PARAPLEGIE - Akzeptanz - wie das Leben weitergeht 12 - Schweizer Paraplegiker-Gruppe

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PARAPLEGIE - Akzeptanz - wie das Leben weitergeht 12 - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
JUNI 2022 | NR. 182 | GÖNNER-MAGA ZIN

PARAPLEGIE

SCHWERPUNK T
Akzeptanz – wie das
Leben weitergeht

12                              20                         26
Die ganze Familie               Francesco Rullo zwischen   Jahresabschluss:
ist mitbetroffen                Hölle und Paradies         Stabile Zahlen
PARAPLEGIE - Akzeptanz - wie das Leben weitergeht 12 - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
Begründete Hoffnung

Erfahrung aus über 30 Jahren und jährlich
mehr als 1200 stationären Behandlungen.

www.spz.ch
PARAPLEGIE - Akzeptanz - wie das Leben weitergeht 12 - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
M AG A ZIN D ER G Ö NNER-V EREINIG U NG D ER SCH W EIZER PA R A PL EG IK ER-S T IF T U NG

                                                                                       16
Liebe Mitglieder

Es war ein weiter Weg und beanspruchte viele
Jahre, bis ich endlich sagen konnte, ich habe
meine Querschnittlähmung akzeptiert. Viele Hin-
dernisse erschwerten eine solche Aussage, der
Kopf wollte da lange nicht mitmachen. Ich lernte,
mit allen Einschränkungen zu leben – aber lange
habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als wie-
                                                                          29
der gehen zu können.
    Viele Menschen, die von einer Para- oder                                  8
Tetraplegie betroffen sind, bleiben bei dieser                                        S C H W E R P U N KT
Ansicht und sprechen das Wort Akzeptanz nie aus.
Dabei ist der Verlust des Gehens nur ein Aspekt                                        8    KRISENFEST
                                                                                            Wie man einen Schicksalsschlag
von vielen, die ihr Leben zur Herausforderung
                                                                                            akzeptieren lernt
machen. Und eine Querschnittlähmung hinter-
lässt nicht nur im Körper tiefe Spuren, sondern                                       12    PETER ROOS’ UNFALL
                                                                                            Die Familie ist mitbetroffen
auch im Herzen und im Kopf. Dass ich heute mit
meinem Körper und Geist wieder im Reinen bin                                          14   DIE GRAFIK
und den Rollstuhl als Freund anerkenne, verdanke                                           Herausforderungen akzeptieren
ich mehreren Umständen.                                                               16   PSYCHOLOGISCHER DIENST
    Erstens hat meine Entdeckungsreise der                                                 Auszeiten für den Kopf
Lebensmöglichkeiten als Rollstuhlfahrer viel Posi-                                    18   ARBEITSMARKT
tives hervorgebracht. Und zweitens wurde mein                                              Integration heisst: Menschen
Weg von einer gesellschaftlichen Entwicklung                                               ernst nehmen
unterstützt, die die Akzeptanz und Inklusion von
                                                            6   UKRAINE
Menschen mit körperlichen Einschränkungen
                                                                Einsatz für querschnittgelähmte
begünstigte – was zu den heute vorliegenden                     Flüchtlinge
Richtlinien und Gesetzen geführt hat. Seit 1975
                                                           20 BEGEGNUNG
übernimmt dabei die Schweizer Paraplegiker-Stif-              Francesco Rullo lebt zwischen Hölle und
tung eine Vorreiterrolle in der Sensibilisierung der          Paradies
Öffentlichkeit.
                                                           26 JAHRESABSCHLUSS
    Und hier erfasst mich Demut. Die Schweizer                Stabile Zahlen und mehr Mitglieder
Paraplegiker-Stiftung kann diese wichtige Auf-
                                                           27   DAUERMITGLIED
gabe nur wahrnehmen, weil Sie es mit Ihren Mit-
                                                                Sven Lötscher erklärt seine Motivation
gliederbeiträgen, Spenden und Zuwendungen
ermöglichen, dass wir die Betroffenen tatkräftig           28 INNOVATION
                                                              Wenn eine Brille den Rollstuhl steuert
unterstützen können. Das hat viel mit Aufmerk-
samkeit und Wertschätzung zu tun und bedeutet              29   THERAPIE
für uns: Akzeptanz.                                             Der Biker und der Bernhardiner
                                                           31   KOOPERATION
Ganz herzlichen Dank,                                           Sensibilisierung am Lucerne Festival
                                                           33   SITZWACHE
                                                                Kristina Schaefers leistet Freiwilligenarbeit

Heinz Frei
Präsident                                                       Titelbild: Peter Roos mit seiner
Gönner-Vereinigung                                              Mutter Pia und Tochter Leni.

                                                                                                   PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2   3
PARAPLEGIE - Akzeptanz - wie das Leben weitergeht 12 - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
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                                                                   Die Wiedererlangung der
                                                                   Handfunktion …

                                                                                             … ist der häufigste
Schlepphilfe im Alltagstest                                                                  Wunsch von Menschen
                                                                                             mit einer Tetraplegie.
Wie ein Hündchen rollt Gita seiner Besitzerin oder seinem
Besitzer selbstständig hinterher. Der kugelrunde Transport-        Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum wird dieser Wunsch Wirk-
roboter schleppt dabei Einkäufe, Bürotaschen, Gepäck               lichkeit: Die Tetrahandchirurgie führt weltweit einzigartige
oder Alltagsgegenstände bis zu zwanzig Kilo und passt seine        Operationen durch, damit die Betroffenen ihre Arme und Hände
Geschwindigkeit der benutzenden Person an. Das Schweizer           wieder für einfache Aufgaben nutzen können und ein Stück
Paraplegiker-Zentrum testet derzeit, wie sich mit solchen          Mobilität und Unabhängigkeit zurückgewinnen. Pro Jahr finden
teil­autonomen Helfern der Alltag von Menschen mit Quer­           über 100 Rekonstruktionen statt sowie 800 Konsultationen.
schnittlähmung in- und ausserhalb der Klinik erleichtern lässt.    Dank Telemedizin werden heute rund 150 Konsultationen orts-
                                                                   unabhängig durchgeführt – ein Service aus Nottwil, der inter-
                                                                   national viel Beachtung findet.
      mygita.com

Langzeitstudie der Schweizer
Paraplegiker-Forschung
Seit Mai führt die Schweizer Paraplegiker-Forschung mit ihren Partnerorgani-
sationen eine Datenerhebung im Rahmen der SwiSCI-Langzeitstudie durch.
Es ist die dritte umfassende Befragung nach 2012 und 2017, wobei rund
4800 Menschen mit Querschnittlähmung zur Teilnahme eingeladen sind. Die
Studie untersucht ihre Gesundheits- und Lebenssituation und dient Verant-
wortlichen in Politik und Gesundheitswesen als Entscheidungsgrundlage. Ver-
sorgungslücken können damit gezielt angegangen werden.

      swisci.ch
                                                                                Hilfseinsatz in Georgien
                                                                                Fachleute der Orthopädietechnik von Orthotec
                                                                                haben einen Einsatz des Vereins MTE in Georgien
Wege aus der Sprachlosigkeit                                                    begleitet. In ländlichen Gegenden müssen dort
                                                                                Menschen mit körperlichen Einschränkungen oft
Die Unterstützte Kommunikation (UK) ist nicht nur bei Kindern mit Beein-        den ganzen Tag im Bett verbringen. Es fehlt an
trächtigungen ein Thema, sondern betrifft zunehmend auch Erwachsene – zu        Wissen, Hilfsmitteln und Visionen für ein selbst-
Hause, in Institutionen, im Spital oder Pflegeheim. Active Communication        bestimmtes Leben. Die Schweizer Fachleute unter-
rückt deshalb in Zusammenarbeit mit der FHNW die Unterstützte Kommuni-          stützten Workshops für Eltern mit behinderten
kation bei Erwachsenen ins Zentrum des 7. UK-Symposiums am 31. August in        Kindern, reparierten Rollstühle und passten sie für
Olten. Das Symposium berät und vernetzt Fachpersonen, Familien und Nut-         die betroffenen Menschen an. Für die Orthotec-
zende – und zeigt innovative Wege aus der Sprachlosigkeit.                      Mitarbeitenden helfen solche Einsätze nicht nur vor
                                                                                Ort – sie erweitern auch ihren Horizont.
      uk-symposium.ch                                                                 mte-georgia.ch

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                                                       Es «wimmelt» auf dem Campus
                                                       Die Mitarbeitenden der Schweizer Paraplegiker-Gruppe (SPG) set-
                                                       zen sich jeden Tag mit viel Herzblut für die ganzheitliche Rehabili-
                                                       tation von Menschen mit Querschnittlähmung ein. Wie könnte
                                                       man das besser darstellen als mit einem farbenfrohen Wimmelbild
                                                       voller Menschen, Dinge und Geschichten? Der Basler Illustrator
                                                       Luca Bartulović hat für das Herzstück der neuen SPG-Broschüre
                                                       rund achtzig Szenen umgesetzt. Im Besucherzentrum ParaForum

26,9 Mio.                                              hat das Wimmelbild einen Ehrenplatz bekommen. Es ist zudem als
                                                       Malbuch für Kinder und Puzzle mit 196 Teilen im ParaForum-Shop
                                                       erhältlich.

