MUTTER? - Deutscher Kinderschutzbund
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D I E Z E I T S C H R I F T D E S K I N D E R S C H U T Z B U N D E S 1 . Q UA R TA L 2 0 2 1 / H 8 7 6 3 F KINDERSCHUTZ A K T U E L L 1.21 „Typisch“ MUTTER? Stets warmherzig, selbstlos, die Familie umsorgend – der Mythos über die „gute Mutter“ hängt immer noch in zu vielen Köpfen fest.
Das ist groß und das ist klein, Konzept: Swaantje Düsenberg -- Gestaltung: schwanke//raasch visuelle kommunikation -- Foto: fotolia.com/monoVision das ist mein Arm und das mein Bein. Das sind Haare, das ist die Haut, das ist leise, das ist LAUT! ENTWICKLUNG ist ein Kinderrecht! (Artikel 6 UN-Kinderrechtskonvention: Recht auf Leben)
„Typisch Mutter?“ Einer „guten“ Mutter werden viele Eigenschaften abverlangt. Ist sie fürsorglich, allgeduldig, liebevoll, sich selbst vergessend und stets für alle da, kommt sie dem Ideal in vielen Köpfen schon recht nahe. Der Erwartungsdruck aus der Gesellschaft ist so groß, dass viele Mütter die Ansprüche verinnerlichen und sich selbst abverlangen, ihnen zu entsprechen – und zwar unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Dafür zahlt so manche Mutter einen hohen Preis. Er besteht u.a. aus Armut, Erschöpfung, Schuldgefühlen, Selbstausbeutung, Überforderung, Versagensängsten. Es ist also höchste Zeit, sich vom „Mythos Mutter“ zu verabschieden. Inhalt 1.2021 10 KLIPP & KLAR 14 4 Kolumne, Nachrichten THEMA 6 Der Mythos lebt Die Gesellschaft: Haben Mütter Superkräfte? 8 Viele Barrieren im Weg „Neue“ Väter: Die Problematik ist strukturell 10 Tschüss bis nächste Woche DKSB-Praxis: Intensiver Austausch hilft 12 Vielfalt erwünscht! Der Mythos lebt In die Wiege gelegt? Kinderschutzbund: Wahlfreiheit ermöglichen Das stark überhöhte Mutter-Bild, Wissenschaftliche Erkenntnisse über das insbesondere in Westdeutschland Mütter und Mutterschaft sind so zahlreich 14 In die Wiege gelegt? noch vielfach vorherrscht, bringt wie vielfältig. Denn nahezu jede Disziplin Wissenschaft: Nicht alles ist biologisch viele Mütter ans Limit. Einschlägige nimmt ihre eigene Perspektive ein und vorherbestimmt Botschaften in Social-Media-Kanälen kommt zu entsprechend unterschied- 16 „Immer abliefern“ verstärken das noch. Ab Seite 6 lichen Schlüssen. Ab Seite 14 Mütter-Talk: Bitte nichts verallgemeinern! 18 Was tut er für Mütter? 20 Der Gesetzgeber: Nicht immer auf der Höhe der Zeit 20 Früh auf eigenen Beinen DKSB-Praxis: Unterstützung für junge Mütter KINDER IM BLICK 21 Kinderschutz in der Fläche Verbandsentwicklung im LV Mecklenburg-Vorpommern 22 Die machen Sachen Infos & Tipps aus der DKSB-Praxis 24 Dieses Merkmal benachteiligt Der Kinder- und Jugendmigrationsreport 2020 des DJI 25 Jugendbefragung 2.0 Tausend Stimmen in Schleswig-Holstein 26 Verschärfte Ungleichheit Digitaler Wandel im Fokus des LV Thüringen Corona-Schlaglichter: Die zweite Welle Seit Herbst 2020 rollt die zweite Corona-Welle über Deutschland hinweg. 27 Ein guter Zusammenschluss Bund und Länder beschließen sukzessiv immer schärfere Maßnahmen zur Prävention und Medienkompetenz Eindämmung der exponentiell wachsenden Infektionszahlen. Sie bleiben weit in als Projekt im OV Ried den Januar 2021 hoch. Der Plan, Kitas und Schulen für die Kinder geöffnet zu halten, 28 Die zweite Welle war nicht durchzuhalten – auch die Bildungseinrichtungen werden in den Lockdown Chronik des Corona-Infektionsgeschehens geschickt. Dabei ist Deutschland von der digitalen Schule noch weit entfernt, 30 Aktuelles aus dem Bundesverband es klemmt an allen Ecken und Enden. Die Leidtragenden sind mal wieder die Kinder, Eltern und Familien. Ab Seite 28 31 Impressum
Kolumne KLIPP & KLAR Liebe Leserinnen und Leser, Umfrage zu KSA: auf das vergangene Jahr hätten viele Ihre Antworten sind wichtig! Kinderschutz aktuell (KSA) wird als Verbandszeitschrift des von uns wahrscheinlich gut verzichten Kinderschutzbundes kontinuierlich weiterentwickelt. Dabei können. Die Corona-Pandemie hatte uns berücksichtigt die Redaktion auch die vielen Anregungen aus seit Frühjahr 2020 fest im Griff und dem Verband. Parallel dazu hat der Bundesvorstand den 2019 wird wohl auch 2021 weiter prägen. eingesetzten Bundesfachausschuss KSA damit beauftragt, Vorschläge für die weitere Zukunft des Heftes zu erarbeiten. Dieses neue Jahr ist aber auch ein Wahl- An diesem Prozess möchte der Kinderschutzbund auch die jahr. Damit liegen intensive und arbeits- Leserschaft durch eine Umfrage beteiligen. Deshalb liegt dieser reiche Wochen und Monate vor uns. Wir KSA-Ausgabe ein Fragebogen mit der herzlichen Bitte um werden alle gemeinsam dafür sorgen, Beantwortung bei. dass kinderpolitische Anliegen und Projekte in diesem Bundestagswahlkampf nicht zu kurz kommen. Neben vielen anderen liegen mir dabei zwei Bewusst achtsam Themen besonders am Herzen. sprechen Die Große Koalition hat sich nach langem Ringen auf eine Wir sind eine Gruppe von sieben Formulierung für die Aufnahme der Kinderrechte in das ostdeutschen Erzieherinnen, die Grundgesetz verständigt. So sehr ich begrüße, dass nun sich regelmäßig in einem selbst ge- gründeten Qualitätszirkel trifft. Un- endlich Bewegung in den Prozess zu kommen scheint, so ser Ziel ist es, uns gegenseitig noch pessimistisch bin ich – Stand heute, Mitte Januar 2021 –, stärker für den Umgang mit den Kin- dass man im parlamentarischen Verfahren zu einem guten dern zu sensibilisieren. Im turbulen- Ergebnis kommt. Der vorliegende Vorschlag fällt hinter die ten Alltag und bei knapp bemessenen geltende Rechtslage deutlich zurück. Und er ist nicht mehr Personalschlüsseln geht die Empathie nämlich manchmal unter. als eine Staatszielbestimmung. Wir aber wollen echte Kin- Für unser Anliegen lassen wir uns oft auch von Artikeln aus Ihrer derrechte! So hoffe ich auf die Abgeordneten des Deutschen Zeitschrift inspirieren. Dafür fanden wir das Heft „Sprache und Bundestags, die vielleicht noch für Nachbesserung sorgen. Gewalt: Mächtige Worte“ (KSA 4/2020) besonders gelungen. So konnten wir uns bewusst machen und überprüfen, was man Ein zweites Thema treibt mich nach wie vor um: die Kin- manchmal dahersagt zu Kindern. Dabei haben wir festgestellt, derarmut. Die Corona-Pandemie und die damit einherge- dass sich jede von uns schon mal in ihren Worten vergreift, aus henden Schulschließungen haben noch einmal gezeigt, Überforderung, Nerverei oder auch reiner Gedankenlosigkeit. wie ungleich die Lebenschancen der Kinder in Deutschland Aber gerade in der Kita-Arbeit kann das Bewusstsein für acht- sames Sprechen mit den Kindern gar nicht groß genug sein. verteilt sind. Kinder von Eltern mit geringem Einkommen Nancy Küntze und andere, tätig in verschiedenen wurden in der Corona-Pandemie einfach übersehen. Dass Kitas im Landkreis Leipzig sie nicht über Laptops oder Tablets verfügen, hat die Politik schlicht ignoriert. Diese Kinder blieben auf die kreativen Lösungen von engagierten Lehrkräften angewiesen, wie auch sie am Distanzunterricht teilnehmen können. Dass Das nächste Heft: Kindern helfen Kinderarmut in einem so reichen Land