"Liebe, Freiheit, Frieden". Ethnographische Beobachtung des Corona-Protests in Konstanz
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
N° 03 2021 »Liebe, Freiheit, Frieden«. Ethnographische Beobachtung des Corona-Protests in Konstanz Nadine Frei Lisa Kwasny Jeremy Erb Andreas Schönenberger Heidi Franke Marko Stamenkov Lucas Güetli Jonah Waldvogel Ado Kaiser Paul Wassmer Fanny Klaffke Matthias Zaugg Basler Arbeitspapiere Basel Working Papers zur Soziologie in Sociology
https://doi.org/10.31235/osf.io/vzf6a © 2021 Nadine Frei et al. Herausgegeben durch / published by: Seminar für Soziologie, Universität Basel Seminar for Sociology, University of Basel Gestaltung / Design: Heidi Franke
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1 Abstract 2 1. Kontext 3 2. Beobachtungen zum Stimmungsverlauf: Vom Happening zur affektuellen Aufladung 4 2.1 Der Vormittag 4 2.2 Der Nachmittag 5 3. Interpretationen 7 3.1 Die Maske als politisches Symbol 7 3.2 Kritik an etablierten Autoritäten 11 3.3 Rationale, romantische und affektuelle Rechtfertigungsmuster 13 4. Schlussbetrachtung 16 Referenzen 18
Abstract Beim vorliegenden Working Paper handelt es sich um eine ethno- graphische Beobachtung des Corona-Protests am 4. Oktober 2020 in Konstanz. Dieser lässt sich als Happening mit affektuellem Po- tential beschreiben, in dessen Tagesverlauf eine Verschiebung von der Festgemeinschaft über eine Leidensgemeinschaft hin zur Wi- derstandsgemeinschaft stattgefunden hat. Der Schwerpunt des kollektiv erarbeiteten Demonstrationsberichts liegt auf der Be- schreibung dieses Stimmungsverlaufs und auf Interpretationsan- sätzen zu den Themen Maske, Kritik an etablierten Autoritäten und allgemeine Begründungsmuster für die Protestteilnahme. Schlüsselwörter Corona-Protest, Masken, Bewegungsforschung, Ethnographische Beobachtung 2 N° 3
1. Kontext Forschungsseminars kollektiv erarbeitet. 2 Anfang September 2020 wurde im Fachbe- Darin werden die ethnographisch gewon- reich Soziologie an der Universität Basel nenen Beobachtungen beschrieben und In- das Forschungsprojekt »Politische Soziolo- terpretationsansätze des Protestgesche- gie der Corona-Proteste« initiiert. Das Pro- hens entfaltet. Die Beschreibungen beru- jekt beinhaltet die Erhebung und die Aus- hen auf den Gesprächs- und Beobachtungs- wertung empirischen Materials zu den protokollen3, die am Tag selbst geschrie- Corona-Protesten in der Schweiz und in ben und daraufhin im Forschungsseminar Deutschland. Die explorative Untersu- diskutiert wurden. chung zielt darauf, Motive, Überzeugungen sowie Werte der Teilnehmer*innen und Zur Generierung empirischen Materials Sympathisant*innen dieser Proteste her- teilte sich am Protesttag das For- auszuarbeiten. Für die umfassende Unter- schungsteam in Zweiergruppen auf. Drei suchung dieses neuen gesellschaftlichen Forschungsduos fokussierten sich auf ei- Phänomens wurde im Projekt ein Mixed- nen spezifischen Aspekt der Demonstra- Methods-Ansatz mit folgenden Datenerhe- tion. Die thematische Schwerpunktsetzung bungsmethoden gewählt: Ethnographische lag erstens auf der Dokumentation von Pla- Beobachtungen, qualitative Interviews, katen, Symbolen und Sprechchören, zwei- eine quantitative Befragung und Dokumen- tens auf der Beobachtung des Bühnenge- tenanalysen. Das Projekt wurde im Herbst- schehens und der Reaktionen des Publi- semester 2020 durch ein Forschungssemi- kums sowie drittens auf der Beobachtung nar an der Universität Basel begleitet. Im der Interaktion der Teilnehmer*innen mit Rahmen dieses Forschungsseminars wurde der Polizei und den Medienschaffenden.4 zu Beginn der Projektphase eine systemati- Die weiteren vier Forschungsduos kon- sche Erhebung von empirischem Material zentrierten sich auf die Verteilung von Fly- an einem Corona-Protest am 4. Oktober ern und die Generierung von möglichen In- 2020 in Konstanz organisiert. Dazu gehörte terviewpartner*innen.5 Der Flyer beinhal- die ethnographische Beobachtung des Pro- tete einen Link zu einer quantitativen On- testgeschehens, die Durchführung von line-Befragung. Aufgrund der zeitaufwen- qualitativen Interviews mit Demonst- digen Gespräche, um die Demonstrant*in- rant*innen und das Verteilen von Flyern, nen zur Teilnahme an der Umfrage zu mo- die zur Teilnahme am Pretest einer quanti- tivieren, konnten nur knapp 300 von 1000 tativen Umfrage einladen.1 Das For- Flyern verteilt werden. Allerdings ergab schungsteam bestand aus zwölf Studieren- sich durch diese zahlreichen Gespräche die den und zwei wissenschaftlichen Mitarbei- Möglichkeit, Themen und Motive der De- terinnen. Durch das gewählte Vorgehen monstrant*innen zu vertiefen. Während konnten empirisch fundierte Eindrücke die Reaktionen – auch aufgrund des Tra- dieser neuen Protestbewegung gesammelt gens einer FFP2-Maske – meist zunächst werden. Der folgende Demonstrationsbe- von Misstrauen geprägt waren, erhöhte richt wurde im Rahmen des der Hinweis darauf, dass die Forschung – 3 Zitate aus den ethnographischen Protokollen 1 Vgl. folgende Publikationen des Forschungsprojekts werden kursiv und in Anführungszeichen dargestellt. Nachtwey et al. 2020 und Frei et al. 2021. 4 Die thematische Aufteilung orientierte sich an Daphi 2 Vielen Dank an Marie Harzenetter und Selina et al. 2015. Reusser für die Korrektur und das Lektorat des Demonstrationsberichts. 5 Bereits während der Kundgebung in Konstanz konnten vier Interviews durchgeführt werden. Juli 2021 3
abseits der medialen Berichterstattung an Altersdurchschnitt der Kundgebungsteiln- der wissenschaftlichen Betrachtung der sehmer*innen liegt schätzungsweise bei 45 Protestbewegung interessiert sei, die Be- Jahren. Weitere auffallende Merkmale sind reitschaft für ein Gespräch erheblich. das ausgeglichene Geschlechterverhältnis und ein Habitus, der auf die Mittelschicht Im Folgenden wird zunächst der Stim- schliessen lässt. Viele der Anwesenden sind mungsverlauf des Kundgebungstages in bunt gekleidet, viele tragen Funktionsklei- Konstanz beschrieben. Im Anschluss daran dung. Manche Demonstrant*innen haben werden Interpretationsansätze vorgestellt, Schilder und Regenbogenfahnen mitge- die sich auf die Maske, Kritik an etablierten bracht und manche verteilen mitgebrachte Autoritäten sowie rationale, romantische Flyer. und affektuelle Begründungsmuster bezie- hen. Im Verlauf des Tages liess sich eine Die Stimmung am Vormittag erinnert Verschiebung von einer Festgemeinschaft kaum an eine politische Kundgebung. Viel- über eine Leidensgemeinschaft hin zur Wi- mehr hat die Veranstaltung den Charakter derstandsgemeinschaft feststellen. Diese eines Happenings. Wenige Demonst- Verschiebung wird unter anderem durch rant*innen tragen eine Maske, jedoch wird, die Beschreibung der Stimmung illustriert auch aufgrund der Grössendimension des und schliesslich ergänzt durch die Schluss- Veranstaltungsortes, ein