"NULL-RISIKO-GESELLSCHAFT" - FOKUS STANDORT Risiko Blackout - Handelskammer beider ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
13. Ausgabe Herbst 2020 FOKUS «NULL-RISIKO- GESELLSCHAFT» STANDORT AUS DER ’KAMMER Risiko Blackout Fachkräfte sichern
IN DIESER AUSGABE FOKUS STANDORT AUS DER ’KAMMER 4 G efangen in 14 Unternehmens-Verantwor- 26 Fachkräfte von morgen tungs-Initiative: Anpacken sichern der «Null-Risiko- statt anklagen Gesellschaft» 27 E-Mail-Schlacht oder 16 Lamello – schnell, flexibel Agile and Lean? und kurze Entscheidungs- wege AMSTERDAM LONDON ROTTERDAM ANTWERPEN DÜSSELDORF ZEEBRUGGE KÖLN BRÜSSEL MANNHEIM/ LUDWIGSHAFEN STRASSBURG BASEL ZÜRICH BERN MAILAND 8 Wie viel Risikofreude GENUA braucht’s? 28 Nachhaltig investieren 10 «Als Unternehmer geht 29 Abstimmungse mpfehlungen man immer Risiken ein» – 18 Rhein-Alpen-Korridor 30 Starke Partnerschaft ein Doppelinterview 20 Interview mit Swissgrid- 31 Unternehmertreffen 12 Cybersicherheit – CEO Yves Zumwald wichtiger denn je 13 Kolumne von Thomas Kleiber 22 Planungsverfahren im Dreiland 23 Verplante Raumplanung 24 10 Jahre tunBasel 25 Stimmungsbarometer IMPRESSUM twice erscheint zweimal im Jahr (Frühjahr und Herbst) HERAUSGEBER Handelskammer beider Basel, St. Jakobs-Strasse 25, Postfach, 4010 Basel, T +41 61 270 60 60, F +41 61 270 60 05, E-Mail: info@hkbb.ch REDAKTION Jasmin Fürstenberger, j.fuerstenberger@hkbb.ch, Lucia Uebersax, l.uebersax@hkbb.ch MITAUTORIN Anne Theiss, Brenneisen Theiss Communications ART DIRECTION Brenneisen Theiss Communications FOTOS Designersfactory AG (S. 14), Tom Heinzer (S. 17), Lamello (S. 16), Raphaël Leibundgut (S. 30), LUXWERK.CH (S. 21), Oettinger Davidoff AG (S. 15), Martin Schulze-Schilddorf (S. 10), SRF Schweizer Radio und Fernsehen (S. 13), Tobias Sutter (S. 11), Violetta Digital Craft (S. 27), Shutterstock: Borhax (S. 18), fanjianhua (S. 23), ioat (S. 12), J.D.S (S. 6), justone (S. 25), MJgraphics (S. 9), Unsplash: Paige Cody (S. 7), Adam Miller (S. 5), Sammie Vasquez (Titel) DRUCK Gremper AG, Basel 2 twice Herbst 2020
EDITORIAL WAGEN, NICHT HOFFEN LIEBE LESERIN, LIEBER LESER Unternehmen heisst riskieren. Erfolgreich unternehmen heisst kalkuliert riskieren. Aber was und wie viel? Und vor allem: zu welchem Preis? Wir leben heute in einer Gesellschaft, für die Erfolg oberste Priorität hat. Scheitern gibt es nicht. Was das bedeutet? Stagnation. Für Risikoforscher Professor Didier Sornette ist denn auch klar, dass durch den Versuch, alle Risiken zu besei- tigen, nicht nur Freiheiten beschränkt, sondern auch Neues verunmöglicht wird: «Denn Forschen heisst, Risiken auf sich nehmen, das Unbekannte erkunden. Eine Gesellschaft, die Risiken immer stärker kontrollieren will, steuert auf ihren Tod zu.» Sind Familienunternehmen und Jungunternehmen gleichermassen mit Risiken konfrontiert? Und wie haben sich die Risiken verändert? Diesen Fragen gehen wir nach und erfahren in einem Gespräch mit einem Mentor von Jungunter- nehmerinnen und Jungunternehmern mehr über die Risikobereitschaft und Erfolgsfaktoren von Startups. Mit unserer Partnerschaft mit Startup Academy unterstützen übrigens auch wir Jungunternehmen und gewähren ihnen Zugang zu unserem weitreichenden Netzwerk. Haben Sie gewusst, dass im Risikobericht 2015 des Bundes als grösste Risiken für die Schweiz erstens ein Blackout und zweitens eine Pandemie identifiziert wurden? Nun, die Pandemie durchleben wir gerade. Wann trifft das Blackout ein? Im Interview zeigt Yves Zumwald, CEO Swissgrid, auf, warum ein Strom- abkommen mit der EU wichtig ist, um die Versorgungssicherheit der Schweiz zu gewährleisten. Erfahren Sie auch mehr zu weiteren aktuellen standort- politischen Themen. Übrigens: Die QR-Codes führen Sie jeweils zu vertieften Informationen zum Thema. Also, halten Sie Ihr Smartphone bereit. Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre und vergessen Sie nicht: Wer nichts wagt, der darf nichts erhoffen. Martin Dätwyler, Direktor twice Herbst 2020 3
FOKUS GEFANGEN IN DER «NULL-RIS GESELLSCHA Wir leben in einer «Null-Risiko-Gesellschaft», die davon geprägt ist, mögliche Risiken zu kontrollieren und zu beseitigen. Klar ist es ein wichtiges Ziel jeder Zivilisation, die Sicherheit und den Schutz ihrer Bürger zu verbessern. Wir dürfen jedoch nicht zulassen, dass uns der behagliche Komfort in einen Dämmerzustand versetzt, und sollten die Risikobereitschaft wieder stärken. Von Prof. Didier Sornette und Dr. Peter Cauwels Wir leben in einer Zeit, die von wirtschaft- ches Leben führen, sehen wir keinen Revolutionen, Kriege oder Terroranschläge licher, technologischer, demografischer, Grund, unnötige Risiken einzugehen. sowie anthropogene Komponenten des Kli- kultureller und intellektueller Stagnation Doch dieses Gefühl von Sicherheit und mawandels wie Bodenerosion oder Wasser- geprägt ist. Da Wohlstand und Komfort im Schutz hat nur dann Bestand, wenn unse- knappheit. Auch Fragen der Nachhaltigkeit letzten Jahrhundert angestiegen sind, sind re Umwelt und unsere Gesellschaft stabil und globale Gesundheitsfragen sind Bei- die wohlhabenden Gesellschaften gealtert und nur kleinen Stressfaktoren und Stö- spiele dafür. Diese wachsenden Heraus- und risikoscheu geworden. Besorgt um den rungen ausgesetzt sind. Oder anders aus- forderungen bedingen die Bereitschaft, Ri- Erhalt dessen, was ist, und viel weniger da- gedrückt: Wenn die Welt um uns herum siken einzugehen, um Lösungen zu finden. ran interessiert, nach dem zu streben, was in einem Gleichgewicht schwebt. Nichts Denn: Leben ist Risiko, Risiko ist Leben. sein könnte, sind wir nicht mehr bereit, könnte jedoch weiter von der Wahrheit den Sprung ins Unbekannte zu wagen und entfernt sein. Denn wenn wir unsere WIE IST ES SO WEIT GEKOMMEN? «mutig dorthin zu gehen, wo noch kein Kurzsichtigkeit ablegen, wird klar, dass Welche Beweise haben wir, um die ver- Mensch zuvor war», wie die berühmte Er- wir ständig mehr oder weniger Unbekann- nichtende Aussage einer «Null-Risiko-Ge- öffnungssequenz von «Star Trek» besagt. tem ausgesetzt sind. In unserer Forschung sellschaft» zu untermauern? Wie ist es so Wir leben heute in einer «Null-Risiko-Ge- nennen wir diese Risiken sogenannte weit gekommen? Und was kann man da- sellschaft». Was bedeutet, dass wir in einer «Drachenkönig-Risiken». gegen tun? Zwischen 1870 und den 1970er- Gesellschaft leben, die darauf abzielt, Risi- Jahren hat sich unsere Welt an langfristi- ken zu kontrollieren und zu beseitigen. Solche Ereignisse können von aussen kom- ges Wirtschaftswachstum und kontinuierli- men, wie Pandemien, Erdbeben, Supervul- che Produktivitätssteigerung gewöhnt. Da- HÖHEPUNKT DER ZIVILISATION? kanausbrüche oder ein Meteoriteneinschlag bei ist wichtig, zu verstehen, dass ein gros- Viele feiern dies wahrscheinlich als Höhe- aus dem Weltall. Sie können aber auch mit ser Teil dieses hundertjährigen Fortschritts punkt der Zivilisation, die unsere Umwelt unserer Gesellschaft selbst zusammen- das Ergebnis von Einzelereignissen war1. endlich gezähmt hat. Da wir ein behagli- hängen: Finanzblasen, soziale Unruhen, Nehmen wir zum Beispiel den Wandel von 4 twice Herbst 2020 1 Robert Gordon, The Rise and Fall of American Growth, Princeton University Press, 2016
