"Liebe, Freiheit, Frieden". Ethnographische Beobachtung des Corona-Protests in Konstanz

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N° 03
                                                                               2021

»Liebe, Freiheit, Frieden«.
Ethnographische Beobachtung
des Corona-Protests in Konstanz

Nadine Frei     Lisa Kwasny
Jeremy Erb      Andreas Schönenberger
Heidi Franke    Marko Stamenkov
Lucas Güetli    Jonah Waldvogel
Ado Kaiser      Paul Wassmer
Fanny Klaffke   Matthias Zaugg

                                        Basler Arbeitspapiere   Basel Working Papers
                                               zur Soziologie           in Sociology
https://doi.org/10.31235/osf.io/vzf6a

© 2021
Nadine Frei et al.

Herausgegeben durch / published by:
Seminar für Soziologie, Universität Basel
Seminar for Sociology, University of Basel

Gestaltung / Design: Heidi Franke
Inhaltsverzeichnis

    Inhaltsverzeichnis                                                       1
    Abstract                                                                 2
    1. Kontext                                                               3
    2. Beobachtungen zum Stimmungsverlauf: Vom Happening zur affektuellen
    Aufladung                                                                4
       2.1 Der Vormittag                                                     4
       2.2 Der Nachmittag                                                    5

    3. Interpretationen                                                      7
       3.1 Die Maske als politisches Symbol                                  7
       3.2 Kritik an etablierten Autoritäten                                11
       3.3 Rationale, romantische und affektuelle Rechtfertigungsmuster     13

    4. Schlussbetrachtung                                                   16
    Referenzen                                                              18
Abstract

    Beim vorliegenden Working Paper handelt es sich um eine ethno-
    graphische Beobachtung des Corona-Protests am 4. Oktober 2020
    in Konstanz. Dieser lässt sich als Happening mit affektuellem Po-
    tential beschreiben, in dessen Tagesverlauf eine Verschiebung von
    der Festgemeinschaft über eine Leidensgemeinschaft hin zur Wi-
    derstandsgemeinschaft stattgefunden hat. Der Schwerpunt des
    kollektiv erarbeiteten Demonstrationsberichts liegt auf der Be-
    schreibung dieses Stimmungsverlaufs und auf Interpretationsan-
    sätzen zu den Themen Maske, Kritik an etablierten Autoritäten
    und allgemeine Begründungsmuster für die Protestteilnahme.

    Schlüsselwörter
    Corona-Protest, Masken, Bewegungsforschung, Ethnographische Beobachtung

2                                      N° 3
1. Kontext                                             Forschungsseminars kollektiv erarbeitet. 2
Anfang September 2020 wurde im Fachbe-                 Darin werden die ethnographisch gewon-
reich Soziologie an der Universität Basel              nenen Beobachtungen beschrieben und In-
das Forschungsprojekt »Politische Soziolo-             terpretationsansätze des Protestgesche-
gie der Corona-Proteste« initiiert. Das Pro-           hens entfaltet. Die Beschreibungen beru-
jekt beinhaltet die Erhebung und die Aus-              hen auf den Gesprächs- und Beobachtungs-
wertung empirischen Materials zu den                   protokollen3, die am Tag selbst geschrie-
Corona-Protesten in der Schweiz und in                 ben und daraufhin im Forschungsseminar
Deutschland. Die explorative Untersu-                  diskutiert wurden.
chung zielt darauf, Motive, Überzeugungen
sowie Werte der Teilnehmer*innen und                   Zur Generierung empirischen Materials
Sympathisant*innen dieser Proteste her-                teilte sich am Protesttag das For-
auszuarbeiten. Für die umfassende Unter-               schungsteam in Zweiergruppen auf. Drei
suchung dieses neuen gesellschaftlichen                Forschungsduos fokussierten sich auf ei-
Phänomens wurde im Projekt ein Mixed-                  nen spezifischen Aspekt der Demonstra-
Methods-Ansatz mit folgenden Datenerhe-                tion. Die thematische Schwerpunktsetzung
bungsmethoden gewählt: Ethnographische                 lag erstens auf der Dokumentation von Pla-
Beobachtungen, qualitative Interviews,                 katen, Symbolen und Sprechchören, zwei-
eine quantitative Befragung und Dokumen-               tens auf der Beobachtung des Bühnenge-
tenanalysen. Das Projekt wurde im Herbst-              schehens und der Reaktionen des Publi-
semester 2020 durch ein Forschungssemi-                kums sowie drittens auf der Beobachtung
nar an der Universität Basel begleitet. Im             der Interaktion der Teilnehmer*innen mit
Rahmen dieses Forschungsseminars wurde                 der Polizei und den Medienschaffenden.4
zu Beginn der Projektphase eine systemati-             Die weiteren vier Forschungsduos kon-
sche Erhebung von empirischem Material                 zentrierten sich auf die Verteilung von Fly-
an einem Corona-Protest am 4. Oktober                  ern und die Generierung von möglichen In-
2020 in Konstanz organisiert. Dazu gehörte             terviewpartner*innen.5 Der Flyer beinhal-
die ethnographische Beobachtung des Pro-               tete einen Link zu einer quantitativen On-
testgeschehens, die Durchführung von                   line-Befragung. Aufgrund der zeitaufwen-
qualitativen Interviews mit Demonst-                   digen Gespräche, um die Demonstrant*in-
rant*innen und das Verteilen von Flyern,               nen zur Teilnahme an der Umfrage zu mo-
die zur Teilnahme am Pretest einer quanti-             tivieren, konnten nur knapp 300 von 1000
tativen Umfrage einladen.1 Das For-                    Flyern verteilt werden. Allerdings ergab
schungsteam bestand aus zwölf Studieren-               sich durch diese zahlreichen Gespräche die
den und zwei wissenschaftlichen Mitarbei-              Möglichkeit, Themen und Motive der De-
terinnen. Durch das gewählte Vorgehen                  monstrant*innen zu vertiefen. Während
konnten empirisch fundierte Eindrücke                  die Reaktionen – auch aufgrund des Tra-
dieser neuen Protestbewegung gesammelt                 gens einer FFP2-Maske – meist zunächst
werden. Der folgende Demonstrationsbe-                 von Misstrauen geprägt waren, erhöhte
richt     wurde     im      Rahmen      des            der Hinweis darauf, dass die Forschung

–
                                                       3
                                                        Zitate aus den ethnographischen Protokollen
1
 Vgl. folgende Publikationen des Forschungsprojekts
                                                       werden kursiv und in Anführungszeichen dargestellt.
Nachtwey et al. 2020 und Frei et al. 2021.
                                                       4
                                                        Die thematische Aufteilung orientierte sich an Daphi
2
 Vielen Dank an Marie Harzenetter und Selina
                                                       et al. 2015.
Reusser für die Korrektur und das Lektorat des
Demonstrationsberichts.                                5
                                                        Bereits während der Kundgebung in Konstanz
                                                       konnten vier Interviews durchgeführt werden.

