Narrative des Anthropozän - Systematisierung eines interdisziplinären Diskurses - Artikel - Sciendo
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Artikel Gabriele Dürbeck Narrative des Anthropozän – Systematisierung eines interdisziplinären Diskurses © 2018 Gabriele Dürbeck, licensee Sciendo. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.
2 10.2478/kwg-2018-0001 | 3. Jahrgang 2018 Heft 1: 1–20 Abstract: The Anthropocene concept originates from earth system sciences and conceptualizes human- ity as a planetary geophysical force. It links current action-oriented time horizons to Earth historical deep time and implies non-separability of natures-cultures. The Anthropocene concept has resonated in debates in natural and social sciences, the humanities and the broader public, serving as an inter- and transdisciplinary bridging concept. Based on an analysis of numerous texts from multiple scientific discipli- nes and media, this contribution distinguishes five narratives of the Anthropocene: the disaster narrative, the court narrative, the Great Transformation narrative, the (bio-)technological and the interdependence narrative. The five narratives articulate very different perspectives and experiences and transport diver- gent political, economic, ethical and anthropological values and interests; this is also shown in alternative conceptualizations such as Eurocene, Technocene, Capitalocene or Plantationocene. The analysis reveals that the narratives share significant structural characteristics concerning story, plot, protagonists, spatial and temporal structure and action-oriented emplotment which together can be referred to a meta-nar- rative of the Anthropocene. Since the partly overlapping, partly contradictory narratives compete for legitimation and dominance in science and the broader public, the findings raise the question whether this struggle will stabilize or undermine the Anthropocene meta-narrative in the long run. Keywords: disaster narrative; court narrative; the Great Transformation narrative; the (bio-)techno- logical narrative; the posthumanistic narrative Secondary Keywords: Anthropocene as a metanarrative; emplotment; overlapping and competing narratives Prof. Dr. Gabriele Dürbeck, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften (Fakultät III), Fach Germanistik, Univer- sität Vechta, Driverstr. 22-26, 49377 Vechta, Email: gabriele.duerbeck@uni-vechta.de. 1 Einleitung 2000). Es soll das Holozän ablösen, die seit ca. 11.700 Jahren andauernde Warmzeit mit relativ stabilen Umweltbedingungen, durch welche die In der Gründungsausgabe der Kulturwissen- Entstehung und Entwicklung der menschlichen schaftlichen Zeitschrift von 2016 hat Aleida Ass- Zivilisation ermöglicht wurde. Die zunehmende mann betont, dass die zentrale Aufgabe der Erderwärmung durch Treibhausgase, irreversible Kulturwissenschaften nicht nur in der „Selbst- Schäden durch Rodungen von Regenwäldern und beobachtung und Selbstthematisierung der Kul- Schadstoffeinträge in die Gewässer, die Versaue- tur“ bestehe, sondern auch darin, mit der per- rung der Meere, umweltschädlicher Plastikmüll in manenten Veränderung der Lebenswelt, an der den Ozeanen sowie massiver Verlust von Biodi- sie teilhaben, Schritt zu halten, brisante gesell- versität gehen auf tiefgreifende menschliche Ver- schaftliche Fragen zu erforschen und damit zur änderungen der Biosphäre auf planetarer Ebene „kulturellen Selbsttransformation“ beizutragen zurück (vgl. Steffen et al. 2015). (Assmann 2016: 47). Zweifellos stellt die kritische Der Anthropozän-Diskurs hat eine Karriere in Reflexion des Anthropozän-Diskurses, der sich verschiedenen Wissenschaftsbereichen von der seit der Jahrtausendwende in den unterschied- Geologie und den Umweltsystemwissenschaften, lichsten Wissenschaftsbereichen und durch die über die Science and Technology Studies, Sozial- Medien rasant ausgebreitet hat, eine solche Auf- ökonomie, Rechts-, Sozial- und Politikwissen- gabe dar. Der Begriff des Anthropozän bezeich- schaften bis in die Archäologie und Geschichte, net den dominanten Einfluss des Menschen auf Philosophie und Theologie sowie Literatur- und die biogeochemischen Subsysteme des Erdsys- Kulturwissenschaften angetreten. Dadurch ist tems in globalem Maßstab (Crutzen/Stoermer ein schwer überschaubares Diskursgeflecht ent-
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2018 3 standen. Die Idee einer neuen Erdepoche ist die verschiedenen Anthropozän-Narrative im Hin- auch durch die Medien und die popularisierende blick auf Plot, Story, Protagonisten, räumliche und Wissenschaftskommunikation (Schwägerl 2012; zeitliche Struktur sowie handlungsorientierende Leinfelder 2015) in eine breitere Öffentlichkeit Sinnstiftungen gemeinsame Strukturmerkmale vermittelt worden. Die britische Wochenzeitschrift aufweisen und sich insofern auf das Metanarrativ The Economist titelte im Mai 2011: „Welcome to beziehen lassen. the Anthropocene“ und betonte, dass „die Men- Der erste Abschnitt stellt das Anthropozän schen den Planeten verändert haben und von nun als inter- und transdisziplinäres Brückenkonzept an ihre Form, über ihn zu denken, ändern müs- vor und geht auf die Frage der Periodisierung sen“.1 2013–2014 fand im Haus der Kulturen der der neuen Erdepoche ein. Danach werden der Welt in Berlin unter Crutzens Schirmherrschaft Begriff des Narrativs und dessen Funktionen in ein groß angelegtes internationales und trans- wissenschaftlichen Diskursen erläutert. Der dritte disziplinäres „Anthropozän-Projekt“ statt, das Abschnitt entwickelt eine heuristische Unter- mit dem Nachfolgeprojekt „Technosphere“ (2015– scheidung von fünf Narrativen des Anthropozän, 2019) und den „Anthropocene Lectures“ (2017– um den bereits relativ ausdifferenzierten Diskurs 2018) fortgeführt wurde. Ebenfalls mit dem Titel in den Wissenschaften und den medialen Öffent- „Willkommen im Anthropozän“ warb eine Son- lichkeiten zu systematisieren und gleichzeitig derausstellung im Deutschen Museum München zu verdeutlichen, wie das Anthropozän-Konzept (2014–2016), die mit einem vielbeachteten Kata- eine neuartige interdisziplinäre Zusammenarbeit log „Unsere Verantwortung für die Zukunft der von Natur-, Sozial-, Geistes- und Kulturwissen- Erde“ ins Zentrum stellte (Möller et al. 2015). schaften in Gang gesetzt hat. Am Ende werden Die Anthropozän-Hypothese mit der Idee die unterschiedlichen Perspektiven der Narra- eines vom Menschen geprägten Erdsystems tive zusammengeführt und deren gemeinsa- stellt die kategorische Unterscheidung zwischen mer Bezugspunkt wird verdeutlicht. Ein Ausblick Natur und Kultur infrage und verlangt nach einer schließt den Beitrag ab. Neubestimmung der Stellung des Menschen als Bestandteil der lebendigen Welt. Obwohl das Anthropozän ursprünglich als geologisches Kon- 2 Das Konzept des Anthropozän zept eingeführt wurde, hat es sich in einem wei- teren Verständnis rasch auch zu einem „kultu- rellen Konzept“ (Trischler 2016a: 269; 2016b: Im Jahr 2000 haben der Atmosphärenchemiker 318–322) entwickelt, das weiterexistieren wird, Paul Crutzen und der Limnologe Eugene F. Sto- auch wenn sich die geologische Anthropozän-Hy- ermer den Begriff des Anthropozän für eine neue pothese nicht bestätigen lassen sollte erdgeschichtliche Epoche, die durch die domi- Erkenntnisleitend für die folgenden Überlegun- nante geophysikalische Macht des anthropos gen ist die These, dass das Konzept des Anthropo- bestimmt sei, in die geologische und umweltwis- zän eine inhärente narrative Struktur hat, sodass senschaftliche Debatte eingeführt.2 Die Hypothese es durch das Medium der Erzählung neuen Deutun- ist in der Folge laufend weiterentwickelt und bald gen der conditio humana in unserer Zeit aufzeigt. Mit dem Anthropozän-Diskurs sind unterschiedli- che Narrative verbunden, die zum Teil kontroverse 2 Etliche Vorläufer-Konzepte wie etwa „era anthropozoi- philosophische, ökonomische, technologische, ca“ (Stoppani 1873: 163), ‚Noosphäre‘ (Vladimir I. Ver- nadsky; Teilhard de Chardin), ‚anthropogene Ära‘ (Alexei sozialökologische und ethische Interpretationen P. Pavlov), ‚Anthropozoikum‘ (Hubert Markl) oder „anthro- der Rolle des Menschen als geologischer Kraft und cene“ (Revkin 1992: 55) umschreiben bereits menschliche seiner Verbindung zur nicht-menschlichen Umwelt Einflüsse auf das planetare Ökosystem mit jeweils unter- enthalten. Die Leitfrage dieses Beitrags ist, ob und schiedlicher Schwerpunktsetzung und Ausgangsprämisse inwiefern von einem Metanarrativ des Anthropo- (vgl. http://www.astrobio.net/interview/the-anthropoce- ne-humankind-as-a-turning-point-for-earth/ (abgerufen zän in dem Sinne gesprochen werden kann, dass am 29.06.2017) und Trischler 2016b: 311). Demgegenüber betonen Hamilton/Grinevald (2015: 60f.) aber das Neuarti- 1 http://www.economist.com/node/18744401 (abgerufen ge des Anthropozän-Konzepts, das erstmals in den Erdsys- am 27.06.2017). temwissenschaften fundiert sei.
