Luag nei - LACH MIT UNS! Luag nei 1 - Die Lebenshilfe Ostallgäu

 
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Luag nei - LACH MIT UNS! Luag nei 1 - Die Lebenshilfe Ostallgäu
Luag nei
           Nr. 82 / Februar 2021

LACH
MIT UNS!

                      Luag nei   1
Luag nei - LACH MIT UNS! Luag nei 1 - Die Lebenshilfe Ostallgäu
Inhalt                                                Themen

Titelthema: Corona-Pandemie

Fachbeitrag Autismus
                                               4

                                               8
                                                          6       Dem Unsichtbaren ein Gesicht geben
                                                                  Zu Beginn der Pandemie, während der sogenannten ersten
                                                                  Wellen, haben wir uns umgehört. Es gibt so viele Perspek-
                                                                  tiven, die in einer Ausnahmesituation wie dieser Raum
Kunst & Kultur                               20                   finden. Ein paar hiervon haben wir in der vorliegenden
                                                                  Luag nei veröffentlicht.
Gesichter                                    24

Verein, Werkstatt & Ehrenamt                 32

Wir nehmen Abschied

Wir sagen Danke
                                             42

                                             44
                                                          8       Fachbeitrag Autismus
                                                                  Autismus ist ein weites Feld, deswegen möchten wir in
                                                                  einer Artikelreihe einige Facetten des Themas beleuchten.
                                                                  Denn Autismus hat in den letzten Jahren große
Ferien & Freizeit                            46                   Bedeutung gewonnen. Viele neue Erkenntnisse
                                                                  kamen hinzu und somit auch andere Unterstützungs-
Sport                                        52                   möglichkeiten.

Wohnen & Wohlfühlen                          60

                                                      38
Kurz & Knapp                                 62
                                                                  Namenswettbewerb: Unsere Wichtel sind los
Recht & Rat                                  66                   Im vergangenen Sommer wurden die Weichen für die
                                                                  Zukunft gestellt: Unsere Kitas in Kaufbeuren (ehemaliger
Willi Nörgel                                 69                   Montessori-Kindergarten) und in Füssen haben neue
                                                                  Namen bekommen.
Adressen und Kontakt                         70

Impressum
Herausgeber
Lebenshilfe Ostallgäu e.V.
Irseer Straße 1, 87600 Kaufbeuren
Tel: 08341 9003-0, Fax: 08341 9003-99
E-Mail: info@lebenshilfe-oal.de
www.lebenshilfe-oal.de

   Lebenshilfe Ostallgäu mit
   Wertachtal-Werkstätten

Redaktion

                                                      Luag nei
Johanna Zwick (verantwortlich, Adresse wie
Herausgeber)

Fotos
Redaktion der Luag nei (wenn nicht anders vermerkt)
Titelbild: Uwe Zimmermann, Portraitbilder der                      Ihr Kontakt zur Redaktion
Mitarbeiter *innen: Stefanie Giesder

Gestaltung                                            Aufgepasst: Wir brauchen Ihre Unterstützung
Theresa Schleser
                                                      und Ihr Feedback!
Druck
skala druckagentur mailservice GmbH & Co. KG,
Hauptstraße 16, 86698 Oberndorf                       Nehmen Sie an unserer
Versand                                               Umfrage teil und helfen
Büro- und Logistikgruppe der Wertachtal-              Sie uns, unsere Luag nei
Werkstätten Kaufbeuren
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Auflage
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Luag nei - LACH MIT UNS! Luag nei 1 - Die Lebenshilfe Ostallgäu
Editorial
Was hatten wir uns in den letzten Monaten nicht alles
vorgenommen bei der Lebenshilfe Ostallgäu. Die Mit-
wirkungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung
wollten wir weiterentwickeln, die Selbstbestimmung so-
wieso. Ein neues Leitbild stand auf dem Programm, so
etwas wie das Grundgesetz der Lebenshilfe (Näheres
dazu finden Sie in dieser Ausgabe).

Und dann kommt Corona... und wischt alle Planungen vom Tisch. Plötzlich stehen ganz neue
Herausforderungen im Raum. Nahezu alles herunterfahren, keine physischen Kontakte
mehr, alles auf null. Dank einer umsichtigen Geschäftsführung und vielen flexiblen, enga-
gierten Mitarbeiter *innen konnten wir die erste Corona-„Welle“ ziemlich gut bewältigen.
Wir vom Vorstand waren und sind davon ausgesprochen beeindruckt und allen Beteiligten
sehr dankbar. Da können wir nur sagen: „Das habt Ihr super gemacht.“ Für die Menschen
mit Behinderung und ihre Angehörigen war und ist das alles mit massiven Belastungen
verbunden. Auf einen Schlag konnten wir im Frühjahr unsere Unterstützungsangebote nicht
mehr zur Verfügung stellen und mussten die Menschen weitgehend auf sich gestellt lassen.
Das tat und tut weh. Was für fast alle Menschen in der Krise galt, dass sie sich nämlich
mehr als üblich mit sich selbst beschäftigen mussten, galt nun auch für die Lebenshilfe.

Doch in der aktuellen Lage müssen wir erneut täglich auf die Corona-Lage reagieren. Zum
zweiten Mal seit Ausbruch der Pandemie sind Geschäftsführung und Mitarbeiter *innen
massiv gefordert. Die Belastungen für die Menschen mit Behinderung und ihre Angehö-
rigen wollen wir auf jeden Fall so klein wie möglich halten. Hoffen wir, dass es gelingt.
Wir werden das Virus bezwingen, auch wenn uns die Folgen noch eine Weile beschäftigen
werden. Unser Ziel bleibt weiterhin, den Menschen mit Behinderung möglichst selbstbe-
stimmte, kompetente Unterstützungen mit Herz anzubieten, auch unter veränderten Um-
ständen. Keines unserer kurzfristig auf Eis gelegten Ziele werden wir aus den Augen verlieren.
Auch an unserer langfristigen Strategie „Mehr Inklusion“ werden wir festhalten. Da wird es
vielleicht krisenbedingte Rückschläge geben, aber wir werden uns nicht entmutigen lassen.

Wir gehen auch mit Hoffnung durch die Pandemie. Vielleicht gewinnt Mitmenschlichkeit
und Vernunft wieder mehr Oberhand in zunehmend gespaltenen Gesellschaften. Vielleicht
führt ein neues Bewusstsein gegen Diskriminierungen auch zu einer Verbesserung der
Lebenssituation für Menschen mit Behinderung. Vielleicht vergessen wir nicht, welche
Berufe wirklich existentiell für das Funktionieren einer Gesellschaft sind und sorgen für
ihre angemessene Entlohnung. Vielleicht wird mancher Despot in der Welt von dem Virus
davongespült…
Bleiben wir also optimistisch und hoffnungsvoll, und vor allem: gesund!

Herzlichst, Ihr

Wolfgang Neumayer
1. Vorsitzender

                                                                                      Luag nei   3
Luag nei - LACH MIT UNS! Luag nei 1 - Die Lebenshilfe Ostallgäu
Titelthema: Corona

    Dem
    Unsichtbaren
    Farbe                Zu Beginn der Corona-Pandemie und dem fol-
                         genden Shutdown im Frühjahr beschäftigten sich
                         die Bewohner *innen aus der Wohnanlage in der

    verpassen            Ganghofer Straße kunstvoll mit dem Thema Virus.
                         Bunte Collagen sind dabei entstanden. Symbolisch
                         tauchen diese Kunst-Viren in unserer Luag nei
                         an unterschiedlichen Stellen auf. Warum? Ganz
                         klar: Wir hatten und haben in allen unseren Ein-
                         richtungen vielfältige Einschränkungen durch die
                         Pandemie. Viele Ängste sind da, Unsicherheiten
                         und Fragen, die nicht immer beantwortet werden
                         können.

                         Wir könnten Ihnen in dieser Luag nei umfassendste
                         Berichte aus unseren über 40 Einrichtungen und
                         Diensten liefern, die nicht immer schön zu lesen
                         sind. Tun wir aber nicht. Denn wir haben trotz Co-
                         rona so viele tolle und positive Texte, Nachrichten
                         und Bilder gesammelt, die unsere Lebenshilfe viel
                         besser beschreiben. Und das möchten wir Ihnen
                         nicht vorenthalten.

                         Mit einer Sammlung an Texten lassen wir Sie aber
                         doch ein wenig Einblick gewinnen – zu Beginn der
                         Pandemie haben wir uns an unterschiedlichen
                         Stellen umgehört. Eine Auswahl an sehr unter-
                         schiedlichen, aber sehr persönlichen Impulsen
                         ist dabei entstanden.