                                                  Juli 2021                                                    3
abseits der medialen Berichterstattung an               Altersdurchschnitt der Kundgebungsteiln-
    der wissenschaftlichen Betrachtung der                  sehmer*innen liegt schätzungsweise bei 45
    Protestbewegung interessiert sei, die Be-               Jahren. Weitere auffallende Merkmale sind
    reitschaft für ein Gespräch erheblich.                  das ausgeglichene Geschlechterverhältnis
                                                            und ein Habitus, der auf die Mittelschicht
    Im Folgenden wird zunächst der Stim-                    schliessen lässt. Viele der Anwesenden sind
    mungsverlauf des Kundgebungstages in                    bunt gekleidet, viele tragen Funktionsklei-
    Konstanz beschrieben. Im Anschluss daran                dung. Manche Demonstrant*innen haben
    werden Interpretationsansätze vorgestellt,              Schilder und Regenbogenfahnen mitge-
    die sich auf die Maske, Kritik an etablierten           bracht und manche verteilen mitgebrachte
    Autoritäten sowie rationale, romantische                Flyer.
    und affektuelle Begründungsmuster bezie-
    hen. Im Verlauf des Tages liess sich eine               Die Stimmung am Vormittag erinnert
    Verschiebung von einer Festgemeinschaft                 kaum an eine politische Kundgebung. Viel-
    über eine Leidensgemeinschaft hin zur Wi-               mehr hat die Veranstaltung den Charakter
    derstandsgemeinschaft feststellen. Diese                eines Happenings. Wenige Demonst-
    Verschiebung wird unter anderem durch                   rant*innen tragen eine Maske, jedoch wird,
    die Beschreibung der Stimmung illustriert               auch aufgrund der Grössendimension des
    und schliesslich ergänzt durch die Schluss-             Veranstaltungsortes, ein relativ grosser Ab-
    betrachtung, in der die Bildung einer Ge-               stand zwischen den einzelnen Gruppen,
    meinschaft6 im Fokus steht, die trotz Hete-             Paaren und Einzelpersonen eingehalten.
    rogenität der Beweggründe, vor Ort zu be-               Zur Kundgebungsauflage gehört, einen
    obachten war.                                           Mindestabstand von 1,5 Meter einzuhalten,
                                                            wohingegen eine Maskenpflicht nur für die
                                                            Ordner*innen gilt.7 Die meisten Demonst-
    2. Beobachtungen zum                                    rant*innen reisen in Kleingruppen oder
    Stimmungsverlauf: Vom                                   Paaren, seltener auch alleine an. Viele blei-
    Happening zur affektuellen                              ben erst einmal unter sich und beobachten
    Aufladung                                               das Geschehen. Im Verlauf des Tages sehen
                                                            wir auch kleinere Gruppen von Personen,
    2.1 Der Vormittag
                                                            die der extremen Rechte zuzuordnen sind,
    Kurz nach zehn Uhr morgens treffen wir                  allerdings sind es nicht viele.
    beim Corona-Protest in Konstanz ein. In
    Klein Venedig, direkt am See zwischen der               Auf der Bühne wird versucht, zu einer po-
    Grenze zur Schweiz und dem Sea Life Cen-                sitiven Stimmung und einem Gemein-
    ter Konstanz, findet die Kundgebung auf ei-             schaftsgefühl beizutragen. Es wird Musik
    ner grossflächigen Wiese statt. Am Seeufer              gespielt, der Inhalt der Liedtexte dreht sich
    ist eine Bühne aufgestellt, daneben stehen              hauptsächlich um Liebe und Freiheit. Die
    grosse hochwertige LED Bildschirme, auf                 Demonstrant*innen haben sichtlich Spass.
    denen das Geschehen auf der Bühne über-                 Sie tanzen zur Musik, sitzen auf Campings-
    tragen wird. Vor der Bühne haben sich ca.               tühlen oder Decken, beklatschen die Red-
    500      Personen      versammelt.     Der              ner*innen, die auf der Bühne auf

    –
    6 Vgl. Hentschel (2021) u.a. zu den affektiven          7 Die 7-Tage-Inzidenz beträgt am Kundgebungstag
    Dynamiken der Corona-Proteste.                          16,2 Fälle pro 100 000 Einwohner*innen. Vgl.
                                                            https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Co
                                                            ronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-04-
                                                            de.pdf?__blob=publicationFile (Stand 19.4.2021).

4                                                    N° 3
Missstände rund um die Massnahmen zur           auf Kleidungsstücken und Gesprächen
Bekämpfung des Coronavirus verweisen            liegt die Interpretation nahe, dass es sich
oder die Existenz einer Pandemie in Frage       bei einigen der Ordner*innen um Personen
stellen. Einzelne Demonstrant*innen fla-        handelt, die der extremen Rechten zuge-
nieren am See, einige Kinder spielen ausge-     ordnet werden können. So auch beim Ord-
lassen mit Riesen-Seifenblasen. Immer wie-      ner, der unser Ankommen auf der De-
der wird betont, sowohl auf der Bühne als       monstration über Funk weitergegeben hat.
auch von Demonstrant*innen, wie friedlich       Es werden aber auch andere Ordner*innen
und schön die Demonstration vonstatten          auf uns aufmerksam. So bemerkt kurze
gehe.                                           Zeit später ein Forschungsduo, dass drei
                                                Ordner*innen hinter ihnen stehen und sie
In der Menge bewegen sich einige Ord-           beobachten. Gleichzeitig steht eine Ordne-
ner*innen, die durch gelbe Westen oder          rin vor dem Forschungsduo, um sie im
Armbinden zu erkennen sind. Nur teil-           Blick zu behalten. Als die Ordner*innen se-
weise befolgen sie die für Ordner*innen         hen, dass ein weiteres Forschungsduo mit
geltende Maskenpflicht. Einige tragen           einem Demonstranten spricht und ihm ei-
bloss lose ein Halstuch oder einen              nen Fragebogen aushändigt, gehen die drei
Schlauchschal über Mund und Nase. Man-          zum Demonstranten und sprechen ihn an.
che tragen auch nur einen Netzstoff, der        Eine Ordnerin macht derweil beabsichtigt
zwar Mund und Nase bedeckt, aber offen-         »unauffällig« ein Panoramavideo von den
sichtlich keinen Schutzfilter darstellt. Eine   beiden Forschungsteams. Sie verfolgt sogar
Ordnerin trägt zwar eine blaue Operations-      kurze Zeit später ein Forschungsduo über
maske, die aber in der Mitte aufgeschnitten     den ganzen Kundgebungsplatz. Von die-
wurde. Der Umgang mit der Maskenauf-            sem wird der Umstand, dass sie beobach-
lage bleibt den Behörden nicht verborgen.       tet, gefilmt und verfolgt werden, als „unbe-
So beobachten wir eine Diskussion zwi-          haglichste Situation des Tages“ festgehal-
schen der Einsatzbehörde der Polizei und        ten. In der Zwischenzeit informiert die For-
dem Organisations-Team der Kundgebung.          schungsleiterin die polizeiliche Einsatzlei-
Daraufhin gibt der Anwalt der »Querden-         tung über die wissenschaftliche Dokumen-
ken«-Bewegung Markus Haintz auf der             tation der Kundgebung. Kurze Zeit später
Bühne bekannt, dass alle Ordner*innen ei-       wird sie vom Einsatzleiter nochmal ange-
nen Mundschutz tragen müssten. Er merkt         sprochen. Er erzählt ihr, dass es bereits Be-
indessen an, dass dies vor einer Stunde an-     schwerden über uns durch einige Ord-
ders verhandelt worden sei. Diejenigen,         ner*innen gegeben habe, die er aber als un-
welche keinen Mundschutz tragen wollen,         gerechtfertigt zurückgewiesen habe. Die
sollen ihre Ordnerbinden abnehmen und           Information, dass die Einsatzleitung über
würden die Funktion als Ordner*in nicht         unsere Forschung offiziell unterrichtet ist,
mehr ausüben dürfen. Spöttisch wird hin-        wird über den zuvor eingerichteten Chat
zugefügt: „Das ist die Basis, das Rechtver-     an alle Forschungsduos weitergeleitet.
ständnis der Polizei, das ist absurd.“ Das      Dadurch soll mitunter die Kommunikation
Publikum reagiert mit lauten Buh-Rufen.         mit den misstrauischen Ordner*innen ver-
                                                einfacht werden.
Als wir den Kundgebungsplatz betreten,
gibt ein Ordner über das Funkgerät durch,
                                                2.2 Der Nachmittag
dass sich „Gegendemonstranten“ auf die
Kundgebung begeben hätten. Aus der Be-          Im Verlauf des Nachmittags wächst der
obachtung von Interaktionen, Symbolen           Corona-Protest  auf  ungefähr    5000