Franken erhielten im Jahr 2021                               paraplegie.ch/
Menschen mit Querschnittlähmung                              wimmelbild

in Form von Gönnerunterstützung
und finanzieller Direkthilfe.

           Samuel Koch zurück in Nottwil

           Im Dezember 2010 sah ein Millionen-
           publikum seinen verhängnisvollen
           Sprung in der TV-Sendung «Wetten,
           dass …?»: Samuel Koch blieb quer-
           schnittgelähmt am Boden liegen. Rund
           ein Jahr verbrachte der Tetraplegiker im       Sensibilisierung der Öffentlichkeit
           Schweizer Paraplegiker-Zentrum. Er
           wurde Buchautor und Schauspieler. Im           Im Ostschweizer TV-Kanal «TeleTop» beantworteten Anke
           März 2022 kam er für eine Konferenz            Scheel-Sailer (Bild: Mitte), Leitende Ärztin Paraplegiologie
           zurück nach Nottwil – an den Ort, mit          am Schweizer Paraplegiker-Zentrum, und Tetraplegiker Roman
           dem er sowohl Erinnerungen an die              Zanettin Fragen zur Querschnittlähmung. Die beiden sensibi-
           schwierigste Zeit seines Lebens verbindet      lisierten in einem spannenden Gespräch die breite Öffentlichkeit
           als auch die Hoffnungen rund um seinen         über Themen wie die Selbstmotivation nach einem Schicksals-
           Neustart. Im Video-Interview gibt der          schlag oder den Umgang mit Schmerzen. Anke Scheel-Sailer
           ehemalige Patient bewegende Einblicke          gab zudem Tipps, wie man bei einem Unfall richtig reagiert und
           in sein Leben als Tetraplegiker.               erste Hilfe leistet.

                paraplegie.ch/
                                                                tinyurl.com/yvb86tmw
                samuel-koch

                                                                                              PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2   5
PARAPLEGIE - Akzeptanz - wie das Leben weitergeht 12 - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
CAMPUS NOT T WIL

Für Querschnittgelähmte
aus der Ukraine im Einsatz
Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung hat in Wolka Cycowska an der polnisch-
ukrainischen Grenze ein Safe House für Kriegsflüchtlinge mit Querschnittlähmung
eingerichtet. Die Dankbarkeit der betroffenen Menschen ist enorm.

«Es ist für uns kaum vorstellbar, was es       mit Stefan Dürger (Geschäftsführer Ortho-        Die SPS liefert aber auch Medikamente und
bedeutet, aus einem Kriegsgebiet zu flie-      tec) und Laurent Prince (Direktor Schweizer      Hilfsmittel an Kliniken in der Ukraine. Die
hen – zudem als Mensch mit Querschnitt-        Paraplegiker-Vereinigung) eine Grundaus-         dafür eingesetzten Mittel sollen nicht mit
lähmung», sagt Heidi Hanselmann, die           stattung an Material und Medikamenten            den Mitteln für den Betrieb in Nottwil kon-
Präsidentin der Schweizer Paraplegiker-Stif-   von Nottwil ins 1637 Kilometer entfernte         kurrieren, erklärt Heidi Hanselmann: «Um
tung (SPS), nach ihrer Rückkehr aus Wolka      Wolka Cycowska. Die drei Führungskräfte          die Hilfe losgelöst von unseren Gönner-
Cycowska. In der Schweiz haben viele das       halfen beim Einrichten des Safe House –          geldern aufrechtzuerhalten, haben wir ein
Bedürfnis, diesen Menschen zu helfen. Auch     und zeigten sich tief beeindruckt von der        Spendenkonto eingerichtet.» Dank der Soli-
die SPS setzt ein Zeichen der Solidarität      grossen Dankbarkeit der Flüchtlinge.             darität der Schweizer Bevölkerung sollen
gegen den Krieg in der Ukraine: An der pol-         Die Leitung vor Ort hat die erfahrene       die querschnittgelähmten Flüchtlinge nach
nisch-ukrainischen Grenze hat sie ein Safe     SPZ-Pflegefachfrau Sara Muff. Sie wurde          dem Kriegserlebnis wieder in eine Zukunft
House eingerichtet, in dem querschnittge-      rasch zur Vertrauensperson der vom Krieg         blicken können.
lähmte Flüchtlinge einen Zufluchtsort fin-     gezeichneten Menschen. Wer im Safe
den. Das ehemalige Pflegeheim bietet Platz     House Zuflucht gefunden hat, sieht end-
für rund 30 Personen. Sie erhalten dort        lich wieder eine Perspektive, sagt sie. Diese
Sicherheit, professionelle Pflege und eine     Menschen wollen nicht zur Last fallen, son-
medizinische Betreuung.                        dern selber anpacken. Die Paraplegiker-Stif-
     «Wir haben die Expertise im Bereich       tung unterstützt sie vor Ort in Polen und bie-
Querschnittlähmung, wir haben Hilfsmit-        tet in medizinisch dringenden Fällen Plätze       Unterstützen Sie
tel, und wir haben Mitarbeitende, die sich     in Nottwil an. Am 22. April sind die ersten       querschnittgelähmte
engagieren wollen», betont Heidi Hansel-       Betroffenen im Schweizer Paraplegiker-
mann. Anfang April fuhr sie gemeinsam          Zentrum (SPZ) eingetroffen.
                                                                                                 Flüchtlinge
                                                                                                 In einem Krieg erleiden rund zehn
                                                                                                 Prozent der Opfer eine Rückenmark-
                                                                                                 verletzung. Auch Sie können mithel-
                                                                                                 fen, querschnittgelähmte Flüchtlinge
                                                                                                 aus der Ukraine zu unterstützen.
                                                                                                 Für diesen Zweck hat die Schweizer
                                                                                                 Paraplegiker-Stiftung ein Spenden-
                                                                                                 konto eingerichtet. Die Mittel wer-
                                                                                                 den für den Betrieb des Safe House
                                                                                                 in Wolka Cycowska sowie für die
                                                                                                 Aufnahme und Behandlung von
                                                                                                 Betroffenen in Nottwil und für die
                                                                                                 Lieferung von Hilfsmitteln und Medi-
                                                                                                 kamenten in die Ukraine eingesetzt.

                                                                                                 IBAN: CH14 0900 0000 6014 7293 5
                                                                                                 Vermerk: «Nothilfe Ukraine»

                                                                                                       paraplegie.ch/ukraine

6 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
PARAPLEGIE - Akzeptanz - wie das Leben weitergeht 12 - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
CAMPUS NOT T WIL

                                           Sara Muff, was motiviert Sie zur                 sen- und Darmmanagement. Dann war
                                           Arbeit im Safe House?                            viel Administratives zu erledigen und ich
                                           Mir war sofort klar, dass ich für diese Auf-     gab dem Personal Tipps für die Pflege. Es
                                           gabe zusage. Unser Leben in der Schweiz          gab mehrere Abklärungen, ich wechselte
                                           ist so privilegiert und wir haben ein so gutes   Verbände und führte Gespräche mit den
                                           Bildungssystem. Da sehe ich mich in der          Flüchtlingen. Sie zeigten mir Bilder von
                                           Pflicht, etwas weiterzugeben. Mit meiner         ihren zerbombten Häusern und Städten.
                                           Erfahrung aus Nottwil kann ich hier sehr viel    Am Abend mache ich den Grosseinkauf für
                                           bewirken – auch wenn es nur ein Tropfen          den nächsten Tag. Manchmal zeichnen wir
                                           auf den heissen Stein ist.                       noch zusammen. Und vorgestern fehlten
                                                                                            einem Flüchtling Dokumente für die Wei-
                                           Welche Hilfe wird benötigt?                      terreise – dann bin ich um 01.30 Uhr noch
                                           Die Flüchtlinge waren oft tagelang unter-        wach …
                                           wegs; sie haben Druckstellen vom langen
                                           Sitzen im Rollstuhl oder Harnwegsinfekte.        Was schildern die Flüchtlinge?
«Wir können                                Viele mussten ihre Behandlung im Krieg
                                           abbrechen. Wir unterstützen sie pflegerisch
                                                                                            Sie erzählen von der Flucht; wen sie zurück-
                                                                                            lassen mussten, welche Personen tot sind.
hier sehr viel                             und medizinisch, aber auch, indem wir eine
                                           Atmosphäre schaffen, in der sie sich will-
                                                                                            Sie sprechen auch medizinische Themen
                                                                                            an oder wollen einfach ein Alltagsgespräch
bewirken»                                  kommen fühlen. Manchmal reicht es, ein-
                                           fach da zu sein und zuzuhören.
                                                                                            führen. Ich finde es schön, dass sie mir so
                                                                                            viel anvertrauen. Eine Zwanzigjährige schil-
SPZ-Pflegefachfrau Sara Muff leitet seit                                                    derte, wie ihr gesagt wurde, ihr totgeglaub-
April das Safe House der Schweizer         Wie lange bleiben die Flüchtlinge?               ter Freund sei nicht unter den Gefallenen
Paraplegiker-Stiftung in Wolka Cycowska    Das ist unterschiedlich. Einige möchten          und gelte als verschollen. Seither versucht
an der polnisch-ukrainischen Grenze.       in Polen bleiben und sofort zurück, wenn         sie ständig, ihn zu erreichen. Es ist so
Das Gespräch fand Mitte April statt.       der Krieg vorbei ist. Andere möchten zu          schlimm – wir haben beide geweint. Eine
                                           Bekannten nach Europa und wir organisie-         Mutter erzählte, wie ihre Familie im Flucht-
                                           ren die Transporte. Wir klären auch ab, wer      korridor aus Mariupol im Auto beschossen
                                           eine medizinische Behandlung benötigt.           wurde. Der Schock sitzt noch tief. Es sind
                                           In dringenden Fällen sorgen wir für einen        berührende Geschichten. Diese Menschen
                                           Transport ins Schweizer Paraplegiker-Zen-        stehen vor der absoluten Ungewissheit.
                                           trum nach Nottwil.
                                                                                            Worüber kommunizieren Sie?
                                           Wie sieht Ihr typischer Tag aus?                 Oft nutzen wir «SayHi». Ich spreche einen
                                           Jeder Tag ist anders. Heute half ich einem       Satz auf Deutsch und die App übersetzt in
                                           Tetraplegiker beim Duschen und beim Bla-         die gewünschte Sprache. Meistens klappt
                                                                                            es gut, aber es kommen auch kreuzfalsche
                                                                                            Übersetzungen heraus. Dann können sogar
                                                                                            wir kurz zusammen lachen.

