PARAPLEGIE - Akzeptanz - wie das Leben weitergeht 12 - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
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JUNI 2022 | NR. 182 | GÖNNER-MAGA ZIN PARAPLEGIE SCHWERPUNK T Akzeptanz – wie das Leben weitergeht 12 20 26 Die ganze Familie Francesco Rullo zwischen Jahresabschluss: ist mitbetroffen Hölle und Paradies Stabile Zahlen
Begründete Hoffnung Erfahrung aus über 30 Jahren und jährlich mehr als 1200 stationären Behandlungen. www.spz.ch
M AG A ZIN D ER G Ö NNER-V EREINIG U NG D ER SCH W EIZER PA R A PL EG IK ER-S T IF T U NG 16 Liebe Mitglieder Es war ein weiter Weg und beanspruchte viele Jahre, bis ich endlich sagen konnte, ich habe meine Querschnittlähmung akzeptiert. Viele Hin- dernisse erschwerten eine solche Aussage, der Kopf wollte da lange nicht mitmachen. Ich lernte, mit allen Einschränkungen zu leben – aber lange habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als wie- 29 der gehen zu können. Viele Menschen, die von einer Para- oder 8 Tetraplegie betroffen sind, bleiben bei dieser S C H W E R P U N KT Ansicht und sprechen das Wort Akzeptanz nie aus. Dabei ist der Verlust des Gehens nur ein Aspekt 8 KRISENFEST Wie man einen Schicksalsschlag von vielen, die ihr Leben zur Herausforderung akzeptieren lernt machen. Und eine Querschnittlähmung hinter- lässt nicht nur im Körper tiefe Spuren, sondern 12 PETER ROOS’ UNFALL Die Familie ist mitbetroffen auch im Herzen und im Kopf. Dass ich heute mit meinem Körper und Geist wieder im Reinen bin 14 DIE GRAFIK und den Rollstuhl als Freund anerkenne, verdanke Herausforderungen akzeptieren ich mehreren Umständen. 16 PSYCHOLOGISCHER DIENST Erstens hat meine Entdeckungsreise der Auszeiten für den Kopf Lebensmöglichkeiten als Rollstuhlfahrer viel Posi- 18 ARBEITSMARKT tives hervorgebracht. Und zweitens wurde mein Integration heisst: Menschen Weg von einer gesellschaftlichen Entwicklung ernst nehmen unterstützt, die die Akzeptanz und Inklusion von 6 UKRAINE Menschen mit körperlichen Einschränkungen Einsatz für querschnittgelähmte begünstigte – was zu den heute vorliegenden Flüchtlinge Richtlinien und Gesetzen geführt hat. Seit 1975 20 BEGEGNUNG übernimmt dabei die Schweizer Paraplegiker-Stif- Francesco Rullo lebt zwischen Hölle und tung eine Vorreiterrolle in der Sensibilisierung der Paradies Öffentlichkeit. 26 JAHRESABSCHLUSS Und hier erfasst mich Demut. Die Schweizer Stabile Zahlen und mehr Mitglieder Paraplegiker-Stiftung kann diese wichtige Auf- 27 DAUERMITGLIED gabe nur wahrnehmen, weil Sie es mit Ihren Mit- Sven Lötscher erklärt seine Motivation gliederbeiträgen, Spenden und Zuwendungen ermöglichen, dass wir die Betroffenen tatkräftig 28 INNOVATION Wenn eine Brille den Rollstuhl steuert unterstützen können. Das hat viel mit Aufmerk- samkeit und Wertschätzung zu tun und bedeutet 29 THERAPIE für uns: Akzeptanz. Der Biker und der Bernhardiner 31 KOOPERATION Ganz herzlichen Dank, Sensibilisierung am Lucerne Festival 33 SITZWACHE Kristina Schaefers leistet Freiwilligenarbeit Heinz Frei Präsident Titelbild: Peter Roos mit seiner Gönner-Vereinigung Mutter Pia und Tochter Leni. PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2 3
CAMPUS NOT T WIL Die Wiedererlangung der Handfunktion … … ist der häufigste Schlepphilfe im Alltagstest Wunsch von Menschen mit einer Tetraplegie. Wie ein Hündchen rollt Gita seiner Besitzerin oder seinem Besitzer selbstständig hinterher. Der kugelrunde Transport- Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum wird dieser Wunsch Wirk- roboter schleppt dabei Einkäufe, Bürotaschen, Gepäck lichkeit: Die Tetrahandchirurgie führt weltweit einzigartige oder Alltagsgegenstände bis zu zwanzig Kilo und passt seine Operationen durch, damit die Betroffenen ihre Arme und Hände Geschwindigkeit der benutzenden Person an. Das Schweizer wieder für einfache Aufgaben nutzen können und ein Stück Paraplegiker-Zentrum testet derzeit, wie sich mit solchen Mobilität und Unabhängigkeit zurückgewinnen. Pro Jahr finden teilautonomen Helfern der Alltag von Menschen mit Quer über 100 Rekonstruktionen statt sowie 