                                           Juli 2021                                            5
Teilnehmer*innen an. Kurz nach Mittag             anderem „Ihr seid unsolidarisch”, „Nazis
    brechen die Demonstrant*innen zum Ma-             raus” oder „Wer mit Nazis mitmarschiert,
    ria-Hilf-Platz auf, ca. drei Kilometer vom        der hat wirklich nichts kapiert“. Einige Or-
    Bühnenareal entfernt, von wo aus am frü-          ganisatoren des Corona-Protests stellen
    hen Nachmittag eine Demonstration zu-             sich vor die Polizeikette und rufen über das
    rück nach Klein Venedig stattfinden soll.         Megafon die Teilnehmer*innen des Corona-
    Auf dem Weg zum Demonstrationsstart-              Protests dazu auf, die Gegendemonstration
    punkt verändert sich die bis anhin eher           zu ignorieren. Die Teilnehmer*innen des
    friedliche Happening-Stimmung. Die Poli-          Corona-Protests scheint das wenig zu be-
    zei verbietet den geplanten Demonstrati-          eindrucken. Bald bildet sich auch auf ihrer
    onszug. Den Grund erfahren wir nicht. Ei-         Seite der Polizeikette eine Menschen-
    nige Demonstrant*innen sind besorgt, dass         traube. Auf die Sprechchöre der Gegende-
    der Kundgebung in Klein Venedig die Be-           monstrant*innen antworten auch sie mit
    willigung ebenfalls entzogen werden               „Nazis raus”. Einige beschimpfen die Ge-
    könnte, wenn der Anordnung nicht gefolgt          gendemonstrant*innen zudem als „Pro-
    werde. Andere wiederum wollen die Ent-            dukt ihrer Lehrer”, werfen ihnen die Teil-
    scheidung der Polizei nicht akzeptieren.          nahme an „betreutem Denken” vor oder
    Die Stimmung schlägt merklich und über-           berichten den Menschen in ihrer Nähe,
    raschend schnell um. Die Kommunikation,           dass die Gegendemonstrant*innen für ihr
    die wir zwischen den Demonstrant*innen            Erscheinen bezahlt würden. Dem Gegen-
    beobachten, wird nervöser, impulsiver und         protest wird allerdings von vielen auch mit
    emotionaler. Auf dem Weg zwischen der             inszeniertem Wohlwollen und Friedlich-
    Bühne und dem Maria-Hilf-Platz fordern ei-        keit begegnet: Viele der Kundgebungsteil-
    nige Demo-Organisatoren die Demonst-              nehmer*innen zeigen den Gegendemonst-
    rant*innen dazu auf, dem Aufruf Folge zu          rant*innen mit den Händen geformte Her-
    leisten und sich zurück zum Bühnenareal           zen oder das Victory-Zeichen, sie rufen
    zu begeben. In der Nähe der Bühne zeigt           ihnen Liebe zu oder singen und tanzen ge-
    sich allerdings eine Uneinigkeit der De-          meinsam als Reaktion auf die Gegende-
    monstrant*innen. So zum Beispiel wird             monstration. Die Gegendemonstration ver-
    provokativ ein Trommelkreis vor einem             lässt schliesslich den Ort und die Teilneh-
    Polizeiauto zelebriert, Bob Marleys Lied Get      mer*innen des Corona-Protests gehen zu-
    Up, Stand Up schallt über die Uferprome-          rück zur Kundgebungswiese. Im Verlauf
    nade. Als die in der Nähe befindlichen            des Nachmittags finden weitere Reden und
    Demo-Organisatoren dies bemerken, stel-           musikalische Darbietungen auf der Bühne
    len sie sich mit Megafonen vor die Menge          statt.
    und rufen dazu auf, das Areal zu verlassen
    und sich zurück zur Bühne zu begeben. Sie         Als wir uns kurz nach 16 Uhr bereits in un-
    werden jedoch von den 25-30 singenden             serer Schlussbesprechung befinden, ergibt
    Demonstrant*innen ignoriert, die erst nach        sich ein weiteres bemerkenswertes Ereig-
    20 Minuten den Trommelkreis auflösen.             nis. Ausgelöst durch das Zünden eines
                                                      Rauchtopfes neben der Bühne schlägt die
    Kurz darauf erreicht eine Gegendemonstra-         Stimmung um. Von der Bühne wird inner-
    tion Klein Venedig. Die Polizei trennt die        halb von Sekunden kommuniziert, es
    Gegendemonstrant*innen von den Teilneh-           handle sich um einen „Angriff der Antifa“.
    mer*innen des Corona-Protests durch die           Die Polizei wird dazu aufgerufen, alle Zu-
    Bildung einer Polizeikette. Die Gegende-          gänge zum Areal abzuriegeln und alle Men-
    monstrant*innen       skandieren    unter         schen mit Schutzmaske, denn daran könne

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man die Gegendemonstrant*innen erken-          halten und Erklärungen über das For-
nen, am Verlassen des Geländes zu hin-         schungsprojekt ignorieren.
dern. Ungefähr 50 Personen rennen hinter
die Bühne, wo sie die »Täter*innen« vermu-     Zusammenfassend lässt sich festhalten,
ten. Die Situation ist diffus und unüber-      dass es eine bemerkenswerte emotionale
sichtlich, gleichzeitig nimmt die Spannung     Dramaturgie des Tages gab. Ein affektuel-
zu. Der anfängliche Festival-Charakter ist     les Potential ist bereits seit Beginn latent
verflogen, die Situation ist zunehmend af-     vorhanden. So konnte die Stimmung, die
fektuell aufgeladen. Die Menschen sind         gerade am Vormittag fröhlich und ausge-
wütend, schimpfen gegen „die Antifa“ und       lassen war, offenbar schnell umschlagen.
nehmen das Geschehen mit ihren Han-            Externe Faktoren, wie das am Tag ausge-
dykameras auf, während andere sich wei-        sprochene Verbot der Demonstration
ter auf der Suche nach den »Täter*innen«       durch die Innenstadt, die Gegendemonstra-
befinden. Personen in blauen Westen mit        tion oder das Zünden eines Rauchtopfes,
der Aufschrift »Friedensstifter« heizen die    führten dazu, dass der Festivalcharakter
Situation zusätzlich an, indem sie De-         mit Friedens- und Liebensrhetorik einer
monstrationsteilnehmer*innen dazu befra-       »Wir-gegen-die-Mentalität« wich. Eine ab-
gen, was sie von diesem „feigen Angriff der    lehnende Haltung richtet sich selten gegen
Antifa” halten. Nana Domena, der schon         unser Forschungsanliegen an sich, viel-
zuvor als charismatischer Moderator auf        mehr wird das Tragen einer Maske von den
der Bühne aufgefallen ist, und Karl Hilz,      Demonstrant*innen negativ bewertet. Was
ein Ex-Polizist aus Bayern, versuchen sich     uns zum Zeitpunkt unserer Forschungsvor-
um den Vorfall zu kümmern. So will Nana        bereitungen noch nicht in diesem Masse
Domena das Ereignis live über seinen           bewusst war, wird zu Beginn der Kundge-
Youtube-Kanal senden, hat allerdings mit       bung schnell deutlich: Der Mundnasen-
technischen Problemen zu kämpfen. Der-         schutz hat sich innerhalb der Corona-Pro-
weil geht Hilz zum Rauchtopf, holt ein Ta-     testbewegung zu einem breit geteilten po-
schentuch hervor und hält den Rauchtopf        litischen Symbol des Widerstandes etab-
spurensicher in die Höhe. Mit dem Rauch-       liert. Konkreter formuliert, besteht ein
topf in der Hand geht er zur Bühne, wird       Konsens in der Ablehnung der Maske. Im
vom Redner willkommen geheissen und            folgenden Kapitel, in dem Interpretationen
erntet Applaus. Interessant ist zum einen      des Protestgeschehens darlegt werden,
das Konkurrenzverhältnis zwischen dem Y-       wird zunächst auf die Maske als politisches
ouTube-Blogger und dem Ex-Polizisten.          Symbol eingegangen. Im Anschluss daran
Beide wollen sofort ihren souveränen Um-       wird ihre Kritik an etablierten Autoritäten
gang mit dieser Situation unter Beweis stel-   rekonstruiert. Schliesslich erfolgt eine Ein-
len. Zum anderen ist die sofortige Einbin-     ordnung der vorgefundenen Argumentati-
dung dieses Ereignisses in das Bühnenge-       onsmuster.
schehen auffallend. Nach diesem Ereignis
beenden wir unsere ethnographische Be-
obachtung, die Kundgebung dauert aller-        3. Interpretationen
dings noch bis in die Abendstunden an. Auf
                                               3.1 Die Maske als politisches
dem Weg zum Bahnhof werden wir sehr
                                               Symbol
unfreundlich von der Bundespolizei kon-
trolliert, da sie uns aufgrund unserer FFP2-   Bereits zu Beginn des Kundgebungstages
Masken für Gegendemonstrant*innen              fällt uns der Umstand auf, den wir bereits
                                               im Vorfeld als problematisch erahnen: Wir

