MUTTER? - Deutscher Kinderschutzbund

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MUTTER? - Deutscher Kinderschutzbund
D I E Z E I T S C H R I F T D E S K I N D E R S C H U T Z B U N D E S  1 . Q UA R TA L 2 0 2 1 / H 8 7 6 3 F

                         KINDERSCHUTZ A K T U E L L

                                                                                     1.21

„Typisch“
   MUTTER?        Stets warmherzig, selbstlos, die Familie
              umsorgend – der Mythos über die „gute Mutter“
                hängt immer noch in zu vielen Köpfen fest.
MUTTER? - Deutscher Kinderschutzbund
Das ist groß und das ist klein,                                              Konzept: Swaantje Düsenberg -- Gestaltung: schwanke//raasch visuelle kommunikation -- Foto: fotolia.com/monoVision

das ist mein Arm und das mein Bein.
 Das sind Haare, das ist die Haut,
        das ist leise, das ist LAUT!

ENTWICKLUNG ist ein Kinderrecht!
                       (Artikel 6 UN-Kinderrechtskonvention: Recht auf Leben)
MUTTER? - Deutscher Kinderschutzbund
„Typisch Mutter?“
Einer „guten“ Mutter werden viele Eigenschaften abverlangt. Ist sie fürsorglich, allgeduldig,
liebevoll, sich selbst vergessend und stets für alle da, kommt sie dem Ideal in vielen Köpfen schon
recht nahe. Der Erwartungsdruck aus der Gesellschaft ist so groß, dass viele Mütter die Ansprüche
verinnerlichen und sich selbst abverlangen, ihnen zu entsprechen – und zwar unabhängig davon,
ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Dafür zahlt so manche Mutter einen hohen Preis. Er besteht u.a.
aus Armut, Erschöpfung, Schuldgefühlen, Selbstausbeutung, Überforderung, Versagensängsten.
Es ist also höchste Zeit, sich vom „Mythos Mutter“ zu verabschieden.

                                                                                                 Inhalt 1.2021

                            10                                                         KLIPP & KLAR

                                                                        14
                                                                                       4    Kolumne, Nachrichten

                                                                                       THEMA
                                                                                       6    Der Mythos lebt
                                                                                            Die Gesellschaft: Haben Mütter Superkräfte?
                                                                                       8    Viele Barrieren im Weg
                                                                                            „Neue“ Väter: Die Problematik ist strukturell
                                                                                       10   Tschüss bis nächste Woche
                                                                                            DKSB-Praxis: Intensiver Austausch hilft
                                                                                       12   Vielfalt erwünscht!
       Der Mythos lebt                         In die Wiege gelegt?                         Kinderschutzbund: Wahlfreiheit ermöglichen
   Das stark überhöhte Mutter-Bild,         Wissenschaftliche Erkenntnisse über
 das insbesondere in Westdeutschland      Mütter und Mutterschaft sind so zahlreich    14   In die Wiege gelegt?
   noch vielfach vorherrscht, bringt      wie vielfältig. Denn nahezu jede Disziplin        Wissenschaft: Nicht alles ist biologisch
  viele Mütter ans Limit. Einschlägige     nimmt ihre eigene Perspektive ein und            vorherbestimmt
 Botschaften in Social-Media-Kanälen       kommt zu entsprechend unterschied-          16   „Immer abliefern“
    verstärken das noch. Ab Seite 6             lichen Schlüssen. Ab Seite 14               Mütter-Talk: Bitte nichts verallgemeinern!
                                                                                       18   Was tut er für Mütter?

                 20
                                                                                            Der Gesetzgeber: Nicht immer
                                                                                            auf der Höhe der Zeit
                                                                                       20   Früh auf eigenen Beinen
                                                                                            DKSB-Praxis: Unterstützung für junge Mütter

                                                                                       KINDER IM BLICK
                                                                                       21 Kinderschutz in der Fläche
                                                                                            Verbandsentwicklung
                                                                                            im LV Mecklenburg-Vorpommern
                                                                                       22   Die machen Sachen
                                                                                            Infos & Tipps aus der DKSB-Praxis
                                                                                       24   Dieses Merkmal benachteiligt
                                                                                            Der Kinder- und Jugendmigrationsreport
                                                                                            2020 des DJI
                                                                                       25   Jugendbefragung 2.0
                                                                                            Tausend Stimmen in Schleswig-Holstein
                                                                                       26   Verschärfte Ungleichheit
                                                                                            Digitaler Wandel im Fokus des LV Thüringen
               Corona-Schlaglichter: Die zweite Welle
      Seit Herbst 2020 rollt die zweite Corona-Welle über Deutschland hinweg.          27   Ein guter Zusammenschluss
     Bund und Länder beschließen sukzessiv immer schärfere Maßnahmen zur                    Prävention und Medienkompetenz
 Eindämmung der exponentiell wachsenden Infektionszahlen. Sie bleiben weit in               als Projekt im OV Ried
den Januar 2021 hoch. Der Plan, Kitas und Schulen für die Kinder geöffnet zu halten,   28   Die zweite Welle
war nicht durchzuhalten – auch die Bildungseinrichtungen werden in den Lockdown             Chronik des Corona-Infektionsgeschehens
   geschickt. Dabei ist Deutschland von der digitalen Schule noch weit entfernt,       30   Aktuelles aus dem Bundesverband
      es klemmt an allen Ecken und Enden. Die Leidtragenden sind mal wieder
                     die Kinder, Eltern und Familien. Ab Seite 28                      31   Impressum
MUTTER? - Deutscher Kinderschutzbund
Kolumne                                                                 KLIPP &
                                                                                      KLAR
                    Liebe Leserinnen
                    und Leser,                                  Umfrage zu KSA:
                    auf das vergangene Jahr hätten viele        Ihre Antworten sind wichtig!
                                                                Kinderschutz aktuell (KSA) wird als Verbandszeitschrift des
                    von uns wahrscheinlich gut verzichten
                                                                Kinderschutzbundes kontinuierlich weiterentwickelt. Dabei
                    können. Die Corona-Pandemie hatte uns
                                                                berücksichtigt die Redaktion auch die vielen Anregungen aus
                    seit Frühjahr 2020 fest im Griff und        dem Verband. Parallel dazu hat der Bundesvorstand den 2019
                    wird wohl auch 2021 weiter prägen.          eingesetzten Bundesfachausschuss KSA damit beauftragt,
                                                                Vorschläge für die weitere Zukunft des Heftes zu erarbeiten.
                   Dieses neue Jahr ist aber auch ein Wahl-
                                                                An diesem Prozess möchte der Kinderschutzbund auch die
                   jahr. Damit liegen intensive und arbeits-
                                                                Leserschaft durch eine Umfrage beteiligen. Deshalb liegt dieser
                   reiche Wochen und Monate vor uns. Wir        KSA-Ausgabe ein Fragebogen mit der herzlichen Bitte um
                   werden alle gemeinsam dafür sorgen,          Beantwortung bei. 
                   dass kinderpolitische Anliegen und
Projekte in diesem Bundestagswahlkampf nicht zu kurz
kommen. Neben vielen anderen liegen mir dabei zwei                                         Bewusst achtsam
Themen besonders am Herzen.
                                                                                           sprechen
Die Große Koalition hat sich nach langem Ringen auf eine                                     Wir sind eine Gruppe von sieben
Formulierung für die Aufnahme der Kinderrechte in das                                        ostdeutschen Erzieherinnen, die
Grundgesetz verständigt. So sehr ich begrüße, dass nun                                       sich regelmäßig in einem selbst ge-
                                                                                             gründeten Qualitätszirkel trifft. Un-
endlich Bewegung in den Prozess zu kommen scheint, so
                                                                                             ser Ziel ist es, uns gegenseitig noch
pessimistisch bin ich – Stand heute, Mitte Januar 2021 –,
                                                                                             stärker für den Umgang mit den Kin-
dass man im parlamentarischen Verfahren zu einem guten                                       dern zu sensibilisieren. Im turbulen-
Ergebnis kommt. Der vorliegende Vorschlag fällt hinter die                                   ten Alltag und bei knapp bemessenen
geltende Rechtslage deutlich zurück. Und er ist nicht mehr      Personalschlüsseln geht die Empathie nämlich manchmal unter.
als eine Staatszielbestimmung. Wir aber wollen echte Kin-       Für unser Anliegen lassen wir uns oft auch von Artikeln aus Ihrer
derrechte! So hoffe ich auf die Abgeordneten des Deutschen      Zeitschrift inspirieren. Dafür fanden wir das Heft „Sprache und
Bundestags, die vielleicht noch für Nachbesserung sorgen.       Gewalt: Mächtige Worte“ (KSA 4/2020) besonders gelungen. So
                                                                konnten wir uns bewusst machen und überprüfen, was man
Ein zweites Thema treibt mich nach wie vor um: die Kin-         manchmal dahersagt zu Kindern. Dabei haben wir festgestellt,
derarmut. Die Corona-Pandemie und die damit einherge-           dass sich jede von uns schon mal in ihren Worten vergreift, aus
henden Schulschließungen haben noch einmal gezeigt,             Überforderung, Nerverei oder auch reiner Gedankenlosigkeit.
wie ungleich die Lebenschancen der Kinder in Deutschland        Aber gerade in der Kita-Arbeit kann das Bewusstsein für acht-
                                                                sames Sprechen mit den Kindern gar nicht groß genug sein. 
verteilt sind. Kinder von Eltern mit geringem Einkommen
                                                                Nancy Küntze und andere, tätig in verschiedenen
wurden in der Corona-Pandemie einfach übersehen. Dass
                                                                Kitas im Landkreis Leipzig
sie nicht über Laptops oder Tablets verfügen, hat die Politik
schlicht ignoriert. Diese Kinder blieben auf die kreativen
Lösungen von engagierten Lehrkräften angewiesen, wie
auch sie am Distanzunterricht teilnehmen können. Dass
                                                                Das nächste Heft: Kindern helfen
Kinderarmut in einem so reichen Land wie Deutschland            in Krisensituationen
nach wie vor nicht nachhaltig bekämpft wird, ist ein            Nicht nur die anhaltenden Maßnahmen zur Eindämmung
                                                                der Corona-Pandemie können private Krisen auslösen. Auch
politischer Skandal. Der Kinderschutzbund wird sich
                                                                jenseits davon geraten Kinder und Jugendliche manchmal in
deshalb in diesem Wahljahr besonders für die Einführung         hoch belastende Lebenslagen, z.B. wenn sie bei psychisch
einer unbürokratischen und existenzsichernden Kinder-           kranken Eltern aufwachsen oder wenn sie über den Verlust
grundsicherung engagieren.                                      eines geliebten Menschen trauern. Die KSA-Ausgabe 2.2021
                                                                wird sich schwerpunktmäßig mit derartigen Krisen in Theorie
Ich wünsche Ihnen und uns ein erfolgreiches und vor allem
                                                                und Praxis befassen. Dazu wurden verschiedene DKSB Orts-
gesundes Jahr 2021!                                             verbände eingeladen, die jeweiligen Hintergründe und Auswir-
Herzlich,                                                       kungen einer spezifischen Lebenslage zu erläutern sowie ihre
Ihr Heinz Hilgers                                               entsprechende Arbeit mit Kindern und Familien vorzustellen.
                                                                Das Heft erscheint Mitte Mai 2021. 
Präsident