                         Wir trotzen der Situation und blicken nach
                         vorne – Sie auch?

4   Luag nei
Luag nei - LACH MIT UNS! Luag nei 1 - Die Lebenshilfe Ostallgäu
Bunte Corona-Viren wurden in der Wohnanlage Ganghoferstraße in Kaufbeuren                           Bilder: Svenja Griesmann
gestaltet. Einige davon haben wir in unserer Luag nei verteilt – habt ihr schon alle entdeckt?

Interview mit Bewohnerin Claudia T. und Be-
wohner Hansi S. am 23.04.2020

Luag nei: Wie geht’s dir in dieser Zeit?
Mir geht’s gut, die Leute sind sehr nett.
Luag nei: Was vermisst du am meisten?
Meine Eltern, das Zuhause und Marlies und Rita von
der Werkstatt.
Luag nei: Was gefällt dir zurzeit am meisten?
Hmmm… Dass wir Arbeit von der Werkstatt bekommen,
die wir hier machen können, dass wir trotzdem das
Werkstatt-Mittagessen bekommen, aber auch dass wir
trotzdem Samstag und Sonntag beim Kochen helfen
können. Und, was ich auch schön finde, dass wir Un-
terstützung von Mitarbeitern aus anderen Bereichen
bekommen haben!
Luag nei: Was ist deine momentane Lieblingsbe-
schäftigung?
Was wir machen, ist eigentlich egal, bin ich einmal
mittendrin, macht mir alles Spaß!

Bewohner Hansi

Luag nei: Wie geht’s dir in dieser Zeit?
Mir geht´s ganz gut.
Luag nei: Was vermisst du am meisten?
Mit Claudia zusammen zu arbeiten und meine Freundin
Carolin.
Luag nei: Was willst du als erstes nach dieser Zeit
machen?
Einfach losdüsen und wieder spazieren gehen.
Luag nei: Was ist deine momentane Lieblingsbe-
schäftigung?
Das Basteln mit den anderen Bewohnern und Be-
treuern.
Luag nei: Freust du dich schon wieder auf die
Arbeit?
Ja natürlich!                                                      Claudia gibt ein Interview im Wohnheim Mühlsteig in
                                                                   Marktoberdorf.              Bilder: Wohnheim Marktoberdorf

                                                                                                                    Luag nei    5
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Atmosphäre die eigentlich unsere Einrichtungen
                                                               prägt. Ich vermisse es auch, gemeinsam Ideen zu
                                                               spinnen und Projekte zu realisieren. Derzeit ist alles
        Titelthema: Corona                                     geprägt vom Coronavirus und seinen Folgen. Das
                                                               lässt kaum Platz für Kreativität und das Umsetzen

        Von Nah und                                            von geplanten Vorhaben.
                                                               Neben den Sorgen und Fragen gibt es ganz viele
                                                               Lichtblicke und Antworten. Die Motivation der

        Fern                                                   Mitarbeiter *innen erlebe ich als sehr hoch, die Stim-
                                                               mung ist trotz vieler Ängste gut. Das motiviert auch
                                                               mich und stärkt meine Zuversicht. Natürlich spielt
                                                               auch die Arbeitsplatzsicherung eine große Rolle und
        Zu Beginn der Pandemie, während                        ich verstehe alle Mitarbeiter *innen die sich Sorgen
        der sogenannten ersten Wellen,                         machen. Aber wir sind hier sehr gut unterwegs.
                                                               Die Zusammenarbeit mit beiden Betriebsräten
        haben wir uns umgehört. Es gibt                        ist äußerst konstruktiv und von gegenseitigem
        so viele Perspektiven, die in einer                    Wohlwollen geprägt. Auch seitens der Politik und
        Ausnahmesituation wie dieser Raum                      der Kostenträger erhalten wir insgesamt positive
                                                               Signale. Wir finden immer mehr Wege, wie wir
        finden. Ein paar hiervon haben wir                     Teile unserer Leistungen in anderer Form wieder
        abgedruckt. (Stand: Frühjahr/Herbst 2020).             aufnehmen können.

                                                               Ich bin beeindruckt von der Solidarität und dem
        Seit ziemlich genau zwei Jahren habe ich zwei Büros.   Engagement unserer Mitarbeiter *innen, der Sou-
        Eines im Gebäude der Heilpädagogischen Tages-          veränität, Kreativität und ja, auch Belastbarkeit
        stätte am Sonneneck und eines in der Gebäude           unserer Leitungen und Stabstellen und immer
        der Hauptwerkstatt der Wertachtal Werkstätten          wieder froh einen Vorstand zu haben, der uns aus
        in der Porschestraße. Die Arbeitsplätze haben zwei     der Geschäftsführung vertraut und uns unterstützt.
        Gemeinsamkeiten: Beide sind in Büros mit einem         Und ganz wichtig: Auch mittels Skype und Zoom
        weiteren Arbeitsplatz, ich teile mir die Büros also    kann sich miteinander gefreut und gelacht werden!
        jeweils mit einem Kollegen. Da ich gerne im Team       So werden wir als Lebenshilfe und Wertachtal-
        arbeite, mag ich die damit einhergehende Selbst-       Werkstätten auch diese Krise gut überstehen und
        verständlichkeit des Miteinander-Arbeitens sehr.       an der ein oder anderen Stelle sogar gestärkt her-
        Noch wichtiger: Beide Arbeitsplätze sind „mitten-      vorgehen. Davon bin ich überzeugt!
        drin“, also dort wo die Mitarbeiter *innen der Le-
        benshilfe und der Wertachtal-Werkstätten Kinder,                               Ralf Grath, Geschäftsführer
        Jugendliche und Erwachsene fördern, beraten,
        unterstützen und betreuen. In meinem Alltag be-
        komme diese tagtägliche Arbeit, die ja das Wesen
        der Lebenshilfe und der Wertachtal-Werkstätten
        ausmacht, leider oft nur indirekt mit.

        Durch diese räumliche Nähe habe ich aber Kontakt
        zu vielen Menschen, die unsere Einrichtungen
        nutzen. Und das schätze ich wirklich sehr. Beginnt
        mein Arbeitstag oben in der Porschestraße werde
        ich von den Beschäftigten freundlich begrüßt,
        es finden kurze Gespräche statt und manchmal
        werde ich auch bis zu meinem Büro begleitet. Im
        Büro am Sonneneck sehe ich mittags die aus der
        Ludwig-Reinhard-Schule kommenden Kinder, die
        sich auf das Mittagessen in der HPT freuen und
        mich grinsend durch die Fensterscheibe grüßen.
        Ab und an kommt auch mal eines der Kinder im
        Büro vorbei und das alles ist gerade anders. Ich
        vermisse die Begegnungen, die Lautstärke, die
        vielen lachenden Gesichter, diese ganz besondere

    6   Luag nei

,
Luag nei - LACH MIT UNS! Luag nei 1 - Die Lebenshilfe Ostallgäu
Was war denn da im Frühjahr los? Hatte ich Urlaub          in den Keller, um meine Werkstatt aufzuräumen.
oder was? Keine Termine bei der Lebenshilfe oder           Komm ich ja sonst nie dazu…
sonst irgendwo, keine Musik, keine Freunde. Dafür                           Wolfgang Neumayer, Vorsitzender
lese ich viel, hänge im Liegestuhl rum und hab
plötzlich ziemlich viel Zeit. Natürlich hatte ich keinen
Urlaub (hat man als Rentner ja sowieso nie), denn
es war ja Corona. Mein Lebensgefühl war… ja wie
eigentlich? Unwirklich, komisch, aber ehrlich gesagt:      Als am 18.03.2020 die Wertachtal-Werkstätten
nicht schlecht. Ich hielt oft inne und staunte über        aufgrund der Corona-Pandemie geschlossen wur-
die aktuelle Situation und meinen Alltag. Ich habe         den, bekam ich den ersten Eindruck, wie gefährlich
vieles vermisst, was ich sonst so gerne mache, ich         dieses Virus ist. Die ersten Tage Zuhause empfand
hatte das Gefühl, nur auf Sparflamme zu fahren,            ich noch – als Abstand von der Arbeit – als teilweise
die Tage waren sehr „entschleunigt“.                       angenehm, fast wie ein unerwarteter Urlaub!