                                                                                            Wie lange bleibt dieses Safe House?
                                                                                            Ich hoffe fest, dass es so lange bestehen
                                                                                            kann, wie es gebraucht wird. Dieser Ort
                                                                                            ist für Menschen mit Querschnittlähmung
                                                                                            enorm wichtig.
                                                                                                                  (manm, kste / zvg)

                                                                                            Sara Muff bei der Arbeit mit querschnitt­
                                                                                            gelähmten Flüchtlingen und vor dem Safe
                                                                                            House der Schweizer Paraplegiker-Stiftung.
                                                                                            Linke Seite Der «Ring of Life» des SPZ
                                                                                            leuchtet in den Farben der Solidarität. Bilder
                                                                                            vom ersten Materialtransport nach Wolka
                                                                                            Cycowska. Rechts: Heidi Hanselmann.

                                                                                                             PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2    7
PARAPLEGIE - Akzeptanz - wie das Leben weitergeht 12 - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

Wie man lernt,
einen Schicksalsschlag
zu akzeptieren
Die Diagnose Querschnittlähmung stellt den bisherigen
Lebens­­entwurf infrage und führt häufig in eine Krise. Die
betroffenen Menschen müssen nicht nur die Rehabilita­­­
tionsarbeit bewältigen, sondern auch eine Neuorientierung
für ihr Leben finden.

Maurizio Coldagellis Arbeitstag war eigent-        leben. Als er endlich aus dem Bett kann,
lich schon zu Ende, als sein Arbeitgeber ihn       fährt er mit dem Rollstuhl zum nahen Bahn-
bat, auf einer anderen Baustelle noch etwas        übergang und ist entschlossen, sein Leiden
zu überprüfen. Dabei stürzte der damals            zu beenden. Was ihn schliesslich zurück-
40-Jährige zehn Meter tief in einen Lift-          hält, kann er nicht mehr benennen: «Ich
schacht. Er zog sich einen Rückenbruch zu          vermute, es war der Gedanke an meine
und wurde sehbehindert. Er werde in der            Familie und an die Menschen, die mir nahe
Klinik viel Zeit und Geduld brauchen, sag-         sind und die mich lieben.»
ten ihm die Ärzte. Und mehr noch: Sie sind              Mit der Zeit hat Coldagelli gelernt, sein
sich nicht sicher, ob er je wieder das Bett        neues Leben zu akzeptieren. Er zeigt wie-
verlassen kann.                                    der sein typisches Lächeln – obwohl er fast
       Der einst aktive Mann aus Chiavenna         täglich mit Schwierigkeiten konfrontiert ist.
(IT) liebt die Natur; er jagte, fischte und ging   «Aber ich gebe nicht auf», sagt er. In emo-
leidenschaftlich gern in die Berge. Stän-          tional belastenden Momenten denkt er an
dig im Bett liegend wird ihm zunehmend             all das, was er bereits erreicht hat.
bewusst, dass er all das, was bisher sein
Leben bereichert hat, nicht mehr machen            Krise für den Neustart nutzen
kann. Im Sommer 2013 liegt er bereits viele        Die meisten der betroffenen Menschen             Maurizio und Agata Coldagelli:
Monate im Schweizer Paraplegiker-Zen-              schaffen eine Neuorientierung erst dann,         «Ich kann meiner Frau nur danken.
trum (SPZ) in Nottwil. Er hat schon viel Kraft     wenn sie den erlittenen Schicksalsschlag         Sie ist immer an meiner Seite und lässt
gebraucht, viel Geduld gezeigt, die ständi-        in ihre Gefühlswelt integriert haben, sagt       mich nie im Stich.»
gen starken Schmerzen ausgehalten. Doch            Kamran Koligi, Leitender Arzt Paraplegio-
jetzt beherrscht dieses Gefühl seinen Kopf:        logie am SPZ. Aus diesem Grund wurden
Ich schaffe das nicht mehr. So will ich nicht      in Nottwil Programme entwickelt, um die

8 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
PARAPLEGIE - Akzeptanz - wie das Leben weitergeht 12 - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

              Kraftquelle Familie
              Die Familie hat ihn in schwierigen Zeiten
              gestützt: der Paraplegiker mit seiner Frau
              und den gemeinsamen Söhnen.

              Patientinnen und Patienten in schwierigen
              Phasen zu begleiten.
                   Fachlich gesehen, befinden sie sich in
              einer Krise. «Eine Krise gilt in unserer Gesell-
              schaft als etwas Negatives», sagt der Arzt.
              «Dabei übersehen wir aber, dass in Krisen
              auch starke Veränderungsenergien freige-
              setzt werden können.» Sein Ziel ist, dass die
              Betroffenen lernen, diese Energien für ihren
              Neustart zu nutzen.
                   Das Wort «Akzeptanz» bedeutet in
              diesem Kontext, dass eine Person aner-
              kennt: Ihre Rückenmarkverletzung wird
              fortan ihr Leben prägen. Gerade junge
              Menschen stehen dabei oft vor völlig ver-
              änderten Lebensperspektiven. «Unsere
              Aufgabe ist zu vermitteln, dass das Leben
              mit einer Querschnittlähmung ein norma-
              les, genauso lebenswertes Leben ist», sagt
              Koligi. «Es findet einfach in einer anderen
              Form statt.»
                   Durch die interprofessionelle Betreu-
              ung in Nottwil kommen die Betroffenen
              täglich mit unterschiedlichen Fachpersonen
              ins Gespräch. Alle sind geschult, Symptome
              einer Krise zu erkennen. Wer von ihnen
              aber den entscheidenden Zugang findet,
              ist von Fall zu Fall verschieden. Bei Mauri-
              zio Coldagelli war es die Sozialarbeiterin der
              Station, Daniela Vozza. Heute leitet sie den
              Fachbereich Lebensberatung der Schweizer
              Paraplegiker-Vereinigung.

              Das Personal war wie eine Familie
              «Maurizio kam aus dem Kantonsspital Chur
              zu uns, er hatte gravierende Verletzungen,
              war fast blind und sprach nur Italienisch»,
              sagt sie. Seine Unsicherheit in der fremden
              Umgebung war gross. Daniela Vozza half
              ihm und seinen Angehörigen, die nötige
              Stabilität für die Rehabilitation zu finden:
              «Die Angehörigen machen ganz andere
              Prozesse durch als die Betroffenen, sie
              sehen die Konsequenzen viel früher. Am
              meisten benötigen sie Information und
              praktische Unterstützung.» Die Erleichte-
              rung sei jeweils gross, wenn sie erfahren,
              dass sie sich nicht um alles selber kümmern
              müssen – etwa um eine Unterkunft für die

                              PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2   9
PARAPLEGIE - Akzeptanz - wie das Leben weitergeht 12 - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

Auch über Schwieriges reden
Maurizio Coldagelli mit Daniela Vozza,
Leiterin Lebensberatung bei der SPV

                                                                                               Kamran Koligi
                                                                                               Leitender Arzt Paraplegiologie

                                                                                               men mit meinen Angehörigen hat es mir
                                                                                               die Kraft gegeben, auf meinem Lebensweg
                                                                                               weiterzumachen.»