relativ grosser Ab- betrachtung, in der die Bildung einer Ge- stand zwischen den einzelnen Gruppen, meinschaft6 im Fokus steht, die trotz Hete- Paaren und Einzelpersonen eingehalten. rogenität der Beweggründe, vor Ort zu be- Zur Kundgebungsauflage gehört, einen obachten war. Mindestabstand von 1,5 Meter einzuhalten, wohingegen eine Maskenpflicht nur für die Ordner*innen gilt.7 Die meisten Demonst- 2. Beobachtungen zum rant*innen reisen in Kleingruppen oder Stimmungsverlauf: Vom Paaren, seltener auch alleine an. Viele blei- Happening zur affektuellen ben erst einmal unter sich und beobachten Aufladung das Geschehen. Im Verlauf des Tages sehen wir auch kleinere Gruppen von Personen, 2.1 Der Vormittag die der extremen Rechte zuzuordnen sind, Kurz nach zehn Uhr morgens treffen wir allerdings sind es nicht viele. beim Corona-Protest in Konstanz ein. In Klein Venedig, direkt am See zwischen der Auf der Bühne wird versucht, zu einer po- Grenze zur Schweiz und dem Sea Life Cen- sitiven Stimmung und einem Gemein- ter Konstanz, findet die Kundgebung auf ei- schaftsgefühl beizutragen. Es wird Musik ner grossflächigen Wiese statt. Am Seeufer gespielt, der Inhalt der Liedtexte dreht sich ist eine Bühne aufgestellt, daneben stehen hauptsächlich um Liebe und Freiheit. Die grosse hochwertige LED Bildschirme, auf Demonstrant*innen haben sichtlich Spass. denen das Geschehen auf der Bühne über- Sie tanzen zur Musik, sitzen auf Campings- tragen wird. Vor der Bühne haben sich ca. tühlen oder Decken, beklatschen die Red- 500 Personen versammelt. Der ner*innen, die auf der Bühne auf – 6 Vgl. Hentschel (2021) u.a. zu den affektiven 7 Die 7-Tage-Inzidenz beträgt am Kundgebungstag Dynamiken der Corona-Proteste. 16,2 Fälle pro 100 000 Einwohner*innen. Vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Co ronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-04- de.pdf?__blob=publicationFile (Stand 19.4.2021). 4 N° 3
Missstände rund um die Massnahmen zur auf Kleidungsstücken und Gesprächen Bekämpfung des Coronavirus verweisen liegt die Interpretation nahe, dass es sich oder die Existenz einer Pandemie in Frage bei einigen der Ordner*innen um Personen stellen. Einzelne Demonstrant*innen fla- handelt, die der extremen Rechten zuge- nieren am See, einige Kinder spielen ausge- ordnet werden können. So auch beim Ord- lassen mit Riesen-Seifenblasen. Immer wie- ner, der unser Ankommen auf der De- der wird betont, sowohl auf der Bühne als monstration über Funk weitergegeben hat. auch von Demonstrant*innen, wie friedlich Es werden aber auch andere Ordner*innen und schön die Demonstration vonstatten auf uns aufmerksam. So bemerkt kurze gehe. Zeit später ein Forschungsduo, dass drei Ordner*innen hinter ihnen stehen und sie In der Menge bewegen sich einige Ord- beobachten. Gleichzeitig steht eine Ordne- ner*innen, die durch gelbe Westen oder rin vor dem Forschungsduo, um sie im Armbinden zu erkennen sind. Nur teil- Blick zu behalten. Als die Ordner*innen se- weise befolgen sie die für Ordner*innen hen, dass ein weiteres Forschungsduo mit geltende Maskenpflicht. Einige tragen einem Demonstranten spricht und ihm ei- bloss lose ein Halstuch oder einen nen Fragebogen aushändigt, gehen die drei Schlauchschal über Mund und Nase. Man- zum Demonstranten und sprechen ihn an. che tragen auch nur einen Netzstoff, der Eine Ordnerin macht derweil beabsichtigt zwar Mund und Nase bedeckt, aber offen- »unauffällig« ein Panoramavideo von den sichtlich keinen Schutzfilter darstellt. Eine beiden Forschungsteams. Sie verfolgt sogar Ordnerin trägt zwar eine blaue Operations- kurze Zeit später ein Forschungsduo über maske, die aber in der Mitte aufgeschnitten den ganzen Kundgebungsplatz. Von die- wurde. Der Umgang mit der Maskenauf- sem wird der Umstand, dass sie beobach- lage bleibt den Behörden nicht verborgen. tet, gefilmt und verfolgt werden, als „unbe- So beobachten wir eine Diskussion zwi- haglichste Situation des Tages“ festgehal- schen der Einsatzbehörde der Polizei und ten. In der Zwischenzeit informiert die For- dem Organisations-Team der Kundgebung. schungsleiterin die polizeiliche Einsatzlei- Daraufhin gibt der Anwalt der »Querden- tung über die wissenschaftliche Dokumen- ken«-Bewegung Markus Haintz auf der tation der Kundgebung. Kurze Zeit später Bühne bekannt, dass alle Ordner*innen ei- wird sie vom Einsatzleiter nochmal ange- nen Mundschutz tragen müssten. Er merkt sprochen. Er erzählt ihr, dass es bereits Be- indessen an, dass dies vor einer Stunde an- schwerden über uns durch einige Ord- ders verhandelt worden sei. Diejenigen, ner*innen gegeben habe, die er aber als un- welche keinen Mundschutz tragen wollen, gerechtfertigt zurückgewiesen habe. Die sollen ihre Ordnerbinden abnehmen und Information, dass die Einsatzleitung über würden die Funktion als Ordner*in nicht unsere Forschung offiziell unterrichtet ist, mehr ausüben dürfen. Spöttisch wird hin- wird über den zuvor eingerichteten Chat zugefügt: „Das ist die Basis, das Rechtver- an alle Forschungsduos weitergeleitet. ständnis der Polizei, das ist absurd.“ Das Dadurch soll mitunter die Kommunikation Publikum reagiert mit lauten Buh-Rufen. mit den misstrauischen Ordner*innen ver- einfacht werden. Als wir den Kundgebungsplatz betreten, gibt ein Ordner über das Funkgerät durch, 2.2 Der Nachmittag dass sich „Gegendemonstranten“ auf die Kundgebung begeben hätten. Aus der Be- Im Verlauf des Nachmittags wächst der obachtung von Interaktionen, Symbolen Corona-Protest auf ungefähr 5000 Juli 2021 5
Teilnehmer*innen an. Kurz nach Mittag anderem „Ihr seid unsolidarisch”, „Nazis brechen die Demonstrant*innen zum Ma- raus” oder „Wer mit Nazis mitmarschiert, ria-Hilf-Platz auf, ca. drei Kilometer vom der hat wirklich nichts kapiert“. Einige Or- Bühnenareal entfernt, von wo aus am frü- ganisatoren des Corona-Protests stellen hen Nachmittag eine Demonstration zu- sich vor die Polizeikette und rufen über das rück nach Klein Venedig stattfinden soll. Megafon die Teilnehmer*innen des Corona- Auf dem Weg zum Demonstrationsstart- Protests dazu auf, die Gegendemonstration punkt verändert sich die bis anhin eher zu ignorieren. Die Teilnehmer*innen des friedliche Happening-Stimmung. Die Poli- Corona-Protests scheint das wenig zu be- zei verbietet den geplanten Demonstrati- eindrucken. Bald bildet sich auch auf ihrer onszug. Den Grund erfahren wir nicht. Ei- Seite der Polizeikette eine Menschen- nige Demonstrant*innen sind besorgt, dass traube. Auf die Sprechchöre der Gegende- der Kundgebung in Klein Venedig die Be- monstrant*innen antworten auch sie mit willigung ebenfalls entzogen werden „Nazis raus”. Einige beschimpfen die Ge- könnte, wenn der Anordnung nicht gefolgt gendemonstrant*innen zudem als „Pro- werde. Andere wiederum wollen die Ent- dukt ihrer Lehrer”, werfen ihnen die Teil- scheidung der Polizei nicht