Langeweile? Nö, komischerweise gar nicht. Im Ge-           DOCH: Mit der Medienverfolgung was die Aus-
genteil, es fühlte sich gut an. Zumindest eine Weile.      breitung, Ängste, Veränderungen und vor allem
Hatte ich Angst? Nö, auch nicht. Ein wenig besorgt         die horrend hochsteigende Anzahl der erkrankten
war ich schon. Hoffentlich kommen alle Menschen            Menschen und derer die verstarben bekam ich es
die ich kenne und mag persönlich und gesundheit-           mit der Angst zu tun. Ich blieb zuhause und traute
lich gut durch die schwere Zeit (und alle anderen          mich nicht mehr nach draußen. Als die Ausgangs-
natürlich auch). Hoffentlich kommen wir als Le-            beschränkung und das Tragen der Mund-Nasen-
benshilfe aus dem ganzen Schlamassel wieder gut            Masken Pflicht wurde, fingen die Depressionen
raus? Hoffentlich lernen die Menschen etwas aus            an. Kein persönlicher Kontakt zu Freunden. Nicht
der Krise und darüber, was wirklich wichtig ist im         mehr selbst einkaufen gehen, keine Busfahrten
Leben. Immer mehr, immer größer immer schneller,           nach Kaufbeuren, Augsburg oder sonst wohin.
immer billiger, das kann`s wohl auf Dauer nicht            Ich fühlte mich eingesperrt, gefangen und die Decke
sein. Weniger Hass und mehr Solidarität, das wäre
schön. Ja ich gebe zu, ich hatte auch Optimismus.
Ich glaubte, die Krise sei eine Chance für unseren                 Nur noch zuhause in der
Planeten, die Menschheit und für jeden Einzelnen.
Vielleicht könnten wir eines nicht zu fernen Tages
                                                                      Wohnung bleiben
auch auf viel Gutes blicken, was durch Corona
entstanden ist. Da hoffe ich immer noch.                   fiel mir auf den Kopf. Suchte nach Ablenkung, las
                                                           viel und flüchtete mich in die Musik. Das war wie
Aber jetzt geht`s erneut los, doch es fühlt sich           die warme Decke in der Kälte.
anders an als im Frühjahr. Ich verspüre weniger            Ich dachte an all die Menschen, die auf Hilfe ande-
Endzeitstimmung. Obwohl die Bedrohung ja wohl              rer angewiesen sind, konnte gut nachvollziehen,
nicht kleiner ist. Ich bin weiter zuversichtlich, dass     was sie durchmachten. Hätte ich meinen Sohn,
wir (und damit meine ich auch unsere Lebenshilfe)          telefonische Gespräche mit Freunden und vor
gut durch die sogenannte zweite Welle kommen.              allem meine beiden Haustiere nicht gehabt, wäre
Ernüchterung ist aber auch eingekehrt, wenn ich            ich sicherlich durchgedreht.
sehe, dass der Hass und die Spaltung in den Ge-
sellschaften offenbar nicht abnimmt, sondern eher          Die Zahlen gehen zurück, ich bin beruhigter und
noch ansteigt. Ich denke viel darüber nach, warum          hoffe, dass die Menschen aus der Situation etwas
das so ist und wie es anders werden könnte.                gelernt haben: Nichts ist selbstverständlich! Wir
                                                           habe die Natur und Umwelt mit Füßen getreten,
Ich hoffe auch nicht, dass unsere Bemühungen um            nicht auf sie geachtet. Das ist nun die Strafe dafür.
mehr Normalität und Teilhabe für Menschen mit              Ein großes Dankeschön an das Personal der WTW
Behinderung zurückgeworfen werden. Aber auch               – was sie alles geleistet haben und wie wunderbar
da bin und bleibe ich Optimist.                            sie sich um alle gekümmert haben, als die Arbeit
                                                           wieder begann.
Was noch? Ich verspüre hohen Respekt und viel
Dankbarkeit. Für alle, die in dieser Zeit an wichtiger     Herzlichen Dank für Alles!
Stelle dafür sorgen, dass es weitergeht. Das sollten
wir ihnen nie vergessen und uns diesen Respekt             Marion Riethmüller, Beschäftigte in den
bewahren. So und nun werde ich noch ein bisschen           Wertachtal-Werkstätten Marktoberdorf
meinen Gedanken nachhängen und dann gehe ich

                                                                                                        Luag nei   7
Luag nei - LACH MIT UNS! Luag nei 1 - Die Lebenshilfe Ostallgäu
Autismus
    Ein weites Thema

    Das ist es in der Tat, deswegen möchten wir in einer    nehmen wir oft nichts Besonderes wahr, weil uns
    Artikelreihe einige Facetten des Themas beleuchten.     die damit verbundenen Reize vertraut sind. Erst
    Denn Autismus hat in den letzten Jahren große           wenn sich was ändert, z. B. eine Naht oder das
    Bedeutung gewonnen. Viele neue Erkenntnisse             Etikett durchs bügeln hart geworden ist und uns
    kamen hinzu und somit auch andere Unterstüt-            permanent kratzt, spüren wird dies bewusst. Man-
    zungsmöglichkeiten.                                     che Eltern autistischer Kinder kennen die Situation,
                                                            dass nämlich nur und ausschließlich bestimmte
    Menschen mit Autismus reagieren häufig auf alltäg-      Kleidungsstücke oder Schuhe von ihrem Kind ge-
    liche Situationen in einer anderen Art und Weise, die   tragen werden und sogar das Waschen dieser Teile
    für uns sogenannten „neurotypischen Menschen“           zum Problem wird. Das hängt damit zusammen,
    oft unverständlich und fremd ist und die wir erst       dass die Reize durch ein anderes oder neues Klei-
    mal nicht nachvollziehen können. Dies hängt damit       dungsstück extrem stark wahrgenommen werden
    zusammen, dass der Aufbau des Gehirns eines             und nicht ausgeblendet werden können. Einige
    autistischen Menschen anders ist und daher auch         Autisten spüren jeden Faltenwurf des Stoffes, die
    viele Reaktionen.                                       unzähligen Nähte oder das andere Material an ih-

    Nicht wollen und nicht können ist ein
    Unterschied. Ich will, aber kann oft nicht.                                                         Gee Vero

    Aber warum ist das so?
    Autismus ist eine neurologische Entwicklungsstö-        rem gesamten Körper. Diese Reize sind dann ganz
    rung, d.h. die Struktur und Funktionsweise des          ungewohnt und übermäßig intensiv und können
    Gehirns ist anders. Die Informations- und Wahr-         fast nicht ausgehalten werden. Um das besser zu
    nehmungsverarbeitung läuft somit ganz speziell          verstehen werfen wir zuerst einmal einen sehr
    ab und wirkt sich auf die Entwicklung der sozia-        vereinfachten Blick auf die Abläufe im Gehirn.
    len Interaktion, der Kommunikation und auf das
    Verhalten aus. Die Ausprägung ist je nach Person        Ein Baby lernt von Geburt an verschiedene Gegen-
    unterschiedlich. Schon seit Jahren wissen wir, dass     stände, Materialien, Geräusche, Empfindungen, etc.
    Autisten viele und zum Teil sogar enorme Fähig-         kennen und hat die Möglichkeit diese eingehend
    keiten haben. Dafür brauchen sie aber andere            und mit allen Sinnen zu erforschen. Unser Gehirn
    Rahmenbedingungen im Alltag.                            speichert diese Entdeckungen und Erfahrungen
                                                            ab und dockt sie an ähnlichen Stellen an. Im Laufe
    Reize aus der Umwelt                                    des Größer Werdens erweitert sich der Radius des
    Das müssen wir uns mal vorstellen: Pro Sekunde          Umfeldes sowie das Empfinden des Körpers und
    sind wir ca. 30 000 Reizen ausgesetzt. Dies ist eine    bezieht die vorher gemachten Erfahrungen mit ein.
    enorme und eigentlich nicht vorstellbare Zahl und       Beim Abspeichern findet dabei auch automatisch
    das mag man auch erst mal gar nicht glauben. Vom        eine Sortierung in gefährlich oder ungefährlich /
    Gehirn verarbeitet werden aber nur ca. 16-25 Reize.     bekannt oder unbekannt bzw. neu statt. Die mei-
    Als Reize gelten alle Dinge, die uns umgeben, die       sten Reize in unserem Alltag lassen uns „kalt“, weil
    wir sehen, riechen, hören, fühlen oder schmecken,       sie uns vertraut sind oder von unserem Gehirn
    aber auch unsere eigene Körperlage in Bezug zur         schnell und zuverlässig als bekannt und unge-
    Umwelt. Wenn wir uns z.B. morgens anziehen,             fährlich eingestuft werden. Das bedeutet für uns,