4 KSA 1.2021
MUTTER? - Deutscher Kinderschutzbund
Bundesverdienstkreuz 1. Klasse für Heinz Hilgers
                                                                                   Unter ungewöhnlichen Umständen ist               besondere Leistungen im politischen, wirt-          keit, eine konsequentere Bekämpfung von
                                                                                   DKSB-Präsident Heinz Hilgers am 28. Okto-        schaftlichen, kulturellen, geistigen oder eh-       Kinderarmut, für gewaltfreie Erziehung und
                                                                                   ber 2020 mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse        renamtlichen Bereich verliehen. Die Veran-          für die Verbesserung der Lebensbedingun-
                                                                                   des Verdienstordens der Bundesrepublik           staltung fand Corona-bedingt in kleinstem           gen von Kindern und Familien. Deshalb liegt
                                                                                   Deutschland für sein langjähriges Engage-        Rahmen statt.                                       ihm auch die Verankerung der Kinderrechte
                                                                                   ment für Kinder ausgezeichnet worden.            Heinz Hilgers befindet sich heute in seinem          im Grundgesetz so am Herzen.
                                                                                   NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP,         28. Amtsjahr, er wurde 1993 Präsident des           Bundesweit bekannt wurde Heinz Hilgers
                                                                                   rechts im Bild) überreichte Heinz Hilgers in     Kinderschutzbundes. In dieser Funktion en-          als Erfinder des sogenannten „Dormagener
                                                                                   Düsseldorf das Verdienstkreuz. Es wird für       gagiert er sich seitdem für soziale Gerechtig-      Modells“ mit frühen umfassenden Hilfe für
                                                                                                                                                                                        Kinder und Familien sowie zum präventiven
                                                                                                                                                                                        Schutz von Kindern. Ebenso gehört u.a.
Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration | Foto_ S. Bersheim

                                                                                                                                                                                        die Aufnahme des Rechts auf gewaltfreie
                                                                                                                                                                                        Erziehung in das Bürgerliche Gesetzbuch
                                                                                                                                                                                        zu seinen politischen Erfolgen.
                                                                                                                                                                                        NRW-Familienminister Joachim Stamp beton-
                                                                                                                                                                                        te bei der Verleihung: „Heinz Hilgers ist ein
                                                                                                                                                                                        großer Kämpfer für die Kinder in Nordrhein-
                                                                                                                                                                                        Westfalen und ganz Deutschland. Als starke
                                                                                                                                                                                        Stimme für Kinderrechte und Kinderschutz
                                                                                                                                                                                        besitzt er eine ausgewiesene Expertise, die in
                                                                                                                                                                                        Politik und Gesellschaft eine hohe Anerken-
                                                                                                                                                                                        nung erfährt. Für seinen unermüdlichen Ein-
                                                                                                                                                                                        satz danke ich ihm im Namen des Bundes-
                                                                                                                                                                                        präsidenten und der Landesregierung.“
                                                                                                                                                                                        Die KSA-Redaktion gratuliert Heinz Hilgers
                                                                                                                                                                                        zu dieser ehrenvollen und ganz besonderen
                                                                                                                                                                                        Auszeichnung. Wir sprechen sicher im Na-
                                                                                                                                                                                        men des Gesamtverbandes: Diesen Orden
                                                                                                                                                                                        hat er mehr als verdient!  Die Redaktion

                                                                                                KitaFachkräfte                                                            Vorlesen

                                                                                   Blick in die Zukunft                                                      Warum nicht öfter?
                                                                                   Kinder in Deutschland haben heute ab dem vollendeten ersten Le-           Rund 32 Prozent der Eltern in Deutschland lesen ihren Kindern sel-
                                                                                   bensjahr bis zum Schuleintritt einen Rechtsanspruch auf einen             ten oder nie vor. Diese Zahl ist seit Jahren konstant. Daher fragte die
                                                                                   Platz in der Kindertagesbetreuung. Für den Ausbau von Kitas, der          jährliche Vorlesestudie im Jahr 2020 erstmals danach, warum das so
                                                                                   diesen Rechtsanspruch erfüllt (und den Bedarf deckt), fehlen in West-     ist. Dazu wurden Eltern von ein- bis sechsjährigen Kindern befragt, die
                                                                                   deutschland aber in den nächsten vier Jahren je nach angenomme-           ihrem Nachwuchs höchstens einmal in der Woche vorlesen. Hier eini-
                                                                                   nem Szenarium bis zu 72.500 Kita-Fachkräfte. Dies zeigt eine neue Vo-     ge Ergebnisse:
                                                                                   rausberechnung durch den Forschungsverbund Deutsches Jugend-               Knapp die Hälfte der Eltern liest nicht gern vor, weil sie glaubt, dabei
                                                                                   institut/TU Dortmund. Danach stellt sich die Lage in den ostdeutschen     schauspielern und die Kinder zum Zuhören zwingen zu müssen.
                                                                                   Bundesländern völlig anders dar. Sofern die Ausbildungszahlen wei-         Ebenfalls die Hälfte der Eltern gab an, sich zu erschöpft zum Vorle-
                                                                                   terhin stabil und die aktuellen Personalschlüssel unverändert blei-       sen zu fühlen und im Haushalt auch anderes zu tun zu haben.
                                                                                   ben, werden dort deutlich mehr Fachkräfte ausgebildet, als für die Bil-    Ein knappes Drittel ist davon überzeugt, dass das Kind gar nicht vor-
                                                                                   dung, Betreuung und Erziehung von Kindern bis zum Schuleintritt           gelesen bekommen möchte.
                                                                                   benötigt werden. „In den ostdeutschen Ländern könnte daher eine            In 68 % der befragten Haushalte besitzen die Kinder maximal nur
                                                                                   Qualitätsoffensive gestartet werden, mit der die immer wieder kriti-       zehn Bücher, der Vorlesestoff ist also knapp. In diesem Zusammen-
                                                                                   sierten Personalschlüssel verbessert werden könnten“, schreibt die        hang belegt die Studie auch, dass Buchgeschenke die Wahrschein-
                                                                                   Autorengruppe in der Studie. Weiterhin könnten für künftige Einstei-      lichkeit erhöhen würden, dass Eltern häufiger vorlesen.
                                                                                   gerInnen in den Beruf Anreize geschaffen werden, dort zu arbeiten,         Die Vorlesestudien erscheinen jährlich zum bundesweiten Vorlesetag
                                                                                   wo Personal dringend gebraucht wird. Von einer Senkung der Ausbil-        jeweils am dritten Freitag im November. Das ist ein gemeinsames
                                                                                   dungskapazitäten rät die Autorengruppe hingegen ab.                      Projekt von DIE ZEIT, Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung. 
                                                                                   Quelle: jugendhilfeportal.de                                              Quelle: stiftunglesen.de