SIKO- AFT» einer ungebildeten zu einer gebildeten Be- völkerung, die Zähmung der Wildnis und die Eroberung neuer Nutzflächen. Oder die revolutionären Veränderungen, die das mo- derne Haus brachte, das uns Elektrizität auf Knopfdruck, moderne Sanitäranlagen mit fliessendem Wasser oder Telefonleitungen für sofortige Fernkommunikation bietet. Diese Fortschritte zeigen aber auch: Sobald die «tief hängenden Früchte2» des techni- schen Fortschritts gepflückt sind, erfordert es immer mehr Mühe und Kosten, um nach den höheren Zweigen zu greifen. Demzu- folge nahmen Wirtschaftswachstum und Produktivität in den letzten fünfzig Jahren ab und stagnierten schliesslich. Verschärft haben dies der Rückgang an Neuinves- titionen unter dem Druck des massiven Schuldenüberhangs im öffentlichen und im privaten Sektor sowie die steigenden Aus- gaben für die Gesundheitsversorgung und die Rentenverpflichtungen. 2 Tyler Cowen, The Great Stagnation: How America Ate All the Low-Hanging Fruit of Modern History, Got Sick, and Will (Eventually) Feel Better, Penguin Group, 2011 twice Herbst 2020 5
FOKUS In Zeiten, in denen vermeintliche Technolo- und Interessengruppen, kurzfristigen Fi- Zweitens: Damit man Risiken eingehen gieexperten die digitale und virtuelle Re- xierungen und Polarisierung. Wir sind ab- kann, muss man Zugang zu Chancen ha- volution verherrlichen, mag die Diagnose hängig von unseren elektronischen Gerä- ben. Da die Ungleichheit in der Wohlstands- einer technologischen Stagnation, wie wir ten, süchtig nach Apps4, die speziell darauf gesellschaft in den letzten Jahrzehnten sie in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, ausgerichtet sind, unsere Schwächen wie sprunghaft angestiegen ist, hat ein wach- überraschen. Sollte sich dies widersprüch- Langeweile, Einsamkeit, Unsicherheit und sender Anteil der Bürgerinnen und Bürger lich anfühlen, dann liegt das daran, dass das Verlangen nach sofortiger Befriedi- in vielen westlichen Ländern – ganz zu wir technologischen Fortschritt mit Innova- gung unserer Bedürfnisse auszunutzen. schweigen von den Entwicklungsländern tion verwechselt haben, ohne zu erkennen, Wir erwarten kurzfristige Lösungen für – Schwierigkeiten, ihr tägliches Leben zu dass die Wissensakkumulation einen sehr jedes Problem, wir wollen keine Zeit mit meistern, leidet unter schlechter Gesund- subtilen Weg geht, der in erster Linie auf Nachdenken verlieren. heit, hat keinen Zugang zu hochwertiger Entdeckungen und Erfindungen basiert. Bildung oder einem angemessenen sozialen DREI TRIEBKRÄFTE Ein gesundes Wirtschaftssystem schafft das richtige Gleichgewicht zwischen den drei Triebkräften des technologischen Fortschritts: der Effizienz der risikoarmen, meist verwertungsfördernden Innovation, dem Glück der kreativen Erfindung mit mittlerem Risiko und der Kühnheit der ex- plorativen Entdeckung mit hohem Risiko. Wir müssen anfangen, zu verstehen, dass viele der sogenannten revolutionären In- novationen, die jetzt auf den Markt kom- men – wenn überhaupt –, nur marginale Auswirkungen auf unser Leben haben. Dies ist in keiner Weise vergleichbar mit den lebensverändernden Fortschritten, die während der industriellen und technolo- gischen Revolutionen im Jahrhundert vor den 1970er-Jahren stattfanden. Um es mit dem berühmten Witz von Peter Thiel aus- zudrücken: «Man versprach uns fliegende Autos. Wir bekamen 140 Zeichen.» HOTEL CALIFORNIA Sicherheitsnetz. So leben sie ein riskantes SOZIALE ERSCHÖPFUNG Willkommen im Hotel California! Will- Leben mit Abwärts- und keinen Aufwärts- Die Stagnation beschränkt sich aber nicht kommen in der «Null-Risiko-Gesellschaft»! risiken, die Innovation und Unternehmer- nur auf Technik und Wirtschaft. Ross So ein schöner Ort. Sie können einche- tum ermöglichen. Douthat3, Kolumnist der «New York Times», cken, wann immer Sie wollen, aber Sie dokumentiert soziale, kulturelle, intellek- können nie wieder abreisen. Also, wie Drittens: Der technologische Fortschritt tuelle und institutionelle Erschöpfung: Die sind wir hier reingeraten? Wir haben vier ist eine Illusion der Kontrolle. Wir haben reichsten Gesellschaften der Menschheits- Ursachen identifiziert, die uns an diesen das behagliche Gefühl, geschützt und si- geschichte haben beschlossen, sich nicht Punkt gebracht haben. cher zu sein und dass die Technologie uns fortzupflanzen. Der zunehmende Mangel Erstens: Die direkte Folge des wirtschaft- vor Schaden oder unerwünschten Ereig- an sexuellem Begehren ist dokumentiert lichen Fortschritts. Denn wenn Reichtum nissen bewahrt. und kulturell und intellektuell leiden wir und Alter in der Gesellschaft ansteigen, unter Wiederholungen von unzähligen Pro- werden die Menschen immer risikoscheuer, Viertens: Die Wahrscheinlichkeit seltener logen oder Epilogen von «Star Wars» oder konzentrieren sich auf den Fortbestand des Ereignisse wird durch die instinktive Re- Serien von Disney und Netflix. Darüber hi- Unternehmens und den Schutz des Reich- aktion unseres Reptiliengehirns, die Mul- naus schwindet die Stärke unserer Institu- tums und das Streben nach Zinseinkom- tiplikation durch soziale Medien und die tionen unter dem Einfluss von Lobbyisten men. Dies gilt vor allem für Wohlhabende. Medien als Händler von Aufmerksamkeit5 3 Ross Douthat, The Decadent Society. How We Became the Victims of Our Own Success, Avid Reader Press, 2020, 4 Nir Eyal, Hooked, How to Build 6 twice Herbst 2020 Habit-Forming Products, Penguin Books, 2014, 5 Tim Wu, The Attention Merchants: The Epic Scramble to Get Inside Our Heads, Deckle Edge, 2016