8   Luag nei
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dass wir viele Reize ausblenden oder teilweise gar      vermehrt und ungefiltert auf Autisten ein. Die-
nicht bewusst wahrnehmen. Wir schrecken erst            ser sogenannte „Reizstau“ kann nicht bewältigt
dann auf, wenn ein Reiz entweder unerwartet             werden, baut immer mehr Druck auf und führt
auftritt oder schon als gefährlich abgespeichert        zu einem erhöhten inneren Anspannungsniveau.
ist. Das „Erschrecken“ macht uns deutlich, dass         Dies kann dann zu einem Zustand des „overload“
unser Gehirn extrem schnell vorsortiert und wir         führen. Beispiele: Kinder halten sich die Ohren zu,
ohne bewusstes steuern reagieren.                       summen vor sich hin, schaukeln mit dem Körper
                                                        hin und her, spielen mit den Fingern oder einem
Da unser Gehirn viel schneller arbeitet als wir         Gegenstand, reagieren nicht auf Ansprache, etc.
reagieren können, findet die Vorsortierung also
unbewusst statt, und auch die Reaktion darauf           Staut sich auf diese Weise ein Reiz nach dem Ande-
wird von unserem Gehirn automatisch gesteuert.          ren an, kann eine harmlos erscheinende Frage oder
Verantwortlich dafür sind u.a. zwei besondere Teile     Bemerkung, Geräusche, Gerüche oder Anforderun-
unseres Gehirns, der Thalamus und die Amygdala.         gen das Fass zum Überlaufen bringen. Es kommt zu
Der Thalamus fungiert wie ein Pförtner, der die         einem sogenannten „meltdown“ (Kernschmelze).
Unterscheidung in gefährlich bzw. ungefährlich vor-     Dies sieht von außen aus, wie ein Wutausbruch, ist
nimmt. Die Amygdala warnt uns sicher vor Gefahren       aber ein Zustand großer Verzweiflung auf den der
und setzt die nötigen chemischen Reaktionen in          autistische Mensch keinen Einfluss mehr hat. So
unserem Körper in Gang (z.B. Ausschüttung von           ein Zusammenbruch oder „Ausrasten“, hat nichts
Adrenalin oder anderen Botenstoffen).                   mit einem Wutanfall zu tun sondern ist ein Aus-
Da das Gehirn von Autisten aber andere Strukturen       druck völliger Reizüberflutung und Verzweiflung.
aufweist, findet auch die Verarbeitung von Reizen       Die Person hat in diesem Moment keinen Einfluss
in anderer Form statt.                                  mehr auf das, was passiert. Das Schmerzempfin-
                                                        den kann herabgesetzt sein, so dass Verletzungen
Eindrücke und Erfahrungen werden nicht sicher an        nicht bemerkt werden. Ansprechen, gut zureden
der „passenden“ Stelle bei der ähnlichen Erfahrung      oder Anfassen wäre ein weiterer Reiz und somit
oder Erkenntnis abgespeichert. Das macht es für         völlig kontraproduktiv. Wichtig für Außenstehende
den Thalamus schwierig, Reize aus der Umgebung          ist in solchen Situationen: Abstand halten, Ruhe
wieder zu finden oder als bekannt oder unbekannt,       bewahren, darauf achten, dass niemand verletzt
gefährlich oder ungefährlich einzustufen. Dies führt    wird und möglichst nicht sprechen.
dazu, dass die Amygdala oftmals Gefahr signalisiert
(und die chemischen Prozesse im Körper in Gang
setzt), weil der Reiz nicht schnell genug vorsortiert   Da Wahrnehmung
werden kann. Gefahrensignale wo keine sind, erhö-
hen den inneren Stressfaktor und so sind Autisten       subjektiv ist, hat jeder
von Haus aus einem gewissen Dauerstress ausge-
setzt, dem sie nicht entfliehen können.                 von uns seine eigene
Reize auszublenden ist für Autisten kaum möglich,       Wahrnehmung.
                                                        Wir sind also alle anders.
im Gegenteil, sie werden häufig sogar übermäßig
intensiv wahrgenommen, brauchen zum Teil auch
mehr Zeit in der Verarbeitung und dringen oft           Gee Vero

                                                                                                     Luag nei   9
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     Bei Kindern kann es ja öfter mal zu einem Wutaus-       Aber schon der normale Alltag erfordert von au-
     bruch kommen, wenn Wünsche gerade nicht erfüllt         tistischen Menschen sehr viel Kraft und Energie.
     werden. Eltern und Angehörige kennen aber ihr Kind      Um extreme Situationen so gering wie möglich zu
     sehr gut und können somit auch den Unterschied          halten, sind klare Strukturen hilfreich, aber auch
     feststellen und entsprechend reagieren.                 Rückzugsmöglichkeiten.

     Wenn kein Entrinnen aus dem overload möglich            Zur Entlastung können Tages-, Wochen- oder an-
     ist, oder auch nach einem meltdown, kommt es            dere Abläufe mit Schrift- oder Bildkarten sichtbar
     häufig zu einem shutdown (Abschalten). Das heißt,       gemacht werden. Hilfreich ist aber auch, dass wir
     die Person ist eine Zeit lang nicht ansprechbar,        als Angehörige oder Betreuungspersonal darauf
     liegt eingerollt in einer Ecke, zieht sich eine Decke   achten, wie die Umgebungssituation ist und da-
     über den Kopf oder schaukelt mit dem Körper hin
     und her. In dieser Phase kann das Bedürfnis nach
     körperlicher Nähe oder Distanz sehr unterschied-
     lich sein und muss unbedingt respektiert werden.
     Mit manchen Autisten ist es möglich, die Situation         Hilfreich ist es, sich die verschiedenen Stufen
     im Nachhinein zu reflektieren und zu analysieren.          vor Augen zu führen, in denen sich Autisten
     Gemeinsam wird überlegt, welche Einflüsse dazu             möglicherweise befinden und auf die wir
     geführt haben und wie man dies in Zukunft evtl.            angemessen reagieren müssen.
     verhindern kann. Autisten haben von sich aus oft
     kein Konzept, was sie in bestimmten Situationen
     machen können. Hier kann es hilfreich sein, ihnen
                                                                Overload / Überbelastung
     Hinweiskarten (z.B. Bildkarten) anzubieten oder            Zu viele Reize (Geräusche, Bilder, Gerüche
     mit ihnen andere Strategien zu überlegen. Over-            etc.) reihen sich aneinander, überfluten einen
     load, meltdown, shutdown sind für Autisten sehr            und alles wird Unübersichtlich. Man kann
     anstrengende Situationen, die extrem viel Energie          unwichtige Sachen nicht rausfiltern und im
     verbrauchen, müde machen und noch einige Zeit              Kopf entsteht ein Chaos aus Eindrücken und
     „nachhängen“ (evtl. auch einige Tage).                     Gefühlen, die einen total überlasten.

     Für mich ist Autismus                                      Meltdown / Ventil hält den Druck
                                                                nicht mehr aus
     extremes Menschsein.                                       Da der innere Druck zu groß ist, „öffnet sich

     Autistische Kinder                                         das Ventil“ in Form eines Wutausbruchs mit
                                                                schreien, schlagen, Dingen werfen, kratzen,

     wirken oft ungezogen,                                      spucken, oder Ähnlichem. Es geht darum, das
                                                                Chaos loswerden zu wollen. Viele Autisten

     dabei versuchen                                            merken, dass sie sich danebenbenehmen
                                                                und sind hinterher oft traurig darüber, haben

     sie „nur“, mit                                             aber in dem Moment keinerlei Kontrolle
                                                                darüber. Aber es gibt immer einen Grund,

     neuen Situationen                                          auch wenn wir ihn nicht (sofort) erkennen.

     klarzukommen. Gee Vero

10   Luag nei
Wenn wir alle anders sind, dann ist anders zu sein
      die Norm – und Autismus eine Variante dieser
                                          Norm. Gee Vero

rauf entsprechend einwirken. Beispiele: sind viele      diese bewusst wahrzunehmen. Mit Möglichkeiten
Personen im Raum, wie hoch ist der Geräuschpe-          wie Musik mit Kopfhörer zu hören, sich in andere
gel im Raum aber auch draußen, gibt es spezielle        Räume, ruhigere Ecken, etc. zurückzuziehen, können
Gerüche, Lichtreflexe, etc.? Dabei ist zu bedenken,     wir die Umgebungssituation für Autisten verträg-
dass wir diese Reize nicht oder wesentlicher schwä-     licher gestalten und ihnen solche kräftezehrenden
                                                        Situationen ersparen oder sie zumindest reduzieren.