                                                                                                                                                                                                                                    5
MUTTER? - Deutscher Kinderschutzbund
TITEL-
                              THEMA
Foto: istock/Zoran Zeremski

                                                Mütter

                               Der Mythos lebt
                               Mütter – wie geht es ihnen heute? Wie sieht ihr Alltag aus und wie stark
                               sind sie durch den Versuch belastet, Familie und Beruf zu vereinbaren?
                               Haben Mütter Superkräfte, wie es manchmal so schön heißt?
                               Ein bekannter Mama-Kanal auf Instagram            Frauen habe sich in den letzten Jahrzehnten      Kunst, die ArbeitgeberInnen, die Bürgerin
                               zeigt uns täglich Bilder von Müttern, die selig   stark verändert, sagt Schilling. Heute sind 73   und der Bürger. Alle bilden sich ihre Meinung,
                               lächelnd ihre Kinder im Arm halten. Mit auf       Prozent der Mütter in Deutschland erwerbstä-     ihr Urteil. Die Auffassungen sind auch ge-
                               den Bildern sind Zitate wie dieses: „Du kannst    tig. Wenn aber zugleich die Väter weiterhin      prägt von unseren Traditionen und unserer
                               noch so schlecht drauf sein: Wenn dein Kind       meist in Vollzeit aushäusig arbeiten – wer       Kultur, von Büchern, Filmen, Fernsehsendun-
                               lacht, ist die Welt in Ordnung.“ Tausende Müt-    kümmert sich dann um Hausarbeit und Kin-         gen, Werbung, Internet und jetzt eben auch
                               ter folgen diesem Instagram-Kanal, liken die      derbetreuung? Weil die meisten Familien eher     durch Social-Media-Kanäle wie Instagram.
                               Posts, meinen, sich in den Zitaten wiederzu-      „traditionell“ leben, sind nach wie vor die      Weil wir Menschen seit Urzeiten auf die Ge-
                               finden. Aber bringt ein Kinder-Lächeln die         Frauen zuständig für all das, was in den Be-     meinschaft angewiesen sind, möchten wir
                               Welt wirklich wieder in Ordnung? Es ist eine      reich Familienarbeit fällt, so Anne Schilling.   dazugehören. Der Ausschluss aus der Gruppe
                               Welt, in der Frauen ein hohes Risiko tragen, im   Und weil die Ansprüche der Gesellschaft stei-    bedeutet für uns Gefahr sowie Einsamkeit
                               Alter arm zu sein. Und in der sie für die unbe-   gen, müssen Frauen mehr schaffen als vorher,      und Isolation. Deshalb tun wir alles, um Teil
                               zahlte Arbeit zuständig sind: Weltweit leisten    lautet ihr Befund am 9. November 2020 in der     der Gruppe zu bleiben. Für Mädchen und
                               Frauen und Mädchen den Großteil der Haus-,        Reportage „Mütter, Väter, Kinder im Stress“      Frauen heißt das, die Erwartungen der ande-
                               Pflege- und Fürsorgearbeit – laut einer Ox-        (nachzuschauen in der ARD Mediathek).            ren zu erfüllen. So sollen sie Atmosphäre
                               fam-Studie genau genommen 12,5 Milliar-                                                            schaffen, Streit schlichten, nachgiebig, liebe-
                               den Stunden pro Tag.                                     MUTTERSCHAFT ALS                          voll und achtsam sein – für die Bedürfnisse
                               Kein Wunder, dass Frauen erschöpft sind. Laut        ÖFFENTLICHE ANGELEGENHEIT                     anderer. Die Zwillinge Emily und Amelia Na-
                               der Geschäftsführerin des Müttergenesungs-        Warum erwartet die Gesellschaft so viel von      goski, Psychologin und Dirigentin von Beruf,
                               werks, Anne Schilling, haben fast 80 Prozent      Müttern? Die Gesellschaft – das sind wir alle:   schreiben in ihrem Buch „Stress“, dass Frauen
                               der Mütter allein in Deutschland Gesundheits-     Angehörige, Freundes- und Kollegenkreise,        in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft
                               störungen, von zahlreichen Erschöpfungssyn-       Erziehende in der Kita, Lehrkräfte, Kinder-      als „human givers“ sozialisiert werden, um die
                               dromen bis hin zum Burnout. Der Alltag von        schützerInnen, die Wissenschaft, Politik und     dominierenden „human beings“ zufrieden-

                               6 KSA 1.2021
MUTTER? - Deutscher Kinderschutzbund
Foto: istock/freemixer
                                  zustellen. Deshalb wird von ihnen erwartet,       Mütter werden heute nicht nur gefragt, ob
                                  „jederzeit hübsch, ausgeglichen, großzügig        und wann sie an ihren Arbeitsplatz zurück-
                                  und aufmerksam gegenüber den Bedürfnis-           kehren, sondern auch, wieso sie es so früh
                                  sen anderer zu sein“. (Kösel-Verlag 2019)         tun, obwohl das Baby doch noch so jung ist.
                                                                                    Möglicherweise ist auch die Schwiegermutter
                                              MÜTTER AM LIMIT                       darüber erschrocken, dass nun sogar der eige-
                                  Wenn Frauen Mütter werden, steigen die An-        ne Sohn sich zu Hause so viel kümmern muss.
                                  sprüche noch, denn wir haben kulturell be-        Das schlechte Gewissen von Frauen, die nicht
                                  dingt ein besonders starkes mythisches Mut-       der traditionellen Rolle entsprechen wollen
                                  terbild im Kopf. Was eine Mutter ausmacht,        (oder es aus finanziellen Gründen nicht kön-
                                  wie stark ihre Liebe zu den Kindern sein muss,    nen), ist groß, der Druck hoch und die Belas-
                                  welche Aufgaben sie zu erfüllen hat – bei die-    tung permanent. Und dann schleicht sich ei-
                                  sen Fragen möchten alle Menschen mitre-           nes Tages ein Zitat in den Social-Media-Kanal,
                                  den, und das merken junge Mütter schnell.         der es für selbstverständlich hält, dass der
                                                                                    „Mama-Job“ das größte Glück auf Erden ist
                                  Mit der Familiengründung geht für Frauen die      und gute Mütter für die Kleinen imstande sind,
                                  Kümmer-Arbeit erst so richtig los, weil unsere    über jede ihrer Grenzen zu gehen. Doch mit
                                  Gesellschaft Müttern nach „guter“ alter Tradi-    solchen Aussagen kolportieren diese Mütter-
                                  tion die Verantwortung für Haushalt, Kinder-
                                  betreuung und Familienorganisation zuord-
                                  net. So fügen sich auch moderne Frauen oft
                                                                                    kanäle Ansichten aus dem Mittelalter.

                                                                                        HISTORIE EINES ÜBERHÖHTEN
                                                                                                                                     34%             aller 25-jährigen Söhne
                                                                                                                                                     lebten 2019 in Deutsch-
                                                                                                                                     land noch bei ihren Eltern – und 21 % der
                                  dem Mythos Mama. Selbst wenn immer mehr                     MUTTERBILDES                           Töchter. Mit 30 Jahren wohnten immerhin
                                  Väter bereit sind, die Verantwortung für den      Der Mutter-Mythos hat weit zurückreichende       noch 13 % der Söhne als lediges Kind im
                                  Haushalt, das Kind und die Alltagsorganisati-     Wurzeln. Schon die Jungfrau Maria mit dem        Elternhaushalt, jedoch nur 5 % der Töchter.
                                  on mitzutragen, brauchen Frauen jede Menge        Kind, insbesondere ab dem 13. Jahrhundert        Spekulationen darüber, wer sie haupt-
                                  Selbstbewusstsein, um sich gegen äußere           hundertfach künstlerisch auf Leinwand ge-        sächlich (mit)versorgt, für sie kocht, ihre
                                  Einflüsse zu wehren. Die Gefahr, nicht den An-     bannt, prägte das Urbild der selbstlos lieben-   Wäsche macht und den Haushalt putzt,
                                  sprüchen zu genügen und damit zur Außen-          den, aufopferungsvollen Mutter mit. Im 16.
                                                                                                                                     verbieten sich. Die Statistik sagt darüber
                                  seiterin der Gruppe zu werden, ist groß. Be-      Jahrhundert war es in einer von Landwirt-
                                                                                                                                     nichts…. Wir wissen nur: Beim Auszug aus
                                  sonders unter Müttern herrscht zusätzlich ei-     schaft geprägten Kultur zwar normal, dass
                                  ne Art Gruppenzwang und die Pflicht, sich op-      auch Frauen die Felder bewirtschafteten und
                                                                                                                                     dem Elternhaus war ein Kind im Jahr 2019
                                  timal zu verhalten. Lange stillen, den Babybrei   die Kinder von Großeltern, Geschwistern, Ern-    durchschnittlich 23,7 Jahre alt.
                                  selbst kochen, das Kind so oft es geht am Kör-    tehilfen betreut wurden oder sich selbst         www.destatis.de
                                  per tragen, jederzeit eigene Bedürfnisse hin-     überlassen blieben. Aber dann schrieb der
                                  ter die des Kindes zurückstellen – all das ge-    Reformator Martin Luther 1522 seine Schrif-      den Müttern dann auch noch die Verantwor-
                                  hört heute dazu. Dass es viele Mütter an die      ten über die Ehe und begründete damit quasi      tung für die kindliche Entwicklung und Psy-
                                  Grenzen ihrer Kraft bringt, scheint hinnehm-      die weibliche Bestimmung als Hausfrau und        che zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde
                                  bar. Schließlich macht ein Kinderlächeln doch     Mutter. Über 200 Jahre später wies der Auf-      diese Verantwortungszuweisung durch Anna
                                  alles wieder gut, oder?                           klärer und Philosoph Jean Jaques Rousseau        Freud, Tochter von Sigmund Freud, selbst Psy-
                                                                                                                                     choanalytikerin, Entdeckerin des Verdrän-
                                                                                                                                     gungsmusters und Begründerin der Kinder-
                                                                                                                                     psychoanalyse, aufgegriffen und noch ze-
Foto: istock/Maria Argutinskaya

                                                                                                                                     mentiert.
                                                                                                                                     Bereits zuvor, im Nationalsozialismus, war die
                                                                                                                                     Mutter als bedeutsam erschienen, allerdings
                                                                                                                                     in unerträglich anderer Weise: nämlich haupt-
                                                                                                                                     sächlich in der Rolle als Erhalterin der „ari-
                                                                                                                                     schen Rasse“. Die „deutsche Mutter“ wurde
                                                                                                                                     völlig in den Dienst der politischen Ideolo-
                                                                                                                                     gie gestellt und sollte möglichst viele „rein-
                                                                                                                                     rassige“ Kinder gebären, am besten Söhne.
                                                                                                                                     Dann wurde sie glorifiziert und mit dem un-
                                                                                                                                     säglichen Mutterkreuz ausgezeichnet. Was
                                                                                                                                     ihre sonstige Rolle daheim anbelangte, so
                                                                                                                                     haben die Nazis die Mutter nicht neu erfun-
                                                                                                                                     den, sondern blieben dem traditionellen
                                                                                                                                     Bild verhaftet.
                                                                                                                                     In den 1950er Jahren wurde weiter am My-
                                                                                                                                     thos Mutter gestrickt, zumindest in der BRD.
                                                                                                                                     Anders als in der DDR sah die westdeutsche