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als Forschungsteam tragen FFP2-Masken.                    getragen wird und dem verschie-
    Zu diesem Zeitpunkt ist das Tragen von                    dene gesundheitliche (Schutz-)
    FFP2-Masken nicht verbreitet. Die grosse                  Funktionen und (Neben-)Wirkun-
    Mehrheit der Demonstrant*innen trägt                      gen zu- oder abgesprochen werden,
    überhaupt keinen Mundnasenschutz. Von
    Beginn an entsteht eine Trennung zwi-                 2. das Tragen der Maske, also eine
    schen »uns«, die wir Masken tragen und                    Verhaltensweise     oder   (soziale)
    »den Anderen«. So wird uns mit abschätzi-                 Praktik,
    gen Blicken begegnet, die Maske wird aber
    auch häufig in Gesprächen thematisiert.               3. die staatliche Verordnung zum Tra-
    Als Einzelne aus der Forschungsgruppe die                gen einer Maske, also eine gesetzte
    Maske kurzweilig abnehmen, erfahren sie                  Regel.
    eine offenere Behandlung.
                                                       Kritik wird auf allen diesen Ebenen geübt,
    Anders als andere Corona-Verordnungen              häufig auch in wechselseitiger Bezug-
    wie zum Beispiel Kontaktminimierung, Ab-           nahme und Legitimierung. Auf der objekt-
    standhalten oder Reisebeschränkungen               bezogenen Ebene wird die Maske zum ei-
    zeichnet sich die Maske durch ihre Materi-         nen als nutzlos erklärt, um sich gegen das
    alität aus. Sie ist ein greifbares Artefakt,       Coronavirus zu schützen. Es wird unter an-
    das unmittelbar wahrgenommen werden                derem behauptet, sie schütze gegen Bakte-
    kann, sowohl spürbar am eigenen Körper             rien, nicht aber gegen Viren. Außerdem
    als auch sichtbar am Körper von anderen.           werden ihr schädliche Nebenwirkungen
    Am eigenen Körper wird sie, so wird es in          zugesprochen. Es wird angeführt, dass die
    Gesprächen thematisiert, häufig als stö-           Maske zu einem verringerten Sauerstoff-
    rend oder gar »schmerzhaft« empfunden.             und erhöhten CO-2-Gehalt in der eingeat-
    Doch nicht nur hier, auch am Körper von            meten Luft führe. Dies könne, so einige De-
    anderen wird sie von den Demonstrant*in-           monstrant*innen, sogar zu einer CO-2-Ver-
    nen zuweilen als störend oder gar als Zu-          giftung führen. Dabei stützen sie sich auf
    mutung behandelt. Im Folgenden werden              Informationen von Ärzt*innen, denen sie,
    zunächst einige interpretatorische Überle-         im Gegenteil zu anderen rezipierten Im-
    gungen zum politischen Symbol der Maske            munolog*innen, als medizinische Autorität
    erläutert. Im Anschluss daran wird anhand          vertrauen. Eine weitere Ablehnung der
    einer ausführlichen Beschreibung einer             Maske gründet auf der Vorstellung, dass
    Diskussionsrunde, die abseits vom Bühnen-          diese ein „krankmachender Katalysator“
    geschehen stattfindet, skizziert, wie die De-      des Virus sei. So würde die Maske die eige-
    monstrant*innen mit konträren Meinun-              nen Viren und Bakterien, die durch die
    gen dazu umgehen und auf welche Weise              Atemluft ausgestossen werden, zurückhal-
    die Maske zur eigenen Identitätsstiftung           ten. Der Träger, die Trägerin der Maske
    beiträgt.                                          würde diese immer wieder einatmen, so-
                                                       dass die Maske die Wirkung der Viren so-
                                                       gar potenziere und eine grosse Gefahr für
    Symbolik der Maske
                                                       den eigenen Körper darstelle.
    Hinter dem Begriff »Maske« verbirgt sich
    dreierlei:                                         Innerhalb der Ebene des Maskentragens als
                                                       Verhaltensweise oder soziale Praxis kann
        1.   die Maske als materielles Objekt,         festgehalten werden, dass das Auf- oder Ab-
             das ähnlich einem Kleidungsstück          setzen     einer   Maske       von     den

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Demonstrant*innen als ein Mittel der Kom-      Einstufung der Protestbewegung als rechts
munikation gewertet wird. Dass die Maske       oder ihre medizinischen Autoritäten me-
auch am Körper anderer eine Zumutung           dial als unwissenschaftlich bezeichnet wer-
sei, wird zum Beispiel damit begründet,        den. Dieses Wechselspiel aus Abwehr und
dass sie die Wahrnehmung der Mimik ei-         Abwertung ist latent von einer Feindlich-
nes Gegenübers erschwere, wenn nicht so-       keit gegenüber »den Anderen« geprägt und
gar verunmögliche: „Mit so einer Maske am      kann auch in offene Forderungen nach
Menschen kann ich nicht gut leben – ich        Strafe oder Gewalt umschlagen. So zum
kann nicht die Mimik sehen. Ich weiss          Beispiel wurde in Selbstjustiz-Manier das
nicht, grinst er mich an, nimmt er mich        Festhalten von Menschen, die Masken tra-
ernst?“ Ein Veranstalter auf der Bühne be-     gen, gefordert, da diese möglicherweise
tont, dass er gerne mit der Polizei rede,      verantwortlich für das Zünden des Rauch-
aber nur, wenn sie sich den „Lappen“ aus       topfes seien und es sich gezeigt habe, dass
dem Gesicht nehmen. Nur dann wisse er,         die Polizei die Protestkundgebung nicht
dass sie Respekt vor ihm hätten und es         mehr schützen könne.
ernst meinten. Die Maske ist damit häufig
Anlass für eine abwehrende Haltung ge-         Im Gegensatz dazu kommt in einigen Aus-
genüber der Person, die sie trägt. In beson-   sagen auch eine Akzeptanz gegenüber der
ders aufschlussreicher Form beispielsweise     individuellen Entscheidung zum Tragen ei-
in einer Aussage über Gegendemonst-            ner Maske zum Ausdruck. Demnach solle
rant*innen, die ein Vater gegenüber sei-       jede Person selbst entscheiden können, ob
nem etwa zehnjährigen Sohn macht: „Das         sie die Maske tragen wolle. Konsequenter-
sind Gegner. Idioten, die Masken tragen.“      weise wird dabei dem Gegenüber auch das
Dieses Beispiel zeigt, dass die Konstruktion   Recht zum Tragen der Maske zugespro-
einer Eigen- und einer Fremdgruppe mit ei-     chen. Die Entscheidung dazu ist einem li-
ner klaren Hierarchisierung einhergeht.        beralen Freiheitsverständnis folgend reine
Diese Überlegenheit wird auf vielerlei Wei-    Privatsache.
sen kommuniziert, beispielsweise in spöt-
tischen Bemerkungen darüber, dass wir          Die staatliche Verordnung zum Tragen ei-
unter den Masken „blass aussehen“ oder         ner Maske wird wie andere Corona-Mass-
„schlecht zu verstehen“ seien oder dass uns    nahmen als unverhältnismässig angese-
das CO-2 bereits das „Gehirn vernebelt“        hen. Viele Demonstrant*innen deuten die
habe oder in der Warnung vor einer CO-2-       Maske als staatlichen Zwang, der die indi-
Vergiftung. In manchen spöttischen Aussa-      viduelle Freiheit einschränke und Bür-
gen über das Maskentragen zeigt sich die       ger*innen bevormunde: „Mama Merkel“
Vorstellung, dass Menschen, die eine           behandle die Bürger*innen wie Kinder. Ge-
Maske tragen, sich freiwillig dem Diktat       rade in Verbindung mit der oben genann-
des Staates unterwerfen, weil sie (noch)       ten zugesprochenen Schädlichkeit wird die
nicht erkannt haben, dass Ablehnung an-        Verordnung als unzumutbar oder gar als
gebracht wäre. Dem folgend, erklärt sich,      Gewalt bezeichnet und als einen Eingriff in
warum Maskentragende als „Schlafschafe”        die körperliche Selbstbestimmung ausge-
oder sogar als „Idioten” bezeichnet wer-       wiesen. So wird die Maske auch als ein
den. Gleichzeitig spricht die abwehrende       „Symbol der Sklaverei“ bezeichnet und
Haltung aber auch von der Gefahr ihrer ei-     zum Instrument der Unterdrückung stili-
genen Unterlegenheit, die sich in Gesprä-      siert. Die Ablehnung akzentuiert sich,
chen in anderen Zusammenhängen zeigt.          wenn sie in Bezug auf Kinder formuliert
Beispielsweise wenn eine politische            wird. Für Kinder sei die Maske nicht nur