800 Konsultationen. schnittlähmung in- und ausserhalb der Klinik erleichtern lässt. Dank Telemedizin werden heute rund 150 Konsultationen orts- unabhängig durchgeführt – ein Service aus Nottwil, der inter- national viel Beachtung findet. mygita.com Langzeitstudie der Schweizer Paraplegiker-Forschung Seit Mai führt die Schweizer Paraplegiker-Forschung mit ihren Partnerorgani- sationen eine Datenerhebung im Rahmen der SwiSCI-Langzeitstudie durch. Es ist die dritte umfassende Befragung nach 2012 und 2017, wobei rund 4800 Menschen mit Querschnittlähmung zur Teilnahme eingeladen sind. Die Studie untersucht ihre Gesundheits- und Lebenssituation und dient Verant- wortlichen in Politik und Gesundheitswesen als Entscheidungsgrundlage. Ver- sorgungslücken können damit gezielt angegangen werden. swisci.ch Hilfseinsatz in Georgien Fachleute der Orthopädietechnik von Orthotec haben einen Einsatz des Vereins MTE in Georgien Wege aus der Sprachlosigkeit begleitet. In ländlichen Gegenden müssen dort Menschen mit körperlichen Einschränkungen oft Die Unterstützte Kommunikation (UK) ist nicht nur bei Kindern mit Beein- den ganzen Tag im Bett verbringen. Es fehlt an trächtigungen ein Thema, sondern betrifft zunehmend auch Erwachsene – zu Wissen, Hilfsmitteln und Visionen für ein selbst- Hause, in Institutionen, im Spital oder Pflegeheim. Active Communication bestimmtes Leben. Die Schweizer Fachleute unter- rückt deshalb in Zusammenarbeit mit der FHNW die Unterstützte Kommuni- stützten Workshops für Eltern mit behinderten kation bei Erwachsenen ins Zentrum des 7. UK-Symposiums am 31. August in Kindern, reparierten Rollstühle und passten sie für Olten. Das Symposium berät und vernetzt Fachpersonen, Familien und Nut- die betroffenen Menschen an. Für die Orthotec- zende – und zeigt innovative Wege aus der Sprachlosigkeit. Mitarbeitenden helfen solche Einsätze nicht nur vor Ort – sie erweitern auch ihren Horizont. uk-symposium.ch mte-georgia.ch 4 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
CAMPUS NOT T WIL Es «wimmelt» auf dem Campus Die Mitarbeitenden der Schweizer Paraplegiker-Gruppe (SPG) set- zen sich jeden Tag mit viel Herzblut für die ganzheitliche Rehabili- tation von Menschen mit Querschnittlähmung ein. Wie könnte man das besser darstellen als mit einem farbenfrohen Wimmelbild voller Menschen, Dinge und Geschichten? Der Basler Illustrator Luca Bartulović hat für das Herzstück der neuen SPG-Broschüre rund achtzig Szenen umgesetzt. Im Besucherzentrum ParaForum 26,9 Mio. hat das Wimmelbild einen Ehrenplatz bekommen. Es ist zudem als Malbuch für Kinder und Puzzle mit 196 Teilen im ParaForum-Shop erhältlich. Franken erhielten im Jahr 2021 paraplegie.ch/ Menschen mit Querschnittlähmung wimmelbild in Form von Gönnerunterstützung und finanzieller Direkthilfe. Samuel Koch zurück in Nottwil Im Dezember 2010 sah ein Millionen- publikum seinen verhängnisvollen Sprung in der TV-Sendung «Wetten, dass …?»: Samuel Koch blieb quer- schnittgelähmt am Boden liegen. Rund ein Jahr verbrachte der Tetraplegiker im Sensibilisierung der Öffentlichkeit Schweizer Paraplegiker-Zentrum. Er wurde Buchautor und Schauspieler. Im Im Ostschweizer TV-Kanal «TeleTop» beantworteten Anke März 2022 kam er für eine Konferenz Scheel-Sailer (Bild: Mitte), Leitende Ärztin Paraplegiologie zurück nach Nottwil – an den Ort, mit am Schweizer Paraplegiker-Zentrum, und Tetraplegiker Roman dem er sowohl Erinnerungen an die Zanettin Fragen zur Querschnittlähmung. Die beiden sensibi- schwierigste Zeit seines Lebens verbindet lisierten in einem spannenden Gespräch die breite Öffentlichkeit als auch die Hoffnungen rund um seinen über Themen wie die Selbstmotivation nach einem Schicksals- Neustart. Im Video-Interview gibt der schlag oder den Umgang mit Schmerzen. Anke Scheel-Sailer ehemalige Patient bewegende Einblicke gab zudem Tipps, wie man bei einem Unfall richtig reagiert und in sein Leben als Tetraplegiker. erste Hilfe leistet. paraplegie.ch/ tinyurl.com/yvb86tmw samuel-koch PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2 5