akzeptieren. nahme an „betreutem Denken” vor oder Die Stimmung schlägt merklich und über- berichten den Menschen in ihrer Nähe, raschend schnell um. Die Kommunikation, dass die Gegendemonstrant*innen für ihr die wir zwischen den Demonstrant*innen Erscheinen bezahlt würden. Dem Gegen- beobachten, wird nervöser, impulsiver und protest wird allerdings von vielen auch mit emotionaler. Auf dem Weg zwischen der inszeniertem Wohlwollen und Friedlich- Bühne und dem Maria-Hilf-Platz fordern ei- keit begegnet: Viele der Kundgebungsteil- nige Demo-Organisatoren die Demonst- nehmer*innen zeigen den Gegendemonst- rant*innen dazu auf, dem Aufruf Folge zu rant*innen mit den Händen geformte Her- leisten und sich zurück zum Bühnenareal zen oder das Victory-Zeichen, sie rufen zu begeben. In der Nähe der Bühne zeigt ihnen Liebe zu oder singen und tanzen ge- sich allerdings eine Uneinigkeit der De- meinsam als Reaktion auf die Gegende- monstrant*innen. So zum Beispiel wird monstration. Die Gegendemonstration ver- provokativ ein Trommelkreis vor einem lässt schliesslich den Ort und die Teilneh- Polizeiauto zelebriert, Bob Marleys Lied Get mer*innen des Corona-Protests gehen zu- Up, Stand Up schallt über die Uferprome- rück zur Kundgebungswiese. Im Verlauf nade. Als die in der Nähe befindlichen des Nachmittags finden weitere Reden und Demo-Organisatoren dies bemerken, stel- musikalische Darbietungen auf der Bühne len sie sich mit Megafonen vor die Menge statt. und rufen dazu auf, das Areal zu verlassen und sich zurück zur Bühne zu begeben. Sie Als wir uns kurz nach 16 Uhr bereits in un- werden jedoch von den 25-30 singenden serer Schlussbesprechung befinden, ergibt Demonstrant*innen ignoriert, die erst nach sich ein weiteres bemerkenswertes Ereig- 20 Minuten den Trommelkreis auflösen. nis. Ausgelöst durch das Zünden eines Rauchtopfes neben der Bühne schlägt die Kurz darauf erreicht eine Gegendemonstra- Stimmung um. Von der Bühne wird inner- tion Klein Venedig. Die Polizei trennt die halb von Sekunden kommuniziert, es Gegendemonstrant*innen von den Teilneh- handle sich um einen „Angriff der Antifa“. mer*innen des Corona-Protests durch die Die Polizei wird dazu aufgerufen, alle Zu- Bildung einer Polizeikette. Die Gegende- gänge zum Areal abzuriegeln und alle Men- monstrant*innen skandieren unter schen mit Schutzmaske, denn daran könne 6 N° 3
man die Gegendemonstrant*innen erken- halten und Erklärungen über das For- nen, am Verlassen des Geländes zu hin- schungsprojekt ignorieren. dern. Ungefähr 50 Personen rennen hinter die Bühne, wo sie die »Täter*innen« vermu- Zusammenfassend lässt sich festhalten, ten. Die Situation ist diffus und unüber- dass es eine bemerkenswerte emotionale sichtlich, gleichzeitig nimmt die Spannung Dramaturgie des Tages gab. Ein affektuel- zu. Der anfängliche Festival-Charakter ist les Potential ist bereits seit Beginn latent verflogen, die Situation ist zunehmend af- vorhanden. So konnte die Stimmung, die fektuell aufgeladen. Die Menschen sind gerade am Vormittag fröhlich und ausge- wütend, schimpfen gegen „die Antifa“ und lassen war, offenbar schnell umschlagen. nehmen das Geschehen mit ihren Han- Externe Faktoren, wie das am Tag ausge- dykameras auf, während andere sich wei- sprochene Verbot der Demonstration ter auf der Suche nach den »Täter*innen« durch die Innenstadt, die Gegendemonstra- befinden. Personen in blauen Westen mit tion oder das Zünden eines Rauchtopfes, der Aufschrift »Friedensstifter« heizen die führten dazu, dass der Festivalcharakter Situation zusätzlich an, indem sie De- mit Friedens- und Liebensrhetorik einer monstrationsteilnehmer*innen dazu befra- »Wir-gegen-die-Mentalität« wich. Eine ab- gen, was sie von diesem „feigen Angriff der lehnende Haltung richtet sich selten gegen Antifa” halten. Nana Domena, der schon unser Forschungsanliegen an sich, viel- zuvor als charismatischer Moderator auf mehr wird das Tragen einer Maske von den der Bühne aufgefallen ist, und Karl Hilz, Demonstrant*innen negativ bewertet. Was ein Ex-Polizist aus Bayern, versuchen sich uns zum Zeitpunkt unserer Forschungsvor- um den Vorfall zu kümmern. So will Nana bereitungen noch nicht in diesem Masse Domena das Ereignis live über seinen bewusst war, wird zu Beginn der Kundge- Youtube-Kanal senden, hat allerdings mit bung schnell deutlich: Der Mundnasen- technischen Problemen zu kämpfen. Der- schutz hat sich innerhalb der Corona-Pro- weil geht Hilz zum Rauchtopf, holt ein Ta- testbewegung zu einem breit geteilten po- schentuch hervor und hält den Rauchtopf litischen Symbol des Widerstandes etab- spurensicher in die Höhe. Mit dem Rauch- liert. Konkreter formuliert, besteht ein topf in der Hand geht er zur Bühne, wird Konsens in der Ablehnung der Maske. Im vom Redner willkommen geheissen und folgenden Kapitel, in dem Interpretationen erntet Applaus. Interessant ist zum einen des Protestgeschehens darlegt werden, das Konkurrenzverhältnis zwischen dem Y- wird zunächst auf die Maske als politisches ouTube-Blogger und dem Ex-Polizisten. Symbol eingegangen. Im Anschluss daran Beide wollen sofort ihren souveränen Um- wird ihre Kritik an etablierten Autoritäten gang mit dieser Situation unter Beweis stel- rekonstruiert. Schliesslich erfolgt eine Ein- len. Zum anderen ist die sofortige Einbin- ordnung der vorgefundenen Argumentati- dung dieses Ereignisses in das Bühnenge- onsmuster. schehen auffallend. Nach diesem Ereignis beenden wir unsere ethnographische Be- obachtung, die Kundgebung dauert aller- 3. Interpretationen dings noch bis in die Abendstunden an. Auf 3.1 Die Maske als politisches dem Weg zum Bahnhof werden wir sehr Symbol unfreundlich von der Bundespolizei kon- trolliert, da sie uns aufgrund unserer FFP2- Bereits zu Beginn des Kundgebungstages Masken für Gegendemonstrant*innen fällt uns der Umstand auf, den wir bereits im Vorfeld als problematisch erahnen: Wir Juli 2021 7