oft enorm überschätzt, was zu einem Ma- nagement der Extreme führt. Wenn politi- sche Entscheidungsträger dieser Tendenz nachgeben, geben sie dem Populismus nach. Darüber hinaus bekämpfen wir oft nur oberflächlich Symptome, ohne nach tieferen Ursachen für die Probleme zu su- chen, mit denen unsere Gesellschaft kon- frontiert ist. Obwohl dies widersprüchlich klingen mag, müssen wir dazu bereit sein, grössere Ri- siken einzugehen, um unsere Gesellschaft widerstandsfähiger zu machen. Um uns auf «Drachenkönige» vorzubereiten, müs- sen wir ein Umfeld schaffen, das mutige Erkundungen ausserhalb unserer Kom- fortzone ermöglicht. Tatsächlich ist dies auch der einzige Weg, um aus der Falle der sinkenden Erträge herauszukommen und der wirtschaftlichen und der techno- logischen Stagnation zu entkommen. Dies ist mit der militärischen Taktik der Auf- klärung vergleichbar: Man setzt zwar klei- nere Gruppen von Aufklärern einem hö- heren Risiko aus, aber die Erkundung Wir sollten energisch explorative, risiko- DIDIER SORNETTE ist ordentlicher Professor für unter- nehmerische Risiken am Institut für Management, Tech - ausserhalb des von befreundeten Streit- reiche Projekte finanzieren, spielerische, nologie und Wir tschaft der ETH Zürich. Er ist Spezialist kräften besetzten Gebiets kommt der kreative, sogar scheinbar nutzlose Tüfte- für grosse und extreme Risiken. grösseren Gruppe zugute und erhöht ihre leien fördern, die auf längere Sicht sicher- DR. PETER CAUWELS ist Senior Researcher am Lehr- stuhl für Entrepreneurial Risk an der ETH Zürich. Er pro - Widerstandsfähigkeit. lich den Forschungserfolg erhöhen. Natür- movierte in Physik an der Universität Gent und war Leiter lich ist zielgerichtete Forschung äusserst des Global Market Research bei BNP Paribas For tis. RISIKOBEREITSCHAFT STÄRKEN nützlich und Effizienz notwendig, aber wir Die verschiedenen Formen der Stagnati- müssen begreifen, dass dies bestenfalls on, die wir oben beschrieben haben, sind zu Innovationen führt. Um Entdeckungen Dieser Leitartikel basiert auf den Er- weithin anerkannt. Die Lösungen, die vor- und Erfindungen – also quasi die Vorrei- kenntnissen, die Prof. Didier Sornette geschlagen werden, wie beispielsweise ter von Innovationen – zu fördern, ist eine und Dr. Peter Cauwels für ihr neues eine aussergewöhnliche Geld- und Fi- ungezielte freie Forschung nötig. Buch «Die Illusion der ewigen Geld- nanzpolitik, um Investitionen anzukur- maschine und was sie für die Zukunft beln, oder steuerliche Anreize zur Erhö- NEUE ROLLENMODELLE verheisst» recherchiert haben. Darin hung der Geburtenrate, kratzen lediglich Und schliesslich brauchen wir zusätzliche analysieren sie die Entwicklung unserer an der Oberfläche und behandeln nur die Rollenmodelle für unsere Jugend. Warum Gesellschaften seit 1870 und identifi- Symptome. Wir schlagen vor, zum Kern fördern wir nicht den Risikofreudigen, die zieren fünf Hauptperioden, wobei sie die des Problems vorzudringen und die Risi- Entdeckerin, die kreativen Erfinder als gegenwärtige, die Anfang der 1980er- kobereitschaft wieder zu stärken. Wir neuen gesellschaftlichen Typus, der wie Jahre begann, als das «Zeitalter des Nar- müssen für Begüterte eine Kultur fördern, ein Hollywood- oder Sportstar gefeiert rengolds» bezeichnen. In ihren Analysen in der das Scheitern als Teil des Lernpro- wird? Nur durch einen tiefgreifenden kul- fordern sie die Schaffung von ähnlichen zesses gesehen wird. Für Mittellose müs- turellen Wandel – indem wir den Pionier- Institutionen wie die DARPA und mutige sen wir eine Gesellschaft schaffen, die geist wiedererwecken und die Risiko Projekte wie das Apollo-Programm, um Chancen eröffnet und einen besseren Zu- bereitschaft stärken – können wir der sich von der «Null-Risiko-Gesellschaft» gang zu Gesundheit, Bildung und vor al- illusionären und lähmenden «Null-R isiko- zu befreien, die sie strebenden Gesell- lem zu Empowerment bietet. Gesellschaft» und ihren inhärenten schaften gleichsetzen. R isiken entfliehen. • twice Herbst 2020 7
WIE VIEL RISIKOFREU BRAUCHT’S? Das populäre Image von Unternehmern wird durch schillernde Persönlichkeiten wie Richard Branson und Elon Musk geprägt. Extra- vertierte Draufgänger, die mutig das Risiko suchen. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Risikofreude aber als zweischneidiges Schwert. Sucht man nach dem Stereotyp eines ENTREPRENEURE SIND deren Konsequenzen ungewiss sind. Risi- Entrepreneurs, taucht die Risikobereit- RISIKOFREUDIGER koaverse Menschen erleben solche Situati- schaft als Eigenschaft ganz oben auf. Was ist nun dran am Stereotyp, dass onen als äusserst unangenehm und ver- Unternehmerinnen und Unternehmer Entrepreneure risikobereiter sind? Dies meiden sie daher. Unsere Studien, die wir müssen nach landläufiger Einschätzung wird bereits seit Längerem erforscht und vor wenigen Wochen im Kanton Basel mit besonders risikofreudig sein. Dieses die Ergebnisse sind recht eindeutig. Entre- Gründern durchgeführt haben, unter- Image speist sich aus der medienwirksa- preneure sind tatsächlich risikobereiter streichen die Bedeutung der Risikobereit- men Selbstinszenierung ausserordent- als der Durchschnitt der Bevölkerung, sie schaft. Kein Persönlichkeitsmerkmal sagt lich risikofreudiger Entrepreneure wie sind risikobereiter als angestellte Perso- die Gründungsneigung besser voraus. Elon Musk. Diese Wahrnehmung hat nen und sie sind auch risikobereiter als Aber hängt Risikofreude auch mit Erfolg aber durchaus einen wahren Kern. Führungskräfte in Unternehmen. Dabei zusammen? Braucht es den draufgängeri- sind Entrepreneure nicht gleich Entrepre- schen Mut eines Richard Branson oder RISIKOFREUDE ALS STABILES neure, denn wachstumsorientierte Unter- reicht das zurückhaltende Temperament VERHALTENSMUSTER nehmer sind nochmals risikofreudiger als eines Bill Gates? Als risikofreudig werden Menschen be- einkommensorientierte Unternehmer. Jeff zeichnet, die bereitwillig Entscheidun- Bezos, der Gründer von Amazon, der seinen TREIBER FÜR WACHSTUM UND gen unter Unsicherheit fällen und die gut dotierten Wall-Street-Job zugunsten PROFITABILITÄT? bereit sind, auch einen hohen Einsatz einer Garagengründung aufgegeben hat, Auch hierzu haben wir Untersuchungen für einen möglichen Gewinn aufs Spiel dürfte das bekannteste Beispiel für einen in mehreren Nordwestschweizer Kantonen zu setzen. Für solche Verhaltensmuster wachstumsorientierten Entrepreneur sein. durchgeführt. Unsere Analysen zeigen spielen situative Bedingungen wie Er- Sein Motto: It’s allways day one! folgswahrscheinlichkeiten oder die Höhe der Anreize zwar eine wichtige Rolle. RISIKOBEREITSCHAFT Die Wissenschaft hat aber gezeigt, dass ALS EINGANGSHÜRDE die Tendenz, Risiken einzugehen, ein Es liegt in der Natur von Unternehmens- stabiles Verhaltensmuster ist und sogar gründungen, dass Entrepreneure neuar- als überdauerndes Persönlichkeitsmerk- tige, unstrukturierte Situationen meis- mal interpretiert werden kann. tern und Entscheidungen treffen müssen, 8 twice Herbst 2020
