Mangementsyste- • Unternehmen werden einen wichtig, und daher wird zwischen Beruf me grundsätzlich gilt, dürfte auf Arbeits- Rahmen für eine gesunde und Privatem eine klare Trennung gezo- schutz- und betriebliche Gesundheitsma- Unternehmenskultur setzen gen. Die Aussicht, in Zukunft für geleistete nagementsysteme ebenso zutreffen. und den Beschäftigten ins Mehrarbeit entschädigt zu werden, ist kei- Zentrum rücken (müssen). nesfalls verlockend. Es besteht kaum Inte- Der Organisationspsychologe Karl E. Weick • Klug finanzierte Auszeitmodelle resse an einer Karriere und der Übernahme empfiehlt Unternehmensleitungen, „für (mehr Zeit für Familie, Pflege, von Verantwortung. Sie sind zwar noch betriebliche Abläufe sensibel zu sein“. Dies politisches Engagement etc.) jung, wissen aber, dass bei den älteren bedeutet „schon kleinere Fehler und Stö- werden zum Normalfall und nicht Generationen diese Rechnung nicht auf- rungen aufzuspüren und bei Störungen das Karriereende bedeuten. gegangen ist. Führungsverantwortung, oder Krisen das jeweilige Fachwissen und • Reorganisationen werden nur noch Auslandsaufenthalte und leistungsorien- Können der Mitarbeiter aufzugreifen, da „pädagogisch dosiert“ vorgenommen tierte Entlohnung kommen nach Auskunft Organisationen mit starren Hierarchien und auch nur dann, wenn der der Personalabteilungen bei Stellenaus- eine intrinsische Fehleranfälligkeit inne- Führung die Belastungen für die schreibungen nicht gut an. wohnt“.4 Weick spricht von ,achtsamem Mitarbeitenden bekannt sind. 14 DGUV Forum 7-8/2017
Der Mensch steht im Mittelpunkt Sattelbergers Fazit: „... 2023 werden Men- Mit der zunehmenden Alterung der Gesell- Anpassungen der Grundlagen für die schen sehr klar unterscheiden zwischen schaft als eine Folge des demografischen Präventionsdienste der UV sinnlosen, sinnvernichtenden, sinnsu- Wandels werden diese Kosten weiter stei- Die zurückliegenden Revolutionen haben chenden und sinnstiftenden Unterneh- gen. Auch der Fehlzeitenreport 2016 der zwangsläufig auch das Präventionshandeln men. Und sie werden nicht mehr bereit AOK kommt zum gleichen Ergebnis.8 Der der UV beeinflusst. Wechselwirkungen sein, für Unternehmen zu arbeiten, deren Bericht sieht weiterhin einen Zusammen- dieser Art bestehen damit seit ihrer Grün- Ziele sich nicht mit ihren individuellen In- hang zwischen einer wertschätzenden dung. Die UV bewegt sich sozusagen von teressen, Bedürfnissen und Werten ver- Unternehmenskultur im Betrieb und ei- Beginn an ,mittendrin‘ und begleitet seit einbaren lassen“.6 nem positiven Einfluss auf die Gesundheit jeher die fundamentalen Umwälzungen in der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. der Arbeitswelt. So gesehen ist die bevor- stehende industrielle Revolution als gra- „Die Generation Y nennt sich Industrielle Revolutionen vierende Umwälzung der Arbeitswelt von selbstbewusst digitale Nomaden. der Vergangenheit ihrer Qualität her neu, nicht aber als um- Die Möglichkeit, so zu arbeiten, In Zeiten solcher Umbrüche lohnt ein fassender Veränderungsprozess an sich. wie sie möchte, und vor allem Blick in die Historie. Im Laufe ihrer mehr als 130-jährigen Geschichte hat die UV gerne zu arbeiten und dabei glück- bereits mehrere industrielle Revolutionen lich zu werden, gab ihr das Inter- durchlebt und mitgestaltet. Die erste in- Fußnoten net. Diese Technologie erlaubt dustrielle Revolution beginnt mit der Eta- [1] Bund, Kerstin (2014): Wir sind dieser Generation, mit geringen blierung mechanischer Produktionsanla- jung ... und brauchen das Glück: Wie die Generation Y die Berufswelt Mitteln ihre eigenen Ideen welt- gen (Mechanisierung). Rasant verändert verändert und warum alle von die- weit umzusetzen.