als Forschungsteam tragen FFP2-Masken. getragen wird und dem verschie- Zu diesem Zeitpunkt ist das Tragen von dene gesundheitliche (Schutz-) FFP2-Masken nicht verbreitet. Die grosse Funktionen und (Neben-)Wirkun- Mehrheit der Demonstrant*innen trägt gen zu- oder abgesprochen werden, überhaupt keinen Mundnasenschutz. Von Beginn an entsteht eine Trennung zwi- 2. das Tragen der Maske, also eine schen »uns«, die wir Masken tragen und Verhaltensweise oder (soziale) »den Anderen«. So wird uns mit abschätzi- Praktik, gen Blicken begegnet, die Maske wird aber auch häufig in Gesprächen thematisiert. 3. die staatliche Verordnung zum Tra- Als Einzelne aus der Forschungsgruppe die gen einer Maske, also eine gesetzte Maske kurzweilig abnehmen, erfahren sie Regel. eine offenere Behandlung. Kritik wird auf allen diesen Ebenen geübt, Anders als andere Corona-Verordnungen häufig auch in wechselseitiger Bezug- wie zum Beispiel Kontaktminimierung, Ab- nahme und Legitimierung. Auf der objekt- standhalten oder Reisebeschränkungen bezogenen Ebene wird die Maske zum ei- zeichnet sich die Maske durch ihre Materi- nen als nutzlos erklärt, um sich gegen das alität aus. Sie ist ein greifbares Artefakt, Coronavirus zu schützen. Es wird unter an- das unmittelbar wahrgenommen werden derem behauptet, sie schütze gegen Bakte- kann, sowohl spürbar am eigenen Körper rien, nicht aber gegen Viren. Außerdem als auch sichtbar am Körper von anderen. werden ihr schädliche Nebenwirkungen Am eigenen Körper wird sie, so wird es in zugesprochen. Es wird angeführt, dass die Gesprächen thematisiert, häufig als stö- Maske zu einem verringerten Sauerstoff- rend oder gar »schmerzhaft« empfunden. und erhöhten CO-2-Gehalt in der eingeat- Doch nicht nur hier, auch am Körper von meten Luft führe. Dies könne, so einige De- anderen wird sie von den Demonstrant*in- monstrant*innen, sogar zu einer CO-2-Ver- nen zuweilen als störend oder gar als Zu- giftung führen. Dabei stützen sie sich auf mutung behandelt. Im Folgenden werden Informationen von Ärzt*innen, denen sie, zunächst einige interpretatorische Überle- im Gegenteil zu anderen rezipierten Im- gungen zum politischen Symbol der Maske munolog*innen, als medizinische Autorität erläutert. Im Anschluss daran wird anhand vertrauen. Eine weitere Ablehnung der einer ausführlichen Beschreibung einer Maske gründet auf der Vorstellung, dass Diskussionsrunde, die abseits vom Bühnen- diese ein „krankmachender Katalysator“ geschehen stattfindet, skizziert, wie die De- des Virus sei. So würde die Maske die eige- monstrant*innen mit konträren Meinun- nen Viren und Bakterien, die durch die gen dazu umgehen und auf welche Weise Atemluft ausgestossen werden, zurückhal- die Maske zur eigenen Identitätsstiftung ten. Der Träger, die Trägerin der Maske beiträgt. würde diese immer wieder einatmen, so- dass die Maske die Wirkung der Viren so- gar potenziere und eine grosse Gefahr für Symbolik der Maske den eigenen Körper darstelle. Hinter dem Begriff »Maske« verbirgt sich dreierlei: Innerhalb der Ebene des Maskentragens als Verhaltensweise oder soziale Praxis kann 1. die Maske als materielles Objekt, festgehalten werden, dass das Auf- oder Ab- das ähnlich einem Kleidungsstück setzen einer Maske von den 8 N° 3
Demonstrant*innen als ein Mittel der Kom- Einstufung der Protestbewegung als rechts munikation gewertet wird. Dass die Maske oder ihre medizinischen Autoritäten me- auch am Körper anderer eine Zumutung dial als unwissenschaftlich bezeichnet wer- sei, wird zum Beispiel damit begründet, den. Dieses Wechselspiel aus Abwehr und dass sie die Wahrnehmung der Mimik ei- Abwertung ist latent von einer Feindlich- nes Gegenübers erschwere, wenn nicht so- keit gegenüber »den Anderen« geprägt und gar verunmögliche: „Mit so einer Maske am kann auch in offene Forderungen nach Menschen kann ich nicht gut leben – ich Strafe oder Gewalt umschlagen. So zum kann nicht die Mimik sehen. Ich weiss Beispiel wurde in Selbstjustiz-Manier das nicht, grinst er mich an, nimmt er mich Festhalten von Menschen, die Masken tra- ernst?“ Ein Veranstalter auf der Bühne be- gen, gefordert, da diese möglicherweise tont, dass er gerne mit der Polizei rede, verantwortlich für das Zünden des Rauch- aber nur, wenn sie sich den „Lappen“ aus topfes seien und es sich gezeigt habe, dass dem Gesicht nehmen. Nur dann wisse er, die Polizei die Protestkundgebung nicht dass sie Respekt vor ihm hätten und es mehr schützen könne. ernst meinten. Die Maske ist damit häufig Anlass für eine abwehrende Haltung ge- Im Gegensatz dazu kommt in einigen Aus- genüber der Person, die sie trägt. In beson- sagen auch eine Akzeptanz gegenüber der ders aufschlussreicher Form beispielsweise individuellen Entscheidung zum Tragen ei- in einer Aussage über Gegendemonst- ner Maske zum Ausdruck. Demnach solle rant*innen, die ein Vater gegenüber sei- jede Person selbst entscheiden können, ob nem etwa zehnjährigen Sohn macht: „Das sie die Maske tragen wolle. Konsequenter- sind Gegner. Idioten, die Masken tragen.“ weise wird dabei dem Gegenüber auch das Dieses Beispiel zeigt, dass die Konstruktion Recht zum Tragen der Maske zugespro- einer Eigen- und einer Fremdgruppe mit ei- chen. Die Entscheidung dazu ist einem li- ner klaren Hierarchisierung einhergeht. beralen Freiheitsverständnis folgend reine Diese Überlegenheit wird auf vielerlei Wei- Privatsache. sen kommuniziert, beispielsweise in spöt- tischen Bemerkungen darüber, dass wir Die staatliche Verordnung zum Tragen ei- unter den Masken „blass aussehen“ oder ner Maske wird wie andere Corona-Mass- „schlecht zu verstehen“ seien oder dass uns nahmen als unverhältnismässig angese- das CO-2 bereits das „Gehirn vernebelt“ hen. Viele Demonstrant*innen deuten die habe oder in der Warnung vor einer CO-2- Maske als staatlichen Zwang, der die indi- Vergiftung. In manchen spöttischen Aussa- viduelle Freiheit einschränke und Bür- gen über das Maskentragen zeigt sich die ger*innen bevormunde: „Mama Merkel“ Vorstellung, dass Menschen, die eine behandle die Bürger*innen wie Kinder. Ge- Maske tragen, sich freiwillig dem Diktat rade in Verbindung mit der oben genann- des Staates unterwerfen, weil sie (noch) ten zugesprochenen Schädlichkeit wird die nicht erkannt haben, dass Ablehnung an- Verordnung als unzumutbar oder gar als gebracht wäre. Dem folgend, erklärt sich, Gewalt bezeichnet und als einen Eingriff in warum Maskentragende als „Schlafschafe” die körperliche Selbstbestimmung ausge- oder sogar als „Idioten” bezeichnet wer- wiesen. So wird die Maske auch als ein den. Gleichzeitig spricht die abwehrende „Symbol der Sklaverei“ bezeichnet und Haltung aber auch von der Gefahr ihrer ei- zum Instrument der Unterdrückung stili- genen Unterlegenheit, die sich in Gesprä- siert. Die Ablehnung akzentuiert sich, chen in anderen Zusammenhängen zeigt. wenn sie in Bezug auf Kinder formuliert Beispielsweise wenn eine politische wird. Für Kinder sei die Maske nicht nur Juli 2021 9