4 10.2478/kwg-2018-0001 | 3. Jahrgang 2018 Heft 1: 1–20 in die öffentliche Debatte hineingetragen wor- formte Natur, die er – abgeleitet von Biomen, öko- den (vgl. Crutzen/Stoermer 2000; Crutzen 2002; logischen Großlebensräumen – als „Anthrome“ Crutzen/Steffen 2003; Steffen et al. 2003 und bezeichnet (Ellis/Ramankutty 2008: 445). Dem- 2007; Zalasiewicz et al. 2010; Crutzen/Schwä- nach ist ‚Natur‘ mittlerweile in großem und pla- gerl 2011 u.v.a.). Seit 2009 berät die 38-köpfige netarem Maßstab anthropogene, eine vom Men- Arbeitsgruppe der International Commission on schen kulturell und technisch überformte Natur. Stratigraphy (ICS) der Geological Society Lon- Schon vor dem Anthropozän-Diskurs sprach Bill don unter der Leitung von Jan Zalasiewicz3 da McKibben vom „End of Nature“ (1989) und aus rüber, eine neue geologische Epoche auszurufen, posthumanistischer Sicht prägte Donna Hara- und auf dem 35. Kongress der Geological Society way (2003: 2) für die enge Wechselbezüglichkeit Ende August 2016 wurde schließlich der formale von Natur und Kultur den sinnfälligen Begriff der Grundstein dafür gelegt (mit 30 zu 3 Stimmen bei „NatureCulture“. 2 Enthaltungen) (vgl. z.B. Carrington 2016). Das Anthropozän erscheint damit als ein Nar- Bemerkenswert ist, dass das Anthropo- rativ, das (a) die Menschheit als geophysikalische zän-Konzept durchgehend als ein Narrativ präsen- Kraft begreift, (b) eine planetarische Perspektive tiert wird, als eine Geschichte mit Protagonisten, auf die globale Umweltkrise wirft, (c) eine tiefen- einer Ereigniskette, einem Plot mit Ursache-Wir- zeitliche Zeitdimension aufweist, (d) eine enge kungs-Verhältnissen (vgl. Heise 2013: 21) und Wechselbeziehung, d.h. Nicht-Trennbarkeit von darüber hinaus mit einer spezifischen räumlichen Natur und Kultur annimmt und (e) daraus eine und zeitlichen Struktur, die zusammen der Sinn- ethische Verantwortung des Menschen für das stiftung dienen. Der Protagonist ist ungewöhnlich, Erdsystem ableitet. nämlich die gesamte Menschheit als geophysika- Bemerkenswert ist, dass sich in nahezu jeder lische Kraft, die so tiefgreifende Spuren auf dem Publikation eine Bemerkung zum Beginn der neuen Planeten hinterlässt, dass sie auch nach „Hun- geologischen Epoche findet und unterschiedliche dertausenden von Jahren“, etwa durch radioak- Periodisierungen als Ausgangspunkt für die Diffe- tive Isotope oder CO2-Ablagerungen, noch in den renzierung verschiedener Anthropozän-Narrative Sedimenten nachweisbar sein werden (Renn/ dienen. Bislang wenig verbreitet ist die Auffas- Scherer 2015: 9; Masco 2010). Es entsteht eine sung, das Anthropozän bestehe bereits seit dem „dialektische Konstellation“ der Verantwortung Neolithikum, obgleich hier bereits menschliche für „eine schier endlos ferne Zukunft […], ohne Zivilisationstätigkeit und deutliche Veränderungen zu wissen, wie [die Menschheit] dieser Verantwor- der physischen Natur beobachtbar sind. Dagegen tung gerecht werden kann“ (Trischler 2016a: 277). sehen viele Vertreter der Anthropozän-Hypo- Das Konzept der „planetary boundaries“ (Rock- these gute Gründe, die Erfindung der Dampfma- ström et al. 2009: 472) entwirft die Perspektive schine durch James Watt um 1784 (bzw. 1763, vgl. eines „safe operating space for humanity“, dessen Dukes 2011) und die dadurch ausgelöste indus- Parameter nicht überschritten werden dürfen. Die trielle Revolution als Beginn der neuen Erdepo- Idee der Unerschöpflichkeit der natürlichen Res- che anzusetzen (Crutzen 2002; Steffen et al. 2007 sourcen, von der die gesamte Modernisierung, u.v.a). Als weiterer Marker wurde in einem Arti- der Glaube an Fortschritt und technologische Ent- kel in Nature das Jahr 1610 vorgeschlagen (vgl. wicklung ausging, ist fundamental erschüttert Lewis/Maslin 2015), da sich bereits 100 Jahre nach (Malkmus 2015: 197); durch die Gefährdung des Ankunft der Europäer massive sichtbare Verände- Planeten werde sich der Mensch seiner Endlichkeit rungen Nord- und Südamerikas zeigten; aus ähn- bewusst. Angesichts des menschlichen Eingreifens lichem Grund spricht Donna Haraway (2015: 159) wird die kulturell eingeschriebene Dichotomie von auch von einem „Plantationocene“. In den letzten Natur und Kultur fundamental infrage gestellt. Jahren hat sich jedoch zunehmend die Auffassung Nach Berechnungen des Kulturgeographen Erle verbreitet, dass die Freisetzung von Radionukli- C. Ellis sind mittlerweile mindestens 75% der den infolge des Tests und des Einsatzes von Atom- bewohnbaren Erdoberfläche von Menschen über- bomben seit 1945 der zuverlässigste Marker sei. Wichtig bei der Festlegung einer neuen Zeitgrenze 3 https://quaternary.stratigraphy.org/workinggroups/an- ist für die Geologie die globale Nachweisbarkeit thropocene/ (abgerufen am 29.06.2017). einer markanten Veränderung in den Strata, den