wie Deutschland in Krisensituationen nach wie vor nicht nachhaltig bekämpft wird, ist ein Nicht nur die anhaltenden Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie können private Krisen auslösen. Auch politischer Skandal. Der Kinderschutzbund wird sich jenseits davon geraten Kinder und Jugendliche manchmal in deshalb in diesem Wahljahr besonders für die Einführung hoch belastende Lebenslagen, z.B. wenn sie bei psychisch einer unbürokratischen und existenzsichernden Kinder- kranken Eltern aufwachsen oder wenn sie über den Verlust grundsicherung engagieren. eines geliebten Menschen trauern. Die KSA-Ausgabe 2.2021 wird sich schwerpunktmäßig mit derartigen Krisen in Theorie Ich wünsche Ihnen und uns ein erfolgreiches und vor allem und Praxis befassen. Dazu wurden verschiedene DKSB Orts- gesundes Jahr 2021! verbände eingeladen, die jeweiligen Hintergründe und Auswir- Herzlich, kungen einer spezifischen Lebenslage zu erläutern sowie ihre Ihr Heinz Hilgers entsprechende Arbeit mit Kindern und Familien vorzustellen. Das Heft erscheint Mitte Mai 2021. Präsident 4 KSA 1.2021
Bundesverdienstkreuz 1. Klasse für Heinz Hilgers Unter ungewöhnlichen Umständen ist besondere Leistungen im politischen, wirt- keit, eine konsequentere Bekämpfung von DKSB-Präsident Heinz Hilgers am 28. Okto- schaftlichen, kulturellen, geistigen oder eh- Kinderarmut, für gewaltfreie Erziehung und ber 2020 mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse renamtlichen Bereich verliehen. Die Veran- für die Verbesserung der Lebensbedingun- des Verdienstordens der Bundesrepublik staltung fand Corona-bedingt in kleinstem gen von Kindern und Familien. Deshalb liegt Deutschland für sein langjähriges Engage- Rahmen statt. ihm auch die Verankerung der Kinderrechte ment für Kinder ausgezeichnet worden. Heinz Hilgers befindet sich heute in seinem im Grundgesetz so am Herzen. NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP, 28. Amtsjahr, er wurde 1993 Präsident des Bundesweit bekannt wurde Heinz Hilgers rechts im Bild) überreichte Heinz Hilgers in Kinderschutzbundes. In dieser Funktion en- als Erfinder des sogenannten „Dormagener Düsseldorf das Verdienstkreuz. Es wird für gagiert er sich seitdem für soziale Gerechtig- Modells“ mit frühen umfassenden Hilfe für Kinder und Familien sowie zum präventiven Schutz von Kindern. Ebenso gehört u.a. Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration | Foto_ S. Bersheim die Aufnahme des Rechts auf gewaltfreie Erziehung in das Bürgerliche Gesetzbuch zu seinen politischen Erfolgen. NRW-Familienminister Joachim Stamp beton- te bei der Verleihung: „Heinz Hilgers ist ein großer Kämpfer für die Kinder in Nordrhein- Westfalen und ganz Deutschland. Als starke Stimme für Kinderrechte und Kinderschutz besitzt er eine ausgewiesene Expertise, die in Politik und Gesellschaft eine hohe Anerken- nung erfährt. Für seinen unermüdlichen Ein- satz danke ich ihm im Namen des Bundes- präsidenten und der Landesregierung.“ Die KSA-Redaktion gratuliert Heinz Hilgers zu dieser ehrenvollen und ganz besonderen Auszeichnung. Wir sprechen sicher im Na- men des Gesamtverbandes: Diesen Orden hat er mehr als verdient! Die Redaktion KitaFachkräfte Vorlesen Blick in die Zukunft Warum nicht öfter? Kinder in Deutschland haben heute ab dem vollendeten ersten Le- Rund 32 Prozent der Eltern in Deutschland lesen ihren Kindern sel- bensjahr bis zum Schuleintritt einen Rechtsanspruch auf einen ten oder nie vor. Diese Zahl ist seit Jahren konstant. Daher fragte die Platz in der Kindertagesbetreuung. Für den Ausbau von Kitas, der jährliche Vorlesestudie im Jahr 2020 erstmals danach, warum das so diesen Rechtsanspruch erfüllt (und den Bedarf deckt), fehlen in West- ist. Dazu wurden Eltern von ein- bis sechsjährigen Kindern befragt, die deutschland aber in den nächsten vier Jahren je nach angenomme- ihrem Nachwuchs höchstens einmal in der Woche vorlesen. Hier eini- nem Szenarium bis zu 72.500 Kita-Fachkräfte. Dies zeigt eine neue Vo- ge Ergebnisse: rausberechnung durch den Forschungsverbund Deutsches Jugend- Knapp die Hälfte der Eltern liest nicht gern vor, weil sie glaubt, dabei institut/TU Dortmund. Danach stellt sich die Lage in den ostdeutschen schauspielern und die Kinder zum Zuhören zwingen zu müssen. Bundesländern völlig anders dar. Sofern die Ausbildungszahlen wei- Ebenfalls die Hälfte der Eltern gab an, sich zu erschöpft zum Vorle- terhin stabil und die aktuellen Personalschlüssel unverändert blei- sen zu fühlen und im Haushalt auch anderes zu tun zu haben. ben, werden dort deutlich mehr Fachkräfte ausgebildet, als für die Bil- Ein knappes Drittel ist davon überzeugt, dass das Kind gar nicht vor- dung, Betreuung und Erziehung von Kindern bis zum Schuleintritt gelesen bekommen möchte. benötigt werden. „In den ostdeutschen Ländern könnte daher eine In 68 % der befragten Haushalte besitzen die Kinder maximal nur Qualitätsoffensive gestartet werden, mit der die immer wieder kriti- zehn Bücher, der Vorlesestoff ist also knapp. In diesem Zusammen- sierten Personalschlüssel verbessert werden könnten“, schreibt die hang belegt die Studie auch, dass Buchgeschenke die Wahrschein- Autorengruppe in der Studie. Weiterhin könnten für künftige Einstei- lichkeit erhöhen würden, dass Eltern häufiger vorlesen. gerInnen in den Beruf Anreize geschaffen werden, dort zu arbeiten, Die Vorlesestudien erscheinen jährlich zum bundesweiten Vorlesetag wo Personal dringend gebraucht wird. Von einer Senkung der Ausbil- jeweils am dritten Freitag im November. Das ist ein gemeinsames dungskapazitäten rät die Autorengruppe hingegen ab. Projekt von DIE ZEIT, Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung. Quelle: jugendhilfeportal.de Quelle: stiftunglesen.de 5
TITEL- THEMA Foto: istock/Zoran Zeremski Mütter Der Mythos lebt Mütter – wie geht es ihnen heute? Wie sieht ihr Alltag aus und wie stark sind sie durch den Versuch belastet, Familie und Beruf zu vereinbaren? Haben Mütter Superkräfte, wie es manchmal so schön heißt? Ein bekannter Mama-Kanal auf Instagram Frauen habe sich in den letzten Jahrzehnten Kunst, die ArbeitgeberInnen, die Bürgerin zeigt uns täglich Bilder von Müttern, die selig stark verändert, sagt Schilling. Heute sind 73 und der Bürger. Alle bilden sich ihre Meinung, lächelnd ihre Kinder im Arm halten. Mit auf Prozent der Mütter in Deutschland erwerbstä- ihr Urteil. Die Auffassungen sind auch ge- den Bildern sind Zitate wie dieses: „Du kannst tig. Wenn aber zugleich die Väter weiterhin prägt von unseren Traditionen und unserer noch so schlecht drauf sein: Wenn dein Kind meist in Vollzeit aushäusig arbeiten – wer Kultur, von Büchern, Filmen, Fernsehsendun- lacht, ist die Welt in Ordnung.