schädlich, sondern könne sogar tödlich eine Frau mit Maske, die nicht zu den De- sein. So unterhält sich eine kleine Gruppe monstrant*innen gehört, sich in die Dis- von Demonstrant*innen: „Zwei Kinder sind kussion einklinkt: an der Maske gestorben.“ „Nein drei Kin- der.“ „Ich habe heute Morgen gelesen, dass „Meine Meinung ist, ich trage eine Ge- schon vier Kinder gestorben sind.“ Außer- sichtsmaske, um mich zu schützen. Weil dem verhindere sie Kindern nicht nur die bewiesen ist das die Maske schützt. [Auf Wahrnehmung der Mimik Anderer, son- einen ablehnenden Zwischenruf hin] Sa- dern auch das Erlernen, Mimik richtig zu gen Sie. Ich sage, sie schützt! […] Ich habe interpretieren. Masken, bzw. die Masken- jetzt meine Meinung gesagt, danke pflicht wird in diesem Kontext auf einem schön!“ Transparent als „Kindsmisshandlung“ be- zeichnet. Der Moderator und auch das Publikum nehmen diese Stellungnahme zunächst Zusammenfassend lässt sich festhalten, wohlwollend und mit leisem Applaus auf. dass das Verweigerin einer Maske als Ab- Anfänglich leitet der Moderator die Diskus- lehnung von Corona-Massnahmen im All- sionsrunde konstruktiv an, indem er bei- gemeinen gedeutet werden kann, es kann spielsweise die Worte der Sprecherin mit auch ein einfaches Zeichen des Misstrau- folgenden Worten kommentiert: „Sehr ens gegenüber der gesundheitlichen Wir- mutig, sehr mutig wirklich und auch das kung der Maske und als Ermächtigung zur ist sehr wichtig, dass wir miteinander re- Selbstbestimmung über den eigenen Kör- den, ja? Es gibt unterschiedliche Ansichten per interpretiert werden. Die Maske eignet und diese müssen wir hören.“ Hier wird zu- sich mitunter deshalb zum politischen nächst auf ein liberales Freiheitsverständ- Symbol, da das Tragen im individuellen nis zum Tragen der Masken rekurriert, in- Handlungsspielraum einer Person liegt. sofern jede Person das Recht habe, eine Die Schliessung von Restaurants, Schulen Maske zu tragen. Eine ähnliche Einstellung oder Geschäften lässt sich nicht boykottie- spiegelt sich auch in der folgenden Stel- ren, das Tragen einer Maske sehr wohl, lungnahme einer Demonstrantin: „Maske wenn auch mit Konsequenzen gerechnet zu tragen ist eine individuelle Entschei- werden muss. Da sich der persönliche Wi- dung, dafür stehe ich ein. Ich respektiere derstand häufig in der Verweigerung der auch diese Entscheidung, ich respektiere Maskenpflicht äussert und es dabei immer mein Gegenüber.“ In der zunächst noch wieder zu Konflikten kommt, wird der ei- ausgeglichenen Diskussionsrunde folgt je- gene Widerstand immer wieder im Kon- doch bald darauf ein Bruch, als ein De- text der Maske erfahren. monstrant die Autorität der Bundeskanzle- rin Angela Merkel in Frage stellt: Maske und Identitätsbildung „Was mich am meisten aufregt ist, dass Abseits vom Bühnengeschehen beobach- eine Frau die null, die hat keinerlei [sic] ten drei Forschungsduos eine improvisierte Kinder. Die sitzt in Berlin im Kanzleramt Diskussionsrunde. Ein Demonstrant hat und behandelt alle Menschen wie Minder- dafür einen Lautsprecher und ein Mikrofon jährige, wie dreijährige Kinder [Applaus]. mitgebracht. Er lädt zu einer offenen Dis- […] Das ist die Mama-Merkel und die sagt kussion ein, an der sich alle Anwesenden uns seit Monaten, wir sollten die Hände spontan beteiligen könnten. Aufschluss- waschen, wir sollten Masken tragen, weil reich ist hier insbesondere der Moment, als wir sonst andere Leute gefährden, das hat 10 N° 3
sie am Anfang auch noch nicht gesagt. Am wichtig! Bevor Sie solche Aussagen tref- Anfang hiess es, haltet Abstand, 1.5 Meter fen. Und wir waren alle nicht in Italien, nur und Spielplätze waren geschlossen. Das viele hier waren am 01.08. in Berlin. Am weiss ich noch ganz genau, das ist alles 29.08. Auf sämtlichen Grossdemos, jeden menschenunwürdig. Das sagt uns ausge- Montag auf der Strasse. Jetzt hier. In rechnet eine Frau, die null eigene Kinder Rostock. Wir machen den Praxistest und ir- hat, die behandelt uns, wie Minderjährige, gendwie haben wir nichts. Das sollte zu wie dreijährige Kinder und dagegen wende denken geben!“ ich mich. Und Sie selber können das ma- chen, wie Sie möchten [an die Vorspreche- Während die Diskussionsrunde anfänglich rin gerichtet]. Sie können auch daheim- den Eindruck vermittelt, dass zwischen bleiben den ganzen Tag, Sie können rum- dem Publikum und den Sprechenden noch laufen, Sie können 24 Stunden am Tag bar- nicht eindeutig geklärt ist, welche Stand- fuss rumlaufen, ist mir völlig egal, machen punkte sich kollektiver Zustimmung er- Sie, was Sie für richtig halten, aber schrei- freuen, wird nun zunehmend deutlich, mit ben Sie anderen Leuten nicht vor, was die welchen Signalwörtern der Moderator zu tun haben [Applaus].“ beim Publikum punkten kann. Interessant ist dabei, wie hier eine Diskussion über die Mit diesem Input und dem gemeinsamen Maske in wenigen Schritten in eine Diskus- Applaus etabliert sich nun im Publikum ge- sion über Autorität überging. Dabei greift wissermassen ein Konsens in Bezug auf die im Verlauf das zu Beginn noch passive Pub- Maske. Die Zuhörer*innen scheinen nun likum immer stärker in die Diskussion ein, viel eher dazu bereit zu sein, die Beiträge wodurch sich schliesslich ein kollektives mit lautstarken Zwischenrufen zu kom- Bewusstsein etabliert. mentieren. Das zeigt sich auch in der Reak- tion auf die darauffolgende Stellungnahme Allgemein kann festgehalten werden, dass der Massnahmen-befürwortenden Spreche- die Maske von vielen Demonstrant*innen rin: „Darf ich nochmal dazu was sagen? unter dem Gesichtspunkt eines liberalen Vielleicht können wir uns alle daran erin- Freiheitsbegriffs im Sinne einer individuel- nern als die Pandemie losgegangen ist, wie len Entscheidung verhandelt wird. Die Zu- es eigentlich in Italien war [laute Buh- spitzung der Maskenablehnung durch den Rufe].“ Noch bevor die Buh-Rufe verklin- Rekurs auf Sklaverei oder Diktatur kann gen, nimmt der Moderator ihr das Mikro- dahingehend gedeutet werden, dass Positi- fon aus der Hand und kommentiert: onen, die sich dagegen auflehnen, eine be- sondere Berechtigung im Sinne der Vertei- „Ganz, ganz kurz. Wir leben in Deutschland digung von Freiheit innehaben sollen. und Sie dürfen nicht die Gesundheitssys- teme von anderen Welten [sic] und auch 3.2 Kritik an etablierten nicht die Bevölkerungsanzahl von anderen Autoritäten Ländern dazuzählen, ohne den Massstab festzulegen. Weil Sie vergessen, dass in In den Reden und Gesprächen sowie auf den USA 384 Millionen Menschen leben Plakaten und Flyern werden eine grund- und hier nur 84. In Indien leben über eine sätzliche Kritik sowie ein fundamentales Milliarde Menschen und dann wird uns ge- Misstrauen gegenüber etablierten Instituti- sagt: »14.000 Neuinfektionen am Tag – oh onen und Autoritäten deutlich. Diese rich- Gott wie schrecklich!«. Rechnen Sie bitte ten sich gegen die Regierung und einzelne anhand der Bevölkerung, weil das ist ganz Behörden wie das Gesundheitsministerium Juli 2021 11