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2018 5 Gesteinsschichten und -sedimenten. Eine maß- der von Galilei ausgelösten Kontroverse der Stel- gebliche stratigraphische Methode ist die Bestim- lung des Menschen im Universum (Latour 2014: mung des „Golden Spike“, also des genauen Zeit- 3f.) parallelisiert. punkts einer solchen Änderung. Dieser wird mit Durch die Deklaration des neuen Erdzeitalters der ersten Detonation der Trinity-A-Bombe in verschiebt sich zudem die Hierarchie der Diszipli- New Mexico am 16. Juli 1945 und dem „Eintritt ins nen: Die wichtigsten Impulse für wissenschaftli- Nuklearzeitalter“ (Zalasiewicz 2015: 164 und 176) che Innovation, aber auch für die Erklärung der bestimmt, in deren Folge sich der radioaktive Fall- Gegenwart, gehen derzeit von den Geo-, Klima- Out schnell über den ganzen Erdball verbreitet hat. und Umweltwissenschaften aus, sie avancieren Zusätzlich sind aber, so das Ergebnis der Anthro- zu den neuen Leitwissenschaften,5 selbst bei Auf- pozän-Arbeitsgruppe, viele weitere deutliche Sig- gaben, die traditionell eher geisteswissenschaft- nale des dauerhaften menschlichen Einflusses in lichen Disziplinen zugedacht waren. Dass die den Sedimenten nachweisbar (Zalasiewicz 2015: genannten Datierungen keineswegs wert- und 172–174), die unter dem Begriff der ‚Great Acce- ideologiefrei sind, schlägt sich auch in deren Dis- leration‘ gefasst und durch Berechnungen mit kussion nieder. Würde das Anthropozän im Neo- ‚Hockeyschlägerkurven‘ verdeutlicht werden (z.B. lithikum beginnen, wofür beispielsweise Archäolo- Steffen et al. 2011 und 2015). Dazu gehören vor gen votieren (Balter 2013), hätte dies wohl kaum allem der Anstieg von Stickstoff-Isotopen durch eine Auswirkung auf unser heutiges Denken und den weltweiten Gebrauch von Düngemitteln, der Handeln. Die Datierung auf 1610 lenkt den Blick Anstieg des CO2-Gehalts in der Erdatmosphäre auf die koloniale Unterwerfung von amerikani- mit Ablagerungen selbst in den Polregionen, die schen Ureinwohnern und die Ausbeutung ihres weltweite Ausbreitung von Aluminium, Schwer- Landes, die durch die postkoloniale Forschung metallen, Technofossilien und Plastik, besonders mittlerweile stärker ins Bewusstsein gerückt ist, in der Form von Mikroplastikteilchen, die auch aber nicht das Kriterium der global-planetarischen in die Nahrungskette gelangen, sowie die signi- und tiefenzeitlichen Dimension erfüllt. Der Beginn fikante Zunahme von Arteninvasionen einerseits mit der Erfindung der Dampfmaschine könnte sowie massivem Artensterben andererseits. zum einen zu einer Kritik des aufklärerischen Wis- Als am 29. August 2016 in diversen Zeitungen senschaftsparadigmas führen, das die Natur ‚in und Plattformen das lang erwartete Ergebnis der den [Kantischen] Richtstuhl der Vernunft spannt‘ Arbeitsgruppe auf dem erwähnten 35. Interna- (Scherer 2015: 106), zum anderen zu einer Kritik tionalen Kongress der Geological Society mit den des Marktliberalismus, v.a. angelsächsischer Prä- Worten verkündet wurde: „The Anthropocene is gung (vgl. Oreskes/Conway 2014: 35–49), was für here“,4 stach die Durchbruchsrhetorik ins Auge, etliche Kritiker des Anthropozän längst an der Zeit in welcher der Akt der Benennung der neuen geo- sei (z.B. Dibley 2012). Demgegenüber lässt sich logischen Epoche mindestens genauso wichtig mit der Festlegung des ‚Golden Spike‘ auf die Zeit erschien wie die wissenschaftliche Bestimmung um 1950 „politischer Druck“ ausüben (Rauchhaupt selbst. Bei der Diskussion um die Durchsetzung 2015), wie er trotz der anhaltenden Diskussionen des Anthropozän geht es damit auch um wis- zu den „Grenzen des Wachstums“ (1972), der seit senschaftliche Reputation, Deutungshoheit und dem Brundlandt-Bericht 1987 und dem Erdgipfel das Abstecken von Claims, die in den Narrativen von Rio 1992 virulenten Nachhaltigkeitsdebatte transportiert werden. Die Bedeutung der Anthro- oder den jährlich stattfindenden UN-Klimaschutz- pozän-Hypothese wird mit den großen wissen- konferenzen bislang nur in einzelnen Industrie- schaftlichen Paradigmenwechseln wie Darwins und Schwellenländern erzeugt werden konnte. So Evolutionstheorie (Steffen et al. 2011: 862) oder wird mit der Datierung des Anthropozän auf die Zeit der Hochindustrialisierung bzw. der ‚Großen Beschleunigung‘ mit entsprechendem Anstieg der 4 Vgl. z.B. http://time.com/4470514/anthropocene-geologi- Treibhausgase und anderer beunruhigender ‚Erd- cal-epoch-earth-scientists/ (abgerufen am 29.08.2016); http:// www.thehindu.com/sci-tech/science/The-Anthropocene-is-he- re-propose-scientists/article15618977.ece; http://www.ecologi- 5 Horn und Schnyder (2016: 9) sprechen von der Klimatologie se.in/2016/08/30/the-anthropocene-is-here-scientists-decla- als neuer Leitwissenschaft, Bonneuil (2016: 17) nimmt eine geo- re-dawn-of-human-influenced-era/ (abgerufen am 30.06.2017). logische Wende (geological turn) an.