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schädlich, sondern könne sogar tödlich           eine Frau mit Maske, die nicht zu den De-
     sein. So unterhält sich eine kleine Gruppe       monstrant*innen gehört, sich in die Dis-
     von Demonstrant*innen: „Zwei Kinder sind         kussion einklinkt:
     an der Maske gestorben.“ „Nein drei Kin-
     der.“ „Ich habe heute Morgen gelesen, dass       „Meine Meinung ist, ich trage eine Ge-
     schon vier Kinder gestorben sind.“ Außer-        sichtsmaske, um mich zu schützen. Weil
     dem verhindere sie Kindern nicht nur die         bewiesen ist das die Maske schützt. [Auf
     Wahrnehmung der Mimik Anderer, son-              einen ablehnenden Zwischenruf hin] Sa-
     dern auch das Erlernen, Mimik richtig zu         gen Sie. Ich sage, sie schützt! […] Ich habe
     interpretieren. Masken, bzw. die Masken-         jetzt   meine   Meinung    gesagt,   danke
     pflicht wird in diesem Kontext auf einem         schön!“
     Transparent als „Kindsmisshandlung“ be-
     zeichnet.                                        Der Moderator und auch das Publikum
                                                      nehmen diese Stellungnahme zunächst
     Zusammenfassend lässt sich festhalten,           wohlwollend und mit leisem Applaus auf.
     dass das Verweigerin einer Maske als Ab-         Anfänglich leitet der Moderator die Diskus-
     lehnung von Corona-Massnahmen im All-            sionsrunde konstruktiv an, indem er bei-
     gemeinen gedeutet werden kann, es kann           spielsweise die Worte der Sprecherin mit
     auch ein einfaches Zeichen des Misstrau-         folgenden Worten kommentiert: „Sehr
     ens gegenüber der gesundheitlichen Wir-          mutig, sehr mutig wirklich und auch das
     kung der Maske und als Ermächtigung zur          ist sehr wichtig, dass wir miteinander re-
     Selbstbestimmung über den eigenen Kör-           den, ja? Es gibt unterschiedliche Ansichten
     per interpretiert werden. Die Maske eignet       und diese müssen wir hören.“ Hier wird zu-
     sich mitunter deshalb zum politischen            nächst auf ein liberales Freiheitsverständ-
     Symbol, da das Tragen im individuellen           nis zum Tragen der Masken rekurriert, in-
     Handlungsspielraum einer Person liegt.           sofern jede Person das Recht habe, eine
     Die Schliessung von Restaurants, Schulen         Maske zu tragen. Eine ähnliche Einstellung
     oder Geschäften lässt sich nicht boykottie-      spiegelt sich auch in der folgenden Stel-
     ren, das Tragen einer Maske sehr wohl,           lungnahme einer Demonstrantin: „Maske
     wenn auch mit Konsequenzen gerechnet             zu tragen ist eine individuelle Entschei-
     werden muss. Da sich der persönliche Wi-         dung, dafür stehe ich ein. Ich respektiere
     derstand häufig in der Verweigerung der          auch diese Entscheidung, ich respektiere
     Maskenpflicht äussert und es dabei immer         mein Gegenüber.“ In der zunächst noch
     wieder zu Konflikten kommt, wird der ei-         ausgeglichenen Diskussionsrunde folgt je-
     gene Widerstand immer wieder im Kon-             doch bald darauf ein Bruch, als ein De-
     text der Maske erfahren.                         monstrant die Autorität der Bundeskanzle-
                                                      rin Angela Merkel in Frage stellt:

     Maske und Identitätsbildung
                                                      „Was mich am meisten aufregt ist, dass
     Abseits vom Bühnengeschehen beobach-             eine Frau die null, die hat keinerlei [sic]
     ten drei Forschungsduos eine improvisierte       Kinder. Die sitzt in Berlin im Kanzleramt
     Diskussionsrunde. Ein Demonstrant hat            und behandelt alle Menschen wie Minder-
     dafür einen Lautsprecher und ein Mikrofon        jährige, wie dreijährige Kinder [Applaus].
     mitgebracht. Er lädt zu einer offenen Dis-       […] Das ist die Mama-Merkel und die sagt
     kussion ein, an der sich alle Anwesenden         uns seit Monaten, wir sollten die Hände
     spontan beteiligen könnten. Aufschluss-          waschen, wir sollten Masken tragen, weil
     reich ist hier insbesondere der Moment, als      wir sonst andere Leute gefährden, das hat

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sie am Anfang auch noch nicht gesagt. Am        wichtig! Bevor Sie solche Aussagen tref-
Anfang hiess es, haltet Abstand, 1.5 Meter      fen. Und wir waren alle nicht in Italien, nur
und Spielplätze waren geschlossen. Das          viele hier waren am 01.08. in Berlin. Am
weiss ich noch ganz genau, das ist alles        29.08. Auf sämtlichen Grossdemos, jeden
menschenunwürdig. Das sagt uns ausge-           Montag auf der Strasse. Jetzt hier. In
rechnet eine Frau, die null eigene Kinder       Rostock. Wir machen den Praxistest und ir-
hat, die behandelt uns, wie Minderjährige,      gendwie haben wir nichts. Das sollte zu
wie dreijährige Kinder und dagegen wende        denken geben!“
ich mich. Und Sie selber können das ma-
chen, wie Sie möchten [an die Vorspreche-       Während die Diskussionsrunde anfänglich
rin gerichtet]. Sie können auch daheim-         den Eindruck vermittelt, dass zwischen
bleiben den ganzen Tag, Sie können rum-         dem Publikum und den Sprechenden noch
laufen, Sie können 24 Stunden am Tag bar-       nicht eindeutig geklärt ist, welche Stand-
fuss rumlaufen, ist mir völlig egal, machen     punkte sich kollektiver Zustimmung er-
Sie, was Sie für richtig halten, aber schrei-   freuen, wird nun zunehmend deutlich, mit
ben Sie anderen Leuten nicht vor, was die       welchen Signalwörtern der Moderator
zu tun haben [Applaus].“                        beim Publikum punkten kann. Interessant
                                                ist dabei, wie hier eine Diskussion über die
Mit diesem Input und dem gemeinsamen            Maske in wenigen Schritten in eine Diskus-
Applaus etabliert sich nun im Publikum ge-      sion über Autorität überging. Dabei greift
wissermassen ein Konsens in Bezug auf die       im Verlauf das zu Beginn noch passive Pub-
Maske. Die Zuhörer*innen scheinen nun           likum immer stärker in die Diskussion ein,
viel eher dazu bereit zu sein, die Beiträge     wodurch sich schliesslich ein kollektives
mit lautstarken Zwischenrufen zu kom-           Bewusstsein etabliert.
mentieren. Das zeigt sich auch in der Reak-
tion auf die darauffolgende Stellungnahme       Allgemein kann festgehalten werden, dass
der Massnahmen-befürwortenden Spreche-          die Maske von vielen Demonstrant*innen
rin: „Darf ich nochmal dazu was sagen?          unter dem Gesichtspunkt eines liberalen
Vielleicht können wir uns alle daran erin-      Freiheitsbegriffs im Sinne einer individuel-
nern als die Pandemie losgegangen ist, wie      len Entscheidung verhandelt wird. Die Zu-
es eigentlich in Italien war [laute Buh-        spitzung der Maskenablehnung durch den
Rufe].“ Noch bevor die Buh-Rufe verklin-        Rekurs auf Sklaverei oder Diktatur kann
gen, nimmt der Moderator ihr das Mikro-         dahingehend gedeutet werden, dass Positi-
fon aus der Hand und kommentiert:               onen, die sich dagegen auflehnen, eine be-
                                                sondere Berechtigung im Sinne der Vertei-
„Ganz, ganz kurz. Wir leben in Deutschland      digung von Freiheit innehaben sollen.
und Sie dürfen nicht die Gesundheitssys-
teme von anderen Welten [sic] und auch
                                                3.2 Kritik an etablierten
nicht die Bevölkerungsanzahl von anderen
                                                Autoritäten
Ländern dazuzählen, ohne den Massstab
festzulegen. Weil Sie vergessen, dass in        In den Reden und Gesprächen sowie auf
den USA 384 Millionen Menschen leben            Plakaten und Flyern werden eine grund-
und hier nur 84. In Indien leben über eine      sätzliche Kritik sowie ein fundamentales
Milliarde Menschen und dann wird uns ge-        Misstrauen gegenüber etablierten Instituti-
sagt: »14.000 Neuinfektionen am Tag – oh        onen und Autoritäten deutlich. Diese rich-
Gott wie schrecklich!«. Rechnen Sie bitte       ten sich gegen die Regierung und einzelne
anhand der Bevölkerung, weil das ist ganz       Behörden wie das Gesundheitsministerium