und das dem Gesundheitsministerium un- dass sie sich beide nicht für Politik interes- terstehende Robert-Koch-Institut sowie ge- sieren würden, aber sie nun doch an der gen Politiker*innen wie zum Beispiel die Demonstration teilnehmen, weil hinter Bundeskanzlerin oder den Gesundheitsmi- Corona etwas Anderes stecke, als gesagt nister Jens Spahn. Eine auffällig starke Ab- werde. Sie belassen es allerdings bei dieser lehnung wird gegenüber den sogenannten Vermutung, ohne ihren Verdacht inhalt- Mainstream-Medien geäussert. In diesem lich auszuführen. In einem weiteren Ge- Kontext wird Bezug genommen auf „alter- spräch mit einer Demonstrantin und ei- native Medien“ und Mediziner*innen, die nem Demonstranten geht es um Forschung einen konträren, das heisst für die De- und Wissenschaft im Allgemeinen, da die monstrant*innen richtigen Standpunkt beiden zu Beginn ein grosses Interesse an zum gegenwärtigen Diskurs einnehmen unserer Forschung formulieren. Der De- würden. Allgemein kann von einem ambi- monstrant beginnt einen kurzen Monolog valenten und entfremdeten Verhältnis zu über den Nobelpreis, als sich ein weiterer etablierten Autoritäten gesprochen wer- Demonstrant einschaltet. Er fragt uns mit den. Es wird ein Vertrauensverlust deut- verschwörerischem Unterton: „Wissen Sie, lich, der begleitet wird von einer Vermu- wo die Nobelpreisakademie ist? 50 Meter tung von Voreingenommenheit oder gar von der US-Botschaft entfernt. Das sind al- Manipuliertheit etablierter Institutionen. les Bolschewiken, alles Bolschewiken!“ Veranschaulichen lässt sich dies beispiels- weise anhand einer Aussage des Demo-Or- Eine zugespitzte Form der Ablehnung ge- ganisators Gerry Mayer. Dieser führt in ei- genüber der Regierung zeigt sich in der ner Rede aus: mehrfach geäusserten Vermutung, dass diese andere Absichten verfolge, als es sich “Wir merken alle, dass irgendetwas nicht mit einer Pandemie erklären liesse. Ein stimmt, dass irgendetwas nicht sein kann gängiges Narrativ der Demonstrant*innen und wir wollen hinterfragen, aber wir be- und Redner*innen besteht in der Bezug- kommen manchmal keine Antworten! Wir nahme auf Demokratie und Freiheit, wes- verstehen nicht, was sie uns nicht mittei- halb eine Teilnahme am Protest in der „ak- len. Wie können wir auch? Wir sind doch tuellen Diktatur“ zur Pflicht werde. De- Menschen, wir sind doch keine potenzielle monstrant*innen, die sich auf dieses Bild Gefahr, wir sind doch keine Terroristen!“ beziehen, verstehen sich selbst als Ret- ter*innen demokratischer Werte und von Kurze Zeit später schildert eine Rednerin, Freiheit. Dies berechtigt sie dazu, ihre Kri- deren Redebeitrag vor allem die Auswir- tik trotz politischem Widerstand auf die kungen der Corona-bedingten Massnah- Strasse zu bringen. Dabei lehnen manche men auf Kinder thematisiert, wie man sich andere demokratische Mittel grundlegend die „Plandemie“ vorzustellen habe. Sie be- ab, wie sich am Beispiel eines Schweizer dient sich des Bildes eines Glases, in dem Redners auf der Bühne zeigen lässt. Dieser sich rote und schwarze Ameisen befinden erklärt dem Publikum, dass die tatsächli- würden. Wenn nun das Glas geschüttelt che Mitbestimmung auf politischem Wege werde, bis die Ameisen zu kämpfen begin- in der direkten Demokratie nach „eigenen nen, soll man sich nicht auf den Kampf Berechnungen bei 0,1% liegt“. Dieser Um- konzentrieren. Vielmehr soll man sich fra- stand delegitimiere das politische System gen, wer das Glas denn schütteln würde. In in der Schweiz, weshalb er von einer eine ähnliche Richtung geht ein Gespräch „Schein-Demokratie“ spricht. mit zwei Demonstrant*innen. Sie erzählen, 12 N° 3
Neben einer allgemeinen Ablehnung etab- Expert*innen begreifen. Ihre eigene Exper- lierter Institutionen erfolgt häufig eine Kri- tise erlaubt die Einschätzung, dass Medien, tik an Personen, welche zentrale Positio- insbesondere der öffentlich-rechtliche nen innerhalb der Institutionen besetzen. Rundfunk, häufig Erkenntnisse aus der So zum Beispiel reagiert das Publikum mit Wissenschaft verzerrend darstellen wür- lauten Buh-Rufen, wenn in Reden auf der den. Den sogenannten Mainstream-Medien Bühne der Virologe Christian Drosten ge- wird zudem eine „Konformität“ mit der Po- nannt wird. Demgegenüber werden in Re- litik attestiert, wodurch „alternative“ Per- den und Gesprächen regelmässig auf Medi- spektiven keinen Platz finden würden. Im ziner*innen verwiesen, die eine andere, für Gegensatz dazu ständen alternative Quel- die Demonstrant*innen glaubwürdige An- len, die Authentizität qua ihrer blossen An- sicht vertreten, wie zum Beispiel Bodo dersartigkeit beanspruchen können. Ein Schiffmann, Wolfgang Wodarg oder Such- weiteres oft geteiltes Muster ist das Festhal- arit Bhakdi. Es wird differenziert zwischen ten an einem Objektivitätsbegriff, dem die Wissenschaftler*innen, auf die sich staatli- etablierten Medien gerade nicht genügen che Stellen beziehen und solchen, auf die würden. Ausschliesslich den eigenen Quel- sich die Demonstrant*innen beziehen. So len und der Eigenrecherche sowie -wahr- seien die ersten nicht objektiv, die zweiten nehmung wird Objektivität und damit al- hingegen seien die einzigen, welche sich leinige und allumfassende Wahrheit zuge- „trauen“ würden, die „Wahrheit“ auszu- sprochen. sprechen. Nur ihnen wird eine neutrale und objektive Position zugeschrieben, ge- 3.3 Rationale, romantische und rade weil sie die Gefährlichkeit des Virus affektuelle und die Existenz einer Pandemie in Frage Rechtfertigungsmuster stellen würden. Beklagt wird dabei, dass „alternative“ Perspektiven auf die Corona- Die Demonstrant*innen beziehen sich in Pandemie „ausgegrenzt“ werden. Es ist ihrer Kritik an den Corona-bedingten Mas- aber keine grundlegende Wissenschafts- snahmen auf unterschiedliche Argumenta- feindlichkeit, die sich in dieser Ablehnung tionsmuster, die wir im Folgenden anhand zeigt. In zahlreichen Gesprächen wird eine von drei Kategorien unterteilen: 1. ratio- positive Haltung zu unserem Forschungs- nale, 2. romantische und 3. affektuelle anliegen eingenommen, was unter ande- Rechtfertigungsmuster. Wohlgemerkt gibt rem damit begründet wird, dass den De- es dabei inhaltliche Überschneidungen monstrant*innen „endlich“ zugehört wer- und einige Wiederholungen zu den obigen den würde. In manchen Fällen werden wir Ausführungen. beim Verteilen der Flyer aber danach ge- fragt, ob denn unsere Forschung drittmit- Rationale Begründungen telfinanziert sei. Eine Demonstrantin be- richtet in diesem Kontext von ihren eige- Unter »rationalen Rechtfertigungsmuster« nen Erfahrungen, da sie selbst bei einem verstehen wir Begründungen, welche ge- grösseren Forschungsinstitut beschäftigt mäss den Aussagen der Demonstrant*in- sei und sie mit der Verfälschung von For- nen auf einem spezifischen Verständnis schungsergebnissen im Sinne der Geldge- von Vernunft und Logik basieren. »Ratio- ber durchaus vertraut sei. nale« Begründungsmuster zeichnen sich dadurch aus, dass die Demonstrant*innen Auffallend ist der Umstand, dass viele De- alternativen Quellen wissenschaftliche Au- monstrant*innen sich selbst als torität und politische Unabhängigkeit Juli 2021 13