ENTREPRENEUR- UDE CHECK DER FHNW • Der von der Fachhochschule Nordwestschweiz entwickelte Entrepre- neurcheck ist ein Selbsttest, der angehenden und bereits aktiven Entrepreneuren Feedback zu ihren Stärken und Schwächen im Hin- blick auf ihre selbstständige Tätigkeit gibt. • Der Test besteht aus einem Persönlichkeitstest und aus einem Mo- dul, das gesundheitsrelevantes Verhalten abbildet. Beide Module sind so aufgebaut, dass unmittelbar nach Durchführung des Tests ein ausführliches Feedback mit konkreten Handlungsempfehlungen abgegeben wird. Ziel ist es, die persönliche Weiterentwicklung zu un- terstützen, um den Gründungserfolg zu fördern. • Der Persönlichkeitstest bildet die zwölf Persönlichkeitsmerkmale ab, die nachweislich mit dem Erfolg von Entrepreneuren zusammen- hängen: Belastbarkeit, Beharrlichkeit, Durchsetzungsfreude, Innova- deutlich, dass sich die Risikobereitschaft auf tionsfreude, Kontrollüberzeugung, Leistungsmotivation, Offenheit, den Erfolg in der ersten Gründungsphase aus- Proaktivität, Selbstkontrolle, Selbstwirksamkeit, Unabhängigkeits- wirkt. Risikofreudigere Personen entwickeln streben. Der Test erfasst auch die Risikobereitschaft. Die Ausprä- mehr Gründungsideen und sie setzen diese gung der Persönlichkeitsmerkmale wird in Relation zur durchschnitt- Ideen wesentlich häufiger in die Tat um. In lichen Ausprägung in der Gesamtbevölkerung sowie bei den späteren Phasen jedoch kommt es auf an- erfolgreichen Entrepreneuren gesetzt. dere Persönlichkeitsmerkmale an. Die drei wichtigsten Merkmale für die nachhaltige • Das Tool steht in deutscher, englischer und französischer Sprache Unternehmensentwicklung sowie für Wachs- zur Verfügung. Eine Testdurchführung mit ausführlicher Auswertung tum und Profitabilität sind Beharrlichkeit, kostet 19 Franken. Leistungsmotivation und Offenheit. www.entrepreneur-check.ch RISIKOMANAGEMENT STATT NERVENKITZEL Die Notwendigkeit, Risiken einzugehen, kann also als Eingangshürde für angehende Un- ternehmer angesehen werden. Es braucht einen gewissen Mut, um ein Unternehmen zu gründen. Aber für den Erfolg ist eine Risi- koneigung um des Nervenkitzels willen schädlich. Stattdessen ist ein gutes Risiko- management gefragt, denn Risiken sollten kalkuliert eingegangen und gegebenenfalls reduziert werden. • BENEDIKT HELL ist Professor an der FHNW, Hochschule für Angewandte Psychologie, Institut Mensch in komplexen Systemen (MikS). twice Herbst 2020 9
«ALS UNTERNEH FOKUS IMMER RIS Mit welchen Risiken ist ein Startup konfrontiert und welche Risiken trägt ein traditionelles Familienunternehmen? Marija Plodinec, CEO ARTIDIS AG, und Patrice Cron, CEO Jean Cron AG, über Unternehmensrisiken und ihre Visionen. Was halten Sie von der Aussage «no risk, Ihr Unternehmen ist ja bereits sehr erfolg- das Private mit dem Geschäft eng zusam- no succes»? reich unterwegs. menhängt. Vor allem, wenn das Unterneh- Patrice Cron (P.C.): Das ist eine gewagte M.P.: Das kommt sicherlich daher, dass wir men den gleichen Namen trägt. Erlaube ich Aussage. Denn als Unternehmer geht man vom Potenzial unseres Produkts absolut mir auf der einen Seite einen Fauxpas, so immer Risiken ein. Wie viel Risiko es aber überzeugt sind. Wir haben hervorragende kann die andere Seite davon beeinträchtigt für Erfolg braucht, ist schwer abzuschätzen. internationale Patente, hochinnovative und sein. Und da Familienunternehmen meis- Ich würde also eher dazu tendieren, ohne kompetente Mitarbeiterinnen und Mitar- tens patronal geführt sind, konzentrieren kalkuliertes Risiko kein Erfolg. beiter und entwickeln unser Produkt stän- sich die Führungsaufgaben vermehrt auf dig weiter. Schwierigkeiten sehen wir als den Geschäftsführer. Dies birgt ein Klum- Marija Plodinec (M.P.): Als CEO eines wichtige, notwendige Tests an. Wir haben penrisiko, wenn diese Person ausfällt. Startups kann ich diese Aussage natürlich wohl die richtige Mischung aus Begeiste- voll und ganz bestätigen. Alles, was wir ma- rung und Realismus, das richtige Mass an Haben sich die Risiken verändert? chen, ist neu – und alles Neue birgt Risiken. Standhaftigkeit und Lernfähigkeit bei der P.C: Die Risiken haben sich insofern verän- Wir sind uns dessen sehr bewusst. Aber Weiterentwicklung unseres Produkts so- dert, dass die Öffentlichkeit und die Medien wenn wir unsere Arbeit voranbringen kön- wie exzellente Partner an unserer Seite. sehr sensitiv darauf reagieren, wenn bei nen, nehmen wir die Risiken auch gerne in privaten Engagements, wie beispielsweise Kauf. Denn nur eine geniale Idee allein Mit welchen Risiken sehen Sie sich als in der Politik oder bei Vorstandsarbeiten, reicht nicht für den Erfolg. Es braucht auch Familienunternehmen konfrontiert? ein Zusammenhang mit dem Geschäftli- die richtigen Mitarbeitenden und Partner P.C: Eines der grössten Risiken ist, dass chen konstruiert werden kann. Da kann gut sowie manchmal auch mutige Manage- mententscheidungen, um eine Idee erfolg- reich umsetzen zu können. Die Risiken haben sich in- sofern verändert, dass die Öffentlichkeit und die Medien sehr sensitiv reagieren. » PATRICE CRON, CEO JEAN CRON AG JEAN CRON Das Bauunternehmen Jean Cron AG vereint Tradition und Moderne. Seine Wurzeln gehen zurück bis ins Jahr 1936. Heute beschäftigt die Jean Cron AG 70 Angestellte. www.jeancron.ch 8 twice 10 twiceHerbst Herbst2018 2020
HMER GEHT MAN SIKEN EIN» ARTIDIS entwickelt ein medizinisches Gerät für die klinische Anwendung in der Krebsdiagnostik, das auf Nanotechnologie basiert. Das Team von ARTIDIS AG zählt aktuell 22 Köpfe. www.artidis.com « Alles, was wir machen, ist neu – und alles Neue birgt Risiken. MARIJA PLODINEC, CEO ARTIDIS AG Gemeintes sehr schnell negativ ausgelegt von Gewebe zu messen, gibt es bereits seit sprechperson. Man ist greifbar und kann werden. Aber ansonsten haben sich die den 1980ern. Als ich 2008 an meiner Dok- so Probleme schneller lösen. «normalen» Geschäftsrisiken nicht gross torarbeit am Biozentrum der Universität verändert. Für mich überwiegen – trotz er- Basel arbeitete, hatte ich die Idee, die Was ist Ihre Vision für Ihr Unternehmen wähntem Risiko der Vermischung des Pri- Steifheit von Tumoren zu messen und die- in zehn Jahren? vaten mit dem Geschäft – die Vorteile klar. se Informationen im klinischen Kontext M.P: Unser Gerät nimmt nanomechanische zu nutzen. Das war die Geburt des Spin- Gewebemessungen vor und erkennt damit Und was sind die Risiken bei Jungunter- offs. 2014 vergab die Uni eine exklusive Krebserkrankungen schneller. Dank einer nehmen? Entwicklungs- und Vermarktungslizenz umfangreichen, selbstlernenden Datenana- M.P: Für uns – wie übrigens für jedes Jung- an ein Schweizer KMU. Als das Projekt lyse schlägt das Gerät zudem sogleich auch unternehmen – sind die Finanzierung so- nicht wie gewünscht in Gang kam, wech- eine individuelle Therapie für den Patienten wie der relativ kleine Schweizer Markt si- selte ich die Seite und nahm die Weiter- vor. Mit dieser Technologie wollen wir in cherlich die grössten Herausforderungen. entwicklung als CEO selber in die Hand. zehn Jahren weltweiter Marktführer sein. Wir brauchen hohe Investitionen sowie die Das würde einen grossen Schritt nach vorn besten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Was sind die Vorteile eines Familienunter- in der Gesundheitsversorgung bedeuten. um unser hoch innovatives, medizintech- nehmens? nisches Produkt möglichst schnell und in P.C: Man ist komplett unabhängig und P.C: Visionen und Wünsche hat man im- bester Qualität zur Marktreife zu bringen. niemandem Rechenschaft schuldig. Ist mer. Eine Vision wäre, dass die Krone in Es ist sehr wichtig, von Anfang an den man selbst mit dem Erfolg zufrieden, ist Basel so stark verankert ist, dass man Weltmarkt im Auge zu haben und die rich- die Welt in Ordnung. Der Umgang mit den nicht um sie herumkommt. • tigen Strategien zu entwickeln. Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat ei- nen hohen Stellenwert. Es bleibt familiär Wie kam es überhaupt von der Idee zur und daraus resultiert eine hohe Motivati- MEHR DAZU: In einem Videogespräch dis- kutieren wir mit Unimentor Danilo Tondelli Gründung einer eigenen Firma? on unserer Mitarbeitenden. Zudem hat der über Risikobereitschaft und Erfolgsfaktoren M.P: Die Technologie, um die Steifheit Kunde bei Problemen jederzeit eine An- von Jungunternehmern. twice Herbst 2020 11
FOKUS CYBER- SICHERHEIT IST WICHTIGER DENN JE Die Covid-19-Pandemie führt uns klar vor Augen, dass Krisenzeiten ein Land und seine Wirtschaft in einen Ausnahmezustand versetzen und Unternehmens- führungen vor neuartige finanzielle, teilweise existenzielle, aber auch technische Herausforderungen stellen. Nicht auszudenken, was passiert, wenn ein Unter- nehmen in einer solchen Krise zusätzlich von einem Cyberangriff betroffen ist. Gerade deshalb ist eine zuverlässige Cybersicherheit unabdingbar. Die zunehmende Vernetzung und Durchdringung WIE SCHÜTZEN SICH UNTERNEHMEN? praktisch aller Bereiche eines Unternehmens mit In- Von besonderer Bedeutung in einer bewegten Zeit ist formatik eröffnet neue Potenziale. Gleichzeitig ent- das Sicherheitsbewusstsein der Mitarbeitenden für stehen durch die zunehmende Digitalisierung aber veränderte Arbeitsumgebungen und Zusammenar- auch neue Gefährdungslagen, auf die schnell und beitsmodelle. Sie sind genauso Teil einer langfristi- konsequent reagiert werden muss. Die digitale Si- gen Cyberresilienz wie starke Sicherheitsprozesse cherheitsmaturität der Unternehmen zeigt jedoch und eine stimmige Sicherheitsstrategie. Die besonde- enorme Unterschiede. In einigen Unternehmen ist re Gefahr gezielter Cyberangriffe auf die IT-Land- die digitale Transformation bereits fortgeschritten. schaft verlangt eine Erweiterung des Sicherheitsden- Diese Betriebe waren es auch vor Covid-19 gewohnt, kens und schliesst Kommunikation, Anwendungen, mit virtuellen Meetings zu arbeiten. Andere hinge- Prozesse und verarbeitete Informationen mit ein. gen wurden mit der Pandemieplanung regelrecht in Wichtig ist, sich klarzumachen, dass Sicherheit auch die digitale Transformation gestossen. Hier war Ho- Chefsache ist. Die Transformation und Rolle von Cy- meoffice zuvor kein Thema, Technologien dafür wa- bersecurity muss vom Management eingeleitet und ren nicht vorhanden und so mussten die Mitarbeiten- somit ein integraler Bestandteil von Strategie und den teilweise mit privaten Laptops oder schnell Entscheidungen werden. Jene Unternehmen, die sich ausgerollten Firmengeräten arbeiten. während der Krise in der Detektion und sofortigen Wiederherstellung der IT-Sicherheit weiterentwickelt MEHR CYBERKRIMINELLE ATTACKEN haben, machten die grössten Fortschritte und konn- Zu Beginn der ausserordentlichen Situation waren fast ten ihre Cybermaturität steigern. Schliesslich ist es alle Unternehmen mit Workflow- und Finanzmanage- wichtig, dass Krisenprozesse nicht nur erstellt, son- ment beschäftigt. Ungewohnte Arbeitsmittel und -orte, dern auch regelmässig überprüft, angepasst und ge- Prozesse sowie fehlende Mittel zur dezentralen Über- testet werden. • wachung schufen schnell zusätzliche Schwachstellen. URS KÜDERLI ist Par tner und Leiter des Bereichs Cyberkriminelle nutzten diese Gelegenheit und inten- Cybersecurity and Privacy bei P wC Schweiz. sivierten ihre Attacken aus dem Cyberspace. Es zeigte sich schnell, dass eine tatkräftige Bekämpfung und Bereinigung einer Cyberattacke im Pandemiefall und unter Auflagen viel schwieriger ist. 12 twice Herbst 2020
KOLUMNE WIESO NICHT EINMAL IN KANADA LEBEN? Von Thomas Kleiber «Bist du mutig oder einfach nur dumm?» Direkt hatte Aber war ich mir aller Risiken voll bewusst? Nein. Mir mich das so niemand gefragt. Zwischen den Zeilen genügte es, zu wissen, dass «ernsthafte Bedrohungen» aber schon. unwahrscheinlich sind. Eisige Stellen gibt es jedoch im- mer. Hätte ich zu lange überlegt, hätte ich von diesen Vor zwei Jahren bin ich nach Kanada ausgewandert. Weg immer mehr gesehen und den Gewinn immer mehr ver- aus dem gemachten Nest, weg von meiner sicheren gessen. Ich wäre nicht gegangen. Arbeitsstelle, weg von Familie, Freunden, Netzwerken und vertrautem Umfeld. «Wegen der Liebe», hiess es Ich hätte so die Chance vertan, viele interessante und halbrichtig in den Klatschmedien. liebenswerte Kanadier kennenzulernen. Ich hätte es mir verwehrt, in einem wunderbaren Land zu leben, in Die Gründe, wieso Menschen ohne Not auswandern, sind eine andere Kultur einzutauchen und eine grossartige zahlreich. Aber etwas scheint mir gemeinsam zu sein: Natur zu erkunden. Ich wüsste auch nicht, wie es sich Auswanderer sind im Geiste ähnlich wie Jungunterneh- als Immigrant anfühlt und wie rasch man sich dabei mer. Sie möchten ihren eigenen Weg gehen und sind minderwertig und wehrlos fühlen kann. Ich hätte so viel bereit, dafür die Komfortzone zu verlassen und Risiken verpasst! in Kauf zu nehmen. Gut möglich dennoch, dass ich wieder in die Schweiz zu- Selbsterklärend, dass man sich vorgängig über Gefahren rückkehre. Das wäre kein Scheitern. Ich liebe die Schweiz. informiert. Aber man kann sich nie für alles wappnen. Ich ging nach Kanada, weil ich beruflich auf der Suche Ein banales Detail kann alles ruinieren. Louis Hébert nach einer neuen Herausforderung war und ich dank zum Beispiel, der erste europäische Farmer in Kanada, meines kanadischen Partners einfacher einreisen konnte. war gut vorbereitet auf seine raue, gefährliche Umge- Wäre doch schade gewesen, hätte ich diese grossartige bung. Er starb weder an der brutalen Kälte des kanadi- Möglichkeit nicht genutzt. Mein Problem ist nur, dass ich schen Winters, noch verhungerte er, kein Mensch nun an zwei Orten daheim bin. Sollte ich zurückkommen brachte ihn um und kein Bär frass ihn auf. Sein Tod in die Schweiz, werde ich Kanada vermissen. Ich werde ereilte ihn völlig trivial, als er auf einer vereisten Stelle Heimweh haben, egal, wo ich wohne. ausrutschte und dabei unglücklich stürzte. Aber den Preis bin ich bereit zu zahlen. Als ich nach Kanada zog, war ich mir einiger Risiken bewusst. Zum Beispiel der Sprache. In Französisch kann Um auf die Frage zurückzukommen, ob ich mutig oder ich mich nie so gut ausdrücken wie in Deutsch, was dumm bin: Ich bin wohl – wie die meisten – von beidem natürlich ein Hindernis ist bei der Jobsuche. Ebenso zu ein wenig. Aber ich bin vor allem neugierig. Ich habe das erwarten sind Probleme bei der Anerkennung der Aus- gemacht, was uns weiterbringt: Ich habe etwas gewagt. bildungen und beruflichen Erfahrungen. Auch nicht zu THOMAS KLEIBER ist Meteorologe, ehemaliger unterschätzen ist das Heimweh. SRF-Moderator und lebt seit 2018 in Kanada. twice Herbst 2020 13