“ Tausende Müt- kümmert sich dann um Hausarbeit und Kin- gen, Werbung, Internet und jetzt eben auch ter folgen diesem Instagram-Kanal, liken die derbetreuung? Weil die meisten Familien eher durch Social-Media-Kanäle wie Instagram. Posts, meinen, sich in den Zitaten wiederzu- „traditionell“ leben, sind nach wie vor die Weil wir Menschen seit Urzeiten auf die Ge- finden. Aber bringt ein Kinder-Lächeln die Frauen zuständig für all das, was in den Be- meinschaft angewiesen sind, möchten wir Welt wirklich wieder in Ordnung? Es ist eine reich Familienarbeit fällt, so Anne Schilling. dazugehören. Der Ausschluss aus der Gruppe Welt, in der Frauen ein hohes Risiko tragen, im Und weil die Ansprüche der Gesellschaft stei- bedeutet für uns Gefahr sowie Einsamkeit Alter arm zu sein. Und in der sie für die unbe- gen, müssen Frauen mehr schaffen als vorher, und Isolation. Deshalb tun wir alles, um Teil zahlte Arbeit zuständig sind: Weltweit leisten lautet ihr Befund am 9. November 2020 in der der Gruppe zu bleiben. Für Mädchen und Frauen und Mädchen den Großteil der Haus-, Reportage „Mütter, Väter, Kinder im Stress“ Frauen heißt das, die Erwartungen der ande- Pflege- und Fürsorgearbeit – laut einer Ox- (nachzuschauen in der ARD Mediathek). ren zu erfüllen. So sollen sie Atmosphäre fam-Studie genau genommen 12,5 Milliar- schaffen, Streit schlichten, nachgiebig, liebe- den Stunden pro Tag. MUTTERSCHAFT ALS voll und achtsam sein – für die Bedürfnisse Kein Wunder, dass Frauen erschöpft sind. Laut ÖFFENTLICHE ANGELEGENHEIT anderer. Die Zwillinge Emily und Amelia Na- der Geschäftsführerin des Müttergenesungs- Warum erwartet die Gesellschaft so viel von goski, Psychologin und Dirigentin von Beruf, werks, Anne Schilling, haben fast 80 Prozent Müttern? Die Gesellschaft – das sind wir alle: schreiben in ihrem Buch „Stress“, dass Frauen der Mütter allein in Deutschland Gesundheits- Angehörige, Freundes- und Kollegenkreise, in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft störungen, von zahlreichen Erschöpfungssyn- Erziehende in der Kita, Lehrkräfte, Kinder- als „human givers“ sozialisiert werden, um die dromen bis hin zum Burnout. Der Alltag von schützerInnen, die Wissenschaft, Politik und dominierenden „human beings“ zufrieden- 6 KSA 1.2021
Foto: istock/freemixer zustellen. Deshalb wird von ihnen erwartet, Mütter werden heute nicht nur gefragt, ob „jederzeit hübsch, ausgeglichen, großzügig und wann sie an ihren Arbeitsplatz zurück- und aufmerksam gegenüber den Bedürfnis- kehren, sondern auch, wieso sie es so früh sen anderer zu sein“. (Kösel-Verlag 2019) tun, obwohl das Baby doch noch so jung ist. Möglicherweise ist auch die Schwiegermutter MÜTTER AM LIMIT darüber erschrocken, dass nun sogar der eige- Wenn Frauen Mütter werden, steigen die An- ne Sohn sich zu Hause so viel kümmern muss. sprüche noch, denn wir haben kulturell be- Das schlechte Gewissen von Frauen, die nicht dingt ein besonders starkes mythisches Mut- der traditionellen Rolle entsprechen wollen terbild im Kopf. Was eine Mutter ausmacht, (oder es aus finanziellen Gründen nicht kön- wie stark ihre Liebe zu den Kindern sein muss, nen), ist groß, der Druck hoch und die Belas- welche Aufgaben sie zu erfüllen hat – bei die- tung permanent. Und dann schleicht sich ei- sen Fragen möchten alle Menschen mitre- nes Tages ein Zitat in den Social-Media-Kanal, den, und das merken junge Mütter schnell. der es für selbstverständlich hält, dass der „Mama-Job“ das größte Glück auf Erden ist Mit der Familiengründung geht für Frauen die und gute Mütter für die Kleinen imstande sind, Kümmer-Arbeit erst so richtig los, weil unsere über jede ihrer Grenzen zu gehen. Doch mit Gesellschaft Müttern nach „guter“ alter Tradi- solchen Aussagen kolportieren diese Mütter- tion die Verantwortung für Haushalt, Kinder- betreuung und Familienorganisation zuord- net. So fügen sich auch moderne Frauen oft kanäle Ansichten aus dem Mittelalter. HISTORIE EINES ÜBERHÖHTEN 34% aller 25-jährigen Söhne lebten 2019 in Deutsch- land noch bei ihren Eltern – und 21 % der dem Mythos Mama. Selbst wenn immer mehr MUTTERBILDES Töchter. Mit 30 Jahren wohnten immerhin Väter bereit sind, die Verantwortung für den Der Mutter-Mythos hat weit zurückreichende noch 13 % der Söhne als lediges Kind im Haushalt, das Kind und die Alltagsorganisati- Wurzeln. Schon die Jungfrau Maria mit dem Elternhaushalt, jedoch nur 5 % der Töchter. on mitzutragen, brauchen Frauen jede Menge Kind, insbesondere ab dem 13. Jahrhundert Spekulationen darüber, wer sie haupt- Selbstbewusstsein, um sich gegen äußere hundertfach künstlerisch auf Leinwand ge- sächlich (mit)versorgt, für sie kocht, ihre Einflüsse zu wehren. Die Gefahr, nicht den An- bannt, prägte das Urbild der selbstlos lieben- Wäsche macht und den Haushalt putzt, sprüchen zu genügen und damit zur Außen- den, aufopferungsvollen Mutter mit. Im 16. verbieten sich. Die Statistik sagt darüber seiterin der Gruppe zu werden, ist groß. Be- Jahrhundert war es in einer von Landwirt- nichts…. Wir wissen nur: Beim Auszug aus sonders unter Müttern herrscht zusätzlich ei- schaft geprägten Kultur zwar normal, dass ne Art Gruppenzwang und die Pflicht, sich op- auch Frauen die Felder bewirtschafteten und dem Elternhaus war ein Kind im Jahr 2019 timal zu verhalten. Lange stillen, den Babybrei die Kinder von Großeltern, Geschwistern, Ern- durchschnittlich 23,7 Jahre alt. selbst kochen, das Kind so oft es geht am Kör- tehilfen betreut wurden oder sich selbst www.destatis.de per tragen, jederzeit eigene Bedürfnisse hin- überlassen blieben. Aber dann schrieb der ter die des Kindes zurückstellen – all das ge- Reformator Martin Luther 1522 seine Schrif- den Müttern dann auch noch die Verantwor- hört heute dazu. Dass es viele Mütter an die ten über die Ehe und begründete damit quasi tung für die kindliche Entwicklung und Psy- Grenzen ihrer Kraft bringt, scheint hinnehm- die weibliche Bestimmung als Hausfrau und che zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde bar. Schließlich macht ein Kinderlächeln doch Mutter. Über 200 Jahre später wies der Auf- diese Verantwortungszuweisung durch Anna alles wieder gut, oder? klärer und Philosoph Jean Jaques Rousseau Freud, Tochter von Sigmund Freud, selbst Psy- choanalytikerin, Entdeckerin des Verdrän- gungsmusters und Begründerin der Kinder- psychoanalyse, aufgegriffen und noch ze- Foto: istock/Maria Argutinskaya mentiert. Bereits zuvor, im Nationalsozialismus, war die Mutter als bedeutsam erschienen, allerdings in unerträglich anderer Weise: nämlich haupt- sächlich in der Rolle als Erhalterin der „ari- schen Rasse“. Die „deutsche Mutter“ wurde völlig in den Dienst der politischen Ideolo- gie gestellt und sollte möglichst viele „rein- rassige“ Kinder gebären, am besten Söhne. Dann wurde sie glorifiziert und mit dem un- säglichen Mutterkreuz ausgezeichnet. Was ihre sonstige Rolle daheim anbelangte, so haben die Nazis die Mutter nicht neu erfun- den, sondern blieben dem traditionellen Bild verhaftet. In den 1950er Jahren wurde weiter am My- thos Mutter gestrickt, zumindest in der BRD. Anders als in der DDR sah die westdeutsche 7