                                                                                                                                                                                7
MUTTER? - Deutscher Kinderschutzbund
Foto: istock/onebluelight                                                                                      Neue Väter
                                                   nerschaftliche Teilung der Erwerbs- und Fa-

                                                                                                       VIELE
                                                   milienarbeit ist neben dem persönlichen Wil-
                                                   len eben auch eine Frage des auskömmlichen
                                                   Familieneinkommens.
                                                   So bleiben Frauen konfrontiert mit den unter-
                                                   schiedlichen, teils widersprüchlichen Bot-
                                                   schaften. Einerseits moderne, feministische
                                                   Einflüsse, die Hoffnung verheißen und Frau-               Entdeckt, untersucht,
                                                   en einen Ausblick auf eine gleichberechtigte
                                                                                                          beforscht, begutachtet,
                                                   Welt geben, andererseits das Aufrechterhal-
                                                   ten von tradierten Rollenbildern.                   bewertet – seit vielen Jahren
                                                                                                        wird über „neue Väter“ ge-
                                                         EIN HOFFNUNGSSCHIMMER
                                                                                                       schrieben. Kein Institut, das
                                                   Vor ein paar Jahren hat sich auch ein namhaf-
                                                   ter Supermarkt für seine Werbung zum Mut-           keine Studie zu ihnen hätte,
                                                   tertag beim Mama-Mythos bedient. Im Spot             kaum ein Soziologe (in nur
                                                   war ein inkompetenter Vater nicht in der Lage,
                                                                                                        männlicher Schreibform!),
                                                   seiner Tochter die Haare zu kämmen oder den
                                                   Kindern Essen zu machen. „Danke, Mama,                 der sich nicht zu ihnen
                                                   dass es dich gibt, denn zuhause bist du ein-         geäußert hat. Aber gibt es
                                                   fach unersetzlich“, lautete die fatale Botschaft.
                                                                                                       den „neuen Vater“ wirklich?
Politik die Frau ausschließlich in der Rolle an    Muttermythen sowie Märchen über inkompe-
Heim und Herd. Die Alleinverdiener-Ehe wur-        tente Väter sorgen dafür, dass sich Frauen wei-          Oder ist er nur ein
de staatlich gefördert, Kinderbetreuung und        terhin aufreiben und auch psychisch belastet         Phantom? Und wie blicken
Erziehung für Privatsache von Eltern bzw.          sind – und Männern die Fähigkeit abgespro-
                                                                                                            Väter auf Mütter?
Müttern gehalten. Folgerichtig verzichtete         chen wird, sich ebenso liebevoll um die Kinder
man hier auf die Ausweitung von außerfami-         kümmern zu können.
liären Kinderbetreuungsnetzen.                     Der Shitstorm, der auf den erwähnten Wer-
Diese Entscheidungen beeinflussen unser Le-         befilm folgte, macht Hoffnung darauf, dass
ben bis heute. Im Unterschied zu anderen eu-       wir so langsam auf einem besseren Weg
ropäischen Ländern hat sich insbesondere in        sind. Und unsere Kinder einmal anders le-
den westlichen deutschen Bundesländern ei-         ben können, fernab von stereotypen Rollen-
ne gewisse Skepsis gegenüber der außerfa-          bildern und Mythen. Unsere Töchter sollen
miliären Kinderbetreuung gehalten. Immer           sich entscheiden dürfen, ob sie Mutter wer-
noch glauben einige Eltern, ihrem Nach-            den möchten. Und wenn sie es sind, können
wuchs etwas Gutes zu tun, wenn sie ihn so          sie hoffentlich ihre eigenen Bedürfnisse im
spät wie möglich und nur so lange wie nötig        Blick behalten. Ein Kinderlachen ist unglaub-
„in fremde Hände“ geben. Ist es da ein Wun-        lich erfüllend, aber es reicht eben nicht aus.
der, dass die anfänglich erwähnten Zitate auf      Mütter brauchen mehr als ein Lächeln und ei-
Instagram beklatscht werden?                       nen Dank am Muttertag: Sie brauchen Unter-
                                                   stützung im Alltag, Partner, die Familienarbeit
             DIE LATTE LIEGT HOCH                  mittragen wollen, und eine Gesellschaft, die
Die Ansprüche an Mütter sind vielfältig und        willens ist, den Mythos Mama endlich aus ih-
teils widersprüchlich. Denn Mütter sollen          rer Kultur zu verbannen. 
heute nicht nur mütterlich, sondern auch als       Laura Fröhlich, Journalistin, Autorin
Frau attraktiv sein. Sie sollen Wert auf nach-     des Buches „Die Frau fürs Leben ist
haltig hergestellte Nahrungsmittel legen           nicht das Mädchen für alles“ (Kösel-
und gesund kochen, aber finanziell auch un-         Verlag, 2020), Gründerin des Blogs
abhängig und berufstätig sein. Zumindest           www.heuteistmusik.de
Letzteres ist ein großer Fortschritt, denn

                                                   59%
Frauen sind aufgrund zahlreicher Jahre, die
                                                                  aller Elternpaare
sie mit unbezahlter Haus- und Fürsorgear-
                                                                  in Deutschland mit
beit verbringen, stärker von Altersarmut be-
droht als Männer. Aber wie sollen sie ihren
                                                   unter 15-jährigen Kindern haben
Beruf nicht aus den Augen verlieren und ge-        auch während der Corona-Krise im
nug Geld fürs Alter sparen, wenn sich zuhau-       Frühjahr 2020 die Kinderbetreuung
se die Arbeit türmt? Immer noch tun sich           nicht anders aufgeteilt als vorher:
Männer schwer, ihre Erwerbsarbeit für die          Die Haupt- und Mehrlast blieb
Familie zu reduzieren, viele Familien könnten      mehrheitlich bei den Müttern.
sich das finanziell auch gar nicht leisten. Part-   (u.a. IfD Allensbach)