STANDORT ANPACKEN STATT ANKLAGEN Bei der Unternehmensverantwortung müssen wir wegkommen vom Regulieren und ver- mehrt die Chancen in den Mittelpunkt stellen. Es gilt anzupacken, statt anzuklagen. Nachhaltigkeit und unternehmerische KEIN SCHWEIZER SONDERWEG Verantwortung sind aus der heutigen Die Unternehmens-Verantwortungs- wirtschaftspolitischen Debatte nicht Initiative, über die wir in der Schweiz am mehr wegzudenken. Die Firmenkultur in 29. November abstimmen, geht in eine an- multinationalen Unternehmen hat sich in dere Richtung. Sie ist weder international den letzten Jahrzehnten stark verändert. abgestimmt noch mit Bedacht definiert. Sie Weltweit tätige Unternehmen können es verlangt die Einführung von Haftungsre- sich nicht leisten, systematisch gegen geln und Sorgfaltspflichten, die weltweit Menschenrechte und Umweltschutz zu einzigartig extrem wären. Schweizer Un- verstossen. Die ethischen Erwartungen ternehmen würden für ihre gesamte Lie- sofort umgesetzt werden. Damit schafft er der Öffentlichkeit und der eigenen Mitar- ferkette automatisch und ohne Verschul- Planungssicherheit für die Unternehmen. beitenden beeinflussen die Unternehmen den haften. Von der Haftung befreien zusätzlich. Schweizer Unternehmen agie- könnten sie sich nur, wenn sie ihre Sorgfalt CHANCEN NUTZEN STATT RISIKEN ren denn auch weltweit vorbildlich. Sie jederzeit lückenlos nachweisen könnten. VERMEIDEN engagieren sich vor Ort für bessere Ar- Andere Länder haben eine solche Praxis Statt die Unternehmen zu mehr Risikover- beitsbedingungen und Umweltschutz in bisher klar abgelehnt. Die EU-Kommission meidung zu zwingen, sollten wir uns ver- Zusammenarbeit mit Regierungen, NGOs will 2021 einen Gesetzesvorschlag vor- mehrt den Chancen einer Einbindung mul- und der lokalen Bevölkerung. Bei Fehltrit- legen, um die Verantwortung von multina- tinationaler Firmen vor Ort widmen. ten können Unternehmen verklagt wer- tionalen Unternehmen europaweit zu har- Mangelnde Menschenrechte und fehlen- den – auch in der Schweiz. monisieren. Doch auch sie wird sich hüten, der Umweltschutz sind nämlich im Kern unverhältnismässige Haftungsregeln ein- eine Folge von Armut und Unterentwick- International und national laufen Bestre- zuführen. Mit der Annahme der Unterneh- lung. Die Frage muss deshalb sein, wie wir bungen, die Verantwortung der Unter- mens-Verantwortungs-Initiative würde die den wirtschaftlichen Fortschritt und den nehmen hinsichtlich ihrer Lieferkette Schweiz also zum Sonderfall. Unsere Un- verantwortungsvollen Umgang mit Res- durch neue Gesetze weiter zu erhöhen. ternehmen wären im internationalen Wett- sourcen in den Entwicklungsländern för- Auch die Wirtschaft unterstützt diese An- bewerb benachteiligt und ausländischen dern können. Und hier spielen die globa- sätze der Sorgfaltsprüfungspflichten, Klageanwälten ausgeliefert. Der indirekte len Unternehmen eine Schlüsselrolle. Die denn sie sorgen für gleiche Wettbewerbs- Gegenvorschlag des Parlaments, der bei Erfahrung zeigt, dass nachhaltige Verbes- bedingungen. Zwei Bedingungen sind da- einem Nein zur Initiative an der Urne auto- serungen für Mensch und Umwelt vor al- bei aber zentral: Erstens müssen die Re- matisch in Kraft tritt, ist klar die bessere lem dann gelingen, wenn Unternehmen geln international abgestimmt sein, Lösung. Er kombiniert auf Gesetzesstufe möglichst eng in die lokale Wirtschaft der damit für alle gleich lange Spiesse gelten. eine Rechenschaftspflicht mit strengen betroffenen Länder eingebunden sind. Zweitens muss die Sorgfaltsprüfungs- Sorgfaltsprüfungspflichten. Bei Nichtein- pflicht verhältnismässig sein, damit sie haltung der Pflichten drohen strafrechtli- Der konfrontative Ansatz der Initiative ig- das Engagement der Unternehmen in Ri- che Konsequenzen. Der Gegenvorschlag noriert die kulturellen und wirtschaftlichen sikoländern nicht schmälert. setzt auf internationale Standards und kann Fragen und reduziert das Problem auf 14 twice Herbst 2020
Die allermeisten Unternehmen setzen sich heute schon für die Einhaltung von Menschenrechten und Umwelt- vorschriften ein. Verlangt wird, dass rein juristische Aspekte. Damit erschwert Schweizer Unternehmen für sämtliche Hand- sie den dialogorientierten Weg der konst- lungen in ihrem gesamten Geschäftsumfeld – ruktiven Zusammenarbeit. Die Unterneh- men wären gezwungen, ihre Ressourcen also auch für Kunden, Lieferanten oder deren auf die Risikovermeidung auszurichten Vorlieferanten – verantwortlich sind respektive und ihr Engagement in Schwellen- und für mögliche Verschulden haften. Ich bin der Entwicklungsländern zu überdenken. Der Umwelt und den Menschenrechten wäre Meinung, dass Unternehmen – wie auch private dadurch alles andere als gedient. Deshalb Personen – nicht für eine Handlung in ihrem empfehlen wir ein Nein zur Unterneh- mens-Verantwortungs-Initiative, denn dies Umfeld verantwortlich gemacht werden können, bedeutet automatisch ein Ja zum interna- deren Urheber sie nicht sind. Dieser fragwürdigen tional abgestimmten Gegenvorschlag. • Vorverurteilung der Urheberschaft ist mit einem entschiedenen Nein zu begegnen. » GABRIEL SCHWEIZER, Leiter Aussenwirtschaft BEAT HAUENSTEIN, CEO OETTINGER DAVIDOFF AG UND PRÄSIDENT ARBEITGEBERVERBAND BASEL g.schweizer@hkbb.ch INNOVATION MADE BY SWEDEN. A A B C D E F G twice Herbst 2020 15