Foto: istock/onebluelight Neue Väter nerschaftliche Teilung der Erwerbs- und Fa- VIELE milienarbeit ist neben dem persönlichen Wil- len eben auch eine Frage des auskömmlichen Familieneinkommens. So bleiben Frauen konfrontiert mit den unter- schiedlichen, teils widersprüchlichen Bot- schaften. Einerseits moderne, feministische Einflüsse, die Hoffnung verheißen und Frau- Entdeckt, untersucht, en einen Ausblick auf eine gleichberechtigte beforscht, begutachtet, Welt geben, andererseits das Aufrechterhal- ten von tradierten Rollenbildern. bewertet – seit vielen Jahren wird über „neue Väter“ ge- EIN HOFFNUNGSSCHIMMER schrieben. Kein Institut, das Vor ein paar Jahren hat sich auch ein namhaf- ter Supermarkt für seine Werbung zum Mut- keine Studie zu ihnen hätte, tertag beim Mama-Mythos bedient. Im Spot kaum ein Soziologe (in nur war ein inkompetenter Vater nicht in der Lage, männlicher Schreibform!), seiner Tochter die Haare zu kämmen oder den Kindern Essen zu machen. „Danke, Mama, der sich nicht zu ihnen dass es dich gibt, denn zuhause bist du ein- geäußert hat. Aber gibt es fach unersetzlich“, lautete die fatale Botschaft. den „neuen Vater“ wirklich? Politik die Frau ausschließlich in der Rolle an Muttermythen sowie Märchen über inkompe- Heim und Herd. Die Alleinverdiener-Ehe wur- tente Väter sorgen dafür, dass sich Frauen wei- Oder ist er nur ein de staatlich gefördert, Kinderbetreuung und terhin aufreiben und auch psychisch belastet Phantom? Und wie blicken Erziehung für Privatsache von Eltern bzw. sind – und Männern die Fähigkeit abgespro- Väter auf Mütter? Müttern gehalten. Folgerichtig verzichtete chen wird, sich ebenso liebevoll um die Kinder man hier auf die Ausweitung von außerfami- kümmern zu können. liären Kinderbetreuungsnetzen. Der Shitstorm, der auf den erwähnten Wer- Diese Entscheidungen beeinflussen unser Le- befilm folgte, macht Hoffnung darauf, dass ben bis heute. Im Unterschied zu anderen eu- wir so langsam auf einem besseren Weg ropäischen Ländern hat sich insbesondere in sind. Und unsere Kinder einmal anders le- den westlichen deutschen Bundesländern ei- ben können, fernab von stereotypen Rollen- ne gewisse Skepsis gegenüber der außerfa- bildern und Mythen. Unsere Töchter sollen miliären Kinderbetreuung gehalten. Immer sich entscheiden dürfen, ob sie Mutter wer- noch glauben einige Eltern, ihrem Nach- den möchten. Und wenn sie es sind, können wuchs etwas Gutes zu tun, wenn sie ihn so sie hoffentlich ihre eigenen Bedürfnisse im spät wie möglich und nur so lange wie nötig Blick behalten. Ein Kinderlachen ist unglaub- „in fremde Hände“ geben. Ist es da ein Wun- lich erfüllend, aber es reicht eben nicht aus. der, dass die anfänglich erwähnten Zitate auf Mütter brauchen mehr als ein Lächeln und ei- Instagram beklatscht werden? nen Dank am Muttertag: Sie brauchen Unter- stützung im Alltag, Partner, die Familienarbeit DIE LATTE LIEGT HOCH mittragen wollen, und eine Gesellschaft, die Die Ansprüche an Mütter sind vielfältig und willens ist, den Mythos Mama endlich aus ih- teils widersprüchlich. Denn Mütter sollen rer Kultur zu verbannen. heute nicht nur mütterlich, sondern auch als Laura Fröhlich, Journalistin, Autorin Frau attraktiv sein. Sie sollen Wert auf nach- des Buches „Die Frau fürs Leben ist haltig hergestellte Nahrungsmittel legen nicht das Mädchen für alles“ (Kösel- und gesund kochen, aber finanziell auch un- Verlag, 2020), Gründerin des Blogs abhängig und berufstätig sein. Zumindest www.heuteistmusik.de Letzteres ist ein großer Fortschritt, denn 59% Frauen sind aufgrund zahlreicher Jahre, die aller Elternpaare sie mit unbezahlter Haus- und Fürsorgear- in Deutschland mit beit verbringen, stärker von Altersarmut be- droht als Männer. Aber wie sollen sie ihren unter 15-jährigen Kindern haben Beruf nicht aus den Augen verlieren und ge- auch während der Corona-Krise im nug Geld fürs Alter sparen, wenn sich zuhau- Frühjahr 2020 die Kinderbetreuung se die Arbeit türmt? Immer noch tun sich nicht anders aufgeteilt als vorher: Männer schwer, ihre Erwerbsarbeit für die Die Haupt- und Mehrlast blieb Familie zu reduzieren, viele Familien könnten mehrheitlich bei den Müttern. sich das finanziell auch gar nicht leisten. Part- (u.a. IfD Allensbach) 8 KSA 1.2021
Barrieren im Weg Elternabend gestern in der westdeutschen anders gemacht als mein Vater, ich wollte vor- diglich in den individuellen Familienraum ab- Kita Sonnenstern – und wie immer nur ein ne mit dabei sein, wenn es ums Wickeln, Ba- gewälzt wird und auf diese Weise ungelöst einziger Mann in der Runde. Daniel. Lassen den, Kuscheln, Füttern, Vorlesen geht. Oh bleibt. wir ihn selbst erzählen: Mann, das ist vielleicht ein schönes Gefühl! Nur Geschlechterrealität und elterliche Rollen- das mit dem Anziehen der Kids bzw. die Aus- verteilung sind immer auch eine gesell- Da haben mich meine Geschlechtsgenossen wahl der richtigen Farbkombination der Kla- schaftliche Wirklichkeit. In ihr spiegelt sich mal wieder schnöde im Stich gelassen. Erst motten – das kriege ich irgendwie nicht hin. das, was die Allgemeinheit für richtig hält – große Papa-Töne spucken und dann kneifen. Zumindest sagt das meine Frau. ob sie das nun offen zugibt oder als heimli- Da hockte ich also, von links bedacht mit mit- Ansonsten können wir „neuen“ Väter bis auf ches Curriculum verfolgt. In unserem Fall leidigen Blicken und von rechts … jedenfalls das Stillen heute eigentlich alles. Wenn auch sind die zu Recht konstatierte Geschlechter- so, als hätte ich hier nichts zu suchen. Das war manchmal nicht gut genug. Brei zu pampig, ungerechtigkeit und die systematische Be- womöglich schon immer so, die Kitas sind fest Klamotten zu bunt, Badewasser zu voll, Fläsch- nachteiligung von Frauen und Müttern das in weiblicher Hand. chenhaltung zu schräg. Wir haben es halt nicht Spiegelbild eines sehr konservativen und mit Früher sind Väter bestenfalls kurz mit dem Kin- leicht im doch noch sehr nach alten Mustern Mythen behafteten Rollenbildes, das in derwagen durch die Gegend geschoben, ha- gestrickten Alltag der geschlechtsspezifischen Deutschland nach wie vor dominiert – im ben abends mal vorgelesen und am Wochen- Rollenverteilung. Nehmen wir nur mal die El- Westen noch viel stärker als im Osten. Gegen ende auch zweimal. Sie haben sich die Sahne ternzeit: Ein Freund von mir, bodenständiger diese geschlechtsspezifische Rollenzuwei- aus dem Kuchen der Kinderbetreuungsarbeit Handwerker, hat mal länger als die üblichen sungen wird weder substantiell noch effektiv gegriffen. Wenn überhaupt. Nun, ich hab´ s zwei Monate Elternzeit genommen. Das macht Politik gemacht – eben, weil man(n) es nicht der nie wieder! Die hämischen Bemerkungen will. Zu bequem sind die verteilten „Zustän- Foto: shutterstock/Master1305 der Kollegen waren das eine, das andere war digkeiten“, zu eingefahren und in den Struk- die Arbeitszuteilung frei nach dem Motto: „So, turen zementiert. so, Du brauchst mehr Zeit für die Familie. Okay Diese sozialen Rollen sind nicht wie Obst vom – aber dann können wir Dich leider nicht mehr Baum der Erkenntnis gefallen, sondern es überall einsetzen.