                                                                                               Ein Drittel findet ein Gleichgewicht
                                                                                               Das Verarbeiten eines Schicksalsschlags
                                                                                               geschieht zwar individuell – und dennoch
                                                                                               zeigen sich Muster. So gibt es eine Gruppe
                                                                                               von Menschen, die ihre Querschnittläh-
                                                                                               mung erstaunlich gut akzeptieren kann.
                                                                                               Mayra Galvis von der Schweizer Paraplegi-
                                                                                               ker-Forschung hat untersucht, was ihnen
                                                                                               gemeinsam ist. «Damit erhalten wir Ansatz-
                                                                                               punkte, um jenen zu helfen, die mehr
                         «Das Personal in Nottwil war                                         Schwierigkeiten mit der Akzeptanz haben»,
                                                                                               sagt die Psychologin.
                           wie eine Familie für mich.»                                               Am Ende der Erstrehabilitation iden-
                            Maurizio Coldagelli                                                tifiziert Galvis' Studie drei psychologische
                                                                                               Muster, die weder vom Lebensalter noch
                                                                                               vom Ausmass der Querschnittlähmung
                                                                                               beeinflusst sind: 33 Prozent befinden sich
erste Zeit in Nottwil, den Wohnungsumbau        onellen Team aus, bei Bedarf wird der psy-     psychisch in einem Gleichgewicht. 37 Pro-
zu Hause oder die Verhandlungen mit den         chologische Dienst hinzugezogen.               zent sind zufrieden, aber weisen sehr hohe
Versicherungen.                                      Man darf durchaus traurig und wütend      Stresswerte auf. Und 30 Prozent leiden an
     Maurizio Coldagelli ist ein Mensch, der    über den erlittenen Verlust der Körperfunk-    psychischen Problemen wie Angst- und
aktiv auf andere zugeht und rasch Freunde       tionen sein, sagt sie. Aber in der Rehabili-   Depressionssymptomen (siehe Grafik).
gewinnt. Mit Daniela Vozza spricht der Pati-    tation gehe es auch darum, eine Vision für           Was gibt der ersten Gruppe die Fähig-
ent offen über seine Gedanken und Gefühle,      das weitere Leben als Para- oder Tetraple-     keit, eine Krise gut bewältigen zu können
auch wenn es ihm nicht gut geht. Sie ver-       giker zu entwickeln: Wovon lasse ich mich      («Resilienz»)? Für die Studienleiterin sind die
sucht dann, Anknüpfungspunkte ans Leben         inspirieren? Welche Ziele habe ich?            persönlichen Ressourcen ausschlaggebend:
zu setzen – «Lichtpunkte nach vorne», wie            Durch seine kommunikative Art ist es      «Je mehr eine Person darauf zurückgrei-
sie sagt. Zum Beispiel lenkt sie das Gespräch   Maurizio Coldagelli schliesslich gelungen,     fen kann, desto besser ist ihre psychische
auf den nächsten Besuch der Familie. Oder       in Nottwil ein Fundament für sein Leben        Gesundheit», sagt Mayra Galvis. Solche
auf konkrete Aspekte wie die Wohnsitua-         als Paraplegiker zu festigen. «Das Perso-      Ressourcen sind zum Beispiel ein zentraler
tion oder die Finanzen. Einmal pro Woche        nal war dabei wie eine Familie für mich»,      Lebensinhalt, ein Lebenssinn oder ein kon-
tauscht sie ihre Eindrücke im interprofessi-    sagt der ehemalige Bauarbeiter. «Zusam-        kretes Ziel. Auch eine optimistische Grund-

10 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
SCHWERPUNKT

                                                  Psychologische Muster am Ende der Rehabilitation
                                                          33 Prozent                                                 Quelle: swisci.ch
                                        reagieren nach relativ kurzer
                                         Zeit «resilient» auf die Quer-
                                        schnittlähmung: Sie sind sehr
                                          zufrieden, wenig gestresst
                                         und haben kaum depressive
Mayra Galvis                                 Symptome oder Ängste.
Wissenschaftlerin (Post Doc)
bei der Schweizer Paraplegiker-
Forschung
                                                         30 Prozent
                                         haben psychische Probleme.
                                          Sie sind weniger zufrieden,                                               37 Prozent
                                      fühlen sich gestresst und zeigen                                              geben an, mit ihrem
                                           Symptome von Depression                                                  Leben zufrieden zu sein.
                                          und Angst. 7 Prozent unter                                                Aber die Personen in
                                           ihnen sind stark betroffen.                                              dieser Gruppe fühlen
                                                                                                                    sich sehr gestresst.

einstellung und die Erfahrung, dass man        manchmal stösst die Medizin an Gren-             und unterstützt alle Beteiligten in der ethi-
herausfordernde Situationen jeweils gut        zen. Zum Beispiel, wenn eine achtzigjäh-         schen Entscheidungsfindung.
meistern kann, helfen. Ebenso wichtig ist      rige Tetraplegikerin unheilbar an Krebs
ein menschliches Umfeld, in dem man gut        erkrankt. Dann müssen die Betroffenen            Anderen Mut machen
aufgehoben ist.                                und ihre Angehörigen lernen, das Unauf-          Die Herausforderung, eine Veränderung im
     Mayra Galvis empfiehlt eine psycho-       haltbare zu akzeptieren und auszuhalten.         Leben akzeptieren zu müssen, die unum-
therapeutische Begleitung zur Bewälti-         «Auch für unsere Teams ist das schwierig»,       kehrbar ist, führt die betroffenen Menschen
gung einer Querschnittlähmung: «Wer am         erklärt der Arzt Kamran Koligi. «Es besteht      in Situationen, mit denen sie im Alltag nur
Anfang der Rehabilitation schon lernt, seine   ja immer eine emotionale Bindung zu den          ganz selten konfrontiert sind. Nach einem
Gedanken und Gefühle richtig einzuordnen,      Menschen, die wir behandeln.»                    Schicksalsschlag gibt es keine «Zurück-
kann später mit diesen Fähigkeiten selber            Wie geht das SPZ mit der Betreuung am      Taste». Aber es gibt Wege, den Umgang
weiterarbeiten.» Die Stärkung der persön-      Lebensende um? Koligi sagt: «In der Palliativ-   damit zu lernen.
lichen Ressourcen trägt dazu bei, schneller    pflege begleiten wir die Menschen auf vier            Nach seinem folgenschweren Sturz
ein psychisches Gleichgewicht zu finden.       Ebenen – körperlich, psychisch, sozial und       in einen Liftschacht schaut der ehemalige
Die Forscherin lobt den psychologischen        spirituell. Dabei geht es aber nicht mehr um     Bauarbeiter Maurizio Coldagelli heute nach
Dienst des SPZ als ein Vorbild für Kliniken    lebensverlängernde Behandlungen im Rah-          vorne. Seine bewegende Geschichte erzählt
und Länder, die eine solche Unterstützung      men der Spitzenmedizin, sondern um die           er im Film zum Projekt «Orte der Hoffnung»
nicht kennen. Ihre Studienergebnisse zei-      Frage, wie wir den Betroffenen die für sie       der Schweizer Paraplegiker-Stiftung – um
gen aber auch für das SPZ eine Lücke, nach-    höchste Lebensqualität für eine würdevolle       anderen Menschen Mut zu machen.
dem die Menschen aus der Klinik entlassen      letzte Phase bieten können.»                                             (kste / spvi, baad)
sind: «Ihre psychologische Begleitung sollte         Bei der individuellen Ausgestaltung
intensiviert werden.»                          spielt wiederum die fachübergreifende
                                               Zusammenarbeit im SPZ eine grosse Rolle.
Das Unaufhaltbare akzeptieren                  So gibt es eine eigene Expertengruppe «Pal-
Das Schweizer Paraplegiker-Zentrum will        liative Care», die den Behandlungsteams
den Patientinnen und Patienten die jeweils     zur Seite steht. Sie stellt das Spezialwissen          paraplegie.ch/
bestmögliche Behandlung bieten. Doch           zur Verfügung, organisiert Ausbildungen                verankerung

                                                                                                              PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2   11
SCHWERPUNKT

Die Familie ist mitbetroffen
Wie gehen Eltern damit um, wenn ihr Kind eine Querschnittlähmung erleidet?
Und wie reagieren Kinder, wenn der Vater oder die Mutter verunfallt? Die Familie
Roos gibt uns Einblicke.