“ die Industrialisierung ehemals landwirt- sem Wandel profitieren. In: DIE ZEIT, schaftlich geprägte Länder. Die Agrar- 27. Februar 2014 gesellschaft wandelt sich zunehmend zu [2] Gallup Engagement Index 2016: Auch wenn Sattelbergers Thesen zum einer Industriegesellschaft. Fabriken „Schlechte Chefs kosten deutsche Teil überspitzt formuliert sind und nicht schießen förmlich aus dem Boden. Einer- Volkswirtschaft bis zu 105 Milliarden Euro jährlich“; Pressemitteilung, 22. auf alle Branchen, Betriebe und Beschäf- seits bieten sie neue Arbeitsplätze, die März 2016; http://www.gallup.de tigte übertragbar sein dürften, klingen aufgrund des Bevölkerungswachstums [3] Bauer, Günther (2013): Einführung sie aus der Feder eines ehemaligen Per- dringend gebraucht werden. Gleichzeitig in das systemische Sozialmanage- sonalvorstandes eines global agierenden verändern sie aber auch die bestehende ment, Kapitel 3.4 Systemische Unternehmens bahnbrechend. Denn Gesellschaftsordnung. Die Menschen Haltung,Verlag Carl Auer, Heidelberg (Vorabdruck) nicht mehr die Betriebe wählen ihre Mit- wandern aus Landwirtschaft und Hand- arbeiter aus. Die Mitarbeiter entscheiden werk ab und nehmen Arbeit in Fabriken [4] Weick, Karl E.;Sutcliffe, Kathleen M. (2010): Das Unerwartete mana- sich vor dem Hintergrund ihrer Lebens- an. Dort haben sie zunächst kaum Rechte: gen. Wie Unternehmen aus Extremsi- planung und ihrer Lebens- und Erfah- Die Löhne sind gering, die Arbeitszeiten tuationen lernen. Schäffer-Poeschel rungswelt für das zu ihnen passende Un- lang, die Arbeitsbedingungen oft katast- Verlag, Stuttgart. 2., vollständig überarbeitete Auflage ternehmen. Das, was Sattelberger hier rophal. Erleiden Arbeitnehmende einen beschreibt, klingt nach den Forderun- Unfall, haben sie keinerlei Absicherung: [5] Antwort von Thomas Sattelberger auf Frage 13 im Rahmen der INQA gen, die die Generation Y heute schon an Für sie gibt es oft nur noch Kündigung Themenwoche Personalführung Unternehmen stellt. und Armut. Das war die Geburtsstunde vom Februar/März 2014 unter: des Arbeitsschutzes und der gesetzlichen http://www.inqa.de Zukunft der sozialen Unfallversicherung. Die zweite industriel- [6] Thomas Sattelberger (2013): Sicherungssysteme le Revolution beginnt mit arbeitsteiliger Die Arbeitswelt von morgen, in: Personalmagazin (05) 2013, S. 28-29 Die Kosten für die soziale Sicherung stei- Massenproduktion an Fließbändern unter gen trotz wachsenden Wohlstands stetig Nutzung elektrischer Energie Anfang des [7] Statistisches Bundesamt: Herz- Kreislauf-Erkrankungen verursachen an. Mehr wirtschaftliches Wachstum hat 20. Jahrhunderts. In den 70er-Jahren wird die höchsten Krankheitskosten nicht automatisch zu mehr Wohlergehen mit dem Einsatz von Elektronik und IT unter: https://www.destatis.de/DE/ der Gesellschaft oder ihrer Bürger bei- die dritte Revolution eingeläutet, die zur ZahlenFakten/GesellschaftStaat/ Gesundheit/Krankheitskosten/ getragen. Insbesondere in den hochent- Automatisierung der Produktion führt. In Krankheitskosten.html wickelten Industriegesellschaften ist den vergangenen mehr als zwei Jahrzehn- [8] Fehlzeiten-Report 2016: heute ein gegenteiliger Effekt zu beobach- ten haben die beginnende Globalisierung Unternehmenskultur und Gesund- ten. Die Zahlen für die chronischen Er- und der Einstieg in veränderte Informati- heit – Herausforderungen und krankungen in Deutschland sind beunru- onstechnologien atemberaubende Ent- Chancen, hrsg. v. B. Badura et al. higend. Nach einer Analyse des Statis- wicklungen nach sich gezogen und die Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg 2016 tischen Bundesamtes gehören Erkrankun- Basis für das geschaffen, was wir heute [9] Präventionsleistungen der Un- gen des Muskel-Skelett-Apparates (MSE) im Produktionsbereich Industrie 4.0 – fallversicherungsträger der DGUV; sowie psychische Erkrankungen zu den und mit Blick auf die gesamte Arbeitswelt Dezember 2016; www.dguv.de; vier Krankheiten, die die höchsten Kosten Arbeiten 4.0 – nennen: die vierte indust- Webcode: d1090649 verursachen.7 rielle Revolution. ▸ DGUV Forum 7-8/2017 15