zuschreiben, während den offiziellen Ent- verwenden die Demonstrant*innen roman- scheidungsträger*innen Korruption oder tische Begründungen, die weiter unten Manipulation vorgeworfen wird. Die zitier- skizziert werden. ten Quellen scheinen ihre Glaubwürdig- keit insbesondere aufgrund ihrer Opposi- Oftmals geht die Kritik allerdings einen tion zum »Mainstream« zu erhalten. Im Schritt weiter, wobei der Anspruch an rati- Verweis auf alternative Informationsquel- onale Begründung aufgehoben wird und len kritisieren die Demonstrant*innen verschwörungstheoretische Mythen er- Willkür und Nutzlosigkeit der Massnah- zählt werden: Die medizinischen und poli- men zur Eindämmung der Corona-Pande- tischen Protagonist*innen der Krisenbewäl- mie. Dabei wird häufig der Vorwurf erho- tigung würden nicht nur willkürliche Ent- ben, dass sich die offizielle Einschätzung scheidungen treffen, welche nicht im der Situation und die daraus abgeleiteten Sinne einer wirksamen Pandemiebekämp- Massnahmen für die Bekämpfung der Pan- fung seien, sondern überdies bewusst ge- demie an einem eindimensionalen wissen- wisse kritische Stimmen zensieren, um so schaftlichen und politischen Diskurs, dem verdeckt an der Durchsetzung anderer, für es an Objektivität und Verhältnismässig- die Bevölkerung schädlicher politischer keit fehle, ausrichte. Ein relevanter Bezugs- Ziele arbeiten zu können. Vor allem eine punkt ist daher die „mangelnde Verhältnis- Impfpflicht und die Aufhebung demokrati- mässigkeit“. Häufig erfolgt eine kritische scher Grundreche wie die Versammlungs- Abwägung der negativen Auswirkungen ei- freiheit werden diesbezüglich als Instru- nes Lockdowns oder einer Maskenpflicht mente der Regierung verstanden, um ihre gegenüber wirtschaftlichen, sozialen und politische Macht auszubauen und diktato- gesundheitlichen Folgen dieser Massnah- rische Verhältnisse herbeizuführen. Meist men. Zentral ist dabei das Argument, dass sind es internationale Eliten, seltener wird die gesundheitliche Gefahr des Virus für nur auf die nationale politische Führung den Einzelnen oder die Einzelne in keinem Bezug genommen, welche einen anderen Verhältnis mit den schweren wirtschaftli- Plan befolgen würden als die Bekämpfung chen Folgen der Massnahmen stünden, die der Pandemie. In manchen Gesprächen durch Erwerbsausfall und gesunkene Pro- werden auch antisemitische Narrative be- duktionskraft zu erwarten seien. Hierbei dient, indem auf eine jüdische Weltver- werden auch die Auswirkungen einer wirt- schwörung rekurriert wird. Die schaftlichen Rezession auf die physische „Mainstream-Medien” werden hierbei als und psychische Gesundheit thematisiert. weiteres Machtinstrument einer Politelite Es wird mehrfach von einer hohen Suizid- oder sogar als Teil der Politelite gesehen, rate durch die Gefährdung der Existenz- die mit den Massnahmen gewisse Interes- grundlage und dem Abrutschen der bürger- sen verfolgen würden. Auf Nachfragen lichen Mittelschicht in prekäre ökonomi- nach den Hintergründen dieser Interessen sche Verhältnisse gesprochen, sodass ein werden verschiedene Motive zwar geäus- breiter Teil der Bevölkerung durch das Zu- sert, die Erklärungen bleiben aber diffus. sammenspiel von Isolation und wirtschaft- Beispielhaft hierfür steht entweder der Be- licher Not in Depressionen abgleiten wür- zug auf ein wirtschaftliches Interesse einer den. Was allerdings verhältnismässig wäre, Elite, oder auf ein Weltkonzept, das auf ei- wird nicht erläutert oder es wird auf indi- ner organisierten Fremdsteuerung der viduelle Entscheidungsbefugnisse und Welt durch Gruppierungen mit bösartigen Selbstbestimmung verwiesen. Gerade in Absichten aufbaut. Obwohl der Verdacht Bezug auf körperliche Selbstbestimmung häufig inhaltlich nicht erläutert wird, 14 N° 3
reicht es aus, ihn durch alternative Studien Rückgriff auf die Natürlichkeit der eigenen und Quellen sowie durch die angeeignete Immunkraft das Immunsystem zu stärken Expertise »rational« zu legitimieren. sei und dieses das Virus besiegen könne. Impfen und Masken stehen in dieser Vor- stellung für eine Künstlichkeit, die abge- Romantische Begründungen lehnt wird. Schliesslich zeigt sich eine di- Zu den romantischen Rechtfertigungsmus- chotome Vorstellung: Auf der einen Seite ter zählen wir solche, die sich auf Natur, wird eine warme Protestgemeinschaft ge- Widerständigkeit, Heroismus und Verge- zeichnet, in der man verstanden wird. Auf meinschaftung beziehen. Diese Bezüge zei- der anderen Seite steht der kalte bürokrati- gen sich in Schlagwörtern wie Liebe, Frie- sche Staat, der die Kontrolle über den Men- den, Nähe und Miteinander, die von den schen erlangen wolle und ihn seinen Ma- Demonstrant*innen als Charakteristika der chenschaften und böswilligen Interessen Protestgemeinschaft verstanden werden unterordne. Die Maske wirke nun insofern und im Kontrast zur Gesellschaft stehen. entmenschlichend, als Emotionen ver- So stellt ein relevantes Element der Protest- deckt und bewusst unterdrückt würden. kundgebung die Heroisierung des Protests Dies diene dazu, die Menschen einer Angst und der Protestierenden dar. Parallel zur auszusetzen, sodass sie geradezu blind den Aufwertung der Eigengruppe als die Muti- Anweisungen folgen würden und gleichzei- gen, Kritischen und Widerständigen wird tig Liebe und menschliche Nähe zu unter- eine starke Abwertung der Verantwortli- drücken bereit seien. Mitunter diese Argu- chen oder gar „Profiteure“ der Corona-Pan- mentationsmuster gehen fliessend in af- demie vorgenommen. Die Widerständig- fektuelle Begründungen über. keit der Demonstrant*innen gegen die „Ob- rigkeit” und gegen eine „bevorstehende Affektuelle Begründungen Hygienediktatur” wird als ein ehrenvoller Akt der Selbstaufopferung inszeniert, der Hiermit sind Rechtfertigungsmuster ge- die „Aufgewachten” klar von den „Schlaf- meint, welche emotional sehr stark aufge- schafen” unterscheide. laden sind oder aus einem »Bauchgefühl« der Protestierenden heraus formuliert wer- Grundlage vieler Aussagen der Demonst- den. Dabei gibt es durchaus Ähnlichkeiten rant*innen ist ein gemeinsam geteiltes Ver- zu den romantischen und rationalen Be- ständnis von Natürlichkeit. Somit wird je- gründungsmustern. Besonders viel Raum der Eingriff in die eigene Freiheit im Kon- auf der Demonstration nimmt diesbezüg- text der Masken und des Impfens als unna- lich die Sorge um das Kindeswohl ein. Ne- türlich gesehen. Prägend hierfür ist eine ben der oben beschriebenen Sorge um die Parole, die vermehrt zu hören war: „Eure emotionale Entwicklung von Kindern in Maske ist mein Immunsystem”. Demnach Zeiten der Maskenpflicht zeigt sich die wird die Maske dem eigenen Körper als et- Frage nach einem „Impfzwang“ im Zusam- was Unnatürliches entgegengestellt, das menhang mit der Wehrlosigkeit der Kinder nicht mit der eigenen Selbstbestimmung als bedeutsamer Aspekt. Eine Rednerin über den Körper zu vereinbaren sei. So weint auf der Bühne, als sie über die Aus- wurde das eigene Immunsystem als virus- wirkungen der Massnahmen auf Kinder resistent dargestellt und die eigenen natur- spricht, was beim Publikum grosse Anteil- gegebenen Heilkräfte als schützender als nahme auslöst. die Masken wahrgenommen. Ein typisches Argumentationsmuster ist, dass im Juli 2021 15