Die Diagnose Querschnittlähmung ist             met, kann nicht sprechen. Per Zwinkern dik-     zusammen Pizza im SPZ-Restaurant oder
nicht nur für die Betroffenen ein Schick-       tiert er Buchstaben von einer ABC-Tafel. Sie    gehen an die Beach Bar – damit rückt das
salsschlag. Auch ihr Umfeld muss sich auf       ergeben: «Ich will nicht mehr leben, stellt     «normale» Leben näher an den Klinikalltag.
ein neues Leben einstellen. «Der Anruf          die Maschinen ab.» Die Mutter wird ener-        Peti Roos fühlt sich aufgehoben.
aus Amerika war ein Schock, wir ahnten          gisch: «Vergiss es. Man kann immer etwas              Nach neun Monaten kann er nach
sofort: Jetzt kommt Peti in den Rollstuhl»,     machen aus seinem Leben. Ob man zu Fuss         Hause. Die Mutter muss lernen, nicht her-
sagen Pia (60) und Arthur Roos (65). «Ab        geht oder nicht, spielt keine Rolle.» Diese     beizueilen, wenn ihm etwas auf den Boden
dann haben wir nur noch funktioniert.» An       Grundhaltung prägt die Familie; die Eltern      fällt – auch das Aufheben ist eine Therapie.
einem Sonntag im März 2009 erfahren die         haben mehrere Schicksalsschläge erlebt          «Für mich war klar: Ich möchte möglichst
Verkäuferin und der Maurer aus Schötz LU        und nie aufgegeben. Ihr Sohn aber schliesst     viel selber können und niemandem zur Last
vom Badeunfall ihres Sohns in Florida. Sie      jetzt seine Augen. Egal, wer kommt, er öff-     fallen», sagt Peti Roos. Die Spitex über-
möchten so schnell wie möglich zu ihm.          net sie nicht mehr.                             nimmt die Morgenpflege und das Anzie-
Sie telefonieren, organisieren, mobilisieren                                                    hen. Viele Wochen übt er den Transfer ins
das Umfeld. Um Mitternacht erfahren sie,        Pflegefachmann findet Zugang                    Auto, das ihm neue Perspektiven der Selbst-
dass sie am Morgen einen Flug bekommen,         «Ich wusste nicht, was ein Tetraplegiker        ständigkeit verspricht. Am Anfang braucht
aber sie haben weder eine Kreditkarte noch      noch alles kann», sagt Peti Roos heute. «Ich    er dafür fast eine Stunde, dann geht es
einen für die USA gültigen Pass. Sie schaf-     dachte, ich bleibe so liegen, unbeweglich       immer besser.
fen es trotzdem.                                und ohne Stimme – was will ich da noch?»
                                                Der 38-Jährige ist froh, dass seine Eltern      Für die Töchter ist es normal
Die Familie hält zusammen                       hartnäckig geblieben sind. Der SPZ-Pflege-      Seit dem Unfall sind dreizehn Jahre vergan-
Vor Ort erklärt der behandelnde Arzt, dass      fachmann Hans Georg Zimmermann findet           gen. Peti Roos hat vier Töchter, um die er
kaum mehr Hoffnung besteht, und zeigt           schliesslich einen Draht zu ihm. Zunächst       sich mit seiner Frau Jeannine kümmert. Für
ihnen die Spitalkapelle. Pia Roos ist ent-      gibt er ihm Zeit, dann wird sein Tonfall ein-   die Kinder ist es kein Thema, dass der Vater
setzt: «Ich sagte ihm, dass unsere Familie      dringlicher. «Lass dich nicht gehen», schüt-    im Rollstuhl sitzt. Auch nicht, wenn er sie
anders funktioniert. Wir halten zusammen        telt er ihn, «du stehst erst am Anfang deines   in der Kita abholt. «Einmal wollte ein Mäd-
– und der Junior kommt heim.» Von Beginn        Wegs.» Der Patient spürt die gute Energie.      chen wissen, wie Papi Auto fahren kann»,
an steht sie in Kontakt mit der Schweize-       Und aus kleinen Bewegungen, die zurück-         sagt die fünfjährige Leni. «Sie durfte dann
rischen Rettungsflugwacht Rega und dem          kommen, fasst er wieder Lebensmut.              beim Transfer zuschauen.»
Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ). Zwei-           Die Eltern besuchen ihn weiterhin              Das Gespräch mit Leni zeigt: Wo früher
mal wird die Rückholaktion wieder abge-         jeden Tag. In der Mittagspause liest ihm        viel Aufklärung in der Öffentlichkeit nötig
brochen, weil die Lungen versagen. Nach         die Mutter aus der Zeitung vor. Sie erkennt     war, wächst heute eine Generation heran,
einem weiteren Noteingriff ist Peti Roos        seine Not, die endlosen Stunden, zur Untä-      für die vieles normal ist – ob Patchwork-
(38) schliesslich transportbereit. «Uns fiel    tigkeit gezwungen. «Diese Besuche waren         Familie oder ein Vater im Rollstuhl. Leni und
ein Stein vom Herzen, als die Rega kam»,        sehr wichtig», sagt Peti Roos. «Ich freute      ihre Schwestern finden es vielmehr cool,
sagt die Mutter. Die Zeit in Florida war auch   mich darauf: Da kommt jemand und ver-           wenn ihr Vater mit dem «Töffli» angerollt
für die Eltern sehr intensiv.                   bringt Zeit mit dir.»                           kommt, dem vor den Rollstuhl gespannten
     Als ihr Sohn auf der Intensivstation des         Nach sieben Wochen beginnt die            Zuggerät. Dann streiten sie sich, wer bei
SPZ liegt, kann er nur die Augen bewegen.       Rehabilitation. Der Tag ist nun dicht gefüllt   ihm mitfahren darf.
Der Köpfler in einen Pool hat ihn zum Tetra-    mit Therapien. Regelmässig kommen seine              Diese Normalität beruht nicht auf
plegiker gemacht. Er wird künstlich beat-       Freunde zum Jassen vorbei. Sie essen            Erziehung. Sie würden nichts spezieller

12 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
SCHWERPUNKT

«Ich sagte dem Arzt, dass wir
  zusammen­halten – und dass
  der Junior heimkommt.»
  Pia Roos

machen als andere Paare, sagt Peti Roos:         gen mehr Organisation, sagt Jeannine Roos      Die Familie hält zusammen
«Ich erklärte den Kindern einfach früh:          (36), aber sonst erlebe sie keine Einschrän-   V.r.: Peter Roos, von allen «Peti»
Seht, das kann der Papi. Und das kann er         kungen durch ihren Partner. Als Ergothe-       genannt, das Baby Julie, Jeannine Roos,
nicht.» Sie akzeptieren, dass sie unterwegs      rapeutin im SPZ wusste sie, was auf sie        die Zwillinge Anni und Sophie (3),
bei ihm bleiben müssen, weil er ihnen nicht      zukommt, als sie Peti beim Rollstuhlrugby      und Leni (hinten).
                                                                                                Grosses Bild: Pia Roos (l.)
nachrennen kann. Und sie warten gedul-           kennenlernte. «Ich geniesse die Vorteile»,
dig, wenn das Streichen der Morgenbröt-          sagt sie. Männer mit einem Vollpensum
chen viel länger dauert als bei der Mutter.      kommen abends heim, wenn die Kinder
Manchmal ärgert es sie, wenn er mit dem          schon im Bett sind. Sie dagegen können
Rollstuhl nicht auf einen sandigen Spielplatz    als Familie viel gemeinsam erleben. «Und
fahren kann, um sie anzuschieben. «Dafür         wenn Peti mir im Haushalt nicht direkt hel-
unternehmen wir viele andere Sachen, die         fen kann, hält er mir den Rücken frei, damit
Spass machen», sagt er.                          ich schneller vorankomme.»
                                                      Die Familie kann man nicht austau-
«Ich geniesse die Vorteile»                      schen, sie bleibt, sagt Mutter Pia zum
Der ehemalige Maurer arbeitet in einem           Abschied. Dreizehn Jahre nach Petis Unfall
Teilpensum im Besucherzentrum ParaForum          kümmern sich bereits drei Generationen
in Nottwil und hat viel Zeit für die Kinderbe-   umeinander.
treuung. Nur ihre Familienausflüge benöti-                              (kste / baad, zvg)

                                                                                                       PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2   13
Herausforderungen akzeptieren
                                                         Eine Querschnittlähmung betrifft nicht nur die Beine und die Arme. Die betroffenen Menschen müssen
                                                                mit vielen körperlichen, psychischen und sozialen Herausforderungen umgehen lernen.

14 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
                                                                       Chronische Schmerzen                      Körperlich                        Beziehungen pflegen
                                                                         Rund 75 Prozent aller                                                 Familie, Partnerschaft und das
                                                                 Querschnittgelähmten leiden unter                Psychisch                       soziale Netzwerk helfen,
                                                                   chronischen Schmerzen. Häufig                    Sozial                      die Herausforderungen der
                                                               sind neuropathische Schmerzen, die im                                         Querschnittlähmung zu meistern.
                                                                     Nervensystem entstehen und                                                  Oft überdauern nur stabile
                                                                 an Orten gespürt werden, an denen                                         Beziehungen die Rehabilitationsphase.
                                                                   sie eigentlich keine Empfindung                                            Wer auf fremde Unterstützung
                                                                             mehr haben.                            Fatigue                 angewiesen ist, muss neue Formen
                                                                                                       Mit der Zeit kann eine chronische        der Selbstständigkeit finden.
                                                                                                           körperliche und mentale
                                                                                                       Müdigkeit entstehen – aufgrund
                                            Verändertes Sexualleben
                                                                                                        der minutiösen Tagesplanung,
                                    Eine Rückenmarkverletzung beeinflusst die
                                                                                                        hohen Selbsterwartungen und
                                  Sexualfunktionen (v.a. bei Männern) und die
                                                                                                          körperlichen Faktoren wie
                                   Sensibilität im Intimbereich. Mit Hilfsmitteln
                                                                                                                                                                                                    CAMPUS NOT T WIL

                                                                                                                  Infektionen.
                                     können Querschnittgelähmte ein erfülltes
                                   Sexualleben haben und Kinder bekommen.