                                           Juli 2021                                            11
und das dem Gesundheitsministerium un-             dass sie sich beide nicht für Politik interes-
     terstehende Robert-Koch-Institut sowie ge-         sieren würden, aber sie nun doch an der
     gen Politiker*innen wie zum Beispiel die           Demonstration teilnehmen, weil hinter
     Bundeskanzlerin oder den Gesundheitsmi-            Corona etwas Anderes stecke, als gesagt
     nister Jens Spahn. Eine auffällig starke Ab-       werde. Sie belassen es allerdings bei dieser
     lehnung wird gegenüber den sogenannten             Vermutung, ohne ihren Verdacht inhalt-
     Mainstream-Medien geäussert. In diesem             lich auszuführen. In einem weiteren Ge-
     Kontext wird Bezug genommen auf „alter-            spräch mit einer Demonstrantin und ei-
     native Medien“ und Mediziner*innen, die            nem Demonstranten geht es um Forschung
     einen konträren, das heisst für die De-            und Wissenschaft im Allgemeinen, da die
     monstrant*innen richtigen Standpunkt               beiden zu Beginn ein grosses Interesse an
     zum gegenwärtigen Diskurs einnehmen                unserer Forschung formulieren. Der De-
     würden. Allgemein kann von einem ambi-             monstrant beginnt einen kurzen Monolog
     valenten und entfremdeten Verhältnis zu            über den Nobelpreis, als sich ein weiterer
     etablierten Autoritäten gesprochen wer-            Demonstrant einschaltet. Er fragt uns mit
     den. Es wird ein Vertrauensverlust deut-           verschwörerischem Unterton: „Wissen Sie,
     lich, der begleitet wird von einer Vermu-          wo die Nobelpreisakademie ist? 50 Meter
     tung von Voreingenommenheit oder gar               von der US-Botschaft entfernt. Das sind al-
     Manipuliertheit etablierter Institutionen.         les Bolschewiken, alles Bolschewiken!“
     Veranschaulichen lässt sich dies beispiels-
     weise anhand einer Aussage des Demo-Or-            Eine zugespitzte Form der Ablehnung ge-
     ganisators Gerry Mayer. Dieser führt in ei-        genüber der Regierung zeigt sich in der
     ner Rede aus:                                      mehrfach geäusserten Vermutung, dass
                                                        diese andere Absichten verfolge, als es sich
     “Wir merken alle, dass irgendetwas nicht           mit einer Pandemie erklären liesse. Ein
     stimmt, dass irgendetwas nicht sein kann           gängiges Narrativ der Demonstrant*innen
     und wir wollen hinterfragen, aber wir be-          und Redner*innen besteht in der Bezug-
     kommen manchmal keine Antworten! Wir               nahme auf Demokratie und Freiheit, wes-
     verstehen nicht, was sie uns nicht mittei-         halb eine Teilnahme am Protest in der „ak-
     len. Wie können wir auch? Wir sind doch            tuellen Diktatur“ zur Pflicht werde. De-
     Menschen, wir sind doch keine potenzielle          monstrant*innen, die sich auf dieses Bild
     Gefahr, wir sind doch keine Terroristen!“          beziehen, verstehen sich selbst als Ret-
                                                        ter*innen demokratischer Werte und von
     Kurze Zeit später schildert eine Rednerin,         Freiheit. Dies berechtigt sie dazu, ihre Kri-
     deren Redebeitrag vor allem die Auswir-            tik trotz politischem Widerstand auf die
     kungen der Corona-bedingten Massnah-               Strasse zu bringen. Dabei lehnen manche
     men auf Kinder thematisiert, wie man sich          andere demokratische Mittel grundlegend
     die „Plandemie“ vorzustellen habe. Sie be-         ab, wie sich am Beispiel eines Schweizer
     dient sich des Bildes eines Glases, in dem         Redners auf der Bühne zeigen lässt. Dieser
     sich rote und schwarze Ameisen befinden            erklärt dem Publikum, dass die tatsächli-
     würden. Wenn nun das Glas geschüttelt              che Mitbestimmung auf politischem Wege
     werde, bis die Ameisen zu kämpfen begin-           in der direkten Demokratie nach „eigenen
     nen, soll man sich nicht auf den Kampf             Berechnungen bei 0,1% liegt“. Dieser Um-
     konzentrieren. Vielmehr soll man sich fra-         stand delegitimiere das politische System
     gen, wer das Glas denn schütteln würde. In         in der Schweiz, weshalb er von einer
     eine ähnliche Richtung geht ein Gespräch           „Schein-Demokratie“ spricht.
     mit zwei Demonstrant*innen. Sie erzählen,

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Neben einer allgemeinen Ablehnung etab-          Expert*innen begreifen. Ihre eigene Exper-
lierter Institutionen erfolgt häufig eine Kri-   tise erlaubt die Einschätzung, dass Medien,
tik an Personen, welche zentrale Positio-        insbesondere der öffentlich-rechtliche
nen innerhalb der Institutionen besetzen.        Rundfunk, häufig Erkenntnisse aus der
So zum Beispiel reagiert das Publikum mit        Wissenschaft verzerrend darstellen wür-
lauten Buh-Rufen, wenn in Reden auf der          den. Den sogenannten Mainstream-Medien
Bühne der Virologe Christian Drosten ge-         wird zudem eine „Konformität“ mit der Po-
nannt wird. Demgegenüber werden in Re-           litik attestiert, wodurch „alternative“ Per-
den und Gesprächen regelmässig auf Medi-         spektiven keinen Platz finden würden. Im
ziner*innen verwiesen, die eine andere, für      Gegensatz dazu ständen alternative Quel-
die Demonstrant*innen glaubwürdige An-           len, die Authentizität qua ihrer blossen An-
sicht vertreten, wie zum Beispiel Bodo           dersartigkeit beanspruchen können. Ein
Schiffmann, Wolfgang Wodarg oder Such-           weiteres oft geteiltes Muster ist das Festhal-
arit Bhakdi. Es wird differenziert zwischen      ten an einem Objektivitätsbegriff, dem die
Wissenschaftler*innen, auf die sich staatli-     etablierten Medien gerade nicht genügen
che Stellen beziehen und solchen, auf die        würden. Ausschliesslich den eigenen Quel-
sich die Demonstrant*innen beziehen. So          len und der Eigenrecherche sowie -wahr-
seien die ersten nicht objektiv, die zweiten     nehmung wird Objektivität und damit al-
hingegen seien die einzigen, welche sich         leinige und allumfassende Wahrheit zuge-
„trauen“ würden, die „Wahrheit“ auszu-           sprochen.
sprechen. Nur ihnen wird eine neutrale
und objektive Position zugeschrieben, ge-
                                                 3.3 Rationale, romantische und
rade weil sie die Gefährlichkeit des Virus
                                                 affektuelle
und die Existenz einer Pandemie in Frage
                                                 Rechtfertigungsmuster
stellen würden. Beklagt wird dabei, dass
„alternative“ Perspektiven auf die Corona-       Die Demonstrant*innen beziehen sich in
Pandemie „ausgegrenzt“ werden. Es ist            ihrer Kritik an den Corona-bedingten Mas-
aber keine grundlegende Wissenschafts-           snahmen auf unterschiedliche Argumenta-
feindlichkeit, die sich in dieser Ablehnung      tionsmuster, die wir im Folgenden anhand
zeigt. In zahlreichen Gesprächen wird eine       von drei Kategorien unterteilen: 1. ratio-
positive Haltung zu unserem Forschungs-          nale, 2. romantische und 3. affektuelle
anliegen eingenommen, was unter ande-            Rechtfertigungsmuster. Wohlgemerkt gibt
rem damit begründet wird, dass den De-           es dabei inhaltliche Überschneidungen
monstrant*innen „endlich“ zugehört wer-          und einige Wiederholungen zu den obigen
den würde. In manchen Fällen werden wir          Ausführungen.
beim Verteilen der Flyer aber danach ge-
fragt, ob denn unsere Forschung drittmit-
                                                 Rationale Begründungen
telfinanziert sei. Eine Demonstrantin be-
richtet in diesem Kontext von ihren eige-        Unter »rationalen Rechtfertigungsmuster«
nen Erfahrungen, da sie selbst bei einem         verstehen wir Begründungen, welche ge-
grösseren Forschungsinstitut beschäftigt         mäss den Aussagen der Demonstrant*in-
sei und sie mit der Verfälschung von For-        nen auf einem spezifischen Verständnis
schungsergebnissen im Sinne der Geldge-          von Vernunft und Logik basieren. »Ratio-
ber durchaus vertraut sei.                       nale« Begründungsmuster zeichnen sich
                                                 dadurch aus, dass die Demonstrant*innen
Auffallend ist der Umstand, dass viele De-       alternativen Quellen wissenschaftliche Au-
monstrant*innen      sich    selbst    als       torität und politische Unabhängigkeit