8 KSA 1.2021
MUTTER? - Deutscher Kinderschutzbund
Barrieren im Weg
Elternabend gestern in der westdeutschen              anders gemacht als mein Vater, ich wollte vor-     diglich in den individuellen Familienraum ab-
Kita Sonnenstern – und wie immer nur ein              ne mit dabei sein, wenn es ums Wickeln, Ba-        gewälzt wird und auf diese Weise ungelöst
einziger Mann in der Runde. Daniel. Lassen            den, Kuscheln, Füttern, Vorlesen geht. Oh          bleibt.
wir ihn selbst erzählen:                              Mann, das ist vielleicht ein schönes Gefühl! Nur   Geschlechterrealität und elterliche Rollen-
                                                      das mit dem Anziehen der Kids bzw. die Aus-        verteilung sind immer auch eine gesell-
Da haben mich meine Geschlechtsgenossen               wahl der richtigen Farbkombination der Kla-        schaftliche Wirklichkeit. In ihr spiegelt sich
mal wieder schnöde im Stich gelassen. Erst            motten – das kriege ich irgendwie nicht hin.       das, was die Allgemeinheit für richtig hält –
große Papa-Töne spucken und dann kneifen.             Zumindest sagt das meine Frau.                     ob sie das nun offen zugibt oder als heimli-
Da hockte ich also, von links bedacht mit mit-        Ansonsten können wir „neuen“ Väter bis auf         ches Curriculum verfolgt. In unserem Fall
leidigen Blicken und von rechts … jedenfalls          das Stillen heute eigentlich alles. Wenn auch      sind die zu Recht konstatierte Geschlechter-
so, als hätte ich hier nichts zu suchen. Das war      manchmal nicht gut genug. Brei zu pampig,          ungerechtigkeit und die systematische Be-
womöglich schon immer so, die Kitas sind fest         Klamotten zu bunt, Badewasser zu voll, Fläsch-     nachteiligung von Frauen und Müttern das
in weiblicher Hand.                                   chenhaltung zu schräg. Wir haben es halt nicht     Spiegelbild eines sehr konservativen und mit
Früher sind Väter bestenfalls kurz mit dem Kin-       leicht im doch noch sehr nach alten Mustern        Mythen behafteten Rollenbildes, das in
derwagen durch die Gegend geschoben, ha-              gestrickten Alltag der geschlechtsspezifischen      Deutschland nach wie vor dominiert – im
ben abends mal vorgelesen und am Wochen-              Rollenverteilung. Nehmen wir nur mal die El-       Westen noch viel stärker als im Osten. Gegen
ende auch zweimal. Sie haben sich die Sahne           ternzeit: Ein Freund von mir, bodenständiger       diese geschlechtsspezifische Rollenzuwei-
aus dem Kuchen der Kinderbetreuungsarbeit             Handwerker, hat mal länger als die üblichen        sungen wird weder substantiell noch effektiv
gegriffen. Wenn überhaupt. Nun, ich hab´ s             zwei Monate Elternzeit genommen. Das macht         Politik gemacht – eben, weil man(n) es nicht
                                                      der nie wieder! Die hämischen Bemerkungen          will. Zu bequem sind die verteilten „Zustän-
                      Foto: shutterstock/Master1305   der Kollegen waren das eine, das andere war        digkeiten“, zu eingefahren und in den Struk-
                                                      die Arbeitszuteilung frei nach dem Motto: „So,     turen zementiert.
                                                      so, Du brauchst mehr Zeit für die Familie. Okay    Diese sozialen Rollen sind nicht wie Obst vom
                                                      – aber dann können wir Dich leider nicht mehr      Baum der Erkenntnis gefallen, sondern es
                                                      überall einsetzen.“ Die spannenden Aufgaben        handelt sich um über Jahrzehnte/Jahrhun-
                                                      kriegten fortan andere.                            derte gewachsene, gesellschaftlich konstru-
                                                      Soviel von Daniel.                                 ierte, komplexe Handlungs- und Verhaltens-
                                                                                                         muster, in die Mann und Frau, Mutter und Va-
                                                      Nun tun wir Väter schon, was wir können, ha-       ter „hineinsozialisiert“ werden.
                                                      ben uns in den letzten Jahrzehnten derartig        Da können wir Väter uns noch so sehr recken
                                                      verändert, dass einige Geschlechtsgenossen         und strecken, das gar nicht so „Neue“ in uns –
                                                      gar meinen, ihre Würde als Mann zu verlie-         unser kindgerichtetes Interesse und Engage-
                                                      ren. Und werden dafür auch noch schräg an-         ment sowie unsere Freude an und mit den
                                                      gesehen. Am Arbeitsplatz, auf dem Spiel-           Kindern – darf sich nicht voll entfalten. Es sind
                                                      platz und zuweilen auch von der Mutter un-         die strukturellen Widerstände, die zu mächtig
                                                      serer Kinder. Im häuslichen Konflikt um „an-        dagegenstehen – und keineswegs die Mütter
                                                      gestammte“ Aufgaben, veränderte Zustän-            unserer Kinder. Solange aber nicht alle Teile
                                                      digkeiten und erwünschte Erziehungswerte           der Gesellschaft mehrheitlich anerkennen so-
                                                      gibt es dann eher Zoff als Lösung, eher Krach       wie finanziell, rechtlich und auch normativ un-
                                                      als leise Töne, eher Konkurrenz als gelingen-      terstützen wollen, dass beide Elternteile für
                                                      des Miteinander.                                   das Kind wichtig sind, wird sich substanziell
                                                      Damit sind wir im Kern der Problematik: Den        kaum etwas ändern. Dazu nochmal Daniel:
                                                      „neuen“ Vater gibt es nicht – jedenfalls nicht
                                                      ohne die „neue“ Mutter. Das ist aber nur die       Das mit dem „neuen Vater“ ist doch reiner Fa-
                                                      Symptomebene. Denn tatsächlich können              ke. Ich jedenfalls mag mich nicht mehr länger
                                                      weder Väter noch Mütter „neu“ (und wirklich        instrumentalisieren lassen und mit der Mutter
                                                      frei) handeln ohne „neue“ (gerechtere) Ge-         meiner Kinder einen aussichtslosen Stellver-
                                                      schlechterverhältnisse, eine „neue“ (die Be-       treterkrieg für die Verhältnisse führen. Da wid-
                                                      dürfnisse des Kindes berücksichtigende) Fa-        me ich mich lieber meiner Familie, wie wir es
                                                      milienpolitik etc.                                 mögen. Vor allem mit gegenseitigem Vertrau-
                                                      In diesem Sinne verbirgt sich hinter dem holz-     en. Und das ist mit den Jahren und der Kinder-
                                                      schnittartigen Etikett „neuer Vater“ eine viel     zahl in unserer Familie gewachsen. 
                                                      komplexere strukturelle Problematik, die le-       Martin Stahlmann, Redaktion

                                                                                                                                                       9
MUTTER? - Deutscher Kinderschutzbund
Tschüss bis nächste Woche!
        Cafe Kinderwagen

                                                                                                                                                   Fotos (3.): OV Holzminden
  Tropfnass vom November-
 regen stehen einige Kinder-
        wagen und Buggys im
   großen Flur des Familien-
    zentrums „Drehscheibe“.
     Der kleine Fahrstuhl hat
  sie in den 2. Stock der ehe-
    maligen Grundschule ins
 „Cafe Kinderwagen“ des KV
  Holzminden gebracht. Das
lädt schwangere Frauen und
   Eltern mit Kindern bis drei
  Jahren einmal wöchentlich
 kostenfrei ein und ist damit
 quasi eine „Krabbelgruppe“.

                                                                                                   56%
Das Angebot war im Juli 2014 von den „Frü-       wie in vielen alten Schulen mit typischem Li-                        aller vier Monate
hen Hilfen Niedersachsen“ initiiert und an-      noleumboden bestückt. Heute leitet Alexan-
                                                                                                                      alten Babys wurden
schließend gefördert worden. Als unser Kreis-    dra die Gruppe. Sie hat feste Turnmatten aus-
verband Holzminden es als Träger übernahm,       gelegt, damit die Kleinen warm darauf liegen
                                                                                                   2019 in Deutschland von ihren
bestand es an drei Standorten in unserem         und ihre Mütter halbwegs weich sitzen kön-        Müttern noch voll gestillt. Am Ende
Landkreis.                                       nen. An der Wand stehen einige stapelbare         ihres ersten Lebensjahres erhielten
Ab dem Jahr 2017 waren also unser Vorstand       Holzhocker und bunte Stühle für die Erwach-       immer noch 41% aller Säuglinge
und ich für die Organisation und pädagogi-       senen parat. Neben der Tür hängt ein manns-       neben der Beikost die mütterliche
sche Betreuung zuständig. Seitdem hat sich       hoher Spiegel, gegenüber den großen Fens-         Brust. (SuSe-II-Studie, 2020, dge)
einiges verändert: Wir konnten drei weitere      tern lädt ein kleines Bällebad zum Spielen ein.
„Cafe Kinderwagen“ eröffnen! An allen sechs       Auf dem Tisch warten Kaffee, Tee oder Wasser       weit sie Einblick in ihr Leben gewähren möch-
Standorten befinden wir uns in Familienzen-       sowie kleine Knabbereien auf die Teilnehme-       ten, bestimmen sie aber selbst. Gedrängt wird
tren und Mehrgenerationenhäuser, verteilt        rinnen, sie bedienen sich einfach selbst.         hier niemand!
über den gesamten Landkreis Holzminden.                                                            Über die mitterweile sechs Jahre gemeinsa-
Das Bundesprogramm „Kita-Einstieg, Brücken       Im „Cafe Kinderwagen“ sind wir alle „per Du“      mer Treffen haben sich einige Freundschaf-
bauen in frühe Bildung“ sowie der Landkreis      und jeder Gast, ob klein oder groß, wird per-     ten unter den Eltern herausgebildet, die sie
und die einzelnen Gemeinden fördern unsere       sönlich begrüßt. Es ist wichtig, jede Mutter      durchweg als Bereicherung erleben. Auf die-
sechs Standorte finanziell.                       anzusprechen, willkommen zu heißen und            se Weise können insbesondere zugezogene
                                                 so auch zurückhaltenden Besucherinnen den         Familien durch das „Cafe Kinderwagen“ neue
Mittlerweile ist unser Team dreiköpfig, denn      Kontakt zu erleichtern! Bei Bedarf unterstüt-     Kontakte knüpfen und schneller am neuen
Alexandra Pleace und Patricia Kaspereit sind     zen uns Sprachmittlerinnen.                       Wohnort ankommen.
hinzugekommen. Jede von uns betreut eine                                                           Einige Mütter haben soeben Spielsachen aus
Gruppe oder auch mehrere an festen Tagen.        Schon bald entsteht heute eine entspannte         dem angrenzenden Lagerraum geholt –
Wir haben nicht nur als Erzieherinnen oder       Atmosphäre. Kleine Gespräche schwirren            Rutscheautos, Ballonbälle, große Bauklötze
Heilerziehungspflegerinnen, sondern auch          durch den Raum, es werden aber auch Pro-          aus Weichschaum, Greiflinge. Alexandra baut
als Mütter viel Erfahrung mit den Themen,        bleme angesprochen: die ewigen nächtli-           nun das Highlight der älteren Kinder auf: ein
die Familien und insbesondere die Mamas so       chen Schlafunterbrechungen zum Beispiel,          kleines Klettergerüst mit Rutsche. Viele ken-
umtreiben!                                       die Müttern mit Babys zu schaffen machen,          nen das schon und sind bereits hibbelig,
Es ist 10 Uhr. Im „Gelben Raum“ krabbeln eini-   oder die Eifersucht eines älteren Kindes auf      denn gleich, ja gleich geht´s los!
ge Kinder umher oder liegen noch in ihren Ba-    das jüngere. Das ist auch Ziel unserer pädago-    Nach und nach sind acht Mütter mit Kind
byschalen. Manche schlafen, andere sind hell-    gischen Arbeit: diese Atmosphäre zu schaffen,      oder Kindern im „Gelben Raum“ eingetru-
wach. Der freundliche quadratische Raum ist      in der sich Mütter trauen, sich zu öffnen. Wie     delt. Weil unsere Gruppen jeder ohne Anmel-