6 10.2478/kwg-2018-0001 | 3. Jahrgang 2018 Heft 1: 1–20 systemtrends‘ (Steffen et al. 2015, Abb. 3) wie- wesentlich zur Selbstdeutung und Sinnstiftung derholt der Ruf nach einem verantwortungsvollen einer Kultur beitragen“. Narrative lassen sich Handeln gekoppelt: „Planetary stewardship has yet daher „im weitesten Sinne als historisch wan- to emerge“ (Steffen et al. 2015: 94). Das Narrativ delbare Phänomene kollektiver Wirklichkeitser- wird also mit einem ethischen Auftrag, wenn nicht zeugung, Sinnstiftung und zwischenmenschli- sogar mit einer politischen Agenda verbunden. cher Verständigung“ betrachten (Erll/Roggendorf Zudem sind auf einer allgemeinen Ebene zwei 2002: 79). Diese Bestimmung geht vom Erzählen grundlegend konträre Deutungen der Idee des als anthropologischer Konstante aus, wobei der Menschen als geophysikalischer Handlungsmacht Mensch als „homo narrans“ (Fisher 1984: 6) bzw. zu unterscheiden. Angesichts der weltweiten Schä- „storytelling animal“ (MacIntyre 1984: 216) gilt. den betrachten die einen das Anthropozän pes- Ein ganz ähnliches Verständnis von Narrati- simistisch als „Summe der ökologischen Frevel“ ven findet sich in Albrecht Koschorkes Studie zu (vgl. Leinfelder et al. 2012: 15) und den Menschen den Grundzügen einer Allgemeinen Erzähltheorie als Zerstörer, als ‚Parasit‘ unseres Planeten (Krause (2012). Darin setzt er die Ubiquität des Phänomens 2014). Andere vertreten eine optimistische oder Erzählen voraus, sei es in der Alltagskommunika- zumindest pragmatische Perspektive, wonach die tion, in der Literatur oder den Wissenschaften bis Menschheit nunmehr ihr Schicksal selbst in der zu den „master narratives“, in denen sich ganze Hand habe und ‚Gestalterin‘ der Erde sei. Der Kri- Gesellschaften mit ihren „Gründungsmythen und tik, etliche ‚Anthropozäniker‘ verträten eine bloße Lebenslügen“ wiedererkennen (Koschorke 2012: Managementperspektive, wurde die Rede von „a 19). Indem das Erzählen „eine Sonderwelt neben good, or at least a better, Anthropocene“ (Ellis der wirklichen Welt hervorbringt“ und „in die 2011) entgegengestellt, da es keine Alternative zur gesellschaftliche Praxis hineinwirkt“, ist es „Orga- Übernahme planetarischer Verantwortung (plane- non einer unablässigen kulturellen Selbsttrans- tary stewardship) gebe. Aber auch hier gehen die formation“ (Koschorke 2012: 25).6 Wie Aleida Ass- Meinungen weit auseinander: Während die Vertre- mann festgestellt hat, geht es Koschorke weniger ter eines good Anthropocene die neuen technolo- um das Erzählen als kreativem Sprechakt oder gischen und organisatorischen Handlungsmöglich- poetischer Textur von literarischen Texten, als um keiten für die Gestaltung einer besseren Zukunft das Narrativ im Sinne einer „abstrakten Struktur, des Menschen betonen und darin „an amazing die zugleich eine Form der Sinngebung ist, in die opportunity“ (Ellis 2011) sehen, diagnostizieren die Handlungen, politische Ziele, Geschichtsbilder und Skeptiker „a techno-industrial hybris“ (Hamilton menschliche Erfahrungen“ gefasst werden; Narra- 2015: 233), d.h. eine neuerliche, schon längst als tive sind demnach „der rote Faden, der eine klar überwunden geglaubte Zentralstellung des Men- definierte Auswahl heterogener Ereignisse zusam- schen, und beklagen eine fehlende Einsicht in die menhält und ihnen mit Anfang, Mitte und Ende „unintendierten Nebenfolgen“ menschlichen Ein- zugleich Struktur, Sinn und Ziel verleiht“ (Assmann greifens (z.B. Heise 2013: 21; Scherer 2015: 106). 2016: 45f.). In dieser Hinsicht hatte bereits der Damit sind unterschiedliche Interpretationen ange- Historiker Hayden White das Konzept des „emp- sprochen, die sich an die Anthropozän-Hypothese lotment“ eingeführt, also der „narrativen Modellie- anschließen und die distinkte, zum Teil gegenläu- rung“ (White 1991: 21–25), die „heterogene Erfah- fige Narrative ausgebildet haben. rungs- und Wissenselemente zu einer mehr und weniger einheitlichen Ganzheit [verknüpft], die eine kontinuierliche Abfolge von Ereignissen sug- geriert“; sie dient der Sinnstiftung und „Kontin- 3 Zum Konzept des Narrativs genzreduktion“ (vgl. Neumann 2013: 553). Zudem bieten Narrative „Orientierung“ und „simulieren Bevor die einzelnen Narrative des Anthropozän […] Erkenntnis“, sollten aber nicht verabsolutiert, dargelegt werden, sollen das Konzept des Nar- rativs und seine Funktionen erläutert werden. 6 Koschorke (2012: 19) folgert, der Begriff der Erzählung sei „zu Den Literaturwissenschaftlerinnen Astrid Erll und einer der transdisziplinär erfolgreichsten und expansionsfreudigsten Simone Roggendorf (2002: 77) zufolge sind Nar- literaturwissenschaftlichen Kategorien geworden“, was zu einem rative „zentrale kulturelle Ausdrucksformen, die narrative turn in den verschiedenen Wissenschaften geführt habe.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2018 7 sondern lediglich als „Verlegenheitslösungen mit lichen sowie publizistischen Veröffentlichungen praktischer Notwendigkeit und unbezweifelbarer zum Anthropozän seit 2000 hat ergeben, dass Legitimität“ angesehen werden, um „Möglichkei- sich fünf Narrative unterscheiden lassen.7 1. das ten (des Verstehens und Handelns) gleichermaßen Katastrophen- bzw. Apokalypsenarrativ; 2. das offen zu halten“ (Becker-Lindenthal 2017: 165f.). Gerichtsnarrativ; 3. das Narrativ der ‚Großen Wenn die Anthropozän-Hypothese nun mit Transformation‘, 4. das (bio-)technologische Nar- bestimmten Narrativen verbunden wird, hat dies rativ und schließlich 5. das Interdependenz-Nar- strategische und reflexive Aspekte. In strate- rativ, das nach einer kritischen Antwort auf die gischer Hinsicht haben einzelne Narrative des Aufhebung der Natur-Kultur-Dichotomie sucht.8 Anthropozän die Funktion, angesichts der enor- men Komplexität von Ursache-Wirkungs-Zusam- menhängen, Wechselwirkungen, Rückkopplungs- 4.1 Das Katastrophen- schleifen und nicht-intendierten Nebenwirkungen bzw. Apokalypsenarrativ9 der menschlichen Aktivitäten und der dadurch ausgelösten beunruhigenden Erdsystemtrends seit Eine Reihe von Geistes-und Kulturwissenschaft- 1950 (vgl. Steffen et al. 2015) eine sinnvolle und lerInnen hält das Ausmaß der Umweltzerstörung, handlungsleitende Interpretation der Situation zu vermitteln. In reflexiver Hinsicht stellen Anthro- pozän-Narrative etablierte Positionierungen des 7 Mit dieser Systematisierung stellt der Beitrag erste Ergebnis- Menschen infrage. Außerdem werden im Anthro- se