                                           Den Körper annehmen                                                   Knappe Luft
                                   Wer in den Rollstuhl kommt, fühlt sich oft                                  Das Atmen wird
                                    weniger attraktiv für die Partnersuche.                                 beeinträchtigt. Typisch
                                   Man muss ein Selbstwertgefühl entwickeln                                sind eine Verengung der
                                    für einen Körper, den man nicht mehr                                   Bronchien, Sekret in der
                                               als Ganzes spürt.                                         Lunge und Asthma-ähnliche
                                                                                                          Zustände. Atemstörungen
                                                                                                                                                                        Last für die Schultern
                                                                                                          im Schlaf sind 4- bis 5-mal
                                                                                                                                                                   Querschnittgelähmte benötigen
                                                                                                                   häufiger.
                                          Muskeln mit Eigenleben                                                                                                     ihre Arme für den Transfer in
                                  Mehr als zwei Drittel leiden unter Spastiken:                                                                                  den Rollstuhl und die Fortbewegung.
                                    Muskeln reagieren mit unwillkürlichen                                                                                          Die Belastung der Schultern kann
                                  Bewegungen und Verkrampfungen. Hinzu                                                                                             Entzündungen und Abnützungen
                                   kommt eine Übererregbarkeit der Reflexe.                                                                                       auslösen, die die Selbstständigkeit
                                                                                                                                                                             einschränken.
Auch die Seele ist verletzt                                                                                                                 Quellen
                                Nach dem Unfall wirken psychologische                                                                                                        H. G. Koch, V. Geng:
                                                                                                                                                                  «Querschnittlähmung verständlich erklärt»,
                               Schutzmechanismen. Gefühle wie Trauer,                                                                                               Manfred-Sauer-Stiftung und Schweizer
                                 Hilflosigkeit, Angst oder Wut treten oft                                                                                             Paraplegiker-Vereinigung (2021)
                                verzögert auf. Man muss lernen, einen                                                                                               SwiSCI, Schweizer Kohortenstudie für
                                  Umgang mit dem Verlust zu finden.                                                                                                Menschen mit Rückenmarksverletzungen,
                                                                                                                                                                                   swisci.ch

                                       Mit Barrieren umgehen
                               Das öffentliche Umfeld ist nicht barrierefrei,
                                und man muss im Alltag Demütigungen
                                   wie unüberwindbare Hindernisse
                                  oder Vorurteile akzeptieren. Solche
                                «Behinderungen» sind sozial gemacht.
                                                                                                                                                  Sitzen als Problem
                                                                                                                                      Eine ständige Gefahr sind Druckgeschwüre,
                                                                                                                                       die einen monatelangen Spitalaufenthalt
                                                                                                                                      erfordern. Wer im Rollstuhl sitzt, muss sein
                                                                                                                                       Gesäss alle Viertelstunde entlasten und die
                                                                                                                                      Haut täglich auf Druckstellen kontrollieren.
                                        Neuer Lebensentwurf
                                                                                                                                                                                                           C AS M

                                 Prägende Teile des gewohnten Lebens
                                                                                                                                                                                                                C HP W

                                   brechen weg. Dies erfordert eine
                                 mentale Anpassung, ein Zurückfinden
                                     zur eigenen Person. Ein neuer
                                      Lebensentwurf wird nötig.                                                                                Mobilität zurückgewinnen
                                                                                                                                         Für die Teilhabe an der Gesellschaft sind
                                                                                                                                                                                                                     U SE RNPOUTNTKWT I L

                                                                                                                                      Hilfsmittel wie Rollstuhl und umgebautes Auto
                                                                                                                                          zentral. Sie ermöglichen selbstständige
                                                                                                                                       Wege zur Arbeit, in die Therapie, zum Sport
                                                                                                                                                    oder ins Sozialleben.
                                                Illustration:
                                              Doreen Borsutzki

                                 Kontrollverlust über Blase und Darm
                                   Die Blase nicht mehr kontrollieren zu
                                können, ist oft die grösste Einschränkung.
                                 Betroffene müssen sich mehrmals täglich
                                   katheterisieren, Harnwegsinfektionen
                                sind häufig und es drohen Nierenschäden.
                                  Ebenso belastend ist der Kontrollverlust
                                          über die Darmfunktion.                      Wirtschaftliche Wiedereingliederung               Mit Sozialversicherungen verhandeln
                                                                                  Die Teilnahme am Erwerbsleben ist wichtig für         Man muss mit den Sozialversicherungen
                                                                                die Integration. Ist die Rückkehr an den bisherigen   umgehen lernen. Dazu zählt das Warten auf
                                                                                  Arbeitsplatz nicht möglich, sind Abklärungen,             Entscheide und das Vorgehen bei

PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
                                                                                    Umschulungen und Weiterbildungen nötig.            nicht akzeptierbaren Entscheidungen oder

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                                                                                      61 Prozent schaffen den Wiedereinstieg.              in veränderten Lebenssituationen.
SCHWERPUNKT

                                                                          Caroline Büchner
                                                                        wenige Tage vor ihrem
                                                                        Austritt aus der Klinik.

Auszeiten für die
psychische Gesundheit
Eine Querschnittlähmung betrifft nicht nur den Körper eines Menschen,
sondern auch seine sozialen und psychischen Aspekte. Im Schweizer
Paraplegiker-Zentrum ist deshalb die Psyche ein zentrales Element der
ganzheitlichen Rehabilitation.