“ Die spannenden Aufgaben handelt sich um über Jahrzehnte/Jahrhun- kriegten fortan andere. derte gewachsene, gesellschaftlich konstru- Soviel von Daniel. ierte, komplexe Handlungs- und Verhaltens- muster, in die Mann und Frau, Mutter und Va- Nun tun wir Väter schon, was wir können, ha- ter „hineinsozialisiert“ werden. ben uns in den letzten Jahrzehnten derartig Da können wir Väter uns noch so sehr recken verändert, dass einige Geschlechtsgenossen und strecken, das gar nicht so „Neue“ in uns – gar meinen, ihre Würde als Mann zu verlie- unser kindgerichtetes Interesse und Engage- ren. Und werden dafür auch noch schräg an- ment sowie unsere Freude an und mit den gesehen. Am Arbeitsplatz, auf dem Spiel- Kindern – darf sich nicht voll entfalten. Es sind platz und zuweilen auch von der Mutter un- die strukturellen Widerstände, die zu mächtig serer Kinder. Im häuslichen Konflikt um „an- dagegenstehen – und keineswegs die Mütter gestammte“ Aufgaben, veränderte Zustän- unserer Kinder. Solange aber nicht alle Teile digkeiten und erwünschte Erziehungswerte der Gesellschaft mehrheitlich anerkennen so- gibt es dann eher Zoff als Lösung, eher Krach wie finanziell, rechtlich und auch normativ un- als leise Töne, eher Konkurrenz als gelingen- terstützen wollen, dass beide Elternteile für des Miteinander. das Kind wichtig sind, wird sich substanziell Damit sind wir im Kern der Problematik: Den kaum etwas ändern. Dazu nochmal Daniel: „neuen“ Vater gibt es nicht – jedenfalls nicht ohne die „neue“ Mutter. Das ist aber nur die Das mit dem „neuen Vater“ ist doch reiner Fa- Symptomebene. Denn tatsächlich können ke. Ich jedenfalls mag mich nicht mehr länger weder Väter noch Mütter „neu“ (und wirklich instrumentalisieren lassen und mit der Mutter frei) handeln ohne „neue“ (gerechtere) Ge- meiner Kinder einen aussichtslosen Stellver- schlechterverhältnisse, eine „neue“ (die Be- treterkrieg für die Verhältnisse führen. Da wid- dürfnisse des Kindes berücksichtigende) Fa- me ich mich lieber meiner Familie, wie wir es milienpolitik etc. mögen. Vor allem mit gegenseitigem Vertrau- In diesem Sinne verbirgt sich hinter dem holz- en. Und das ist mit den Jahren und der Kinder- schnittartigen Etikett „neuer Vater“ eine viel zahl in unserer Familie gewachsen. komplexere strukturelle Problematik, die le- Martin Stahlmann, Redaktion 9
Tschüss bis nächste Woche! Cafe Kinderwagen Fotos (3.): OV Holzminden Tropfnass vom November- regen stehen einige Kinder- wagen und Buggys im großen Flur des Familien- zentrums „Drehscheibe“. Der kleine Fahrstuhl hat sie in den 2. Stock der ehe- maligen Grundschule ins „Cafe Kinderwagen“ des KV Holzminden gebracht. Das lädt schwangere Frauen und Eltern mit Kindern bis drei Jahren einmal wöchentlich kostenfrei ein und ist damit quasi eine „Krabbelgruppe“. 56% Das Angebot war im Juli 2014 von den „Frü- wie in vielen alten Schulen mit typischem Li- aller vier Monate hen Hilfen Niedersachsen“ initiiert und an- noleumboden bestückt. Heute leitet Alexan- alten Babys wurden schließend gefördert worden. Als unser Kreis- dra die Gruppe. Sie hat feste Turnmatten aus- verband Holzminden es als Träger übernahm, gelegt, damit die Kleinen warm darauf liegen 2019 in Deutschland von ihren bestand es an drei Standorten in unserem und ihre Mütter halbwegs weich sitzen kön- Müttern noch voll gestillt. Am Ende Landkreis. nen. An der Wand stehen einige stapelbare ihres ersten Lebensjahres erhielten Ab dem Jahr 2017 waren also unser Vorstand Holzhocker und bunte Stühle für die Erwach- immer noch 41% aller Säuglinge und ich für die Organisation und pädagogi- senen parat. Neben der Tür hängt ein manns- neben der Beikost die mütterliche sche Betreuung zuständig. Seitdem hat sich hoher Spiegel, gegenüber den großen Fens- Brust. (SuSe-II-Studie, 2020, dge) einiges verändert: Wir konnten drei weitere tern lädt ein kleines Bällebad zum Spielen ein. „Cafe Kinderwagen“ eröffnen! An allen sechs Auf dem Tisch warten Kaffee, Tee oder Wasser weit sie Einblick in ihr Leben gewähren möch- Standorten befinden wir uns in Familienzen- sowie kleine Knabbereien auf die Teilnehme- ten, bestimmen sie aber selbst. Gedrängt wird tren und Mehrgenerationenhäuser, verteilt rinnen, sie bedienen sich einfach selbst. hier niemand! über den gesamten Landkreis Holzminden. Über die mitterweile sechs Jahre gemeinsa- Das Bundesprogramm „Kita-Einstieg, Brücken Im „Cafe Kinderwagen“ sind wir alle „per Du“ mer Treffen haben sich einige Freundschaf- bauen in frühe Bildung“ sowie der Landkreis und jeder Gast, ob klein oder groß, wird per- ten unter den Eltern herausgebildet, die sie und die einzelnen Gemeinden fördern unsere sönlich begrüßt. Es ist wichtig, jede Mutter durchweg als Bereicherung erleben. Auf die- sechs Standorte finanziell. anzusprechen, willkommen zu heißen und se Weise können insbesondere zugezogene so auch zurückhaltenden Besucherinnen den Familien durch das „Cafe Kinderwagen“ neue Mittlerweile ist unser Team dreiköpfig, denn Kontakt zu erleichtern! Bei Bedarf unterstüt- Kontakte knüpfen und schneller am neuen Alexandra Pleace und Patricia Kaspereit sind zen uns Sprachmittlerinnen. Wohnort ankommen. hinzugekommen. Jede von uns betreut eine Einige Mütter haben soeben Spielsachen aus Gruppe oder auch mehrere an festen Tagen. Schon bald entsteht heute eine entspannte dem angrenzenden Lagerraum geholt – Wir haben nicht nur als Erzieherinnen oder Atmosphäre. Kleine Gespräche schwirren Rutscheautos, Ballonbälle, große Bauklötze Heilerziehungspflegerinnen, sondern auch durch den Raum, es werden aber auch Pro- aus Weichschaum, Greiflinge. Alexandra baut als Mütter viel Erfahrung mit den Themen, bleme angesprochen: die ewigen nächtli- nun das Highlight der älteren Kinder auf: ein die Familien und insbesondere die Mamas so chen Schlafunterbrechungen zum Beispiel, kleines Klettergerüst mit Rutsche. Viele ken- umtreiben! die Müttern mit Babys zu schaffen machen, nen das schon und sind bereits hibbelig, Es ist 10 Uhr. Im „Gelben Raum“ krabbeln eini- oder die Eifersucht eines älteren Kindes auf denn gleich, ja gleich geht´s los! ge Kinder umher oder liegen noch in ihren Ba- das jüngere. Das ist auch Ziel unserer pädago- Nach und nach sind acht Mütter mit Kind byschalen. Manche schlafen, andere sind hell- gischen Arbeit: diese Atmosphäre zu schaffen, oder Kindern im „Gelben Raum“ eingetru- wach. Der freundliche quadratische Raum ist in der sich Mütter trauen, sich zu öffnen. Wie delt. Weil unsere Gruppen jeder ohne Anmel- 10 KSA 1.2021