des im Januar 2017 angelaufenen DFG-Projekts „Narrative des Anthropozän in Wissenschaft und Literatur. Themen, Struktur pozän-Diskurs Zusammenhänge artikuliert, die und Poetik“ vor, vgl. https://www.uni-vechta.de/uni/anthropo- sich einer klaren Lokalisierbarkeit und Sichtbar- zaen-projekt/. – Für zahlreiche Hinweise zu diesem Artikel danke keit entziehen und nicht auf herkömmliche Weise ich Philip Hüpkes. repräsentierbar sind, sodass gängige Sinngefüge 8 Die vorliegende Heuristik ist induktiv und parallel zu nicht mehr greifen (vgl. Clark 2015: xi) und neue Christophe Bonneuils (2016) Unterscheidung von vier Nar- rativen entwickelt worden, wobei Bonneuil die einzelnen Narrative zur Sinnkonstituierung und -vermittung Narrative jedoch nicht auf ein Metanarrativ bezieht und notwendig sind. Einige LiteraturwissenschaftlerIn- m.E. auch zu wenig deren Überlappungen und konkurrie- nen sehen daher insbesondere den Ecocriticism renden Geschichten berücksichtigt hat. Bonneuil (2016: 23) und die Environmental Humanities in der Pflicht, unterscheidet (1) ein im Anthropozän-Diskurs dominantes neue Repräsentationsformen und Rezeptions- „naturalist narrative“, welches das ‚grand narrative‘ der verfahren zum Verständnis der hochkomplexen Moderne vom Menschen als quasi-natürlicher Macht zu re- produzieren tendiere, worauf er einen sehr kritischen Blick Zusammenhänge des Anthropozän zu erschließen, wirft, von (2) dem „post-nature narrative“ (23f.), das aus- was in der Folge die Frage nach einer eigenen Poe- gehend von der Annahme vom Ende der Natur ein geokons- tik des Anthropozän aufwirft (s.u. Abschnitt 4.5). truktivistisches, technologisches und ökopragmatisches Neuere Ansätze in dem sich herausbildenden Feld Projekt eines ‚good Anthropocene“ verspreche; davon hebt der Econarratology (James 2015) behandeln stär- er (3) das „eco-catastrophist narrative“ (26f.) und das „eco-Marxist narrative“ (27-29) ab. Auf Ähnlichkeiten und ker als der oft eher themenorientierte Ecocriticism Unterschiede zwischen den beiden Heuristiken wird i.F. bei Fragen der Form, der Erzählstrukturen und der den einzelnen Abschnitten eingegangen. – Der vorliegen- Erzählstrategien. Als ökonarratologisch versteht de Ordnungsvorschlag unterscheidet sich zudem von einer sich auch die kritisch-produktive Auseinanderset- weiteren Unterteilung, die Bonneuil und Fressoz in ihrem zung mit Michel Serres‘ philosophischer Ökologie vielrezipierten Buch The Shock of the Anthropocene (2015) (z.B. Watkin 2015). Eine vertiefte Diskussion solch vorgeschlagen haben, nämlich eine historische Sequenzie- rung von sechs Subnarrativen des Anthropozän-Diskurses unterschiedlicher Ansätze der Econarratology ist (Thermocene, Thanatocene, Phronocene, Agnotocene, Ca- im Rahmen dieses Artikels jedoch nicht möglich. pitalocene, Polemocene), die bestimmte industrielle, tech- nologische, ökonomische und militärische Entwicklungen und die Geschichte der ökologischen Bewegungen heraus- arbeitet. Bonneuil (2016) greift die 2015 entwickelte Unter- 4 Fünf Narrative des Anthropozän teilung jedoch nur hinsichtlich des Kapitalozäns und des Aufklärungsnarrativs (später „naturalist narrative“) auf. 9 Dieses Narrativ deckt sich weitgehend mit Bonneuils Eine systematische Literaturrecherche von mehr „eco-catastrophist narrative“ (26f.), legt aber anderes Ma- als 600 natur-, sozial- und kulturwissenschaft- terial zugrunde.
8 10.2478/kwg-2018-0001 | 3. Jahrgang 2018 Heft 1: 1–20 insbesondere seit der Phase der Hochindustriali- In historischer Perspektive lässt sich für das sierung, für so groß, dass ‚die Katastrophe‘ unab- Katastrophennarrativ eine Linie von dem inno- wendbar sei. Peter Sloterdiijk (2015: 36) spricht vativen Aufklärungsgeologen Georges Cuvier von einer „apokalyptischen Logik“, da der Mensch über Georg Friedrich Lichtenberg, Georg Büch- durch die Einsicht in die Endlichkeit der natür- ner und Friedrich Nietzsche bis zu Ulrich Horst- lichen Ressourcen seine „kosmische […] Unbe- mann ziehen, die alle angesichts der Entdeckung sorgtheit“ verloren habe. In eine ähnliche Rich- der geologischen Tiefenzeit und der Abfolge von tung geht die Diagnose von Bernhard Malkmus einschneidenden katastrophischen Ereignissen (2015: 197), „das Zeitregime der Moderne, das eine Marginalisierung des Menschen sehen und paradoxerweise auf dem Glauben an die unver- das Bild eines „menschenfeindlichen, verlassenen siegbare Regenerationsfähigkeit des Lebens auf Planeten Erde“ zeichnen (Braungart 2009: 55). der Erde“ beruht, sei „zu Ende“. „Dystopisten“ Ein vielfach auffindbares Thema ist das Arten- sähen den „Technologiepark der Moderne“ als sterben, so etwa in Elizabeth Kolberts mit dem „Käfig“, der die Menschen „von wesentlichen Pulitzer-Preis ausgezeichneten Sachbuch The regenerativen Kräften abschneide oder gar in die Sixth Extinction (2015). Auch Timothy Morton Selbstzerstörung führe“ (Malkmus 2015: 183). (2015: 258) hebt das sechste Massensterben als Die westliche Zivilisation steuere auf einen „Kol- zentrales Merkmal des Anthropozän hervor. Die laps“ (Oreskes/Conway 2014) zu. Eva Horn (2014) Geschichte des vom Menschen ausgelösten Ver- spricht pointiert von der „Zukunft als Katastro- falls und Untergangs der Natur (vgl. Heise 2016) phe“, während Jürgen Renn und Bernd Scherer konkretisiert sich in einer oft melancholischen (2015: 15f.) „angesichts apokalyptischer Bedro- Sprache oder einem „elegischen Narrativ“ (Büh- hungen“ „die Notwendigkeit des Handelns“ kons- ler 2016: 154). Eine in verschiedenen Wissen- tatieren, die eine „Selbstreflexion“ des „anthro- schaften und Essays vorkommende Metapher ist pozänen Denken[s]“ voraussetze. die des ‚kranken Planeten‘. Sie findet sich schon Naturwissenschaftliche Vertreter der Anthro- bei Schopenhauer (1973: 11), der das Bild einer pozän-Hypothese sehen „the viability of contem- ‚von Schimmel überzogenen Erde‘ geprägt hat porary civilization and perhaps even the future und damit einen „latenten Selbstekel des Homo existence of Homo sapiens“ vor allem dann gefähr- sapiens“ (Wenzel 2013) artikuliert. Und Nietzsche det, wenn die Befürworter der ‚Großen Beschleu- (2003: 164) klagt: „die Erde […] hat eine Haut; nigung‘ ungehindert weitermachen (Steffen et und diese Haut hat Krankheiten: Eine dieser al. 2011: 862) und betonen die Möglichkeit, die Krankheiten heisst zum Beispiel: Mensch“. Weichen im Rahmen der „planetary boundaries“ Auch stellt sich die Frage, was von der Welt (Rockström et al. 2009) neu zu justieren. Auf- übrig bleibt, wenn der ‚Titelheld‘ des neuen Erd- grund der Great Acceleration lasse sich sogar von zeitalters aussterben sollte. Aus der Perspektive einem „new historical meta-narrative“ sprechen, der Zukunft lässt sich neben schriftlichen Doku- denn die Menschheitsgeschichte ist „marked by menten (Oreskes/Conway 2014) allein aufgrund crises, regime shifts, disasters and constantly der Ablagerungen in den Strata die mensch- changing patterns of adjustments to limits and liche Zivilisations- und Industrialisierungsge- confines“, also durch eine Abfolge von Phasen schichte rekonstruieren. In dieser Hinsicht fragt des Wachstums, des Zusammenbruchs und der der Paläobiologe Jan Zalasiewicz (2008): „what Neuorganisation als einem „common pattern in legacy will humans leave in the rocks?