16 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
SCHWERPUNKT

Ende März 2022. In einer Woche kann              vielmehr einzelne Aspekte und erarbeiten
Caroline Büchner das Schweizer Paraplegi-        neue Perspektiven und Handlungsmöglich-
ker-Zentrum (SPZ) verlassen. Der rollstuhlge-    keiten.» Eine Querschnittlähmung ist ein
rechte Umbau ihrer Wohnung in Zürich ist         heftiger Einschnitt ins Leben und bedeu-
zwar noch nicht ganz abgeschlossen. Doch         tet häufig eine psychische Destabilisierung.
die 41-jährige Werbeexpertin strahlt sehr        Deshalb kümmern sich am SPZ acht Psycho-
viel Zuversicht aus, dass ihr auch die nächs-    therapeutinnen und -therapeuten um die
ten grossen Aufgaben nach der sechsmona-         psychische Gesundheit. Sie lenken die Auf-
tigen Rehabilitation gelingen werden – den       merksamkeit auf Möglichkeiten und per-            Marianne Boller,
Alltag ausserhalb des geschützten Rahmens        sönliche Wachstumschancen. Sie aktivie-           Leiterin Psychologie: «Wir setzen
der Klinik einrichten, die Rückkehr an ihren     ren vorhandene Ressourcen, bauen neue             die psychologische Unterstützung
Arbeitsplatz, und nicht zuletzt: ihre Hoch-      auf und stärken die Autonomie. «Unser Ziel        gezielt ein.»
zeit. Dass sie dem Austritt zuversichtlich       ist die psychische Stabilisierung sowie die
entgegensieht, hat viel mit der Unterstüt-       Wiederherstellung der Selbstbestimmung,
zung durch den psychologischen Dienst des        Würde und Integrität der betroffenen Men-
SPZ zu tun. «Mein Unfall war einfach Pech»,      schen», so Boller.
sagt sie. «Aber das zu akzeptieren, fiel nicht
leicht.»                                         Der Partner sieht den Unfall                      «Wieder ein vollwertiger Mensch …»
      Ende September 2021 prallte Caroline       Im Rahmen der ganzheitlichen Rehabilita-          Im Rückblick ist die Patientin dankbar, dass
Büchner beim Gleitschirmfliegen im Berner        tion ist die psychologische Unterstützung         sie mit ihren Gedanken im SPZ nicht allein
Oberland so unglücklich auf den Boden,           ein zentrales Element neben den körperli-         gelassen wurde. Der psychologische Dienst
dass sie zur Paraplegikerin wurde. In ihrem      chen und sozialen Aspekten. Alle Patientin-       hat ihr neue Sichtweisen erschlossen und
Umfeld ist sie bekannt für ihren pragmati-       nen und Patienten bekommen ein Eintritts-         ihr geholfen, sich von Ängsten zu befreien.
schen Umgang mit herausfordernden Situa-         gespräch, das eventuelle Vorbelastungen           «Die Fachleute wissen, was in einem vor-
tionen, doch in den ersten Wochen in Nott-       und therapeutische Bedürfnisse abklärt.           geht und wie man da wieder rauskommt»,
wil geht körperlich nichts mehr. Daran muss      «Wir setzen die psychologische Unterstüt-         sagt sie. «Am Anfang denkt man: Jetzt ist
sie sich zuerst gewöhnen. Typische Fragen        zung nicht nach dem Giesskannenprinzip,           alles vorbei. Doch mit der bewussten Aus-
tauchen auf: Wieso ich? Weshalb jetzt? In        sondern sehr gezielt ein», sagt Marianne          einandersetzung lernt man, diese Gedan-
ein psychisches Loch fällt die Patientin zwar    Boller. Eine eigentliche psychische Erkran-       ken zu Ende zu denken, die Gefühle rich-
nicht. Aber Ängste belasten sie, zum Bei-        kung muss für die Behandlung im SPZ aber          tig wahrzunehmen – und dass das Leben
spiel wenn sie die schlimmen Bilder über die     nicht vorliegen.                                  weitergeht.»
Gefahr eines Druckgeschwürs sieht: Was                 Eine bedeutende Stütze der Rehabi-               Sie sieht die Gespräche mit ihrer Psy-
ist, wenn das mir passiert?                      litation sind die Angehörigen. Oft fühlen         chotherapeutin wie befreiende Auszeiten,
                                                 auch sie sich hilflos und erleben Überfor-        die den Kopf entlasten in der sonst streng
Die Gespräche tun ihr gut                        derungen. Sie denken, sie müssten etwas           getakteten Rehabilitationsphase. Und sie
Sie bekommt eine Zimmerkollegin mit              Besonderes leisten – und übersehen die            lobt, dass es für die Fachleute normal ist,
der gleichen Lähmungshöhe. Die junge             Wichtigkeit ihrer Besuche, ihres Zuhörens         dass man in den Gesprächen auch negative
Frau macht rasch Fortschritte, körperli-         und ihrer emotionalen Anteilnahme. Der            Gedanken äussert.
che Funktionen kommen zurück, sie kann           psychologische Dienst bezieht die Ange-                Bis zu einer Lebensbilanzierung ist es
wieder stehen. Zunächst freut sich Caro-         hörigen nach Möglichkeit in die Therapie          bei Caroline Büchner nicht gekommen.
line Büchner für die Mitbetroffene, aber         mit ein und gibt ihnen Informationen und          Wenige Tage vor ihrem Austritt spricht sie
dann nagt es an ihr. Es ist schwierig, den       praktische Tipps.                                 optimistisch von ihren Zukunftsplänen.
ständigen Vergleich auszuhalten, wenn                  Caroline Büchners Partner erlebt ihren      Sie erzählt, wie das Rollstuhltraining ihr
man selber höchstwahrscheinlich nie mehr         Unfall besonders schlimm. Er geschah              neue Dimensionen der Selbstständigkeit
gehen kann. «Von Marianne Boller habe ich        direkt vor seinen Augen, ohne dass er ihr         erschlossen hat: «Am Anfang musste ich für
gelernt, mit den negativen Gedanken umzu-        helfen konnte. Nachdem sie medizinisch            alles und jedes um Hilfe bitten und ärgerte
gehen», sagt sie. Die regelmässigen Gesprä-      versorgt ist, stürzt er sich ins Organisatori-    mich, wenn ich etwas vergessen hatte.
che mit der Leiterin Psychologie im SPZ tun      sche, regelt Versicherungsfragen, klärt die       Heute transferiere ich mich rasch in den
ihr gut. Sie schildert ihrer Psychotherapeu-     Arbeitssituation, informiert den Freundes-        Rollstuhl und erledige es selber. Ich bin wie-
tin alles, was sie beschäftigt, und sie lernt    kreis. Auf der Intensivstation erklärt sie ihm,   der ein vollwertiger Mensch.» Der Stolz, der
Techniken kennen, um aus einer negativen         dass sie es verstehen würde, wenn er sie          in ihrer Stimme mitschwingt, zeigt, wie sehr
Gedankenspirale wieder herauszufinden.           verlässt. Wenig später hält er um ihre Hand       die psychische und die körperliche Gesund-
Dadurch kann sie sich besser auf die eigene      an. Auch er ist froh um das Gespräch mit          heit zusammenhängen.
Rehabilitation konzentrieren.                    Marianne Boller, es hilft ihm, das Gesche-                                     (kste / baad)
     «Unser Anspruch ist es nicht, dass die      hene einzuordnen. Damit kann er seine
Betroffenen schon alles akzeptiert haben,        Verlobte besser unterstützen, dass sie den
wenn sie die Klinik verlassen», erklärt die      Rollstuhl als ein notwendiges Hilfsmittel zu            paraplegie.ch/
Psychotherapeutin. «Wir thematisieren            akzeptieren lernt.                                      psychologie

                                                                                                                  PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2   17
SCHWERPUNKT

Integration heisst:
Menschen ernst nehmen
Die gesellschaftliche Akzeptanz für Menschen mit körperlichen
Einschränkungen zeigt sich am Arbeitsplatz. Zusammen mit ParaWork
besuchen wir ein Beispiel für die geglückte Integration.

                                     Wie gut Menschen mit körperlichen Einschrän-         wegen seines fragilen Körpers. Erst im Teenager-
                                     kungen in eine Gesellschaft integriert sind, zeigt   alter hat sich die Krankheit etwas abgemildert,
                                     sich am deutlichsten auf dem Arbeitsmarkt. In        aber die Einschränkungen sind geblieben.
                                     der Schweiz sind – trotz Fortschritten im letzten
                                     Jahrzehnt – noch immer Hürden, Ängste und Vor-       «Wir wissen, du kannst das …»
                                     urteile weit verbreitet. Niemand steht offen zur     Heute ist David Komarica froh, dass er mithilfe von
                                     Diskriminierung, aber die betroffenen Menschen       ParaWork, einer Abteilung des Schweizer Para-
                                     kennen die subtilen Signale. «Als Rollstuhlfahrer    plegiker-Zentrums, einen Lehrbetrieb gefunden
                                     spürt man sofort, ob die Leute auf einen herab-      hat, der nicht seinen Körper ins Zentrum stellt,
                                     sehen und man als Arbeitskraft unterschätzt          sondern seine Möglichkeiten: «Es ist schön, wenn
                                     wird», sagt David Komarica aus Adligenswil LU.       ich morgens ins Büro komme und einfach David
                                     In seinem zehnten Schuljahr hat sich der begabte     bin und nicht ‹der Typ im Rollstuhl›.» Bei Digme-
                                     junge Mann sehr intensiv um eine Lehrstelle          dia in Luzern werde er als Person ernst genom-
                                     bemüht – und ging leer aus.                          men und respektiert: «Ich bekomme Vertrauen
                                          Der Zwanzigjährige leidet an einer seltenen     geschenkt und trage bereits viel Verantwortung.
                                     Form der Glasknochenkrankheit. Viele Jahre war       Wir finden aber auch Lösungen, wenn ich körper-
                                     das Spital sein zweites Zuhause, monatelang lag      lich etwas nicht kann – zum Beispiel bei der Mon-
                                     er im Bett, um seine zahllosen Knochenbrüche         tage von Displaywänden.» Das kleine Team passt
Lösungen finden
(V.r.) Daniel Pfister und Brigitte   auszuheilen. «Mein Körper war eher ein Kerker        die Aufgaben an die Stärken der Mitarbeitenden
Christen von Digmedia im             für mich», erzählt Komarica über seine Kindheit.     an. Die Grundlage dafür ist eine offene und ehr-
Gespräch mit Jörg Hanschur           Im Dorf war er die einzige Person im Rollstuhl, in   liche Kommunikation.
und Karin Schwerzmann                der Schule stiess er immer wieder an Grenzen,             Bei Digmedia absolviert David Komarica
von ParaWork.                                                                             eine vierjährige Lehre zum Mediamatiker. Er wird
                                                                                          genauso gefordert wie alle anderen, aber das
                                                                                          motiviert ihn zusätzlich: «Sie sagen: Wir wissen,
                                                                                          du kannst das. Und wenn ich noch etwas brauche,
                                                                                          melde ich es.» Der Lernende fühlt sich sehr aufge-
                                                                                          hoben im familiären Umfeld der Luzerner Kommu-
                                                                                          nikationsfirma mit Schwerpunkt digitale Anzei-
                                                                                          getafeln. Er ist nicht der einzige Rollstuhlfahrer
                                                                                          im Betrieb – aber das habe sich einfach so erge-
                                                                                          ben, sagt Firmeninhaber Daniel Pfister.
                                                                                               Der Unternehmer ist erstaunt, dass kein
                                                                                          anderer Betrieb das Potenzial von David Koma-
                                                                                          rica gesehen hat. «Er ist wie ein ungeschliffener
                                                                                          Diamant, der Grosses in sich birgt», sagt er. Der
                                                                                          Chef hat eine zupackende Art, ist anspruchs-
                                                                                          voll und stellt dem Lernenden gezielte Heraus-
                                                                                          forderungen, damit er sein Potenzial entwickeln
                                                                                          kann. Zusammen mit dem Job Coach von Para-
                                                                                          Work freut sich Pfister über jeden Fortschritt: «Wir