10 KSA 1.2021
bewegen nicht nur Fragen zur Entwicklung
                                                                                                 der Kinder, zum Schlaf oder zum Stillen, son-
                                                                                                 dern vielfach belasten sie auch Situationen,
                                                                                                 die sie innerhalb oder außerhalb ihrer Famili-
                                                                                                 en erleben. Wenn sie uns davon berichten
                                                                                                 und dann durch ihr Vertrauen zu uns z.B.
                                                                                                 Kontakte zum Jugendamt oder zu anderen
                                                                                                 Hilfsangeboten zulassen können, dann ist
                                                                                                 das auch ein Erfolg vom „Cafe Kinderwagen“.
                                                                                                 Ebenso freuen wir drei Fachkräfte uns als
                                                                                                 Gastgeberinnen, wenn für die Mütter und
                                                                                                 die Kinder nach unserer längeren gemeinsa-
                                                                                                 men Zeit im „Cafe Kinderwagen“ nun in der
                                                                                                 Kita ein neuer Lebensabschnitt beginnt und
                                                                                                 sie sich herzlich für unsere Unterstützung be-
                                                                                                 danken. Manchmal ist dieser Abschied nur
                                                                                                 für eine gewisse Weile – bis das nächste Kind
                                                                                                 unterwegs ist!
dung offenstehen, wissen wir vorher nie, wie-    bieten. Die liebevoll geführten Büchereien       Im „Gelben Raum“ beginnen jetzt einige Kin-
viele kommen werden. Selten bleiben wir         im Landkreis wiederum haben unsere Grup-         der zu quengeln. Ein untrügliches Zeichen
ganz ohne Gäste, viele Mal ist die Runde        pen gern zu einem literarischen Ausflug z.B.      dafür, dass das Treffen heute zu Ende geht –
auch recht groß. Im Jahr 2019 haben durch-      in die Welt der Kinderbücher zu Gast.            aber nicht ohne unser Abschiedslied! Die
schnittlich 35 Eltern das „Cafe Kinderwagen“    Heute hält Kinderkrankenschwester Anette         Kleinen lieben dieses Ritual und tanzen mit.
jede Woche besucht. Das sind über 1.600         Schürzeberg ihre „Sprechstunde“ bei uns          Danach wuselt alles durcheinander, Babys
Kontakte im Jahr – und die Kinder sind da       über sanfte Hausmittel ab, die bei Erkältung     werden dick eingepackt, das Spielzeug in die
noch nicht eingerechnet!                        und Fieber bei Kleinkindern eingesetzt wer-      Regale zurückgeordnet und der kleine Fahr-
                                                den können. Monatlich präsentieren sie und       stuhl am Haus wieder gerufen. Tschüss bis
Heute hat sich eine Gruppe aus „Stammbesu-      ihre Kollegin im Projekt, Inna Kapitza, neue     nächste Woche! Oder vielleicht auch schon
cherinnen“ eingefunden, die oft oder man-       Themen. Nun sitzen alle Mütter im offenen         morgen an einem anderen Standort des„Cafe
che sogar mehrmals in der Woche das Ange-       Kreis auf den Matten, Hockern oder Stühlen.      Kinderwagen“. 
bot wahrnehmen. Sie haben viele Fragen          Einige haben ihre Babys auf dem Schoß,           Carmen Zünkler, Erzieherin,
mitgebracht, die sie jetzt Anette Schürze-      während sie der Kinderkrankenschwester zu-       KV Holzminden
berg stellen. Die Kinderkrankenschwester        hören. Ein paar Kinder laufen zwischen den
aus dem örtlichen Krankenhaus hält nämlich      Erwachsenen herum, wollen unbedingt rut-
zweimal im Monat eine „Sprechstunde“ bei        schen. Mütter reichen ihnen eine stützende
uns ab, die von den „Frühen Hilfen Nieder-      Hand, während sie mit aufmerksamem Ohr
sachsen“ im Landkreis Holzminden geför-         bei unserem Tagesthema bleiben. Die Kin-
dert wird.                                      derkrankenschwester beantwortet viele Fra-
Darüber hinaus bieten wir unseren Gästen        gen, berichtet von ihren Erfahrungen und
zwischen September und Mai immer ein viel-      gibt auch praktischen Rat zu einem leichten
fältiges Programm: die Infovormittage im        Ausschlag, der sich bei einem kleinen Mäd-
„Cafe Kinderwagen“ zum Beispiel. Sie wer-       chen heute zeigt. Die eineinhalb Stunden für
den von mir zusammengestellt und an unse-       das Treffen vergehen viel zu schnell.
ren verschiedenen Standorten durch Refera-
te und Beratungen zu speziellen Themen er-      Die meisten unserer Gruppentreffen kom-
gänzt. Regelmäßig und seit Anbeginn laden       men aber ohne jedes Thema aus. Unsere Gäs-
wir z.B. verschiedene Fachkräfte der Erzie-     te, meist Mütter und selten Väter, manchmal
hungsberatungsstelle des Landkreises sowie      auch Großeltern, Tagesmütter oder Familien-
Expertinnen/Experten von der Frühförde-         hebammen mit ihren Klientinnen, sind dann
rung ein, denn an Fragen zur Entwicklung des    in lockeren Runden entspannt zusammen.
Kindes sind unsere Gruppen immer sehr in-       Die Kinder spielen, Babys werden gestillt, ei-
teressiert! Darüber hinaus gibt die Beraterin   ne gute Tasse Kaffee wird genossen. An sol-
der AWO ihnen Orientierung zu Eltern-Kind-      chen Tagen entstehen zwischen uns Kinder-
Kuren, die Beraterin der AOK widmet sich        schützerinnen und einzelnen Frauen häufig
Themen rund um Ernährung und Bewegung,          intensive Gespräche. Oft können wir dann
die Offene Sprachberatung der Lebenshilfe        mit einem Tipp, mit einem anderen Blick auf
gibt Tipps zur Sprachförderung. Sehr beliebt    die geschilderte Situation oder auch mit
bei unseren Eltern ist der „Erste-Hilfe-am-     ganz konkreter Unterstützung z.B. durch ei-
Kind-Schnupperkurs“, den die Johanniter an-     nen Anruf beim Amt helfen. Denn die Mütter

                                                                                                                                           11
Foto: istock/CasarsaGuru
  Vielfalt erwünscht!
                Familie
    „Ein Kind braucht seine
                                 Sicherlich stimmen Sie mir zu: Die Bezugsper-
                                 son eines Kindes erbringt immense Leistun-
                                 gen. Sie nährt das Kind emotional, körperlich,
                                                                                     2,2 Mio.                       Mütter
                                                                                     waren im Jahr 2019 in Deutschland
                                 seelisch und geistig. Sie nimmt sich Zeit, gibt
       Mutter“ – das ist auch                                                        alleinerziehend. Sie führen mit Ab-
                                 dem Kind Raum und Basis für seine Entwick-
heute noch ein oft gehörter      lung. Sie begleitet, betreut, stärkt, schützt
                                                                                     stand die Liste armutsgefährdeter
 Satz. Welche Vorstellungen      und tröstet es. Sie lacht mit ihm, bastelt seine    Haushalte an: Ihr Risiko liegt bei etwa
                                 Schultüte, singt es in den Schlaf und setzt sich    43 Prozent. Auf Platz 2 der traurigen
           stecken dahinter?                                                         Gefährdungstabelle stehen Paar-
                                 am Kindergeburtstag sogar eine rote Nase
   Nach Beobachtungen von        auf, wenn es sein muss. Die Bezugsperson ist        familien mit drei oder mehr Kindern
Ekin Deligöz fällt dieser Satz   liebevoll, empathisch, verständnisreich, fein-      (fast 32 Prozent Risiko). bpd.de
                                 fühlig und in verlässlicher Beziehung zum
meistens dann, wenn Fragen
                                 Kind, damit es sich jederzeit stark, sicher, ver-   sönlichkeit entfalten und Schutz, Verständnis
   um die Vereinbarkeit von      trauensvoll und geborgen fühlen kann. Um            und verlässliche Beziehungen finden. In die-
  Familie und Beruf, um das      dem Kind all das zu geben, nimmt sich die Be-       sem Sinne kann Familie in vielen Konstellatio-
                                 zugsperson oft selbst stark zurück.                 nen gelebt werden. Sie hängt weder von der
 Sorgerecht oder um Regen-
                                 Unsere Gesellschaft bezeichnet all diese Ei-        biologischen Verwandtschaft noch vom Ge-
bogenfamilien gesellschaft-      genschaften als „mütterlich“. Sie irrt jedoch       schlecht der Bezugsperson ab.
lich zur Debatte stehen. Für     aus meiner Sicht, wenn sie glaubt, dass nur ei-     Wir haben uns ganz bewusst dafür entschie-
                                 ne Mutter in dieser Weise Verantwortung             den, Familie so zu beschreiben und damit
komplexe Probleme werden
                                 übernehmen kann. Ein Kind braucht eine fes-         vom Kind aus zu denken. Zudem sehen wir je-
   oft schnelle und einfache     te Bezugsperson, das ist mit dem obigen Satz        den Tag in unserer praktischen Arbeit vor Ort,
 Lösungen gewünscht – und        eigentlich gemeint. In Deutschland sind das         wie vielfältig Familie gelebt wird, wie ver-
                                 in der Regel tatsächlich die Mütter. Sie müs-       schieden Beziehungen in ihr sein können und
  der Satz „Ein Kind braucht
                                 sen es aber nicht sein.                             dass ein glückliches, geborgenes Aufwach-
   seine Mutter“ scheint sie     Vor einigen Jahren hat sich der Kinderschutz-       sen in diversen Konstellationen möglich ist –
                    zu bieten.   bund ein Leitbild gegeben. Darin formulieren        solange sie stabil und verlässlich sind.
                                 wir unsere Vorstellungen davon, was Kinder          Eine dieser Konstellationen ist die alleiner-
                                 in Familien brauchen und wie Familie gelin-         ziehende Familie. Nackte Zahlen zeigen ihre
                                 gen kann: Familie in all ihren Erscheinungs-        Realität in Deutschland: 90 Prozent der al-
                                 formen ist der Raum, in dem Kinder ihre Per-        leinerziehenden Eltern sind Frauen. Frauen