         Autisten reagieren oft
                                                        Zusammengefasst können wir festhalten:
        mit extremen Emotionen
                                                        Durch wissenschaftliche Untersuchungen (bildge-
cher wahrnehmen. Ein autistischer Mensch hört           bende Verfahren) wurde eine andere Funktions-
die Dinge draußen oder im Nebenraum oftmals             weise des Gehirns bei Autisten nachgewiesen. Die
lauter, wir hingegen registrieren sie gar nicht. Hier   Informationsübertragung zwischen den Nervenzel-
sind wir gefordert eine große Sensibilität dafür zu     len ist nicht etwa insgesamt stärker oder schwächer
entwickeln, welche Reize auf uns einwirken und          ausgeprägt, sondern räumlich verschoben. Autisten
                                                        reagieren auf eigentlich unbedeutende Ereignisse
                                                        oder Objekte oft mit extremen Emotionen. Op-
                                                        tische, akustische oder taktile Reize können nicht
   Shutdown Abschaltung /                               eingeordnet und einzelne Sinneseindrücke nicht zu
                                                        einem Ganzen zusammengefügt werden. Deshalb
   Der innerlicher Rückzug                              nehmen Autisten Reize anders wahr und lernen,
   Ein Shutdown ist ein völliger Rückzug.               interpretieren und verhalten sich daher anders.
   Viele Autisten sind dann eine gewisse Zeit
   nicht mehr ansprechbar. Es ist gut, dann             Wir sind gefragt, die Rahmenbedingungen im Alltag
   einfach da zu sein, sich ruhig zu verhalten          so zu verändern, dass autistische Menschen sich
   und dafür zu sorgen, weitere Reize zu                gut darin zurecht finden, denn ihr Alltag ist von
   minimieren. Wenn kein Rückzug, keine                 Haus aus schon extrem stressig.
   Selbststimulation, kein Entrinnen aus dem
   Overload möglich ist, kann sich dieser auch          In der nächsten Ausgabe der Luag nei beschäftigen
   zu einem Shutdown entwickeln.                        wir uns mit Besonderheiten der Wahrnehmung.

                                                                                     Rosi Haser-Neumayer
   Bildgebende Verfahren
   (Neuroimaging ) – ermöglichen uns
   Einblicke in die inneren Strukturen oder
   Vorgänge des Gehirns, ohne tatsächlich
   in den Schädel eindringen zu müssen.
                                                            Rosi Haser-Neumayer
   Die am häufigsten verwandten Verfahren
                                                            Fachdienst Autismus
   sind die Magnetresonanztomografie
                                                            r.haser-neumayer@
   (MRT), die davon abgeleitete funktionelle
                                                            lebenshilfe-oal.de
   Magnetresonanztomografie (fMRT) und die
   Positronen-Emissions-Tomografie (PET).

                                                                                                   Luag nei   11
Autismus
     Definition: abgeleitet vom griech. Wort ‘autos‘ = selbst, ‘ismos‘ = Zustand

     Geschichte des Autismus
     Eugen Bleuler (1857–1939), ein Schweizer Psychiater,   eine Vielzahl an Büchern veröffentlicht, in denen
     prägte 1911 den Begriff Autismus der mit „selbst-      sie einen guten und z.T. sehr persönlichen Einblick
     bezogen“ übersetzt werden kann und beschreibt          in die andere Welt der Wahrnehmung geben. Dies
     Menschen, die sich von der Umwelt abkapseln und        macht es den Nichtfachleuten möglich, sich dem
     sich in ihre eigene Welt zurückziehen.                 Thema auf unterhaltsame Art zu nähern.

     Leo Kanner (1896–1981), ein Österreichischer Psy-
     chiater arbeitete 3 Jahre an der Charite in Berlin
     und wanderte 1924 in die USA aus. Er war der Be-
     gründer der Kinder-und Jugendpsychiatrie in den
     USA. Seine Erstbeschreibung vom „Frühkindlichen
     Autismus“ erschien 1943, auch „Kanner-Syndrom“            Klassifikationssysteme
     genannt. In seinen Studien stellte er fest, dass die      ICD – Internationale statistische
     spätere Entwicklung mit der Vielfalt von reifungs-        K lassif ikation der K rankheiten und
     und umgebungsspezifischen Aspekten zu tun hatte,          ver wandter Gesundheitsprobleme –
     sowie mit der Reaktion der Betroffenen auf ein            (International Statistical Classification of
     wachsendes Bewusstsein über ihre Besonder-                Diseases and Related Health Problems) der
     heiten. Ein wichtiger positiver Faktor war seines         Weltgesundheitsorganisation (WHO).
     Erachtens, wenn es noch vor dem 5.Lebensjahr zu
     einem Spracherwerb gekommen ist.                          Das wichtigste, welt weit anerkannte
                                                               Klassifikationssystem für medizinische
     Hans Asperger (1906–1980), ein österreichischer           Diagnosen beschreibt und klassifiziert
     Kinderarzt und Heilpädagoge beschrieb 1944 Autis-         sämtliche medizinische Erkrankungen.
     mus unter dem Begriff „autistische Psychopathen
     im Kindesalter“. Seine deutschsprachige Veröffent-        Aktuell gilt der ICD 10, er wird gerade
     lichung war in der internationalen wissenschaftli-        überarbeitet und soll im Januar 2022 als
     chen Gemeinschaft kaum bekannt. Die britische             ICD 11 in Kraft treten.
     Psychiaterin Lorna Wing (hat eine autistische Toch-
     ter) bezog die Arbeit von Asperger in ihre Studien
     ein und benannte 1981 erstmals das „Autismus-
     Spektrum“ und das „Asperger-Syndrom“.                     Einige Beispiele für Kennziffern
     In den späten 1980er Jahren wurden dann von ver-
     schiedenen Seiten Diagnosekriterien formuliert, die       und Diagnosen nach ICD 10:
     sich zum Teil erheblich voneinander unterschieden.        F80-F89:        Entwicklungsstörungen
                                                               F84.0:          Frühkindlicher Autismus
     1991 übersetzte Uta Frith, (*1941 deutsche Ent-           F84.2:          Rett-Syndrom
     wicklungspsychologin, Neurowissenschaftlerin und          F84.5:          Asperger-Syndrom
     Autismusforscherin) die Arbeit von Hans Asper-            F84.8:          sonstige tiefgreifende Ent-
     ger von 1944 über das später nach ihm benannte                            wicklungsstörung
     Asperger-Syndrom 1991 ins Englische.                      F84.9:          nicht näher
                                                                               bezeichnete tiefgreifende
     Im Jahre 1992 wurde das Asperger-Syndrom in                               Entwicklungsstörung
     das medizinische Klassifikationssystem ICD auf-
     genommen, im DSM war es ab 1994 enthalten.
     In den letzten Jahren haben betroffene Autisten

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Stellung der Diagnose
•   Sollte von einem Kinder- und Jugendpsychiater erstellt werden
•   Sichere Diagnosestellung erst ab 18 Monaten, vorher besteht aber häufig schon ein Verdacht
•   Anhand spezieller Fragebögen, Tests und Untersuchungen wird festgestellt, ob Autismus
    vorliegt und falls ja, in welcher Form. Für die sichere Autismus-Diagnose ist oft ein längerer
    Beobachtungszeitraum nötig
•   Neben der eingehenden Befragung und Beobachtung führt der Psychiater zur Absicherung der
    Diagnose weitere körperliche, psychiatrische, neurologische und labormedizinische Untersuchung
    durch um Krankheitsbilder mit ähnlichen Symptomen auszuschließen
•   Je früher Autismus erkannt wird, desto gezielter und wirkungsvoller lässt er sich behandeln

DSM – Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen

ist ein Klassifikationssystem der Psychiatrie für      Momentan befinden wir uns in einem Wandel der
die USA, wird von Experten erarbeitet und der          Sichtweise auf Autismus. Schon der Begriff „Autis-
Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA)      mus-Spektrum-Störung“ zeigt, dass vorwiegend
herausgegeben.                                         die Defizite beachtet und bewertet wurden. Die
                                                       Andersartigkeit der autistischen Menschen war im
Es spielt eine zentrale Rolle bei der Definition von   Fokus, und es wurde erwartet, dass sie sich unserer
psychischen Erkrankungen, enthält zum Teil ge-         Welt anpassen mussten. In der heutigen Zeit liegt
nauere diagnostische Kriterien als der ICD und ist     der Fokus auf der anderen Art der Wahrnehmung,
dadurch für die Forschung besonders interessant.       mit dem Wissen, dass diese auch viele Qualitäten
Aktuell gültig und für die psychiatrische Diagnostik   und Vorteile bietet.
verbindliche Ausgabe ist seit Mai 2013 der DSM-5.
Es gibt eine enge Abstimmung zwischen der WHO          In Zeiten der Inklusion ist der Anspruch an nicht-
und der APA. Im DSM 5 wird Autismus erstmals           autistische Menschen der, die Andersartigkeit von
anders bewertet und nicht mehr in den früheren         Menschen mit Autismus zu akzeptieren und ihnen
Begriffen (z.B. Kanner-, Asperger-Syndrom,etc.)        eine Umgebung und Struktur zu bieten, damit sie
unterschieden.                                         sich in unserer Welt und Kultur gut zurechtzufinden
                                                       können. An dieser Stelle sei hier schon mal auf den
Der Fokus liegt mehr auf den Stärken der autis-        TEACCH-Ansatz verwiesen.
tischen Wahrnehmung unter Einbeziehung der
Ausprägung im Alltag und somit der Möglichkeit
zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

                                                                                                     Luag nei   13
Häufigkeit
     von Autismus
     Der Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt bei
     etwa 1 %. In Deutschland liegen ungefähr 800 000
     Menschen im Autismus-Spektrum, wobei eine große
     „Dunkelziffer“ angenommen wird. Laut Umwelt-
     bundeamt liegen Zahlen über die Häufigkeit von
     Autismus in Deutschland nicht vor. Derzeit wird eine
     weltweite Prävalenz von 0,6 % – 1 % angenommen.