“ Ein sol- the human past“ (zit. n. Steffen et al. 2015: 94). cher archäologischer Blick aus der Zukunft fokus- Andere sehen aus diesem Muster jedoch keinen siert die materielle Seite des Planeten, an dem Ausweg: Die Philosophin Claire Colebrook etwa großskalige Prozesse abgelesen werden können. weist in ihrem Buch Death of the PostHuman Damit wird der Begriff des ‚Archivs‘ als Summe (2014: 249) die Idee einer posthumanen Zukunft von textuellen und medialen Quellen zur Doku- zurück, da die menschliche Spezies durch „Kurz- mentation historischer Entwicklungen (vgl. Boes/ sichtigkeit und Anthropozentrismus“ geprägt sei Marshall 2014: 68) erweitert, in dem er z.B. und deshalb weder als „Grundlage“ noch als „kri- auch auf die von Geologen gesammelten Eis- tischer Hebel“ im Anthropozän dienen könne. bohrkerne oder Fossilien und spektakuläre Kno-
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2018 9 chenfunde bezogen wird. Die Rede von geologi- kritisieren den Begriff, der „von einer Minderheit scher Zeit bzw. Tiefenzeit würde dann nicht als (einer männlichen weißen Oberschicht)“ geprägt Metapher betrachtet, sondern die geologischen sei (Becker-Lindenthal 2017: 158). Da die Indus- Schichten werden selbst zu Medien, sodass sich trialisierung an das neuzeitliche Kapitalsystem nicht nur neue literatur- und kulturtheoretische, und westliche Märkte gebunden ist, sprechen sondern auch medienarchäologische und -öko- darüber hinaus etliche auch vom „Kapitalozän“ logische Fragen nach technischen und medialen (z.B. Bonneuil/Fressoz 2015: 222–252; Moore Ablagerungen ergeben. In dieser Hinsicht meint 2016).10 Dabei werden die Ursachen der globa- Malkmus (2015: 196), Geologen seien nicht nur len Schäden im Kapitalismus als gesellschaft- Semiotiker, sondern auch „Kulturwissenschaft- lich-wirtschaftlichem Ordnungssystem verortet, ler“ bzw. Geologen betrieben Medienwissenschaft dessen Proponenten Schuld und Verantwortung (Parikka 2015). Dieser Blick auf die eigene Kultur tragen. Allein an diesen verschiedenen Benen- von einem antizipierten Ende her führt zur Ver- nungen wird deutlich, dass das Gerichtsnarrativ fremdung und erlaubt eine kritische Reflexion der divergierende Geschichten ermöglicht. Gegenwart. Für das Katastrophennarrativ sind Bei der Frage nach den Schuldigen und den damit die mahnende Appellfunktion und der kri- erforderlichen politischen, technologischen, öko- tische Impuls entscheidend, wie sie sich auch in nomischen und sozialen Maßnahmen kommt der Literatur, v.a. in der Science Fiction, finden. hinzu, dass die Rede von der Menschheit ein Kollektivsubjekt voraussetzt, das als solches gar „kein handelnder Akteur“ sein kann (Manemann 4.2 Das Gerichtsnarrativ 2014: 35). Es besteht die Gefahr, dass am Ende keiner verantwortlich ist (Feindt 2002). Wenn Das Gerichtsnarrativ ähnelt dem Katastrophen- also Crutzen und Steffen (2003: 256) und weitere narrativ, indem ebenfalls die weitgehende Zerstö- der Anthropozän-Arbeitsgruppe von „a responsi- rung des Planeten thematisiert wird. Doch steht ble stewardship of the Earth System“ sprechen, hier die Frage nach der Verursachung und Haft- müsste gemäß dem multilateralen Rechtsprinzip, barkeit für die Schäden im Mittelpunkt. Wenn man wie es in der UNFCCC verankert ist, genauer dif- annimmt, dass die Idee des Anthropozän eine ferenziert werden, wer verantwortlich ist und wer „Botschaft von nahezu unüberbietbarer mora- für die Schäden aufkommen soll. Deshalb haben lisch-politischer Dringlichkeit“ ist (Sloterdijk 2015: Umweltaktivisten eine Differenzierung der „Pro- 25), stellt sich die Frage der Schuld und der Ver- Kopf-Emission“ gefordert, die dem Prinzip einer antwortung. Wer hat den Schaden angerichtet? „gemeinsame[n,] aber differenzierte[n] Verant- Ist die ganze Menschheit auf die Anklagebank zu wortung für die globale Erwärmung“ und deren setzen? Wer ist der Richter? Nach welchen Normen Bekämpfung entspreche (Chakrabarty 2015: ist über die Anklage zu entscheiden? Muss ange- 153). Die Rede vom Kollektivsubjekt könnte dazu sichts der weltweiten Disparitäten und Kausali- dienen, „eigene, parteiische Interessen […] zu täten zwischen Tätern und Opfern unterschieden verschleiern“ (Chakrabarty 2015: 154) und wich- werden (vgl. Becker-Lindenthal 2017: 163)? Für tige Fragen der Ungleichheit zu übergehen (vgl. viele Vertreter der Anthropozän-Hypothese steht Malm/Hornborg 2014). In einem neueren Auf- zweifelsfrei fest, dass die Hauptverursacher die satz geben darum Will Steffen et al. (2015: 91) westlichen Industrienationen und ihre „techno- zu bedenken: „treating the humans as a single, kratischen Elite[n]“ sind, weshalb Peter Sloterdijk monolithic whole […] ignores the fact that the (2015: 27) auch von einem „Eurozän“ oder einem Great Acceleration […] has been almost entirely „Technozän“ spricht. Zudem wird gezeigt, dass driven by a small fraction of the human popula- die Auswirkungen die Armen im Globalen Süden tion”, wobei sie zwischen den von den OECD-Län- ungleich härter treffen (Chakrabarty 2015: 151) dern, den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, und damit eine globale Diskrepanz der CO2-Emi- sionen und der Lastenverteilung des Klimawan- 10 Das ‚eco-Marxist narrative‘ nach Bonneuil (2016: 27- dels besteht (Althor et al. 2016). Diskurskritiker 29) sieht das Anthropozän als Ergebnis eines Widerspruchs hingegen wenden die Anklage gegen das Anthro- des Kapitalismus, nämlich seiner Unfähigkeit der Pflege pozän-Narrativ und seine Proponenten selbst und von Natur. Das Gerichtsnarrativ jedoch ist weiter gefasst.