12 KSA 1.2021
Rund
verrichten im Durchschnitt 52 Prozent mehr
Sorge- und Familienarbeit als Männer. In der
                                                                             ein Drittel aller Mütter (32,4 %) mit zwei minderjäh-
Erwerbsarbeit werden Frauen in der Regel
                                                                             rigen Kindern haben in Ostdeutschland (inkl. Berlin) im
schlechter bezahlt als Männer, sie sind selte-          Jahr 2019 in Vollzeit gearbeitet, ein gutes weiteres Drittel in Teilzeit. In West-
ner in gut bezahlten Führungspositionen ver-            deutschland gingen dagegen nur 13,4 Prozent Mütter mit zwei Kindern unter
treten und arbeiten auch öfter in Teilzeit als          18 Jahren einer Vollzeitbeschäftigung nach. Knapp die Hälfte aller zweifachen
Männer.                                                 Mütter arbeiteten hier in Teilzeit (49,6 %). Jede fünfte Mutter mit drei oder
So kommt es, dass Kinder vor allem für Frauen           mehr minderjährigen Kindern arbeitet in Ostdeutschland immerhin noch
ein Armutsrisiko darstellen. Sie sind es, die in        Vollzeit, in Westdeutschland sind das lediglich gut 8 Prozent.
der Regel länger aus ihrem Job aussteigen.              Auch mit „nur“ einem Kind arbeiten mehr ostdeutsche Mütter in Vollzeit
Sie sind es, die nach der Scheidung das Fami-           (39 %) als westdeutsche Mütter (20 %). Insbesondere zeigt die Statistik in
lienleben allein organisieren und oft auch al-          Sachen Erwerbsbeteiligung und Arbeitszeitumfang auch einen deutlichen
lein finanzieren. Sie sind es, von denen Politik
                                                        Unterschied zwischen ost- und westdeutschen Müttern mit Kindern unter
und Gesellschaft erwarten, trotz dieser Mehr-
fachbelastungen möglichst schnell wieder in
                                                        drei Jahren. Und weitere zwei Punkte weist sie nach: 1. Wenn Mutterschaft
die Erwerbsarbeit zurückzukehren. Nüchtern
                                                        wie so häufig zur Abnahme der Erwerbsbeteiligung führt, so arbeiten die
betrachtet hat frau die Wahl zwischen zwei              Väter umso mehr. 2. In Ost- und Westdeutschland sind Mütter gleicher-
inakzeptablen Möglichkeiten: als vollzeitar-            maßen überwiegend in Teilzeit beschäftigt.
beitende Mutter noch zusätzlich die Familien-           www.sozialpolitik-aktuell.de, Institut Arbeit und Qualifikation der Universität
arbeit zu stemmen und dabei weder dem Be-               Duisburg-Essen, abbIV20, nach: Statistisches Bundesamt (2020)
ruf noch der Familie gerecht werden zu kön-
nen – oder als teilzeitarbeitende bzw. nicht er-

                                                                                                        61%               weniger Geld
                                                   Foto: istock/IRYNA KAZLOVA

werbstätige Mutter ein hohes Armutsrisiko in
Kauf zu nehmen.                                                                                                           als im letzten Jahr
In der politischen Lobbyarbeit setzt sich der                                                           vor der Geburt des ersten Kindes ver-
DKSB deshalb dafür ein, dass Menschen wirk-                                                             dienen Mütter in Deutschland auch
liche Wahlfreiheit haben. Dafür ist die Freiheit                                                        noch zehn Jahre nach der Geburt.
von finanziellen Ängsten eine notwendige                                                                 Das belegt die Studie „Child Panal-
Voraussetzung. Unsere politische Forderung                                                              ties” in einem internationalen Ver-
nach einer unbürokratischen und existenzsi-                                                             gleich. Die Bertelsmann Stiftung
chernden Kindergrundsicherung ist also                                                                  wiederum hat die Verdiensteinbußen
nicht nur ein Instrument zur Bekämpfung der
                                                                                                        von Müttern auf ihr gesamtes
Kinderarmut, sondern hat auch das Potenzial,
                                                                                                        Erwerbsleben hochgerechnet. Die
Entscheidungen über Lebensmodelle in Fa-
milien freier zu machen.
                                                                                                        Entscheidung für ein Kind kostet
Ich wünsche mir, dass in einer kindgerechten                                                            Mütter im Vergleich zu kinderlosen
Gesellschaft Familie so gelebt werden kann,                                                             Frauen durchschnittlichen 40 Prozent
wie es den Bedürfnissen aller Familienmit-                                                              weniger Lebenserwerbseinkommen.
glieder entspricht. Manches Kind fremdelt                                                               Bei Müttern mit drei oder mehr
noch mit vier Jahren mit dem Trubel und der                                                             Kindern liegt die Einbuße bei nahezu
Geräuschkulisse in einer durchschnittlichen                                                             70 Prozent.
Kita und fühlt sich daheim sicherer, andere                                                             Henrik Klevens u.a.: Child Penalties Across
langweilen sich bereits mit ein oder zwei Jah-                                                          Countries: Evidence and Explanations,
                                                                                                        März 2019
ren zu Hause und fühlen sich in einer Kinder-
                                                                                                        www.bertelsmann-stiftung.de/de/
einrichtung pudelwohl. Viele Väter würden                                                               unsere-projekte/beschaeftigung-im-
gern mehr Familienarbeit leisten und dafür                                                              wandel/projektnachrichten/kurzexpertise-
auf Teilzeit gehen, aber dann würde der Fami-                                                           frauen-auf-dem-deutschen-arbeitsmarkt
lie Einkommen fehlen. Viele Mütter möchten
stärker erwerbstätig sein – und viele alleiner-

                                                        1,41 Mio.
ziehende Eltern würden gern weniger arbei-                                               Frauen haben im Jahr 2019 Elterngeld
ten, als sie müssen.
                                                                                         bezogen (und knapp 456.000 Männer).
Im Jahr 2021 gibt es genügend Erwerbsarbeit
                                                        Die durchschnittliche monatliche Auszahlungshöhe betrug 852 Euro –
und genügend Familienarbeit – beides ist nur
sehr ungleich verteilt. Hier für Veränderung
                                                        wobei Männer durchschnittlich 1.232 Euro erhielten und Frauen durch-
zu werben und Wahlfreiheit zu ermöglichen,              schnittlich 730 Euro. Dabei nutzten die meisten Männer lediglich die zwei
ist auch Aufgabe des Kinderschutzbundes.               Partnermonate im Rahmen des Basiselterngeldes (12 + 2 Monate).
Ekin Deligöz, zweifache Mutter,                         destatis.de
Vizepräsidentin des Kinderschutz-
bundes

                                                                                                                                                  13
Wissenschaft

IN DIE WIEGE gelegt?
                                                                                               z.B., die neben den Schimpansen die engsten
                                                                                               Verwandten des Menschen sind und als be-
                                                                                               sonders friedfertig gelten, führt das Alpha-
                                                                                               Weibchen die jeweils 30- bis 80-köpfige, ge-
                                                                                               mischtgeschlechtliche Gruppe an. Braunbä-
                                                                                               renmütter wiederum sind Einzelgängerin-
                                                                                               nen, versorgen ihre Kinder ganz allein und
                                                                                               müssen sie sogar vor den Attacken des Erzeu-
                                                                                               gers schützen. In Elefanten-Familien küm-
                                                                                               mert sich eine Reihe von Tanten rund um die
                                                                                               Uhr um die Kinderstube.
                                                                                               Das Bemühen, dem Nachwuchs das Überle-
                                                                                               ben bestmöglich zu sichern und damit die ei-
                                                                                               gene Art zu erhalten, scheint überall naturge-
                                                                                               geben, wenn auch auf unterschiedliche Wei-
                                                                                               se. Tier wie Mensch passen sich dabei an das
                                                                                               an, was geht – wobei Menschen die weitaus
                                                                                               größeren Wahlmöglichkeiten haben. Die von
                                                                                               der Natur so gut ausgestattete Mutter kann
                                                                                               heute viele Aufgaben mit anderen teilen und
                                                                                               auf diese übertragen – beispielsweise auf den
                                                                                               Vater, der noch vor wenigen Generationen
                                                                                               „naturgemäß“ als nicht geeignet galt, sich an
                                                                                               der Kinderversorgung zu beteiligen.
                                                                                               Wer und was eine Mutter ist bzw. wie sie zu
                                                                                               sein hat, ist also nicht ausschließlich biolo-
                                                                                               gisch vorherbestimmt, sondern steht immer
                                                                     Foto: istock/arto_canon
                                                                                               auch in einem gesellschaftlichen Kontext, un-
                                                                                               terliegt dem Zeitgeist und ist auch Objekt der
Was wissen wir über Mütter? Was unterscheidet sie                                              modernen medizinischen Forschung mit
von Vätern und was von Frauen, die kinderlos sind?                                             teils weitreichenden Folgen. Selbst die lange
                                                                                               gehegte Gewissheit, eine Mutter sei eine Per-
Welche dieser Unterschiede sind naturgegeben (und von                                          son, die ein Kind „empfängt“ und austrägt, hat
uns Menschen eben hinzunehmen), und welche hat die                                             die Reproduktionsmedizin ins Wanken ge-
Gesellschaft geprägt? Auf der Suche nach Antworten auf                                         bracht: Heute ist Elternschaft u.a. auch mittels
                                                                                               Ei-Spende oder Leihmutterschaft möglich.
diese Fragen hoffen wir auf die Wissenschaft und stellen                                       Die Gesellschaftswissenschaften wiederum
fest: Wir müssen auch selber denken, denn die Vielfalt                                         sind u.a. der Frage nachgegangen, welcher
der Erkenntnisse lässt keine einfachen Schlüsse zu.                                            Umgang mit dem Kind zu welcher Zeit „ange-
                                                                                               sagt“ war. In der Kaiserzeit sollten die Mütter
Die Fakten aus der Biologie sind hinlänglich   sorgt wird, bis Dutzende der kleinen Fisch-     ihre Kinder zu Gehorsam gegenüber der vä-
bekannt: Der weibliche Körper eignet sich im   Pferdchen zur Welt kommen. Auch bei den         terlichen Autorität und zur Gottesfurcht an-
Allgemeinen gut dazu, für Nachwuchs zu sor-    Nandus, den großen flugunfähigen Vögeln,         halten. Die „gute“ Mutter der Nazizeit durfte
gen und ihn geeignet zu nähren. Doch „Mut-     sind die Väter alleinerziehend: Sie bauen das   ihr Baby auf keinen Fall verzärteln, sondern
ter Natur“ kennt einige Varianten: So brütet   Nest, brüten die Eier aus und beschützen ihre   sollte ihm mit Distanz und Härte begegnen.
der werdende Pinguin-Papa das Ei in munte-     Küken das erste halbe Jahr – sogar gegen die    Und heutzutage, wo jedes Kind in Deutsch-
rer Gemeinschaft mit anderen Pinguinvätern     Mutter.                                         land das Recht auf gewaltfreie Erziehung be-
aus, während seine Liebste sich direkt nach                                                    sitzt, sind faktisch Individualität, Leistung und
der Ei-Ablage wieder auf Nahrungssuche ins                 DIE BIOLOGIE                        Erfolg gefragt: Im Prinzip soll eine Mutter von
Meer stürzt. Und bei den Seepferdchen sind            BESTIMMT NICHT ALLEIN                    Anfang an die Persönlichkeit ihres Spröss-
gar die Männer schwanger. Sie tragen den       Wir Menschen haben viele Ähnlichkeiten mit      lings optimieren, so erwartet es die Gesell-
Nachwuchs mehrwöchig in der Bauchtasche,       den Säugetieren, wie in der Verhaltensfor-      schaft. Wer weiß, wie die Menschen in einigen
in der er – ähnlich wie ein Ungeborenes von    schung beobachtet wurde. Doch auch hier         Jahrzehnten darüber denken werden, was
der menschlichen Plazenta – mit allem ver-     gibt es eine große Vielfalt. Bei den Bonobos    uns heute richtig erscheint?