STANDORT SCHNELL, FLEXIBEL UND KURZE ENTSCHEIDUNGSWEGE Susanne Affolter-Steiner über Was genau umfasst Ihr Kerngeschäft? Wie stehen Sie als Unternehmerin zur die Vorteile eines Familien- Zu unserem Kerngeschäft gehört die Her- Aussage «no risk, no success»? stellung unserer Nutfräsmaschinen. Sie Jede Entscheidung ist eine Gratwanderung unternehmens und über ein sind Mittel zum Zweck. Das tragende Ele- zwischen Risiko und Chance. Wir versu- eigentlich unscheinbares ment der Firma sind die Verbinder. So- chen jeweils, möglichst gut abzuschätzen, Stück Holz, das aber seit wohl die Maschinen wie auch die Holzla- welches der beste Weg ist. Schliesslich seiner Erfindung unzähligen mellen werden alle hier am Standort trifft man heute eine Entscheidung für Schreinern die Arbeit erleich- Bubendorf produziert. morgen. Zwischendurch braucht es viel- tert und deshalb sogar seinen leicht auch mal eine Nachjustierung. Aber Weg ins MoMa in New York Warum entscheidet sich ein Kunde für ein ganz ohne Risiko kommt man nicht weiter. Produkt von Ihnen? gefunden hat. Weil er damit Zeit sparen und seine Pro- Welches war bisher das grösste Risiko duktivität steigern kann. Darauf fokussie- der Firmengeschichte? ren wir, wenn wir neue Verbindungsele- Das grösste Risiko hat sicher mein Gross- mente auf den Markt bringen. Das Produkt vater übernommen, als er seinerzeit ent- muss einfach und schnell sein – für den schieden hat, in die Produktion der Nut- Kunden ebenso wie für uns in der Her- fräsmaschinen einzusteigen. Der Motor, stellung. Nur so können die Herstellkos- den er dafür brauchte, wurde speziell für ten auf einem für den Kunden zahlbaren ihn gefertigt und er musste mindestens Niveau bleiben. 1000 Stück abnehmen. Dafür setzte er ÜBER LAMELLO 1969 wurde die Lamello AG in Bubendorf gegründet. Das heute welt- weit tätige Unternehmen ist spezialisiert auf qualitativ hochstehende und innovative Holzverbindungs- und Holz- bearbeitungslösungen. www.lamello.ch 16 twice Herbst 2020
Was uns bei der Innovationskraft hilft, sind unsere schlanken Strukturen und Prozesse. Das ist ein Vorteil als Familien- unternehmen. Warum investieren Sie zurzeit im grenz- nahen Grenzach-Wyhlen? Erstens haben wir hier auf dem Areal nicht mehr viel Platz. Unsere Kunststoff- produktion mussten wir bereits in gemie- tete Räume im Dorf auslagern. Zweitens beliefert das Lager Grenzach hauptsäch- lich die Märkte unserer europäischen Tochtergesellschaften. Das bringt deutli- che Vorteile betreffend Geschwindigkeit und Lieferkosten. Es ist ein Unterschied, ob wir einen ganzen Lkw verzollen können oder nur Einzelpakete. nahezu seine gesamten finanziellen Res- schauen immer wieder, wie Kunststoff ver- Welche Möglichkeiten eröffnet Ihnen die sourcen ein. Er hat das Risiko auf sich ge- bunden wird. Gibt es dort Möglichkeiten? Digitalisierung? nommen. Auch als er keinen Hersteller Wir sind permanent gefordert, den Markt Sehr viele. Aber wir müssen immer wie- finden konnte, der ihm die gewünschten gut zu beobachten. Welche Materialien der mit den richtigen Partnern in Ge- Maschinen zusammenstellte, hat er sich kommen für den Schreiner auf den Markt? sprächen sein. Unser Clamex P Verbinder nicht von seinem Weg abbringen lassen, Was für Plattenmaterial kommt? Woraus war zunächst in der CNC-Welt beheimatet. sondern die Maschinen halt einfach selbst ist dieses gefertigt? Sind unsere Verbinder Dann kam der Schreiner und sagte, er wol- zusammengestellt. An diesen Entschei- für dieses Material auch geeignet? le dieses Produkt auch, habe aber keine dungen hing nicht nur die Existenz seiner CNC-Maschine. So kam es zur Handnut- Schreinerei, sondern auch seiner Familie. Wie wichtig ist Nachhaltigkeit für Lamello? fräsmaschine. Um wirklich in der digita- Das Thema Nachhaltigkeit hat grossen len Fertigung zu sein, braucht es vom Was sind die drei grössten Heraus- Wert in der Produktion unserer Holzlamel- Maschinenhersteller bis zum Softwareher- forderungen für Ihr Business? len. Unser gesamtes Holz ist regional und steller eine ganze Kette an Partnern. In Wenn man mit etwas Erfolg hat, darf man wird im Umkreis von rund 20 km gefällt. den letzten zehn Jahren haben wir dies- sich nicht ausruhen. Am Ball zu bleiben, ist Und mit unseren qualitativ hochstehenden bezüglich ein wichtiges Netzwerk aufge- eine stete Herausforderung. Im Moment be- Maschinen setzen wir natürlich auf Langle- baut. Das zahlt sich aus. So hat 2019 an schäftigt uns ausserdem die Kopiersituati- bigkeit und somit auch auf Nachhaltigkeit. der LIGNA in Hannover ein CNC-Maschi- on in China sehr stark. Unsere neuen Pro- Bis mindestens zehn Jahre nachdem das nen-Hersteller eine Fertigung aufgebaut, dukte, die P-System Verbinder, haben noch letzte Produkt einer Modellreihe unser die automatisch eine Bohrung erstellte laufende Patente. In China haben wir ein Haus verlassen hat, hat der Kunde die Mög- und unsere Cabineo Verbindungselemen- paar «Mitbewunderer», wie wir gerne sa- lichkeit, seine Maschine reparieren zu las- te durch einen Roboter einsetzen liess. gen, die uns kopieren. Hier sind wir stark sen. Es wird manchmal gesagt, eine Lamel- gefordert, unsere Patente zu verteidigen. lo werde mit dem Schreiner pensioniert. Und wie fand Ihre Holzlamelle den Weg ins New Yorker Museum of Modern Art? Weitere Herausforderungen sind natürlich Was macht die Innovationskultur bei Das haben wir selbst bis heute nicht her- auch immer neue Regulatorien im Sinne Lamello aus? ausgefunden. Im Mai 2015 haben wir vom von Maschinenzertifizierungen, die sich Wir haben in der Branche den Namen des MoMa ein Schreiben erhalten, dass unser teilweise von Land zu Land unterscheiden. Innovationsführers und möchten diesen Produkt als eine der 100 wichtigsten un- auch behalten. Als solcher schauen wir im- scheinbaren Erfindungen des Jahrhun- Könnten Sie sich vorstellen, das Risiko mer wieder, welche technologische Grenze derts ausgestellt sei. Was uns natürlich einzugehen, Ihr Kernbusiness «Holz ver- wir überschreiten können. Wir halten uns freut und auch stolz macht. • binden» zu verlassen? nicht immer an vermeintliche Normen und Wir versuchen immer, über den Garten- gehen Dinge manchmal von einer anderen zaun zu schauen. Wo könnten wir mit un- Seite an. Bei meinem Grossvater hat es ge- SUSANNE AFFOLTER-STEINER ist in dritter Generation Geschäftsführerin seren Verbindungselementen Möglichkei- heissen, Holz könne man nicht stanzen. Un- und Hauptaktionärin der Lamello AG. ten für andere Bereiche eröffnen? Wir sere Lamelle wird seit Jahrzehnten gestanzt. twice Herbst 2020 17