Titelthema Technologisch Digitalisierung (Internet der Dinge und Dienste, Ambient Intelligence, Ubiquitous Computing, Cyber-Physical Systems – Verschmelzung der realen mit der virtuellen Welt); 3D-Druck; implantierte Chips; direkte Mensch-Roboter-Interaktion; selbst lernende Maschinen (Künstliche Intelligenz) Gesellschaftlich Demografischer Wandel (alternde Bevölkerung; Generationen Y, Z); direkte Mensch-Roboter-Interaktion zum Beispiel in der Altenpflege; Digitalisierung der Gesellschaft Wirtschaft/Industrie/Öffentliche Hand Arbeiten/Industrie 4.0; Generationen Y, Z; alternde Belegschaften; Fachkräftemangel; soziale Verantwortung von Unternehmen (CSR); Vielfalt in Bezug auf Geschlecht, Alter, Rasse, Weltanschauung (Diversity); E-Government Politisch Präventionsgesetz; europäische Säule sozialer Rechte; transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP, CETA); REFIT (Better regulation); Rechtsetzung und Quelle: Schmid -anwendung in einer digitalen und global vernetzten Arbeitswelt; Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme Tabelle: Herausforderungen, die die Arbeit der Präventionsdienste beeinflussen/beeinflussen könnten Seit der Gründung der UV sind mit Blick leistungen9 mit vielfältigen und ineinan- und gesellschaftlicher Art wahrnehmen. auf das Handeln ihrer Aufsichts- bezie- dergreifenden, modernen Mitteln entwi- Mit Hilfe des sogenannten Risikoobserva- hungsweise Präventionsdienste vier we- ckelt. Mit dem Instrument der Präven- toriums der Deutschen Gesetzlichen Un- sentliche gesetzgeberische Einschnitte tionskampagnen gehen die Präventions- fallversicherung (DGUV) werden diese erfolgt, die den Spielraum kontinuierlich leistungen heute nicht nur weit über die Trends erfasst, bewertet und bei der Ent- erweiterten: wicklung praxisnaher und wirksamer Prä- ventionsmaßnahmen berücksichtigt. Das 1. 1 885 werden die ersten Berufs- „Mehr wirtschaftliches Wachstum ist von enormem Nutzen für Betriebe und genossenschaften gegründet hat nicht automatisch zu mehr öffentliche Einrichtungen. Diese aktive und beauftragt, Unfallverhütungs- Wohlergehen der Gesellschaft oder Rolle der UV kam bei Fragen zur Sicherheit vorschriften zu erlassen. ihrer Bürger beigetragen.“ im Rahmen der direkten Mensch-Roboter- 2. 1925 wird der Präventionsauftrag Interaktion zum Tragen. auf die Verhütung gewerblicher Berufserkrankungen ausgedehnt. klassische Überwachung hinaus, die Über- Als Fazit lässt sich sagen, dass mit dem 3. 1963 beauftragt der Gesetzgeber wachung selbst unterliegt einem kontinu- Wissen und den Erfahrungen in den Prä- die UV, Arbeitsunfälle und Berufs- ierlichen Anpassungsprozess an besteh ventionsdiensten sowie den breit aufge- krankheiten mit allen geeigneten ende Rahmenbedingungen. Die Präven- stellten trägerübergreifenden Präventi- Mitteln zu verhüten. tionsdienste haben einen direkten Zugang onseinrichtungen der UV – Institut für 4. 1 996 wird der Präventionsauftrag in die Betriebe und öffentlichen Einrich- Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG), um die Verhütung arbeitsbedingter tungen, und im gewerblichen Bereich zu- Institut für Arbeitsschutz (IFA), Institut Gesundheitsgefahren erweitert. dem einen engen Branchenbezug. Sie ge- für Prävention und Arbeitsmedizin (IPA), winnen unschätzbares Fachwissen und Fachbereiche – heute ideale Rahmenbe- Insbesondere der erweiterte Präventions- umfassende gewerbespezifische Kenntnis- dingungen existieren, um den in der Ta- auftrag hat der UV die Möglichkeit gege- se durch ihren Einblick in die betriebliche belle genannten Herausforderungen er- ben, Prävention ganzheitlich zu betrach- Praxis. Fachleute der UV wirken aktiv in folgreich begegnen zu können. • ten und den Menschen als Ganzes in den staatlichen Ausschüssen, nationalen und Mittelpunkt zu stellen. Ein Ansatz, der ei- internationalen Normungsgremien und ne solide Grundlage bietet, sich dem The- Branchenverbänden mit. ma Kultur der Prävention zuzuwenden. Die Beratungs-, Überwachungs- und Nor- Weitere Informationen zu den Präven- tionsleistungen der gesetzlichen Auf der Grundlage der kontinuierlichen mungstätigkeit der Präventionsdienste öff- Unfallversicherung bietet Ihnen der Anpassung ihres Präventionshandelns an net ihnen ein Fenster in die Zukunft. Sie Beitrag von Heike Wenzel ab Seite 17 die oben genannten Umwälzungen in der können frühzeitig neue Trends technolo- in diesem Heft. Arbeitswelt haben sich zehn Präventions- gischer, aber auch wirtschaftspolitischer 16 DGUV Forum 7-8/2017
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