     Frühkindliche Autismus
     (Kanner-Syndrom)

     eine der bekanntesten Autismus-Formen                  Asperger-Syndrom

     •   Beginn vor dem dritten Lebensjahr                  •   Beginn etwa ab dem dritten Lebensjahr
     •   Beeinträchtigung der sozialen Interaktion          •   Keine Intelligenzminderung (gute bis über-
     •   Stark verzögerte Sprachentwicklung                     durchschnittl. intellektuelle Leistungen)
     •   Beschränkte, repetitive und stereotype Ver-        •   Keine Störung der Sprachentwicklung (früher
         haltensweisen                                          Sprachbeginn; grammatikalisch & stilistisch
     •   Meist erheblich eingeschränkte intellektuelle          hochstehende Sprache)
         Leistungen                                         •   Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion
                                                                (intellektuelle Frühreife bei gleichzeitig extre-
                                                                mer emotionaler Ausdruckslosigkeit)
                                                            •   Stereotypes Verhalten
                                                            •   Auffälligkeiten in der psychomotorischen
                                                                Entwicklung

     Jim Sinclair, autistischer Aktivist:
     Autistische Menschen sind anders als andere            Person sich mehr wie eine nicht-autistische Person
     Menschen. Wir hören das die ganze Zeit, aber           verhält. Eine autistische Person wird in dem Ma-
     was bedeutet es wirklich?                              ße als erfolgreich betrachtet, in dem sie gelernt
                                                            hat, sich „normal zu verhalten“. Was für mich so
     Für nicht-autistische Menschen, einschließlich der     etwas wie ein Offenbarung war (und es passierte
     meisten unserer Eltern und Lehrkräfte, ist das         erst, nachdem ich mein Studium abgeschlossen
     Anderssein einer der beunruhigendsten Aspekte          hatte), ist, dass andere Menschen erwarten, dass
     von Autismus.                                          ich einer von ihnen sein sollte. Das war ziemlich
                                                            überraschend für mich und es schien mir mehr als
     Eine Therapie wird in dem Maße als erfolgreich         ein bisschen lächerlich, als ich es feststellte, und
     betrachtet, in dem sie bewirkt, dass die autistische   ich verstehe es bis heute nicht wirklich.

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Atypischer Autismus
                                                   Rett-Syndrom
•   Ähnelt weitgehend dem frühkindlichen Au-
    tismus, setzt aber später ein und/oder zeigt   •   Tiefgreifende Entwicklungsstörung mit autis-
    nicht alle drei typischen Hauptmerkmale des        tischen Verhaltensweisen
    Autismus (atypisches Erkrankungsalter oder     •   Erste Symptome zwischen dem 6. Lebens-
    atypische Symptome)                                monat und dem 4. Lebensjahr
                                                   •   Betriff t nur Mädchen

Hochfunktionaler Autismus
(High-funktioning-Autism)
                                                   Savants
•   Alle Symptome des frühkindlichen Autismus      •   Herausragenden Leistungen in einem ein-
    zusammen mit normaler Intelligenz                  zelnen Fach z.B.: Kalenderrechnen, hohes
•   Diagnostisch wichtig ist hier insbesondere         Erinnerungsvermögen, absolutes Gehör, fo-
    die verzögerte Sprachentwicklung                   tografisches Gedächtnis
•   Gegenüber dem Asperger-Syndrom sind die
    motorischen Fähigkeiten meist deutlich bes-
    ser

„Handlungen, die ihre Belohnung in sich
selbst tragen.“                 Axel Brauns

                                                                                              Luag nei   15
Kompass –
     Betriebliche Inklusion
     Innovatives Projekt der Lebenshilfe Ostallgäu in Kooperation mit der Aktion
     Mensch

     Seit dem Herbst 2020 setzen sich die Kollegen Kim       Menschen mit Behinderung trotz der diversen
     Lukas und Uwe Zimmermann im neu installierten           Unterstützungsangebote von Ämtern und öffent-
     Inklusionsprojekt der Lebenshilfe Ostallgäu e.V.        lichen Trägern, bereits einschlägig manifestiert.
     „Kompass – Betriebliche Inklusion“ für Diversität       Wir als „Kompass – Betriebliche Inklusion“ möch-
     und Chancengleichheit auf dem allgemeinen Ar-           ten jedoch die Menschen mit Behinderung und
     beitsmarkt ein.                                         auch die regionalen Betriebe darin bestärken,
                                                             mehr Möglichkeiten und Chancen bei der Teilhabe
     Dabei begleiten sie Menschen mit erhöhtem Un-           am Arbeitsleben wahrzunehmen“, so Kim Lukas,
     terstützungsbedarf, aber auch Betriebe und Ar-          Projektleitung, auf die Frage, welche Vision das
     beitgeber dabei, Menschen mit Behinderung oder          Projekt denn verfolge. Weiter sagt Lukas, solle ein
     Diagnose in ein sozialversicherungspflichtiges Ar-      multiprofessionelles Netzwerk erstellt werden, um
     beitsverhältnis zu vermitteln. Zusätzlich unterstützt   gezielt Arbeitgeber, die ihrer gesellschaftlichen
     „Kompass – Betriebliche Inklusion“ auch über die        Verantwortung zur Teilhabe von Menschen mit
     Vermittlung hinaus und kann so zur Sicherung des        Behinderung nachgehen möchten, umfänglich zu
     Arbeitsplatzes beitragen.                               begleiten und unterstützen zu können.

     Das Besondere an diesem Projekt ist, dass es ko-        Bereits während der kurzen Projektdauer konnten
     stenfrei und unabhängig vom Kostenträger in An-         Kooperationen unter anderem zu den Integrations-
     spruch genommen werden kann. Jeder Mensch mit           fachdiensten (IFD), der ergänzenden unabhängi-
     erhöhtem Unterstützungsbedarf kann antragslos           gen Teilhabeberatung (EUTB), dem Jobcenter, der
     an „Kompass – Betriebliche Inklusion“ teilnehmen.       Agentur für Arbeit und der Inklusionskoordination
     „Kompass – Betriebliche Inklusion“ bietet seine         des Landratsamtes Ostallgäu hergestellt werden.
     Dienste im gesamten Allgäu an.
                                                             „Kompass – Betriebliche Inklusion“ wird seinen
     „Es scheint, als sei der berufliche Weg für einen       Sitz im Herzen der Stadt Marktoberdorf haben. So
                                                             bezieht das Team im Frühjahr 2021 Büroräume in
                                                             der Poststraße. Grundsätzlich können Informations-
                                                             termine jedoch auch direkt bei den Bewerber *innen
                                                             oder Betrieben wahrgenommen werden.

                                                                                                     Kim Lukas

                                                                  Kim Lukas
                                                                  Projektleiter „Kompass – Betriebliche
                                                                  Inklusion“
                                                                  Tel. 0176 18700907
                                                                  k.lukas@lebenshilfe-oal.de

16   Luag nei
Info-Plattform
Für Selbst-Vertreter*innen

Aufgepasst! Es gibt eine neue Plattform der Lebens-
hilfe Bayern mit vielen Informationen für Selbst-
Vertreterinnen und Selbst-Vertreter.

Selbst-Vertretung – na klar!
Sie sind aktiv in einem Gremium der Selbst-Ver-
tretung? Sie wollen sich regelmäßig über aktuelle
Themen informieren? Sie wollen uns Ihre eigenen
Erfahrungen und Ideen mitteilen? Dann schauen
Sie doch mal auf unsere neue Info-Plattform!