STANDORT AMSTERDAM LONDON ROTTERDAM ANTWERPEN DÜSSELDORF ZEEBRUGGE KÖLN BRÜSSEL MANNHEIM/ LUDWIGSHAFEN STRASSBURG BASEL ZÜRICH BERN POTENZIAL MAILAND GENUA AUSSCHÖPFEN Die Region Basel liegt im Zentrum des für den europäischen Güterverkehr bedeutsamen Rhein-Alpen-Korridors. Rund die Hälfte des gesamten Frachtverkehrs zwischen Nord- und Südeuropa wird jährlich über diesen Hochleistungskorridor transportiert. Um seine Leistungsfähigkeit voll auszuschöpfen, braucht es weitere Infrastrukturausbauten. Dazu gehört auch das Gateway Basel Nord mit dem Hafenbecken 3. Erst kürzlich eröffnete die Schweiz den Ceneri-Basis- einen grossen Teil des Raums ab, der als «blaue Bana- tunnel und beendete damit das Mammut-Infrastruk- ne» bekannt ist. Dies ist ein Gebiet mit vergleichswei- turprojekt «Neue Eisenbahn-Alpentransversale» (NEAT). se dynamischer Wirtschaft und Wohlstand sowie Was ein wenig sperrig klingt, ist nicht nur eines der starker Verkehrsverflechtung. Gut 1’000 Millionen grössten Bauvorhaben, das je in Europa erstellt wurde, Tonnen Fracht werden jährlich über den Korridor sondern verfolgt auch ein Ziel, das aktueller nicht sein transportiert, was 50 Prozent des gesamten Fracht- könnte: Die NEAT soll – als Teilstück des Rhein-Alpen- verkehrs zwischen Nord- und Südeuropa entspricht. Korridors, der von Rotterdam nach Genua reicht – einen «Beim internationalen Frachtverkehr wird rund die Grossteil des Schwerlastverkehrs von der Strasse auf Hälfte davon auf dem Rhein verschifft», erläutert Dr. die Schiene verlagern. Christiane Warnecke, Geschäftsführerin Schienen- güterverkehrskorridor Rhein–Alpen. «Die übrigen 1’000 MILLIONEN TONNEN PRO JAHR Verkehre verteilen sich auf dem Rhein-Alpen-Korri- Schon heute ist der Rhein-Alpen-Korridor eine der dor in etwa gleich auf Schiene und Strasse.» meistgenutzten Güterverkehrsstrecken Europas. Er verbindet die Wirtschaftszentren in den Regionen Betrachtet man den Schienenweg, so ist die Leistung Rhein-Ruhr und Rhein-Main-Neckar mit den Häfen des Rhein-Alpen-Korridors beachtlich: Gut die Hälf- von Rotterdam, Antwerpen und Zeebrugge im Norden te des Schienengüterverkehrs der EU werden über und dem Hafen von Genua im Süden sowie mit den diese Achse abgewickelt. So spielt er auch für SBB Güterverkehrszentren in Norditalien. Er deckt somit Cargo International eine grosse Rolle: «Wir wickeln 18 twice Herbst 2020
rund 95 Prozent unserer Verkehre über diesen Korri- wird die Binnenschifffahrt gut an Schiene und Strasse dor ab», erläutert Ulla Kempf, Leiterin Ressourcen- angebunden.» Doch nicht nur bei der Realisierung von planung SBB Cargo International AG. Infrastrukturen liegen grosse Aufgaben vor uns. Auch bei der Digitalisierung und beim Datenverkehr gibt es MULTIMODALITÄT WICHTIGE Nachbesserungsbedarf. VORAUSSETZUNG «Die Lieferketten auf dem Korridor sind allerdings nur NACHBESSERUNGEN BEI DIGITALISIERUNG so leistungsfähig wie ihr schwächstes Glied», gibt «Eine wichtige Aufgabe der Schweizerischen Rheinhä- Kempf zu bedenken. «Damit der Warentransport rei- fen respektive aller Binnenhäfen ist es, Transportdaten bungslos und effizient erfolgen kann, braucht es moder- der unterschiedlichen Verkehrsträger bereitzustellen. ne und leistungsfähige Infrastrukturen, die internatio- Damit Multimodalität in den Häfen effizient erfolgen nal aufeinander abgestimmt sind.» Die Verknüpfung kann, müssen wir Informationen miteinander austau- der Verkehrsträger – die sogenannte Multimodalität – schen können», betont Hadorn. Die gesetzliche Grund- ist beim Gütertransport essenziell. «Multimodalität ist lage für eine internationale Koordination fehlt aber bis- für uns entscheidend, denn jeder Verkehrsträger hat lang dafür. «Leider verhindert die Datenschutzgrund- MEHR DAZU: seine Stärken. Während die Bahn für längere Strecken verordnung der EU, dass wir die nicht kommerziellen Erfahren Sie mehr zur Bedeutung optimal ist, braucht es beispielsweise für die An- und Transportdaten für alle Marktteilnehmer gewinnbrin- des Rhein- Ablieferung im Hinterland auch die Strasse», so Kempf. gend nutzen können. Wenn wir die Multimodalität för- Alpen-Korridors in unserem Podcast Diese Meinung teilt Hans-Peter Hadorn, Direktor der dern wollen, muss die Politik hier also deutlich nach- mit Dr. Christiane Schweizerischen Rheinhäfen: «Nördlich von Basel sind bessern», hält Hadorn fest. Warnecke, Schienen- güterverkehrs- die Verkehrsströme durch Umschlagterminals bereits korridor Rhein– multimodal. Damit dies am Bündelungspunkt in Basel Damit der Rhein-Alpen-Korridor seine volle Leistung Alpen, Ulla Kempf, SBB Cargo Interna- effizient weitergeführt werden kann, muss auch hier erbringen und damit auch einen wichtigen Beitrag tional AG, und mit dem Terminal Gateway Basel Nord samt dem Ha- für die Umwelt leisten kann, braucht es neben dem Hans-Peter Hadorn, Schweizerische fenbecken 3 eine moderne Infrastruktur für die Ab- Abbau von Hürden beim Datenaustausch auch Inves- Rheinhäfen. wicklung des Containerverkehrs geschaffen werden. So titionen in die Infrastruktur. • DR. SEBASTIAN DEININGER, Leiter Verkehr, Raumplanung, Energie und Umwelt s.deininger@hkbb.ch Vielfältig. Praxisorientiert. Berufsnah. Aus- und Weiterbildung an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW Informieren Sie sich jetzt unter www.fhnw.ch twice Herbst 2020 19
STANDORT WIE HOCH IST DA BLACK Die Schweiz liegt im Herzen Europas und ist wirt- Die Einschätzungen zur Stromversor- schaftlich eng mit ihren Nachbarstaaten verbunden. gungssicherheit beinhalten unterschied- liche zeitliche Dimensionen sowie die Das gilt auch für die Energiewirtschaft. Yves Zumwald, Aspekte Zuverlässigkeit, Sicherheit und CEO Swissgrid, erklärt, was die Schweiz tun muss, Angemessenheit. damit ein grosser Stromausfall nicht Realität wird. Wie gut steht die Schweiz tatsächlich da? Die Schweiz nimmt punkto Versorgungs- qualität im gesamteuropäischen Vergleich Herr Zumwald, warum ist Versorgungs- einen Spitzenwert ein. Die durchschnittli- sicherheit ein so relevantes Thema? che Unterbrechungsdauer pro Endverbrau- Ohne Strom stehen Gesellschaft und cher und Jahr betrug 2019 in der Schweiz Wirtschaft still. Entsprechend schätzt 19 Minuten. Der Anteil Unterbrechungsmi- das Bundesamt für Bevölkerungsschutz nuten im Übertragungsnetz beträgt davon eine Strommangellage als grösstes Risiko nur 0.2 Prozent. Das Hauptproblem ist netz- ein. Swissgrid leistet als nationale Netz- seitig der fehlende Einbezug in die europä- gesellschaft einen wichtigen Beitrag zur ischen Koordinationsprozesse, der sich ne- netzseitigen Versorgungssicherheit. Wir gativ auf den Netzbetrieb auswirkt. Swiss- verfolgen das Ziel, den Wandel im europä- grid setzt sich deshalb für die volle ischen und im schweizerischen Energie- Integration der Schweiz in den europäi- system mitzugestalten. Nur so ist es mög- schen Strommarkt ein. Grundlage dafür ist lich, den zuverlässigen und leistungsfä- ein Stromabkommen mit der EU. higen Betrieb des Übertragungsnetzes zu gewährleisten. Schon heute ist die Schweiz im Winter- halbjahr Nettoimporteur von Strom und Manche Studien kommen zum Schluss, somit auf ihre Nachbarländer angewie- dass die Versorgungssicherheit in der sen. Nimmt diese Abhängigkeit weiter zu? Schweiz mit Strom auch in Zukunft ge- In der Energieversorgung der Zukunft wird währleistet ist. Andere bezweifeln dies. Strom eine zentrale Rolle spielen: Erneuer- Wie kommt es zu diesen unterschiedli- bare Energien, Effizienzsteigerung und chen Einschätzungen? Elektrifizierung sowie Sektorkopplung sind 20 twice Herbst 2020
Sie können auch lesen