18 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
6 Tipps für
                                                                                       Arbeitgebende
                                                                                       1. Machen, machen, machen
                                                                                       Probieren Sie es aus und begeben Sie sich auf
                                                                                       den Weg der Integration. ParaWork und die
                                                                                       Job Coaches stehen Ihnen mit Lösungen zur Seite.
                                                                                       2. Offen kommunizieren
                                                                                       Reden Sie offen über alles, sprechen Sie Un­klar-
                                                                                       heiten an, stellen Sie Ihre Fragen. Der Klient und
                                                                                       die Klientin sowie der Job Coach helfen lösungs­
                                                                                       orientiert weiter.
                                                                                       3. Pensum anpassen
                                                                                       Passsen Sie die Arbeitsbelastung an die körper­
                                                                                       lichen Möglichkeiten an. Ein Vollzeitpensum
                                                                                       überfordert häufig.
                                                                                       4. Ressourcenorientiert denken
                                                                                       Legen Sie den Arbeitsfokus auf Kompetenzen
                                                                                       und Stärken, nicht auf Fragen der Mobilität.
                                                                                       5. Ressourcen schonen
                                                                                       Passen Sie den Arbeitsplatz und die Arbeits-
                                                                                       instrumente mithilfe eines Job Coaches rollstuhl­
                                                                                       gängig an – zum Beispiel bezüglich der Höhe
                                                                                       und Zugänglichkeit.
                                                      David Komarica
                                                      an seinem Arbeitsplatz:          6. Coaching nutzen
                                                      «Es ist schön, wenn einem        Nutzen Sie das Angebot einer Begleitung
wussten: Es funktioniert. – Und wenn etwas nicht      bei der Arbeit der Körper        durch Fachpersonen. Dies hilft allen Beteiligten,
funktioniert, dann machen wir, dass es funkti-        nicht mehr auffällt.»            und oft trägt die Invalidenversicherung (IV)
oniert.» Das Motto steht für die Firmenkultur.                                         die Kosten der Massnahme. ParaWork bietet
Diese Mediamatiker-Lehrstelle wurde eigens für                                         Job Coachings in der ganzen Schweiz an.
David Komarica geschaffen, nachdem Stellenver-
mittlerin Karin Schwerzmann von ParaWork ihn
als Talent empfohlen hatte und sein Praktikums-
einsatz das Team begeisterte.

Arbeitgebende gesucht
Der Aufwand hat sich für alle gelohnt. «Unsere        ist gut geknüpft. Für eine grössere Akzeptanz auf
drei Mitarbeiter im Rollstuhl sind hochmotiviert,     dem Arbeitsmarkt bräuchte es allerdings mehr
pflichtbewusst, zuverlässig und setzen sich für die   Unternehmen wie Digmedia mit offenen Teams,
Firma ein», sagt Brigitte Christen, bei Digmedia      die sagen, der Austausch mit Menschen im Roll-
zuständig für die Finanzen und das Personal. «Es      stuhl sei für sie jeden Tag eine Bereicherung. Wel-
ist ein Geben und Nehmen – und es kommt viel          chen Tipp würde Daniel Pfister anderen Arbeit-
zurück.» Zudem hilft die Begleitung durch den         gebenden geben? – «Ganz simpel: Nicht zu viel          ParaWork
Job Coach, dessen Einsatz die Invalidenversiche-      nachdenken, sondern einfach machen. Alles              Die Abteilung ParaWork
rung (IV) finanziert: Jörg Hanschur entlastet das     andere kann man lösen.»                                des Schweizer Paraplegiker-
Unternehmen in administrativen Belangen und                In einem Jahr wird David Komarica seine           Zentrums unterstützt
unterstützt seinen Klienten bei Stolpersteinen im     Lehre zum Mediamatiker abschliessen. Danach            Menschen bei der beruflichen
Betrieb oder in der Berufsschule. «Mein Ziel ist,     will er sich weiter für die Firma einsetzen, die ihn   Eingliederung auf dem
dass David die Ausbildung schafft», sagt er. Bei      als erste wirklich ernst genommen hat. Er sagt,        allgemeinen Arbeitsmarkt mit
Bedarf vermittelt er rasch Lösungen zwischen den      es wäre schön gewesen, hätte er als Kind schon         individuellen Massnahmen.
beteiligten Parteien.                                 integrierte Menschen im Rollstuhl gesehen. Ein
      Das Netzwerk, das interessierte Unterneh-       Vorbild hätte ihm manchen Umweg erspart.                      parawork.ch
men in der Schweiz bei der Inklusion unterstützt,                                         (kste / baad)

                                                                                                              PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2   19
BEGEGNUNG

                                  Zwischen Hölle
                                  und Paradies
                                  Wie Francesco Rullo ein Leben voller Hürden meistert,
                                  für bessere Bedingungen kämpft – und sich manchmal
                                  zwingen muss, glücklich zu sein.

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BEGEGNUNG

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BEGEGNUNG

Er kann so herrlich lachen und wunder-           ja hochbegabte Schüler denkt an Suizid.          gehoben. Er absolviert die Hotelfachschule,
bar erzählen, er kann hartnäckig sein und        Dann flieht er nach Süditalien, hofft, dass      interessiert sich für Informatik und findet
von Schönem träumen. Er möchte anderen           die Grosseltern ihn aufnehmen.                   in der IT-Branche seine Berufung. Im Alter
behinderten Menschen helfen und mindes-               Zwei Tage ist er unterwegs, steigt in       von neunzehn Jahren ist er endlich glück-
tens achtzig werden, weil er das Leben so        fremde Autos, trägt Krawatte, um älter zu        lich, wohnt bei seinem Bruder Fausto und
liebt. Wenn Francesco Rullo in Courgevaux        wirken. Dass ihn die Polizei sucht, erfährt er   verdient gutes Geld. Seine beruflichen Qua-
FR am Murtensee aus dem Fenster schaut,          erst später. Francesco erreicht das Ziel, doch   litäten sprechen sich herum.
sagt er: «Das ist mein Paradies.»                die Grosseltern bringen ihn umgehend wie-              Eines Morgens im Jahr 1998 wacht er
      Aber es gibt auch diese dunklen            der zurück in den Norden, wo die rabiate         auf und ist für wenige Sekunden blind. Seit
Momente. Manchmal befällt ihn Panik,             Tante wartet und seinen Alltag endgültig         einigen Wochen plagt ihn Kopfweh. Stress,
besonders nachts, wenn er allein im Bett         zur Hölle macht. So sehr, dass er nur einen      denkt er, das verfliegt wieder. An diesem
liegt und Angst hat, dass ihm jemand etwas       Ausweg sieht: Er muss weg von dieser Welt.       Morgen aber lässt er sich im Spital untersu-
antun könnte. Der 43-Jährige meidet Men-         Wenn er viele rote Beeren isst, würde das        chen. Die Diagnose: Hirnblutung. Zudem
schenmengen und bevorzugt es, allein             funktionieren. Das Resultat ist ein heftiges     findet man einen Hirntumor. Er wird sofort
unterwegs zu sein. So kommunikativ er            Bauchweh. «Mist, ich lebe noch», denkt           operiert. Als er aus der Narkose erwacht,
ist, so herzlich und gastfreundlich, so offen    sich Francesco.                                  ist er auf der linken Körperseite teilweise
spricht er darüber, dass er auch misstrauisch                                                     gelähmt, auf dem linken Ohr hört er nichts
ist und zuweilen abweisend.                      Endlich glücklich, aber dann …                   und im linken Arm und Bein spürt er nichts
                                                 Die Behörden schreiten ein. Francesco            mehr. Sport bedeutet ihm viel – wie soll es
Er wird früh gedemütigt                          kommt in ein Heim und fühlt sich gut auf-        jetzt weitergehen?
Um Francesco Rullo zu verstehen, muss
man seine Geschichte aufrollen, die 1979
in Süditalien beginnt. Seine Mutter Giu-
seppina ist schwanger, als sie mit ihrem
Mann die Ferien in Kalabrien verbringt.
Dort erleidet sie ein Schädel-Hirn-Trauma.
Die Ärzte holen das Kind per Kaiserschnitt,
seine Überlebenschancen sind gering, aber
es kommt durch. Francesco startet in ein
Leben voller Höhen und Tiefen, Abenteuer
und schier unglaublichen Wendungen.
      Die Familie, die in einer Kleinstadt in
Baden-Württemberg lebt, kennt Harmonie
nur bedingt. Der kleine Francesco leidet
unter den Gewaltausbrüchen des Vaters,
insgesamt zwölf Löcher im Kopf trägt er
davon, einmal muss er sogar operiert wer-
den. Die Brutalität führt zur Trennung der
Eltern. Die Mutter erhält das Sorgerecht für
ihre drei Söhne und die Tochter, Francesco
blüht auf.
      Früh weiss er, dass er Männer liebt.
Das wird ein Problem, als ein Schicksals-
                                                 Möglichst selbstständig
schlag sein Glück trübt. Die Mutter stirbt bei
                                                 Francesco Rullo ist regelmässig
einem Verkehrsunfall, die vier Kinder kom-       mit dem Auto unterwegs –­
men bei der Schwester in Turin unter. Und        und fährt zum Einkauf in einen
da beginnt für Francesco eine furchtbare         Discounter, der seine Kassen
Zeit. Seine Tante verabscheut Homosexua-         auf Menschen im Rollstuhl
lität und demütigt ihren Neffen. Der kluge,      angepasst hat.

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