Pinnwand im Internet
Die Info-Plattform ist im Internet. Sie sieht aus
wie eine Pinnwand und hat den Titel „Selbst-
Vertretung – na klar!“. Auf der Pinnwand gibt es
aktuelle Informationen für Selbst-Vertreterinnen
und Selbst-Vertreter. Es gibt Hinweise auf Fortbil-         Internetadresse
dungskurse und Tagungen. Es gibt Berichte aus               Die Plattform ist über diese Internet-
dem Landes-Ausschuss Selbst-Vertreterinnen und              Adresse erreichbar:
Selbst-Vertreter der Lebenshilfe Bayern. Und es gibt        https://www.lebenshil-
immer wieder Neues zu Corona und viele weitere              fe.de/selbstvertretung/
aktuelle Themen. Die Info-Plattform ist für alle
Interessierten offen.

                    Bundesverband der Lebenhilfe

Die Aktion Mensch
Die Aktion Mensch setzt sich für Inklusion ein. Was    zu lesen sein.
bedeutet das? Menschen mit und ohne Behinderung        Mit den Einnahmen aus ihrer Soziallotterie unter-
sollen ganz selbstverständlich zusammenleben: in       stützt die Aktion Mensch jeden Monat bis zu 1.000
der Schule, bei der Arbeit und in der Freizeit. Sie    soziale Projekte für Menschen mit Behinderung,
sollen selbst entscheiden, wie sie leben wollen.       Kinder und Jugendliche. Damit ist sie die größte
                                                       private Förderorganisation im sozialen Bereich in
Und sie sollen die Möglichkeit haben, ihre Fähigkei-   Deutschland. Jeder kann ganz einfach dazu bei-
ten zu zeigen. Damit alle Menschen überall dabei       tragen, dass Menschen mit Behinderung besser
sein können, müssen Barrieren verschwinden.            leben und mehr Inklusion möglich wird: indem
Das heißt zum Beispiel: wo Treppen sind, müssen        er ein Los kauft, sich freiwillig engagiert oder ein
auch Rampen oder Aufzüge sein. Texte von Äm-           Projekt startet. Damit das WIR gewinnt.
tern oder Informationen im Internet sollten leicht                                           Aktion Mensch

                                                                                                   Luag nei   17
Die Borderline-Störung
     Persönlichkeitsstörung vom Borderline Typ

     Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) wird         Jugendhilfe dar. Die Personen schätzen ihre eigene
     korrekt als emotional-instabile Persönlichkeits-         Erziehungskompetenz meist deutlich positiver ein
     störung vom Borderline-Typ bezeichnet. Gemeint           als das Fachpersonal dies wahrnimmt. Bedingt
     ist damit eine psychische Störung, die sich durch        durch die stark ausgeprägte emotionale Instabilität
     dauerhaft bestehende Symptome zeigt. Beispiele           leiden häufig auch die betroffenen Kinder, für die
     sind Impulsivität, schnell wechselnde emotionale         die plötzlichen Stimmungswechsel des Elternteils
     Zustände (und Schwierigkeiten, diese zu regu-            unvorhersehbar kommen und somit die Eltern-
     lieren), starke Anspannungszustände, instabile           Kind-Beziehung und die emotional-psychische
     Beziehungen, stark ausgeprägte innere Leere,             Entwicklung des Kindes stark belasten. Dazu trägt
     instabiles Selbstbild und häufig selbstschädigende       auch bei, dass viele Personen mit BPS, oft ohne es
     Verhaltensweisen. Das Störungsbild ist komplex und       zu merken, in Doppelbotschaften kommunizieren.
     kann sich bei den einzelnen Personen in der Aus-         D.h., dass die inhaltliche Aussage dem widerspricht,
     prägung und im Schweregrad stark unterscheiden.          was die Person nonverbal vermittelt (z.B. Könnte
     Entgegen der weit verbreiteten Annahme ist nicht         eine Mutter ihr Kind, das Kuscheln möchte, zurück-
     jeder, der sich selbst verletzt, eine Person mit einer   weisen und von sich wegschieben und ihm sagen:
     BPS. Und auch von den Personen mit einer BPS             „Du bist mir so wichtig und ich hab dich lieb!“).
     verletzen sich nicht alle Betroffenen selbst.
                                                              Dadurch sind Kinder von Eltern mit BPS deutlich
     In Deutschland erfüllen etwa 2 von 100 Erwachse-         stärker gefährdet, selbst psychisch auffällig zu
     nen die Symptome einer BPS. Die Störung entsteht         werden. Sie sind somit besonders auf frühzeitige
     bereits in der Jugend oder späteren Kindheit. Bei        – im Idealfall präventive – Unterstützungsmaß-
     der Entstehung spielen biologische Neigungen             nahmen angewiesen, um sich gesund entwickeln
     eine Rolle: sehr sensitiv für emotionale Reize zu        zu können. Die Aufgabe des Fachpersonals ist
     sein, starke Gefühlsreaktionen zu haben und ein          es, einen Balanceakt zwischen einer einerseits
     langsamer Rückgang der emotionalen Reaktion              wertschätzenden Haltung dem BPS-betroffenen
     auf das Ausgangsniveau. Zudem kommen viele               Elternteil gegenüber und andererseits möglichst
     negative (Bindungs-)Erfahrungen, insbesondere            positive Veränderungen im elterlichen Verhalten
     ist dabei die sogenannte Invalidierung zu nennen,        dem Kind gegenüber zu bewirken. Dies ist eine
     die Entwertung von kindlichen Gefühlen (z.B. „Das        durchaus heikle Angelegenheit, da Menschen mit
     kann dir gar nicht weh tun“, „Das ist doch nicht         BPS sehr zu schwarz-weiß-Denken neigen und
     schlimm“).                                               häufig schwer differenzieren können zwischen
                                                              einer Kritik oder einem Verbesserungsvorschlag
                                                              an ihrem Verhalten und ihrer Person. Als Beispiel
               Männer und Frauen                              könnte eine Mutter mit BPS, der vom Fachpersonal
                                                              sehr direkt empfohlen wird, die Mediennutzung
            sind etwa gleich häufig von                       ihres Kindes einzuschränken und stattdessen mit
                   BPS betroffen                              dem Kind zu spielen, „verstehen“, dass die Betreuer
                                                              denken, dass sie eine schlechte Mutter sei und im
                                                              Gegenzug selbst vorwurfsvoll werden.
     Im Alltag wirkt es oft so, als wären Frauen häufiger
     von einer BPS betroffen. Die Ursache dafür liegt         Es besteht ein großes Risiko, dass zu konfrontativ
     allerdings darin, dass Männer mit BPS häufig in Haft,    vorgebrachte Kritik von BPS-Betroffenen schnell
     einer forensischen Klinik oder Suchteinrichtungen        persönlich genommen wird. Dadurch wird die El-
     zu finden sind. Die BPS geht häufig mit weiteren         ternarbeit schwer belastet und im Extremfall sogar
     psychischen Störungen wie z.B. Depressionen,             von Seiten der Eltern verweigert oder abgebrochen.
     Suchterkrankungen oder Traumafolgestörungen              In der Praxis bewährt hat sich die Elternarbeit mit
     einher. Die Arbeit mit Eltern, die eine BPS haben,       zwei zuständigen Mitarbeitern für Eltern mit BPS.
     stellt eine große Herausforderung in der Kinder- und     Möglich ist dabei auch, wie im WKS-Modell, dass

18   Luag nei
Bild: Stefanie Giesder

einer von beiden neutral bleibt (Prozessbegleitung)    Konsequenz und beispielsweise zeitlich begrenzte
und potentiell kritische Themen von der anderen        Erreichbarkeit (z.B. feste, regelmäßige Gesprächs-
Person angesprochen werden (Alltagsbegleiter).         zeiten) sind empfehlenswert. Da Menschen mit BPS
Wichtig ist es dabei dennoch, dass beide Mitarbeiter   große Schwierigkeiten in der Emotionsregulation
bei allen Gesprächen mit den Eltern anwesend sind,     haben, fällt es ihnen schwer mit den eigenen, häufig
um Transparenz und gleichen Informationsstand zu       stark erlebten Emotionen umzugehen.
gewährleisten und sich als Team zu präsentieren.
Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Alltagsbe-    Dies führt oft dazu, dass vermehrt Kontakt zum
gleiter vom BPS-Betroffenen zum Feindbild erklärt      Fachpersonal – bereits wegen vermeintlicher „Klei-
wird, sich die Person mit dem Prozessbegleiter         nigkeiten“ wie z.B. einem Erziehungskonflikt mit
verbünden möchte und ein Großteil des Gesprächs        dem Kind oder einer schlechten Schulnote – ge-
mit dem Prozessbegleiter darum geht, über den All-     sucht wird.
tagsbegleiter zu schimpfen. Auch klare Absprachen,                                         Lisa Biechele

    Verschiebung
    Jahreshauptversammlung 2020

    In Anbetracht der unsicheren Lage hatte sich       können. Die Mitglieder werden dazu rechtzeitig
    der Vorstand dazu entschieden, die Jahres-         eingeladen und erhalten natürlich auch einen
    hauptversammlung 2020 zu verschieben. Das          Entwurf der neuen Satzung.
    Risiko war uns im Herbst einfach zu hoch.
                                                       Wir bitten Sie um Verständnis für diese Ver-
    Das ist umso bedauerlicher, weil wir eigentlich    schiebung.
    eine dringend notwendige Satzungsänderung
    beschließen wollten. Klingt langweilig, ist es
    aber nicht. Eine zeitgemäße Satzung ist die
    Grundlage für eine erfolgreiche Arbeit der
    Lebenshilfe.