10 10.2478/kwg-2018-0001 | 3. Jahrgang 2018 Heft 1: 1–20 Indien, China, Südafrika) und den von anderen eine lebensfähige Zukunft für die nächsten Gene- Ländern verursachten Umweltschäden unter- rationen zu schaffen. Um dies zu erreichen, wer- scheiden. Der Vergleich rekurriert auf die sozio- den von Vertretern der Anthropozän-Hypothese ökonomischen Entwicklungen der verschiedenen zwei unterschiedliche Optionen diskutiert, eine Länder hinsichtlich Bevölkerungsentwicklung, integrierte technisch-ökologisch-ökonomisch-so- Düngemittelverbrauch, Bau großer Staudämme, ziale Modernisierung und eine technozentrische, Wasserverbrauch, Papierherstellung, Transport- die besonders das (bio-)technologische Narrativ systemen und Telekommunikation und kann (s.u. Abschnitt 4.4) prägt; insofern sind beide auf deutlich zeigen: „the most of the human imprint eine tiefgreifende Transformation angelegt, doch on the Earth System is coming from the OECD mit unterschiedlichen Mitteln, weshalb die beiden world“ (Steffen et al. 2015: 91). Narrative hier heuristisch nochmals unterschie- Wichtig in diesem Kontext ist ein Argument, den werden. das die Wissenschaftshistoriker Christophe Bon- Die Große Transformation soll durch eine neuil und Jean-Baptiste Fressoz (2015: xiii, 72) Mischung aus „Verminderung“ (mitigation) der herausgearbeitet haben: Die Erfinder der Anthro- Ursachen der Umweltzerstörung und „Maßnah- pozän-Hypothese würden eine „story of awake- men der vernünftigen Anpassung“ durch bessere ning“ erzählen, wonach wir (als Menschheit) die Technologien und höhere Umwelteffizienz, not- Natur unwillentlich zerstört hätten, aber jetzt die falls auch durch verminderten Konsum, erreicht Erdsystemwissenschaften hätten, um unsere Feh- werden (Mastrandrea/Schneider 2011: 17f.; vgl. ler zu erkennen. Die ‚Geschichte des Erwachens‘ Steffen 2007: 619). Diese Maßnahmen greifen impliziert die problematische Annahme, dass die den Diskurs der ökologischen Modernisierung auf, Umweltzerstörung begann, bevor man ihre Kon- für den in der Öffentlichkeit namhafte Personen sequenzen habe wissen können, sodass auch hier wie etwa Hans Joachim Schellnhuber, Gründer die Frage der Verursachung durch die Industrie- des Instituts für Klimafolgen in Potsdam (PIK), länder verschleiert werde. Die Annahme, Wissen- langjähriges Mitglied des Weltklimarats und seit schaftler, Technologen und frühere Generationen 2009 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats hätten nicht gewusst, was sie tun, weisen Bon- der Bundesregierung Globale Umweltverände- neuil und Fressoz (2015: 76) als historisch falsch rungen (WBGU), stehen. Ziel ist es, gemäß dem zurück: „the period between 1770 and 1830 was Vorsorgeprinzip mit möglichst effizienten und marked by a very acute awarenss of the interac- weitsichtigen Strategien die Schadensanfälligkeit tions between nature and society“. Sie verdeut- und Verletzbarkeit einer sich rapide verändern- lichen zudem die ideologische Funktion dieses den Umwelt zu minimieren und die technischen Narrativs, wonach Wissenschaftler als die neuen Innovationsprozesse auch in den Ländern des Experten oder die neuen „Helden“ (Bonneuil/Fres- Globalen Südens nach dem Solidaritätsprinzip soz (2015: 79) installiert würden, die uns nun von und dem „fair burden sharing“ (Schellnhuber/ Blindheit zur Erkenntnis führen könnten. Wegen Huber 2013: 7) so zu gestalten, dass die ökolo- des implizierten Heroismus kritisieren Bonneuil/ gische Modernisierung ökonomisches Wachstum Fressoz (2015: 48, 93) die ‚story of awakening‘ berücksichtigt und die Lasten dafür gleichmäßi- als „hegemonic“ und „geocratic“. ger verteilt werden. Im WBGU-Gutachten (2011) „Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation“ wurden diese und wei- 4.3 D as Narrativ der Großen tere Ziele insbesondere in den Handlungsfeldern Transformation Energiewende, Urbanisierung und Landnutzung für die EU detailliert ausformuliert.11 Im Narrativ der Großen Transformation ist ein Ausweg aus der globalen Umweltkrise noch 11 Der Sachbuch-Comic mit dem sprechenden Titel- möglich, sofern schnell gehandelt und der ‚busi- bild „Kriegen wir die Kurve?“ (2013) stellt eine Synthese des WBGU-Gutachtens (2011) „Welt im Wandel – Gesell- ness-as-usual‘-Ansatz überwunden wird. Das schaftsvertrag für eine Große Transformation“ (2011) dar, Anthropozän wird als ethisch-politischer Auftrag in dem prominente Vertreter der Klimawandel- und An- verstanden, durch „[…] a responsible stewardship thropozän-Debatte wie Schellnhuber, Leggewie oder Mess- of the Earth System“ (Crutzen/Steffen 2003: 256) ner als ‚Helden‘ auftreten.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2018 11 Durch die Große Transformation soll die Funk- gärtnern“ (349), die noch eine „‚lange Zukunft‘“ tionsfähigkeit der sozial-ökologischen Systeme (323) vor sich habe; ausdrücklich ist hier auch stabilisiert werden. Dies erfordert im Diskurs des von „Eutopie“ (350), einem „Garten Erde“ (350) ‚civic environmentalism‘ die Beteiligung der Zivil- und sogar von „Weltaufgang“ (351) die Rede, gesellschaft und eine weitere Demokratisierung, wodurch die Hoffnung auf den „Beginn einer sodass globale Maßnahmen nicht nur von oben langen offenen und gestaltbaren Zukunft“ (357) – bzw. erneut von den Industrienationen – ver- gemacht werden soll. Der elegische Ton des Kata- ordnet, sondern zugleich in einer bottom-up-Per- strophennarrativs wird also durch ein eutopisches spektive lokale Handlungsspielräume erschlos- Narrativ ersetzt, wobei man sich fragen kann, sen werden (Mastrandrea/Schneider 2011: 52f.). ob damit die „Apokalypse-Angst“ (Krause 2014) Bekannte Proponenten der Großen Transforma- bereits überwunden ist. Solche gestalterischen tion wie Harald Welzer oder Claus Leggewie, ehe- Visionen, die aus kulturhistorischer Perspektive maliger Direktor des Kulturwissenschaftlichen keineswegs neu sind, werden insbesondere im Instituts Essen und Mitglied des WBGU, halten Wissenschaftsjournalismus reaktiviert, um eine einen Umbau zu einer „verantwortungsvollen und positive Besetzung des Anthropozän-Konzepts zu nachhaltigen Gesellschaft“ bei einem radikalen lancieren und in politischer Hinsicht handlungs- „Kulturwandel“ mit verändertem Konsumverhal- stimulierend für ein Umdenken in Richtung einer ten, Modernisierung der Demokratie und Bürger- Großen Transformation zu wirken. beteiligung für möglich (Leggewie/Welzer 2009: Die zweite, häufiger vorkommende Metapher 230). Ein Dilemma ist dabei freilich die Verknüp- ist die des „Raumschiffs Erde ohne Notausgang“,12 fung von abstrakten Problemlagen mit konkretem für das in Rekurs auf Richard Buckminster Ful- Alltagshandeln. lers bekanntes Buch Operating Manual for Spa- Die normativen Zielsetzungen werden durch ceship Earth (1968) noch die Bedienungsanlei- Metaphern und Bilder vermittelt, allen voran die tung gesucht wird. Gemäß dieser Metapher hängt Metapher des Gärtners oder sogar des „Welt- die Sicherung des Überlebens davon ab, dass es gärtners“, wonach die Umwelt nicht mehr als das ‚uns‘ gelingt, „alternative Wege zu finden und die Außen und das Fremde, sondern als „Uns-Welt“ zukünftigen Folgen unseres Handelns zu antizi- (Leinfelder 2013) betrachtet wird. Namhafte Ver- pieren“ (Bühler 2016: 159). Gleichwohl begünstigt treter dieser Perspektive sind der Geowissen- diese Metapher im Unterschied zum Gärtner eine schaftler Reinhold Leinfelder und der Wissen- stark technologische Vorstellung für die Bewälti- schaftsjournalist Christian Schwägerl (2012: 57). gung der globalen Umweltkrise, die Berührungs- Dabei ist die Gartenmetaphorik keineswegs ein- punkte zum (bio-)technologischen Narrativ auf- deutig. Während etwa bei der französischen Gar- weist. tenkunst der Umgang mit der Natur „auf Aneig- nung und Naturbeherrschung ausgerichtet“ ist, lässt sich für den englischen Landschaftsgarten 4.4 Das (bio-)technologische von einer „Allianztechnik“ (Böhme 1989: 85, 84) Narrativ sprechen, also der Bearbeitung der Natur bei gleichzeitiger Anerkennung ihrer Selbsttätigkeit. Das Narrativ der Großen Transformation findet Die Gartenmetapher findet sich auch in Schwä- einerseits seine Fortführung und Radikalisierung gerls vielrezipiertem Buch Menschenzeit (2012), im (bio-)technologischen Narrativ, andererseits das in der Süddeutschen Zeitung wegen seiner steht es auch im Kontrast dazu, da sich Vertreter „neue[n] Bilder und Erzählformen“ gelobt wurde, der Großen Transformation von starken Eingriffen womit eine optimistische Art und Weise gemeint wie etwa dem Geoengineering und ökomodernis- ist, die Erde neu zu denken und „eine Lösung tischen Träumen deutlich distanzieren. Doch Crut- zu finden, die dem Anthropozän doch noch eine zen, Schwägerl, Ellis und andere Anthropozäniker Wendung zum Guten geben kann“ (Häntzschel et al. 2014). Am Ende von Menschenzeit entwirft der Autor ein Bild von der Menschheit als „gereifte 12 Vgl. die Essaysammlung Das Raumschiff Erde hat kei- Primaten“ (Schwägerl 2012: 320), eine „höchst nen Notausgang (2011); vgl. auch Sloterdijk 2015: 38-40; diverse, aber vernetzte Gemeinschaft von Erd- Malkmus 2016; Bühler 2016: 159, 184.