bewegen nicht nur Fragen zur Entwicklung der Kinder, zum Schlaf oder zum Stillen, son- dern vielfach belasten sie auch Situationen, die sie innerhalb oder außerhalb ihrer Famili- en erleben. Wenn sie uns davon berichten und dann durch ihr Vertrauen zu uns z.B. Kontakte zum Jugendamt oder zu anderen Hilfsangeboten zulassen können, dann ist das auch ein Erfolg vom „Cafe Kinderwagen“. Ebenso freuen wir drei Fachkräfte uns als Gastgeberinnen, wenn für die Mütter und die Kinder nach unserer längeren gemeinsa- men Zeit im „Cafe Kinderwagen“ nun in der Kita ein neuer Lebensabschnitt beginnt und sie sich herzlich für unsere Unterstützung be- danken. Manchmal ist dieser Abschied nur für eine gewisse Weile – bis das nächste Kind unterwegs ist! dung offenstehen, wissen wir vorher nie, wie- bieten. Die liebevoll geführten Büchereien Im „Gelben Raum“ beginnen jetzt einige Kin- viele kommen werden. Selten bleiben wir im Landkreis wiederum haben unsere Grup- der zu quengeln. Ein untrügliches Zeichen ganz ohne Gäste, viele Mal ist die Runde pen gern zu einem literarischen Ausflug z.B. dafür, dass das Treffen heute zu Ende geht – auch recht groß. Im Jahr 2019 haben durch- in die Welt der Kinderbücher zu Gast. aber nicht ohne unser Abschiedslied! Die schnittlich 35 Eltern das „Cafe Kinderwagen“ Heute hält Kinderkrankenschwester Anette Kleinen lieben dieses Ritual und tanzen mit. jede Woche besucht. Das sind über 1.600 Schürzeberg ihre „Sprechstunde“ bei uns Danach wuselt alles durcheinander, Babys Kontakte im Jahr – und die Kinder sind da über sanfte Hausmittel ab, die bei Erkältung werden dick eingepackt, das Spielzeug in die noch nicht eingerechnet! und Fieber bei Kleinkindern eingesetzt wer- Regale zurückgeordnet und der kleine Fahr- den können. Monatlich präsentieren sie und stuhl am Haus wieder gerufen. Tschüss bis Heute hat sich eine Gruppe aus „Stammbesu- ihre Kollegin im Projekt, Inna Kapitza, neue nächste Woche! Oder vielleicht auch schon cherinnen“ eingefunden, die oft oder man- Themen. Nun sitzen alle Mütter im offenen morgen an einem anderen Standort des„Cafe che sogar mehrmals in der Woche das Ange- Kreis auf den Matten, Hockern oder Stühlen. Kinderwagen“. bot wahrnehmen. Sie haben viele Fragen Einige haben ihre Babys auf dem Schoß, Carmen Zünkler, Erzieherin, mitgebracht, die sie jetzt Anette Schürze- während sie der Kinderkrankenschwester zu- KV Holzminden berg stellen. Die Kinderkrankenschwester hören. Ein paar Kinder laufen zwischen den aus dem örtlichen Krankenhaus hält nämlich Erwachsenen herum, wollen unbedingt rut- zweimal im Monat eine „Sprechstunde“ bei schen. Mütter reichen ihnen eine stützende uns ab, die von den „Frühen Hilfen Nieder- Hand, während sie mit aufmerksamem Ohr sachsen“ im Landkreis Holzminden geför- bei unserem Tagesthema bleiben. Die Kin- dert wird. derkrankenschwester beantwortet viele Fra- Darüber hinaus bieten wir unseren Gästen gen, berichtet von ihren Erfahrungen und zwischen September und Mai immer ein viel- gibt auch praktischen Rat zu einem leichten fältiges Programm: die Infovormittage im Ausschlag, der sich bei einem kleinen Mäd- „Cafe Kinderwagen“ zum Beispiel. Sie wer- chen heute zeigt. Die eineinhalb Stunden für den von mir zusammengestellt und an unse- das Treffen vergehen viel zu schnell. ren verschiedenen Standorten durch Refera- te und Beratungen zu speziellen Themen er- Die meisten unserer Gruppentreffen kom- gänzt. Regelmäßig und seit Anbeginn laden men aber ohne jedes Thema aus. Unsere Gäs- wir z.B. verschiedene Fachkräfte der Erzie- te, meist Mütter und selten Väter, manchmal hungsberatungsstelle des Landkreises sowie auch Großeltern, Tagesmütter oder Familien- Expertinnen/Experten von der Frühförde- hebammen mit ihren Klientinnen, sind dann rung ein, denn an Fragen zur Entwicklung des in lockeren Runden entspannt zusammen. Kindes sind unsere Gruppen immer sehr in- Die Kinder spielen, Babys werden gestillt, ei- teressiert! Darüber hinaus gibt die Beraterin ne gute Tasse Kaffee wird genossen. An sol- der AWO ihnen Orientierung zu Eltern-Kind- chen Tagen entstehen zwischen uns Kinder- Kuren, die Beraterin der AOK widmet sich schützerinnen und einzelnen Frauen häufig Themen rund um Ernährung und Bewegung, intensive Gespräche. Oft können wir dann die Offene Sprachberatung der Lebenshilfe mit einem Tipp, mit einem anderen Blick auf gibt Tipps zur Sprachförderung. Sehr beliebt die geschilderte Situation oder auch mit bei unseren Eltern ist der „Erste-Hilfe-am- ganz konkreter Unterstützung z.B. durch ei- Kind-Schnupperkurs“, den die Johanniter an- nen Anruf beim Amt helfen. Denn die Mütter 11
Foto: istock/CasarsaGuru Vielfalt erwünscht! Familie „Ein Kind braucht seine Sicherlich stimmen Sie mir zu: Die Bezugsper- son eines Kindes erbringt immense Leistun- gen. Sie nährt das Kind emotional, körperlich, 2,2 Mio. Mütter waren im Jahr 2019 in Deutschland seelisch und geistig. Sie nimmt sich Zeit, gibt Mutter“ – das ist auch alleinerziehend. Sie führen mit Ab- dem Kind Raum und Basis für seine Entwick- heute noch ein oft gehörter lung. Sie begleitet, betreut, stärkt, schützt stand die Liste armutsgefährdeter Satz. Welche Vorstellungen und tröstet es. Sie lacht mit ihm, bastelt seine Haushalte an: Ihr Risiko liegt bei etwa Schultüte, singt es in den Schlaf und setzt sich 43 Prozent. Auf Platz 2 der traurigen stecken dahinter? Gefährdungstabelle stehen Paar- am Kindergeburtstag sogar eine rote Nase Nach Beobachtungen von auf, wenn es sein muss. Die Bezugsperson ist familien mit drei oder mehr Kindern Ekin Deligöz fällt dieser Satz liebevoll, empathisch, verständnisreich, fein- (fast 32 Prozent Risiko). bpd.de fühlig und in verlässlicher Beziehung zum meistens dann, wenn Fragen Kind, damit es sich jederzeit stark, sicher, ver- sönlichkeit entfalten und Schutz, Verständnis um die Vereinbarkeit von trauensvoll und geborgen fühlen kann. Um und verlässliche Beziehungen finden. In die- Familie und Beruf, um das dem Kind all das zu geben, nimmt sich die Be- sem Sinne kann Familie in vielen Konstellatio- zugsperson oft selbst stark zurück. nen gelebt werden. Sie hängt weder von der Sorgerecht oder um Regen- Unsere Gesellschaft bezeichnet all diese Ei- biologischen Verwandtschaft noch vom Ge- bogenfamilien gesellschaft- genschaften als „mütterlich“. Sie irrt jedoch schlecht der Bezugsperson ab. lich zur Debatte stehen. Für aus meiner Sicht, wenn sie glaubt, dass nur ei- Wir haben uns ganz bewusst dafür entschie- ne Mutter in dieser Weise Verantwortung den, Familie so zu beschreiben und damit komplexe Probleme werden übernehmen kann. Ein Kind braucht eine fes- vom Kind aus zu denken. Zudem sehen wir je- oft schnelle und einfache te Bezugsperson, das ist mit dem obigen Satz den Tag in unserer praktischen Arbeit vor Ort, Lösungen gewünscht – und eigentlich gemeint. In Deutschland sind das wie vielfältig Familie gelebt wird, wie ver- in der Regel tatsächlich die Mütter. Sie müs- schieden Beziehungen in ihr sein können und der Satz „Ein Kind braucht sen es aber nicht sein. dass ein glückliches, geborgenes Aufwach- seine Mutter“ scheint sie Vor einigen Jahren hat sich der Kinderschutz- sen in diversen Konstellationen möglich ist – zu bieten. bund ein Leitbild gegeben. Darin formulieren solange sie stabil und verlässlich sind. wir unsere Vorstellungen davon, was Kinder Eine dieser Konstellationen ist die alleiner- in Familien brauchen und wie Familie gelin- ziehende Familie. Nackte Zahlen zeigen ihre gen kann: Familie in all ihren Erscheinungs- Realität in Deutschland: 90 Prozent der al- formen ist der Raum, in dem Kinder ihre Per- leinerziehenden Eltern sind Frauen. Frauen 12 KSA 1.2021