    Wollen Sie bei dieser wichtigen Weichenstellung
    für die Zukunft der Lebenshilfe mitwirken?
    Dann werden Sie Mitglied! Wir hoffen, die Ver-
    sammlung so bald wie möglich nachholen zu

                                                                                                     Luag nei    19
Kunst&
 Kultur

     Kulturwerkstatt und Lebenshilfe
     Eine fruchtbare Kooperation seit mehr als 30 Jahren

     Angefangen hat alles in der Turnhalle der           blicken auf viele gemeinsame Theaterprojekte
     Lebenshilfe Tagesstätte! Der Einrichtungslei-       und Feste, mehrere inklusive Theatergruppen und
     ter der Kulturwerkstatt Thomas Garmatsch            nicht zuletzt auf die inklusive Wohngemeinschaft
     gründete seine erste Theatergruppe und              „Tetrapack“ in der Bismarckstrasse zurück! Und
     probte mit ihr in den Räumen der Lebens-            das soll nicht alles bleiben – weitere Kooperations-
     hilfe!                                              projekte sind in Planung. Auch in der momentanen
                                                         Krisensituation steht man in Verbindung. Herr
     Heute, ca. 30 Jahre später, hat die Kulturwerk-     Wiedemann und Frau Maierhof vom Geschich-
     statt ihr eigenes Theater im Zentrum der Stadt,     tenladen haben sich einen kleinen Stadtrundgang
     inklusive des kleinen Stadtgeschichtenladens im     vorgenommen, der aufgenommen und in den
     Kaisergässchen. Es wird auf vielen Ebenen Theater   Osterfeiertagen exklusiv in den Wohnheimen
     für und mit ALLEN Menschen gemacht, Inklusion       der Lebenshilfe gezeigt wird. Spannung entsteht
     ist hier nicht nur ein Wort – man macht sie ein-    durch ein damit verknüpftes Rätsel, welches gelöst
     fach! Nicht zuletzt dank der nunmehr seit über      werden kann. Das gefundene Lösungswort darf
     30 Jahren andauernden, intensiven Kooperation       an die Lebenshilfe per Mail gesendet werden, es
     mit der Lebenshilfe Ostallgäu e.V.                  wartet eine kleine Überraschung!

     Längst schon ist es nicht nur einfach eine Zu-      In der zweiten Osterferienwoche sollen alle Kinder
     sammenarbeit – sie basiert auf einem grossen        und Familien aus Stadt und Land in den Genuss
     gegenseitigen Vertrauen und einem freundschaft-     des virtuellen Stadtgeschichtenrätsels kommen
     lichen Miteinander. Die Macher auf beiden Seiten    – Infos ueber die sozialen Netzwerke!

                                                                                             Simone Dopfer

     Ja, Inklusion ist eine Utopie.
     Aber eine, für die es sich
     zu kämpfen lohnt!
     Raul Krauthausen, Aktivist für Inklusion und
     Barrierefreiheit

     Klare Worte und offene Diskussion: Wir holen Raul Krauthausen,                            Bild: Esra Rotthof

     den bekannten Multiplikator für Inklusion zu uns ins Ostallgäu!
     Jetzt schon vormerken: Freitag, 15. Oktober 2021

     Gablonzer Haus Kaufbeuren, Raul Krauthausen – Berliner. Autor. Moderator. Medienmacher.
     Botschafter. Inklusionsaktivist.

20   Luag nei
TETRA-Pack – der Podcast
… oder kreativer Kaffee mit Kunst? Kunst, Kaffee, Kreativität?

Johann, Yannick, Illia und Moritz. Das sind die                   kulturwerkstatt.kaufbeuren.de nachgehört wer-
vier Bewohner der inklusiven Wohngemeinschaft                     den. Ein sehr emotionales Feedback zum Podcast
Tetrapack. Hier wohnen Menschen mit und ohne                      erreichte uns von Familie Glüder, das wir an dieser
Behinderung zusammen unter einem Dach, orga-                      Stelle veröffentlichen dürfen.
nisieren ihren Alltag, spielen, lachen, streiten und                                                  Johanna Zwick
quatschen miteinander.
                                                                        Alle Folgen können jederzeit unter
Zu Beginn des Lockdowns im Frühjahr entstand                            Spotify (TETRA-Pack) ode-
die Idee, einen eigenen Podcast zu kreieren. Ein                        ronline unter: www.kultur-
tolles Projekt, dass zehn herrlich ehrliche und                         werkstatt.kaufbeuren.de
gleichzeitig sehr tiefgründige Folgen hervorge-                         nachgehört werden.
bracht hat. Alle Folgen können jederzeit unter
Spotify (TETRA-Pack) oder online unter www.

Lieber Moritz,

Ihr Podcast gefällt uns sehr gut, vielen Dank! Großartig, wie gut Sie die Bewohner der WG zusammenbrin-
gen. Johann freut sich immer über die Zusammenkunft mit allen und wir waren erstaunt, dass er so viel
von sich erzählt hat. Das traut er sich anscheinend mit und in der WG mehr als daheim. Aber vielleicht
sind Sie da geschickter und geduldiger als wir. Jedenfalls freuen wir uns über das gute Miteinander in der
WG.

Vielen Dank!

Illia (links) und Johann (rechts) nehmen konzentriert eine neue Podcast-Folge auf.                   Bild: Moritz Rauch
                                                                                                              Luag nei    21
Kunst&
 Kultur

     Nachbarschaftskonzerte verbinden
     Ensemble Aggenstein und das Jugendbla-              wurde sogar kräftig zu den Hits getanzt und auf
     sorchester überraschen die Bewohner des             der Besucherterrasse des Pflegeheimes konnten
     Lebenshilfe-Wohnheimes und des Clemens-             die Bewohner bei Sonnenschein das Livekonzert
     Kessler-Hauses in Marktoberdorf.                    mitverfolgen.

     Keine Musik – keine Kultur – keine Unterhaltung –   „Eine großartige und so willkommene Abwechs-
     oder etwa doch? Dank Gemeinschaftsaktionen von      lung“, freute sich Geschäftsführerin Claudia Kin-
     der Kulturwerkstatt Kaufbeuren, dem Clemens-        trup über das Konzert des Ensembles, das sich in
     Kessler-Haus des BRK Ostallgäu und dem Wohn-        zwei Proben auf den Auftritt vorbereitet hat. „Wir
     heim der Lebenshilfe Ostallgäu in Marktoberdorf     wollten einfach ein wenig Freude in den derzeit
     wurden die Bewohner beider Einrichtungen über       so anderen Alltag der Wohnheime bringen. Umso
     den Sommer musikalisch überrascht.                  schöner, dass wir hier in Marktoberdorf dann gleich
                                                         zwei Einrichtungen überraschen konnten“, so Si-
     Das Ensemble Aggenstein rund um den Markt-          mone Dopfer von der Kulturwerkstatt Kaufbeuren.
     oberdorfer Musiker Manfred Eggensberger und
     Sängern vom Chor der Kulturwerkstatt gestaltete     Im Herbst spielte auch noch das Jugendblasorches-
     zum Beispiel eine Stunde voller musikalischer       ter in großer Formation auf dem Gartengelände
     Höhepunkte. Mit Abstand verfolgten viele Be-        zwischen den beiden Wohnheimen. Schön, wenn
     wohner beider Einrichtungen das Konzert, das im     Musik so viele Menschen verbindet!
     Garten zwischen den beiden Gebäuden stattfand.
     Auf dem Gelände des Lebenshilfe-Wohnheimes                                              Johanna Zwick

22   Luag nei
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