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zuschreiben, während den offiziellen Ent-          verwenden die Demonstrant*innen roman-
     scheidungsträger*innen Korruption oder             tische Begründungen, die weiter unten
     Manipulation vorgeworfen wird. Die zitier-         skizziert werden.
     ten Quellen scheinen ihre Glaubwürdig-
     keit insbesondere aufgrund ihrer Opposi-           Oftmals geht die Kritik allerdings einen
     tion zum »Mainstream« zu erhalten. Im              Schritt weiter, wobei der Anspruch an rati-
     Verweis auf alternative Informationsquel-          onale Begründung aufgehoben wird und
     len kritisieren die Demonstrant*innen              verschwörungstheoretische Mythen er-
     Willkür und Nutzlosigkeit der Massnah-             zählt werden: Die medizinischen und poli-
     men zur Eindämmung der Corona-Pande-               tischen Protagonist*innen der Krisenbewäl-
     mie. Dabei wird häufig der Vorwurf erho-           tigung würden nicht nur willkürliche Ent-
     ben, dass sich die offizielle Einschätzung         scheidungen treffen, welche nicht im
     der Situation und die daraus abgeleiteten          Sinne einer wirksamen Pandemiebekämp-
     Massnahmen für die Bekämpfung der Pan-             fung seien, sondern überdies bewusst ge-
     demie an einem eindimensionalen wissen-            wisse kritische Stimmen zensieren, um so
     schaftlichen und politischen Diskurs, dem          verdeckt an der Durchsetzung anderer, für
     es an Objektivität und Verhältnismässig-           die Bevölkerung schädlicher politischer
     keit fehle, ausrichte. Ein relevanter Bezugs-      Ziele arbeiten zu können. Vor allem eine
     punkt ist daher die „mangelnde Verhältnis-         Impfpflicht und die Aufhebung demokrati-
     mässigkeit“. Häufig erfolgt eine kritische         scher Grundreche wie die Versammlungs-
     Abwägung der negativen Auswirkungen ei-            freiheit werden diesbezüglich als Instru-
     nes Lockdowns oder einer Maskenpflicht             mente der Regierung verstanden, um ihre
     gegenüber wirtschaftlichen, sozialen und           politische Macht auszubauen und diktato-
     gesundheitlichen Folgen dieser Massnah-            rische Verhältnisse herbeizuführen. Meist
     men. Zentral ist dabei das Argument, dass          sind es internationale Eliten, seltener wird
     die gesundheitliche Gefahr des Virus für           nur auf die nationale politische Führung
     den Einzelnen oder die Einzelne in keinem          Bezug genommen, welche einen anderen
     Verhältnis mit den schweren wirtschaftli-          Plan befolgen würden als die Bekämpfung
     chen Folgen der Massnahmen stünden, die            der Pandemie. In manchen Gesprächen
     durch Erwerbsausfall und gesunkene Pro-            werden auch antisemitische Narrative be-
     duktionskraft zu erwarten seien. Hierbei           dient, indem auf eine jüdische Weltver-
     werden auch die Auswirkungen einer wirt-           schwörung        rekurriert    wird.     Die
     schaftlichen Rezession auf die physische           „Mainstream-Medien” werden hierbei als
     und psychische Gesundheit thematisiert.            weiteres Machtinstrument einer Politelite
     Es wird mehrfach von einer hohen Suizid-           oder sogar als Teil der Politelite gesehen,
     rate durch die Gefährdung der Existenz-            die mit den Massnahmen gewisse Interes-
     grundlage und dem Abrutschen der bürger-           sen verfolgen würden. Auf Nachfragen
     lichen Mittelschicht in prekäre ökonomi-           nach den Hintergründen dieser Interessen
     sche Verhältnisse gesprochen, sodass ein           werden verschiedene Motive zwar geäus-
     breiter Teil der Bevölkerung durch das Zu-         sert, die Erklärungen bleiben aber diffus.
     sammenspiel von Isolation und wirtschaft-          Beispielhaft hierfür steht entweder der Be-
     licher Not in Depressionen abgleiten wür-          zug auf ein wirtschaftliches Interesse einer
     den. Was allerdings verhältnismässig wäre,         Elite, oder auf ein Weltkonzept, das auf ei-
     wird nicht erläutert oder es wird auf indi-        ner organisierten Fremdsteuerung der
     viduelle Entscheidungsbefugnisse und               Welt durch Gruppierungen mit bösartigen
     Selbstbestimmung verwiesen. Gerade in              Absichten aufbaut. Obwohl der Verdacht
     Bezug auf körperliche Selbstbestimmung             häufig inhaltlich nicht erläutert wird,

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reicht es aus, ihn durch alternative Studien    Rückgriff auf die Natürlichkeit der eigenen
und Quellen sowie durch die angeeignete         Immunkraft das Immunsystem zu stärken
Expertise »rational« zu legitimieren.           sei und dieses das Virus besiegen könne.
                                                Impfen und Masken stehen in dieser Vor-
                                                stellung für eine Künstlichkeit, die abge-
Romantische Begründungen
                                                lehnt wird. Schliesslich zeigt sich eine di-
Zu den romantischen Rechtfertigungsmus-         chotome Vorstellung: Auf der einen Seite
ter zählen wir solche, die sich auf Natur,      wird eine warme Protestgemeinschaft ge-
Widerständigkeit, Heroismus und Verge-          zeichnet, in der man verstanden wird. Auf
meinschaftung beziehen. Diese Bezüge zei-       der anderen Seite steht der kalte bürokrati-
gen sich in Schlagwörtern wie Liebe, Frie-      sche Staat, der die Kontrolle über den Men-
den, Nähe und Miteinander, die von den          schen erlangen wolle und ihn seinen Ma-
Demonstrant*innen als Charakteristika der       chenschaften und böswilligen Interessen
Protestgemeinschaft verstanden werden           unterordne. Die Maske wirke nun insofern
und im Kontrast zur Gesellschaft stehen.        entmenschlichend, als Emotionen ver-
So stellt ein relevantes Element der Protest-   deckt und bewusst unterdrückt würden.
kundgebung die Heroisierung des Protests        Dies diene dazu, die Menschen einer Angst
und der Protestierenden dar. Parallel zur       auszusetzen, sodass sie geradezu blind den
Aufwertung der Eigengruppe als die Muti-        Anweisungen folgen würden und gleichzei-
gen, Kritischen und Widerständigen wird         tig Liebe und menschliche Nähe zu unter-
eine starke Abwertung der Verantwortli-         drücken bereit seien. Mitunter diese Argu-
chen oder gar „Profiteure“ der Corona-Pan-      mentationsmuster gehen fliessend in af-
demie vorgenommen. Die Widerständig-            fektuelle Begründungen über.
keit der Demonstrant*innen gegen die „Ob-
rigkeit” und gegen eine „bevorstehende
                                                Affektuelle Begründungen
Hygienediktatur” wird als ein ehrenvoller
Akt der Selbstaufopferung inszeniert, der       Hiermit sind Rechtfertigungsmuster ge-
die „Aufgewachten” klar von den „Schlaf-        meint, welche emotional sehr stark aufge-
schafen” unterscheide.                          laden sind oder aus einem »Bauchgefühl«
                                                der Protestierenden heraus formuliert wer-
Grundlage vieler Aussagen der Demonst-          den. Dabei gibt es durchaus Ähnlichkeiten
rant*innen ist ein gemeinsam geteiltes Ver-     zu den romantischen und rationalen Be-
ständnis von Natürlichkeit. Somit wird je-      gründungsmustern. Besonders viel Raum
der Eingriff in die eigene Freiheit im Kon-     auf der Demonstration nimmt diesbezüg-
text der Masken und des Impfens als unna-       lich die Sorge um das Kindeswohl ein. Ne-
türlich gesehen. Prägend hierfür ist eine       ben der oben beschriebenen Sorge um die
Parole, die vermehrt zu hören war: „Eure        emotionale Entwicklung von Kindern in
Maske ist mein Immunsystem”. Demnach            Zeiten der Maskenpflicht zeigt sich die
wird die Maske dem eigenen Körper als et-       Frage nach einem „Impfzwang“ im Zusam-
was Unnatürliches entgegengestellt, das         menhang mit der Wehrlosigkeit der Kinder
nicht mit der eigenen Selbstbestimmung          als bedeutsamer Aspekt. Eine Rednerin
über den Körper zu vereinbaren sei. So          weint auf der Bühne, als sie über die Aus-
wurde das eigene Immunsystem als virus-         wirkungen der Massnahmen auf Kinder
resistent dargestellt und die eigenen natur-    spricht, was beim Publikum grosse Anteil-
gegebenen Heilkräfte als schützender als        nahme auslöst.
die Masken wahrgenommen. Ein typisches
Argumentationsmuster ist, dass im