Rund verrichten im Durchschnitt 52 Prozent mehr Sorge- und Familienarbeit als Männer. In der ein Drittel aller Mütter (32,4 %) mit zwei minderjäh- Erwerbsarbeit werden Frauen in der Regel rigen Kindern haben in Ostdeutschland (inkl. Berlin) im schlechter bezahlt als Männer, sie sind selte- Jahr 2019 in Vollzeit gearbeitet, ein gutes weiteres Drittel in Teilzeit. In West- ner in gut bezahlten Führungspositionen ver- deutschland gingen dagegen nur 13,4 Prozent Mütter mit zwei Kindern unter treten und arbeiten auch öfter in Teilzeit als 18 Jahren einer Vollzeitbeschäftigung nach. Knapp die Hälfte aller zweifachen Männer. Mütter arbeiteten hier in Teilzeit (49,6 %). Jede fünfte Mutter mit drei oder So kommt es, dass Kinder vor allem für Frauen mehr minderjährigen Kindern arbeitet in Ostdeutschland immerhin noch ein Armutsrisiko darstellen. Sie sind es, die in Vollzeit, in Westdeutschland sind das lediglich gut 8 Prozent. der Regel länger aus ihrem Job aussteigen. Auch mit „nur“ einem Kind arbeiten mehr ostdeutsche Mütter in Vollzeit Sie sind es, die nach der Scheidung das Fami- (39 %) als westdeutsche Mütter (20 %). Insbesondere zeigt die Statistik in lienleben allein organisieren und oft auch al- Sachen Erwerbsbeteiligung und Arbeitszeitumfang auch einen deutlichen lein finanzieren. Sie sind es, von denen Politik Unterschied zwischen ost- und westdeutschen Müttern mit Kindern unter und Gesellschaft erwarten, trotz dieser Mehr- fachbelastungen möglichst schnell wieder in drei Jahren. Und weitere zwei Punkte weist sie nach: 1. Wenn Mutterschaft die Erwerbsarbeit zurückzukehren. Nüchtern wie so häufig zur Abnahme der Erwerbsbeteiligung führt, so arbeiten die betrachtet hat frau die Wahl zwischen zwei Väter umso mehr. 2. In Ost- und Westdeutschland sind Mütter gleicher- inakzeptablen Möglichkeiten: als vollzeitar- maßen überwiegend in Teilzeit beschäftigt. beitende Mutter noch zusätzlich die Familien- www.sozialpolitik-aktuell.de, Institut Arbeit und Qualifikation der Universität arbeit zu stemmen und dabei weder dem Be- Duisburg-Essen, abbIV20, nach: Statistisches Bundesamt (2020) ruf noch der Familie gerecht werden zu kön- nen – oder als teilzeitarbeitende bzw. nicht er- 61% weniger Geld Foto: istock/IRYNA KAZLOVA werbstätige Mutter ein hohes Armutsrisiko in Kauf zu nehmen. als im letzten Jahr In der politischen Lobbyarbeit setzt sich der vor der Geburt des ersten Kindes ver- DKSB deshalb dafür ein, dass Menschen wirk- dienen Mütter in Deutschland auch liche Wahlfreiheit haben. Dafür ist die Freiheit noch zehn Jahre nach der Geburt. von finanziellen Ängsten eine notwendige Das belegt die Studie „Child Panal- Voraussetzung. Unsere politische Forderung ties” in einem internationalen Ver- nach einer unbürokratischen und existenzsi- gleich. Die Bertelsmann Stiftung chernden Kindergrundsicherung ist also wiederum hat die Verdiensteinbußen nicht nur ein Instrument zur Bekämpfung der von Müttern auf ihr gesamtes Kinderarmut, sondern hat auch das Potenzial, Erwerbsleben hochgerechnet. Die Entscheidungen über Lebensmodelle in Fa- milien freier zu machen. Entscheidung für ein Kind kostet Ich wünsche mir, dass in einer kindgerechten Mütter im Vergleich zu kinderlosen Gesellschaft Familie so gelebt werden kann, Frauen durchschnittlichen 40 Prozent wie es den Bedürfnissen aller Familienmit- weniger Lebenserwerbseinkommen. glieder entspricht. Manches Kind fremdelt Bei Müttern mit drei oder mehr noch mit vier Jahren mit dem Trubel und der Kindern liegt die Einbuße bei nahezu Geräuschkulisse in einer durchschnittlichen 70 Prozent. Kita und fühlt sich daheim sicherer, andere Henrik Klevens u.a.: Child Penalties Across langweilen sich bereits mit ein oder zwei Jah- Countries: Evidence and Explanations, März 2019 ren zu Hause und fühlen sich in einer Kinder- www.bertelsmann-stiftung.de/de/ einrichtung pudelwohl. Viele Väter würden unsere-projekte/beschaeftigung-im- gern mehr Familienarbeit leisten und dafür wandel/projektnachrichten/kurzexpertise- auf Teilzeit gehen, aber dann würde der Fami- frauen-auf-dem-deutschen-arbeitsmarkt lie Einkommen fehlen. Viele Mütter möchten stärker erwerbstätig sein – und viele alleiner- 1,41 Mio. ziehende Eltern würden gern weniger arbei- Frauen haben im Jahr 2019 Elterngeld ten, als sie müssen. bezogen (und knapp 456.000 Männer). Im Jahr 2021 gibt es genügend Erwerbsarbeit Die durchschnittliche monatliche Auszahlungshöhe betrug 852 Euro – und genügend Familienarbeit – beides ist nur sehr ungleich verteilt. Hier für Veränderung wobei Männer durchschnittlich 1.232 Euro erhielten und Frauen durch- zu werben und Wahlfreiheit zu ermöglichen, schnittlich 730 Euro. Dabei nutzten die meisten Männer lediglich die zwei ist auch Aufgabe des Kinderschutzbundes. Partnermonate im Rahmen des Basiselterngeldes (12 + 2 Monate). Ekin Deligöz, zweifache Mutter, destatis.de Vizepräsidentin des Kinderschutz- bundes 13
Wissenschaft IN DIE WIEGE gelegt? z.B., die neben den Schimpansen die engsten Verwandten des Menschen sind und als be- sonders friedfertig gelten, führt das Alpha- Weibchen die jeweils 30- bis 80-köpfige, ge- mischtgeschlechtliche Gruppe an. Braunbä- renmütter wiederum sind Einzelgängerin- nen, versorgen ihre Kinder ganz allein und müssen sie sogar vor den Attacken des Erzeu- gers schützen. In Elefanten-Familien küm- mert sich eine Reihe von Tanten rund um die Uhr um die Kinderstube. Das Bemühen, dem Nachwuchs das Überle- ben bestmöglich zu sichern und damit die ei- gene Art zu erhalten, scheint überall naturge- geben, wenn auch auf unterschiedliche Wei- se. Tier wie Mensch passen sich dabei an das an, was geht – wobei Menschen die weitaus größeren Wahlmöglichkeiten haben. Die von der Natur so gut ausgestattete Mutter kann heute viele Aufgaben mit anderen teilen und auf diese übertragen – beispielsweise auf den Vater, der noch vor wenigen Generationen „naturgemäß“ als nicht geeignet galt, sich an der Kinderversorgung zu beteiligen. Wer und was eine Mutter ist bzw. wie sie zu sein hat, ist also nicht ausschließlich biolo- gisch vorherbestimmt, sondern steht immer Foto: istock/arto_canon auch in einem gesellschaftlichen Kontext, un- terliegt dem Zeitgeist und ist auch Objekt der Was wissen wir über Mütter? Was unterscheidet sie modernen medizinischen Forschung mit von Vätern und was von Frauen, die kinderlos sind? teils weitreichenden Folgen. Selbst die lange gehegte Gewissheit, eine Mutter sei eine Per- Welche dieser Unterschiede sind naturgegeben (und von son, die ein Kind „empfängt“ und austrägt, hat uns Menschen eben hinzunehmen), und welche hat die die Reproduktionsmedizin ins Wanken ge- Gesellschaft geprägt? Auf der Suche nach Antworten auf bracht: Heute ist Elternschaft u.a. auch mittels Ei-Spende oder Leihmutterschaft möglich. diese Fragen hoffen wir auf die Wissenschaft und stellen Die Gesellschaftswissenschaften wiederum fest: Wir müssen auch selber denken, denn die Vielfalt sind u.a. der Frage nachgegangen, welcher der Erkenntnisse lässt keine einfachen Schlüsse zu. Umgang mit dem Kind zu welcher Zeit „ange- sagt“ war. In der Kaiserzeit sollten die Mütter Die Fakten aus der Biologie sind hinlänglich sorgt wird, bis Dutzende der kleinen Fisch- ihre