14 KSA 1.2021
778.100
Dass Mütter auch früher unter Erwartungen            renen durch das neu entdeckte HIV-Virus be-
von außen litten, zeigt ein kurzer Ausflug in         fürchtete. Heute ist die Ansteckungsgefahr
die Psychiatrie. Hier tauchte in den 1920er          gebannt, mittlerweile gibt es an deutschen
                                                                                                                                   Babys
Jahren der Begriff der „Mutterschaftsneuro-           Kliniken wieder 31 Milchbanken. So profitie-       wurden im Jahr 2019 in Deutsch-
se“ auf. Dieser Befund wurde auf junge Müt-          ren auch Frühgeborene und sehr schwache           land geboren. Bei fast 900.000
ter angewandt, die nach der Geburt ihres             Babys von nicht stillenden Müttern von der        Familien leben drei oder mehr
Erstlings in einem fürchterlichen Zwiespalt          Muttermilch.                                      minderjährige Kinder im Haushalt.
steckten: Einerseits spürten sie ihren Impuls,       An dieser Stelle mahnt nun die Ökotropholo-       destatis.de
ihr weinendes Baby tröstend im Arm zu hal-           gie: Uneingeschränkt gesund sei das Stillen
ten, andererseits sagte die gängige Lehrmei-         auch wieder nicht. Denn Muttermilch kann          Er spürt die Erschöpfung und Verzweiflung
nung, man müsse das Kind schreien lassen. In         Umweltgifte enthalten, die im Körper extrem       der Mutter. Auch das Baby kann das spüren,
der Folge waren einige Mütter nicht mehr in          langsam oder gar nicht abgebaut werden.           aber natürlich nicht verstehen, deswegen rea-
der Lage, ihr Kind überhaupt zu versorgen.           Dass sich längst verbotene chemische Schad-       giert es mit vermehrter Unruhe. Aus einem
                                                     stoffe wie DDT und Dioxin noch Jahrzehnte          solchen Teufelskreis hat schon manche Fami-
     DIE SACHE MIT DEM STILLEN                       später in der Muttermilch finden, hat Fachleu-     lie durchs Abstillen herausgefunden – und
Aus der naturwissenschaftlich orientierten Er-       te und Laien aufgeschreckt. Glücklicherweise      die Mutter-Kind-Beziehung profitiert dann
nährungswissenschaft wissen wir heute,               ist die Belastung in den letzten Jahren konti-    sogar davon. Was zeigt: Das Stillen ist beileibe
dass die einmalige Zusammensetzung der               nuierlich gesunken. Verschiedene Fachge-          nicht der einzige Weg, mit dem Kind in inni-
Muttermilch passgenau und deshalb zweifel-           sellschaften plädieren daher aktuell fürs Stil-   ger Beziehung zu bleiben.
los gesund fürs Kind ist. Aber selbst die Fähig-     len, das möglichst sechs Monate voll prakti-
keit zum Stillen stellt kein absolutes Alleinstel-   ziert werden soll.                                         DIE VIELFALT FÖRDERN
lungsmerkmal dar. Denn im Prinzip kann jede                                                            Zu guter Letzt nochmal die Biologie. Sie hat
weibliche Brust auch ohne vorherige Schwan-
gerschaft und Geburt dazu gebracht werden,
Muttermilch zu bilden. Auf diese Weise – und
                                                     30,1             Jahre war im Jahr
                                                                      2019 das durch-
                                                     schnittliche Alter von Erstgebärenden
                                                                                                       herausgefunden, dass sich „mütterliches“ Ver-
                                                                                                       halten überall auf der Welt zeigt – und zwar
                                                                                                       nicht nur bei Schwangeren und Müttern. Prak-
mit viel Geduld und Unterstützung – gelingt                                                            tisch alle Erwachsenen und auch ältere Kinder
es sogar einigen Adoptivmüttern, das junge
                                                     in Deutschland. Auf alle Geburten                 haben ein biologisch angelegtes, instinktives
Kind (zumindest teilweise) zu stillen.               im Jahr 2019 gerechnet lag der                    Fürsorge- und Pflegeverhalten gegenüber
Die Entwicklungspsychologie betont immer             mütterliche Altersdurchschnitt                    kleinen Kindern. Wenn wir ein Baby weinen
wieder, dass Stillen die Bindung fördert. Das        bei 31,5 Jahren. destatis.de                      hören, wollen wir es automatisch trösten. Und
war im Ammenwesen nicht anders – nur                                                                   wenn es uns anlächelt, lächeln wir zurück. Wir
pflegte hier eine fremde Frau die Stillbezie-         Diese Sichtweise setzt Mütter enorm unter         können kaum anders!
hung. Das Ammenwesen reicht bis in die An-           Druck. Da gibt es z.B. die Mutter, die nach der   Es ist hoffentlich deutlich geworden: Wissen-
tike zurück und erlebte im 18. und 19. Jahr-         Geburt rasch wieder arbeiten will oder muss,      schaftliche Erkenntnisse über Mütter und
hundert eine Blütezeit – zumindest in wohl-          das lässt sich mit dem Stillen nicht immer ver-   Mutterschaft sind so zahlreich wie vielfältig.
habenden Familien. Dort gab die Amme ge-             einbaren. Und da gibt es auch die Mutter, die     Nur das Leben selbst ist noch vielfältiger. Es in
gen Kost und Logis dem Nachwuchs der                 mit ihren Kräften am Ende ist, weil das Baby      seiner ganzen Vielfalt zu erhalten wäre doch
Dienstherrin die Brust – und versorgte ihn           rund um die Uhr jede Stunde an die Brust          mal ein Ziel, auf das wir uns unter Mithilfe al-
auch sonst rundum, oft zusammen mit dem              möchte. Der Vater würde ihr gern mehr ab-         ler Wissenschaften einigen könnten! 
eigenen Kind. In Frankreich war es sogar üb-         nehmen, vor allem einige schlaflose Nächte.        Korinna Bächer, Redaktion
lich, das Baby ganz zur Amme aufs Land zu
geben. Dadurch sahen sich die leibliche Mut-
                                                                                                                                                           Foto: istock/Juanmonino

ter und das Kind über Wochen oder Monate
nicht. Uns erscheint das heute herzlos und
unnatürlich; die damaligen Mütter entspra-
chen damit jedoch den gesellschaftlichen Er-
wartungen ihrer Zeit.
Wollte oder konnte eine Mutter nicht stillen,
bekam ein Baby aus weniger priviligierten Fa-
milien mit Wasser verdünnte Ziegenmilch
oder ähnliche Gemische, die meistens zur
Mangelernährung führten. Erst ab 1919 rich-
tete man in Deutschland sogenannte Milch-
sammelstellen ein. Frauen, die zu viel Mutter-
milch hatten, konnten diese dort abgeben –
für verwaiste Kinder oder solche, deren Müt-
ter nicht stillen konnten. In den 1980er Jahren
wurden die Milchbanken vorübergehend ge-
schlossen, da man Infektionen der Neugebo-

                                                                                                                                                    15
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