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Ebenfalls sehr dominant sind grundsätzli-           Handzeichens, was als Teil der oben ge-
     che Zweifel an der Glaubwürdigkeit der              nannten Festgemeinschaft verstanden wer-
     medialen Darstellung der Ereignisse rund            den kann. Diese Gesten wurden oft durch
     um die Corona-Pandemie. Ein grundlegen-             Ausrufe nach „Liebe, Freiheit und Frieden“
     des Gefühl, etwas Fundamentales an den              ergänzt. Zunächst treffen diese Aufforde-
     aktuellen Geschehnissen „stimme nicht“              rungen auf wenig Partizipation unter den
     und man sei berechtigt, diesbezüglich Fra-          Demonstrant*innen, im Verlauf des Tages
     gen zu stellen, kommt sowohl in den Re-             werden diese Interaktionen immer mehr
     den auf der Bühne als auch bei den Gesprä-          von einem breiten Publikum geteilt. Am
     chen mit den Protestierenden häufig zum             Nachmittag nehmen diese Animationen in
     Ausdruck. Die Tatsache, dass sich wissen-           Form von künstlerischen Darbietungen,
     schaftliche Annahmen über das Coronavi-             gemeinsamem Klatschen, singen und tan-
     rus und über die Massnahmen gegen des-              zen nochmal zu. Die Resonanz unter den
     sen Ausbreitung mit dem Fortschritt der             Teilnehmer*innen steigt und die gesamte
     Forschung verändern, wird nicht als dem             Veranstaltung erinnert an manchen Stel-
     wissenschaftlichen Prozess inhärentes Ele-          len mehr an eine Festgemeinde als an eine
     ment betrachtet, sondern scheint vielmehr           politische Demonstration. Damit ver-
     Misstrauen zu wecken. Es gibt eine Sehn-            knüpft ist eine gemeinschaftsbildende Dy-
     sucht nach Eindeutigkeit und Einheit, die           namik und Emotionalisierung. Diese kol-
     demgegenüber in der Protestgemeinschaft             lektiven Gefühle haben auch das Potential,
     und ihren Vorstellungen zu finden ist. So           schnell von einer Feststimmung in emotio-
     thematisieren viele Demonstrant*innen               nale Aufwallungen umzuschlagen, wie sich
     die eigene und geteilte Gefühlswelt der an-         am Beispiel mit dem Umgang mit Gegende-
     wesenden Menschen. Für viele sind Liebe,            monstrant*innen zeigt. Die Protestgemein-
     zwischenmenschliche Verbundenheit und               schaft funktioniert aber nicht nur durch
     das „Fühlen mit dem Herzen“ zentrale und            positive Selbstaffirmation, sondern auch
     verbindende Aspekte. Hierbei wird von               durch das Zeichnen einer feindlichen Ge-
     manchen klar zwischen den fühlenden                 sellschaft, die diese Gemeinschaft auszu-
     Menschen und den zweckrational handeln-             schliessen und zu verdrängen versucht.
     den Menschen unterteilt. Wichtig ist die            Dies führt dazu, dass sich viele Demonst-
     Forderung, dass nicht ausschliesslich ratio-        rant*innen als Leidensgemeinschaft sehen,
     nale Argumentationen ausschlaggebend                die den exkludierenden Strukturen und
     sein dürfen, sondern eben auch ein ande-            den Repressionen durch die Gesellschaft al-
     res, „intuitives“ Erleben Platz erhalten soll.      lerdings Widerstand entgegensetzt und so-
                                                         mit noch stärker zusammenhalten müsse
                                                         und so zur Widerstandgemeinschaft wird.
     4. Schlussbetrachtung
                                                         In diesem Sinne sprechen manche Anwe-
     Um eine gemeinschaftliche Stimmung bei              sende von einer zunehmenden „Spaltung
     den Demonstrant*innen herzustellen und              der Gesellschaft“. Sie fühlen sich durch Me-
     aus der heterogenen Masse ein stärkeres             dien und Politik ins Abseits gedrängt, und
     Gefühl des Zusammenhalts zu erwecken,               das, obwohl sie aufgrund ihrer Expertise ei-
     konnten an der Kundgebung in Konstanz               gentlich besser wissen, wie mit dem
     immer wieder Animationsversuche von                 Coronavirus umzugehen sei bzw. welche
     der Bühne beobachtet werden. Gerade zwi-            Massnahmen im Verhältnis dazu stünden.
     schen den verschiedenen Redebeiträgen               Das institutionell Etablierte scheint
     gibt es Klatsch-Animationen oder das ge-            schliesslich unter einem ständigen Gene-
     meinsame       Zeigen     eines    Herz-            ralverdacht     der     Parteilichkeit,  der

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Einseitigkeit oder sogar der Unterwande-        Überlegenheit wird: Wer die Maske trage,
rung zu stehen. Allerdings wird mit beach-      unterwerfe sich entweder willentlich
tenswerter Vehemenz eine politische Ein-        durch Feigheit oder unwillentlich durch
ordnung der Demonstrant*innen in das po-        Unwissenheit. Wer sie jedoch weglasse,
litische Links-Rechts-Schema abgelehnt. So      habe erkannt und sei mutig. Da es sich
spricht Gerhard Mayr, Mitorganisator und        beim Tragen der Maske jedoch nicht um
Moderator der Demonstration in Konstanz,        gesprochene, sondern um körpersprach-
des Öfteren von einer „Mitte der Gesell-        lich vermittelte Kommunikation handelt,
schaft”, die sich hier eingefunden habe,        bleibt die genaue Bedeutung der Maske
und sich durch eine Distanzierung von           dennoch vage. Wichtiger noch als die ge-
„jeglicher Form des Extremismus” und ei-        naue inhaltliche Bedeutung der Maske ist
ner Mystifizierung der Mitte die Proteste le-   dementsprechend, dass sie überhaupt
gitimiere. Gleichzeitig kann festgestellt       kommuniziert.
werden, dass hierbei insbesondere Grup-
pierungen der linken Szene, von den Pro-        Zusammenfassend lässt sich festhalten,
testierenden als „die Antifa” bezeichnet,       dass ein Bedürfnis nach Gemeinschaft in-
als starkes Feindbild fungierten.               nerhalb der Demonstrant*innen ein zentra-
                                                ler Beweggrund für die Demonstrations-
Es hat sich gezeigt, dass die Maske ein we-     teilnahme darstellt. Trotz einer angestreb-
sentliches identitätsstiftendes Symbol der      ten Gemeinschaftsbildung wird aber auf
Protestgemeinschaft darstellt. Ihre Ableh-      das Individuum gesetzt: Von vielen Teil-
nung wird von den anwesenden Demonst-           nehmer*innen und Redner*innen wird im-
rant*innen durchgängig geteilt. Sie ist der     mer wieder betont, dass man selbst recher-
kleinste gemeinsame Nenner der Mehrheit         chieren, sich informieren und generell al-
der Protestierenden. Die Praxis, sie wegzu-     les hinterfragen soll. Es soll nicht nur pas-
lassen, ist derweil eine Geste der Kritik,      siv konsumiert werden. Trotz dieses Ap-
ohne dass diese Kritik explizit formuliert      pells an eine eigenverantwortliche Wis-
sein muss. Die inhaltliche Bedeutung der        sensgenerierung besteht eine Gemeinsam-
Maske kann also vage sein, ohne dass dies       keit in den genannten Quellen und in sich
deren Bedeutsamkeit schmälern würde.            gleichenden Erklärungssträngen und Nar-
Auf einer individuellen Ebene kann sie un-      rativen. Dieser Kanon begünstigt die Iden-
terschiedlich interpretiert werden. Auf der     titätsbildung innerhalb der Eigengruppe.
kollektiven Ebene ist das Nicht-Tragen der      Es gibt wenig »Eingeweihte« und diese ha-
Maske ein klares Symbol der Zusammenge-         ben es sich zur Aufgabe gemacht, die Nicht-
hörigkeit und der kollektiven Identität.        Eingeweihten aufzuwecken.
Dazu bietet sie sich gerade durch ihre In-
terpretationsoffenheit an. Auch im Diskurs
ermöglicht das Rekurrieren auf das Symbol
der Maske, die politischen und ideologi-
schen Widersprüche in der Protest-Bewe-
gung zu überwinden und eine Zusammen-
gehörigkeit herzustellen. Das Gefühl der
Zusammengehörigkeit akzentuiert sich,
wie zu beobachten war, wenn das Nicht-
Tragen einer Maske zum Gefühl der

                                           Juli 2021                                            17
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