Kinder zu Gehorsam gegenüber der vä- bekannt: Der weibliche Körper eignet sich im Pferdchen zur Welt kommen. Auch bei den terlichen Autorität und zur Gottesfurcht an- Allgemeinen gut dazu, für Nachwuchs zu sor- Nandus, den großen flugunfähigen Vögeln, halten. Die „gute“ Mutter der Nazizeit durfte gen und ihn geeignet zu nähren. Doch „Mut- sind die Väter alleinerziehend: Sie bauen das ihr Baby auf keinen Fall verzärteln, sondern ter Natur“ kennt einige Varianten: So brütet Nest, brüten die Eier aus und beschützen ihre sollte ihm mit Distanz und Härte begegnen. der werdende Pinguin-Papa das Ei in munte- Küken das erste halbe Jahr – sogar gegen die Und heutzutage, wo jedes Kind in Deutsch- rer Gemeinschaft mit anderen Pinguinvätern Mutter. land das Recht auf gewaltfreie Erziehung be- aus, während seine Liebste sich direkt nach sitzt, sind faktisch Individualität, Leistung und der Ei-Ablage wieder auf Nahrungssuche ins DIE BIOLOGIE Erfolg gefragt: Im Prinzip soll eine Mutter von Meer stürzt. Und bei den Seepferdchen sind BESTIMMT NICHT ALLEIN Anfang an die Persönlichkeit ihres Spröss- gar die Männer schwanger. Sie tragen den Wir Menschen haben viele Ähnlichkeiten mit lings optimieren, so erwartet es die Gesell- Nachwuchs mehrwöchig in der Bauchtasche, den Säugetieren, wie in der Verhaltensfor- schaft. Wer weiß, wie die Menschen in einigen in der er – ähnlich wie ein Ungeborenes von schung beobachtet wurde. Doch auch hier Jahrzehnten darüber denken werden, was der menschlichen Plazenta – mit allem ver- gibt es eine große Vielfalt. Bei den Bonobos uns heute richtig erscheint? 14 KSA 1.2021
778.100 Dass Mütter auch früher unter Erwartungen renen durch das neu entdeckte HIV-Virus be- von außen litten, zeigt ein kurzer Ausflug in fürchtete. Heute ist die Ansteckungsgefahr die Psychiatrie. Hier tauchte in den 1920er gebannt, mittlerweile gibt es an deutschen Babys Jahren der Begriff der „Mutterschaftsneuro- Kliniken wieder 31 Milchbanken. So profitie- wurden im Jahr 2019 in Deutsch- se“ auf. Dieser Befund wurde auf junge Müt- ren auch Frühgeborene und sehr schwache land geboren. Bei fast 900.000 ter angewandt, die nach der Geburt ihres Babys von nicht stillenden Müttern von der Familien leben drei oder mehr Erstlings in einem fürchterlichen Zwiespalt Muttermilch. minderjährige Kinder im Haushalt. steckten: Einerseits spürten sie ihren Impuls, An dieser Stelle mahnt nun die Ökotropholo- destatis.de ihr weinendes Baby tröstend im Arm zu hal- gie: Uneingeschränkt gesund sei das Stillen ten, andererseits sagte die gängige Lehrmei- auch wieder nicht. Denn Muttermilch kann Er spürt die Erschöpfung und Verzweiflung nung, man müsse das Kind schreien lassen. In Umweltgifte enthalten, die im Körper extrem der Mutter. Auch das Baby kann das spüren, der Folge waren einige Mütter nicht mehr in langsam oder gar nicht abgebaut werden. aber natürlich nicht verstehen, deswegen rea- der Lage, ihr Kind überhaupt zu versorgen. Dass sich längst verbotene chemische Schad- giert es mit vermehrter Unruhe. Aus einem stoffe wie DDT und Dioxin noch Jahrzehnte solchen Teufelskreis hat schon manche Fami- DIE SACHE MIT DEM STILLEN später in der Muttermilch finden, hat Fachleu- lie durchs Abstillen herausgefunden – und Aus der naturwissenschaftlich orientierten Er- te und Laien aufgeschreckt. Glücklicherweise die Mutter-Kind-Beziehung profitiert dann nährungswissenschaft wissen wir heute, ist die Belastung in den letzten Jahren konti- sogar davon. Was zeigt: Das Stillen ist beileibe dass die einmalige Zusammensetzung der nuierlich gesunken. Verschiedene Fachge- nicht der einzige Weg, mit dem Kind in inni- Muttermilch passgenau und deshalb zweifel- sellschaften plädieren daher aktuell fürs Stil- ger Beziehung zu bleiben. los gesund fürs Kind ist. Aber selbst die Fähig- len, das möglichst sechs Monate voll prakti- keit zum Stillen stellt kein absolutes Alleinstel- ziert werden soll. DIE VIELFALT FÖRDERN lungsmerkmal dar. Denn im Prinzip kann jede Zu guter Letzt nochmal die Biologie. Sie hat weibliche Brust auch ohne vorherige Schwan- gerschaft und Geburt dazu gebracht werden, Muttermilch zu bilden. Auf diese Weise – und 30,1 Jahre war im Jahr 2019 das durch- schnittliche Alter von Erstgebärenden herausgefunden, dass sich „mütterliches“ Ver- halten überall auf der Welt zeigt – und zwar nicht nur bei Schwangeren und Müttern. Prak- mit viel Geduld und Unterstützung – gelingt tisch alle Erwachsenen und auch ältere Kinder es sogar einigen Adoptivmüttern, das junge in Deutschland. Auf alle Geburten haben ein biologisch angelegtes, instinktives Kind (zumindest teilweise) zu stillen. im Jahr 2019 gerechnet lag der Fürsorge- und Pflegeverhalten gegenüber Die Entwicklungspsychologie betont immer mütterliche Altersdurchschnitt kleinen Kindern. Wenn wir ein Baby weinen wieder, dass Stillen die Bindung fördert. Das bei 31,5 Jahren. destatis.de hören, wollen wir es automatisch trösten. Und war im Ammenwesen nicht anders – nur wenn es uns anlächelt, lächeln wir zurück. Wir pflegte hier eine fremde Frau die Stillbezie- Diese Sichtweise setzt Mütter enorm unter können kaum anders! hung. Das Ammenwesen reicht bis in die An- Druck. Da gibt es z.B. die Mutter, die nach der Es ist hoffentlich deutlich geworden: Wissen- tike zurück und erlebte im 18. und 19. Jahr- Geburt rasch wieder arbeiten will oder muss, schaftliche Erkenntnisse über Mütter und hundert eine Blütezeit – zumindest in wohl- das lässt sich mit dem Stillen nicht immer ver- Mutterschaft sind so zahlreich wie vielfältig. habenden Familien. Dort gab die Amme ge- einbaren. Und da gibt es auch die Mutter, die Nur das Leben selbst ist noch vielfältiger. Es in gen Kost und Logis dem Nachwuchs der mit ihren Kräften am Ende ist, weil das Baby seiner ganzen Vielfalt zu erhalten wäre doch Dienstherrin die Brust – und versorgte ihn rund um die Uhr jede Stunde an die Brust mal ein Ziel, auf das wir uns unter Mithilfe al- auch sonst rundum, oft zusammen mit dem möchte. Der Vater würde ihr gern mehr ab- ler Wissenschaften einigen könnten! eigenen Kind. In Frankreich war es sogar üb- nehmen, vor allem einige schlaflose Nächte. Korinna Bächer, Redaktion lich, das Baby ganz zur Amme aufs Land zu geben. Dadurch sahen sich die leibliche Mut- Foto: istock/Juanmonino ter und das Kind über Wochen oder Monate nicht. Uns erscheint das heute herzlos und unnatürlich; die damaligen Mütter entspra- chen damit jedoch den gesellschaftlichen Er- wartungen ihrer Zeit. Wollte oder konnte eine Mutter nicht stillen, bekam ein Baby aus weniger priviligierten Fa- milien mit Wasser verdünnte Ziegenmilch oder ähnliche Gemische, die meistens zur Mangelernährung führten. Erst ab 1919 rich- tete man in Deutschland sogenannte Milch- sammelstellen ein. Frauen, die zu viel Mutter- milch hatten, konnten diese dort abgeben – für verwaiste Kinder oder solche, deren Müt- ter nicht stillen konnten. In den 1980er Jahren wurden die Milchbanken vorübergehend ge- schlossen, da man Infektionen der Neugebo- 15
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