12 10.2478/kwg-2018-0001 | 3. Jahrgang 2018 Heft 1: 1–20 stehen Formen des Biofuturismus und neuartigen spricht „ein großartiges Anthropozän“ (2. Abs.) (nicht nur grünen) Technologien durchaus positiv mit Wohlstand für alle Menschen bei hoher Ener- gegenüber. Das Geoengineering sieht die klein-, gieverfügbarkeit durch hocheffiziente Solar- und mittel- und großskalige Manipulation der Atmo- Kernenergie, aber niedrigem Ressourceneinsatz sphäre und der Biosphäre vor, etwa die Stimu- und verbessertem Naturschutz. Dort heißt es: „Die lierung des Planktonwachstums durch künstliche Intensivierung vieler menschlicher Aktivitäten — Erhöhung des Eisensulfatgehalts in den Ozeanen insbesondere Landwirtschaft, Energiegewinnung, oder die Verminderung des Erderwärmungsef- Forstwirtschaft und Besiedelung — um den Flä- fekts durch Einbringen von Schwefelsulfat in die chenverbrauch zu reduzieren und den Eingriff in Atmosphäre oder gar in die Stratosphäre (z.B. die Natur zu verringern, ist der Schlüssel, um die Crutzen 2006). Wegen möglicher nicht-inten- menschliche Entwicklung von Umweltauswirkun- dierter Nebenwirkungen ist das Geoengineering gen zu entkoppeln. Diese sozioökonomischen und jedoch heftig umstritten (z.B. Steffen et al. 2007: technologischen Prozesse sind für die wirtschaft- 620).13 Auch sehen etliche darin einen neo-prome- liche Modernisierung und den Umweltschutz von theischen Umgang mit der Natur und die Gefahr zentraler Bedeutung“ (5. Abs.). Das Manifest mit einer fortgesetzten destruktiven Auswirkung auf 18 beteiligten AutorInnen, unter ihnen auch Erle die ökonomischen, sozialen und ökologischen Ellis als Vertreter eines ‚good Anthropocene‘, ent- Systeme (z.B. Rose et al. 2012: 2–5). stammt dem industrienahen US-amerikanischen Das fortschrittsoptimistische Narrativ bestimmt Breakthrough Institute, deren Gründer Michael auch die Idee einer „Grünen Revolution 2.0“, wel- Shellenberger und Ted Nordhaus den „Death of che die Probleme der Welternährung durch nach- Environmentalism“ (2004) verkündet haben. Hel- haltige Intensivierung der Landwirtschaft, Prote- muth Trischler (2016a: 285) hat zu Recht kritisch in-Ersatzstoffe und neue technisch hergestellte dagegen eingewandt, dass mit solchen Ideen das Lebensmittelformen lösen will. Ziel einer zweiten Anthropozän-Konzept „für umstrittene wissen- Grünen Revolution sind die Verbesserung von schaftliche Interessen instrumentalisiert“ werde. Ernteerträgen, Ernährungssicherheit und Armuts- Auch besteht die Befürchtung, „the contradic- bekämpfung bei stark vermindertem Einsatz von tion between the spirit of emancipation and its Düngemitteln und intensivierter Landnutzung auf catastrophic outcomes“ aus dem Blick zu ver- weniger Fläche, die vor allem den Landwirten in lieren, sodass auch „unintended consequences“ Entwicklungsländern zugutekommen soll, die pro- fahrlässig in Kauf genommen würden (Latour portional einen größeren Anteil von Arbeit in der 2012). Im (bio-)technologischen Narrativ wird Landwirtschaft haben (Lynch 2007: 494). Aller- das Anthropozän strukturell als eine „Theodizee“ dings setze dies den Einsatz genetisch veränder- bzw. in säkularisierter Variante als „anthropodicy“ ten Saatguts (Soja, Weizen, Mais, Reis etc.) vor- (Hamilton 2015: 233) konstruiert, welche das Übel aus, was durch Marktmacht weniger Firmen und in der Welt – wie etwa die Klimakrise und andere einzelner Forschungsinstitute die Gefahr erneuter ökonomische, ökologische und soziale Verwund- ökonomischer und sozialer Ungleichheit hervor- barkeiten – durch eine (öko-)prometheische bringen könnte (vgl. z.B. Pingali 2012). Steuerung der Gesellschaft mit technokratischen Ähnlich ambivalent wird die „Ökobewegung Mitteln für überwindbar erklärt. 2.0“ diskutiert, die insbesondere durch das „Eco- In den letzten drei, vier Jahren lassen sich modernist Manifesto“ (Asafu-Adjaye et al. 2015) interessante Absetzbewegungen im breiten Lager hervorgetreten ist.14 Das 14-Punkte-Manifest ver- der Anthropozäniker beobachten, wenn die einen insbesondere die Projekte des Geoengineering 13 Bemerkenswert ist, dass sich offenbar mittlerweile oder des Ökomodernismus als neopromethei- auch Crutzen etwas davon distanziert, wenn in einem ge- sche Hybris oder neuerlichen „Anthropologis- meinsamen Artikel mit Will Steffen (et al. 2011: 858) ein- mus“ (Schmieder 2014: 47) ablehnen, während geräumt wird: „Needless to say, the possibility of adverse die anderen technologische Innovationen für eine environmental side effects must be fully researched before wichtige Stufe der Anpassung auf dem Weg zur countermeasures to greenhouse warming are attempted.“ 14 In der Heuristik Bonneuils (2016: 23-25) wird lediglich Großen Transformation halten. Aussagekräftig ist der Aspekt des ‚good Anthropocene‘ als „post nature grand die enorme Ernüchterung, die sich bei dem Phi- narrative“ bezeichnet. losophen Bernd Scherer, Intendant des „Anthro-
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