Ebenfalls sehr dominant sind grundsätzli- Handzeichens, was als Teil der oben ge- che Zweifel an der Glaubwürdigkeit der nannten Festgemeinschaft verstanden wer- medialen Darstellung der Ereignisse rund den kann. Diese Gesten wurden oft durch um die Corona-Pandemie. Ein grundlegen- Ausrufe nach „Liebe, Freiheit und Frieden“ des Gefühl, etwas Fundamentales an den ergänzt. Zunächst treffen diese Aufforde- aktuellen Geschehnissen „stimme nicht“ rungen auf wenig Partizipation unter den und man sei berechtigt, diesbezüglich Fra- Demonstrant*innen, im Verlauf des Tages gen zu stellen, kommt sowohl in den Re- werden diese Interaktionen immer mehr den auf der Bühne als auch bei den Gesprä- von einem breiten Publikum geteilt. Am chen mit den Protestierenden häufig zum Nachmittag nehmen diese Animationen in Ausdruck. Die Tatsache, dass sich wissen- Form von künstlerischen Darbietungen, schaftliche Annahmen über das Coronavi- gemeinsamem Klatschen, singen und tan- rus und über die Massnahmen gegen des- zen nochmal zu. Die Resonanz unter den sen Ausbreitung mit dem Fortschritt der Teilnehmer*innen steigt und die gesamte Forschung verändern, wird nicht als dem Veranstaltung erinnert an manchen Stel- wissenschaftlichen Prozess inhärentes Ele- len mehr an eine Festgemeinde als an eine ment betrachtet, sondern scheint vielmehr politische Demonstration. Damit ver- Misstrauen zu wecken. Es gibt eine Sehn- knüpft ist eine gemeinschaftsbildende Dy- sucht nach Eindeutigkeit und Einheit, die namik und Emotionalisierung. Diese kol- demgegenüber in der Protestgemeinschaft lektiven Gefühle haben auch das Potential, und ihren Vorstellungen zu finden ist. So schnell von einer Feststimmung in emotio- thematisieren viele Demonstrant*innen nale Aufwallungen umzuschlagen, wie sich die eigene und geteilte Gefühlswelt der an- am Beispiel mit dem Umgang mit Gegende- wesenden Menschen. Für viele sind Liebe, monstrant*innen zeigt. Die Protestgemein- zwischenmenschliche Verbundenheit und schaft funktioniert aber nicht nur durch das „Fühlen mit dem Herzen“ zentrale und positive Selbstaffirmation, sondern auch verbindende Aspekte. Hierbei wird von durch das Zeichnen einer feindlichen Ge- manchen klar zwischen den fühlenden sellschaft, die diese Gemeinschaft auszu- Menschen und den zweckrational handeln- schliessen und zu verdrängen versucht. den Menschen unterteilt. Wichtig ist die Dies führt dazu, dass sich viele Demonst- Forderung, dass nicht ausschliesslich ratio- rant*innen als Leidensgemeinschaft sehen, nale Argumentationen ausschlaggebend die den exkludierenden Strukturen und sein dürfen, sondern eben auch ein ande- den Repressionen durch die Gesellschaft al- res, „intuitives“ Erleben Platz erhalten soll. lerdings Widerstand entgegensetzt und so- mit noch stärker zusammenhalten müsse und so zur Widerstandgemeinschaft wird. 4. Schlussbetrachtung In diesem Sinne sprechen manche Anwe- Um eine gemeinschaftliche Stimmung bei sende von einer zunehmenden „Spaltung den Demonstrant*innen herzustellen und der Gesellschaft“. Sie fühlen sich durch Me- aus der heterogenen Masse ein stärkeres dien und Politik ins Abseits gedrängt, und Gefühl des Zusammenhalts zu erwecken, das, obwohl sie aufgrund ihrer Expertise ei- konnten an der Kundgebung in Konstanz gentlich besser wissen, wie mit dem immer wieder Animationsversuche von Coronavirus umzugehen sei bzw. welche der Bühne beobachtet werden. Gerade zwi- Massnahmen im Verhältnis dazu stünden. schen den verschiedenen Redebeiträgen Das institutionell Etablierte scheint gibt es Klatsch-Animationen oder das ge- schliesslich unter einem ständigen Gene- meinsame Zeigen eines Herz- ralverdacht der Parteilichkeit, der 16 N° 3
Einseitigkeit oder sogar der Unterwande- Überlegenheit wird: Wer die Maske trage, rung zu stehen. Allerdings wird mit beach- unterwerfe sich entweder willentlich tenswerter Vehemenz eine politische Ein- durch Feigheit oder unwillentlich durch ordnung der Demonstrant*innen in das po- Unwissenheit. Wer sie jedoch weglasse, litische Links-Rechts-Schema abgelehnt. So habe erkannt und sei mutig. Da es sich spricht Gerhard Mayr, Mitorganisator und beim Tragen der Maske jedoch nicht um Moderator der Demonstration in Konstanz, gesprochene, sondern um körpersprach- des Öfteren von einer „Mitte der Gesell- lich vermittelte Kommunikation handelt, schaft”, die sich hier eingefunden habe, bleibt die genaue Bedeutung der Maske und sich durch eine Distanzierung von dennoch vage. Wichtiger noch als die ge- „jeglicher Form des Extremismus” und ei- naue inhaltliche Bedeutung der Maske ist ner Mystifizierung der Mitte die Proteste le- dementsprechend, dass sie überhaupt gitimiere. Gleichzeitig kann festgestellt kommuniziert. werden, dass hierbei insbesondere Grup- pierungen der linken Szene, von den Pro- Zusammenfassend lässt sich festhalten, testierenden als „die Antifa” bezeichnet, dass ein Bedürfnis nach Gemeinschaft in- als starkes Feindbild fungierten. nerhalb der Demonstrant*innen ein zentra- ler Beweggrund für die Demonstrations- Es hat sich gezeigt, dass die Maske ein we- teilnahme darstellt. Trotz einer angestreb- sentliches identitätsstiftendes Symbol der ten Gemeinschaftsbildung wird aber auf Protestgemeinschaft darstellt. Ihre Ableh- das Individuum gesetzt: Von vielen Teil- nung wird von den anwesenden Demonst- nehmer*innen und Redner*innen wird im- rant*innen durchgängig geteilt. Sie ist der mer wieder betont, dass man selbst recher- kleinste gemeinsame Nenner der Mehrheit chieren, sich informieren und generell al- der Protestierenden. Die Praxis, sie wegzu- les hinterfragen soll. Es soll nicht nur pas- lassen, ist derweil eine Geste der Kritik, siv konsumiert werden. Trotz dieses Ap- ohne dass diese Kritik explizit formuliert pells an eine eigenverantwortliche Wis- sein muss. Die inhaltliche Bedeutung der sensgenerierung besteht eine Gemeinsam- Maske kann also vage sein, ohne dass dies keit in den genannten Quellen und in sich deren Bedeutsamkeit schmälern würde. gleichenden Erklärungssträngen und Nar- Auf einer individuellen Ebene kann sie un- rativen. Dieser Kanon begünstigt die Iden- terschiedlich interpretiert werden. Auf der titätsbildung innerhalb der Eigengruppe. kollektiven Ebene ist das Nicht-Tragen der Es gibt wenig »Eingeweihte« und diese ha- Maske ein klares Symbol der Zusammenge- ben es sich zur Aufgabe gemacht, die Nicht- hörigkeit und der kollektiven Identität. Eingeweihten aufzuwecken. Dazu bietet sie sich gerade durch ihre In- terpretationsoffenheit an. Auch im Diskurs ermöglicht das Rekurrieren auf das Symbol der Maske, die politischen und ideologi- schen Widersprüche in der Protest-Bewe- gung zu überwinden und eine Zusammen- gehörigkeit herzustellen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit akzentuiert sich, wie zu beobachten war, wenn das Nicht- Tragen einer Maske zum Gefühl der Juli 2021 17
Sie können auch lesen