CAMPUS NOT T WIL Für Querschnittgelähmte aus der Ukraine im Einsatz Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung hat in Wolka Cycowska an der polnisch- ukrainischen Grenze ein Safe House für Kriegsflüchtlinge mit Querschnittlähmung eingerichtet. Die Dankbarkeit der betroffenen Menschen ist enorm. «Es ist für uns kaum vorstellbar, was es mit Stefan Dürger (Geschäftsführer Ortho- Die SPS liefert aber auch Medikamente und bedeutet, aus einem Kriegsgebiet zu flie- tec) und Laurent Prince (Direktor Schweizer Hilfsmittel an Kliniken in der Ukraine. Die hen – zudem als Mensch mit Querschnitt- Paraplegiker-Vereinigung) eine Grundaus- dafür eingesetzten Mittel sollen nicht mit lähmung», sagt Heidi Hanselmann, die stattung an Material und Medikamenten den Mitteln für den Betrieb in Nottwil kon- Präsidentin der Schweizer Paraplegiker-Stif- von Nottwil ins 1637 Kilometer entfernte kurrieren, erklärt Heidi Hanselmann: «Um tung (SPS), nach ihrer Rückkehr aus Wolka Wolka Cycowska. Die drei Führungskräfte die Hilfe losgelöst von unseren Gönner- Cycowska. In der Schweiz haben viele das halfen beim Einrichten des Safe House – geldern aufrechtzuerhalten, haben wir ein Bedürfnis, diesen Menschen zu helfen. Auch und zeigten sich tief beeindruckt von der Spendenkonto eingerichtet.» Dank der Soli- die SPS setzt ein Zeichen der Solidarität grossen Dankbarkeit der Flüchtlinge. darität der Schweizer Bevölkerung sollen gegen den Krieg in der Ukraine: An der pol- Die Leitung vor Ort hat die erfahrene die querschnittgelähmten Flüchtlinge nach nisch-ukrainischen Grenze hat sie ein Safe SPZ-Pflegefachfrau Sara Muff. Sie wurde dem Kriegserlebnis wieder in eine Zukunft House eingerichtet, in dem querschnittge- rasch zur Vertrauensperson der vom Krieg blicken können. lähmte Flüchtlinge einen Zufluchtsort fin- gezeichneten Menschen. Wer im Safe den. Das ehemalige Pflegeheim bietet Platz House Zuflucht gefunden hat, sieht end- für rund 30 Personen. Sie erhalten dort lich wieder eine Perspektive, sagt sie. Diese Sicherheit, professionelle Pflege und eine Menschen wollen nicht zur Last fallen, son- medizinische Betreuung. dern selber anpacken. Die Paraplegiker-Stif- «Wir haben die Expertise im Bereich tung unterstützt sie vor Ort in Polen und bie- Querschnittlähmung, wir haben Hilfsmit- tet in medizinisch dringenden Fällen Plätze Unterstützen Sie tel, und wir haben Mitarbeitende, die sich in Nottwil an. Am 22. April sind die ersten querschnittgelähmte engagieren wollen», betont Heidi Hansel- Betroffenen im Schweizer Paraplegiker- mann. Anfang April fuhr sie gemeinsam Zentrum (SPZ) eingetroffen. Flüchtlinge In einem Krieg erleiden rund zehn Prozent der Opfer eine Rückenmark- verletzung. Auch Sie können mithel- fen, querschnittgelähmte Flüchtlinge aus der Ukraine zu unterstützen. Für diesen Zweck hat die Schweizer Paraplegiker-Stiftung ein Spenden- konto eingerichtet. Die Mittel wer- den für den Betrieb des Safe House in Wolka Cycowska sowie für die Aufnahme und Behandlung von Betroffenen in Nottwil und für die Lieferung von Hilfsmitteln und Medi- kamenten in die Ukraine eingesetzt. IBAN: CH14 0900 0000 6014 7293 5 Vermerk: «Nothilfe Ukraine» paraplegie.ch/ukraine 6 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
CAMPUS NOT T WIL Sara Muff, was motiviert Sie zur sen- und Darmmanagement. Dann war Arbeit im Safe House? viel Administratives zu erledigen und ich Mir war sofort klar, dass ich für diese Auf- gab dem Personal Tipps für die Pflege. Es gabe zusage. Unser Leben in der Schweiz gab mehrere Abklärungen, ich wechselte ist so privilegiert und wir haben ein so gutes Verbände und führte Gespräche mit den Bildungssystem. Da sehe ich mich in der Flüchtlingen. Sie zeigten mir Bilder von Pflicht, etwas weiterzugeben. Mit meiner ihren zerbombten Häusern und Städten. Erfahrung aus Nottwil kann ich hier sehr viel Am Abend mache ich den Grosseinkauf für bewirken – auch wenn es nur ein Tropfen den nächsten Tag. Manchmal zeichnen wir auf den heissen Stein ist. noch zusammen. Und vorgestern fehlten einem Flüchtling Dokumente für die Wei- Welche Hilfe wird benötigt? terreise – dann bin ich um 01.30 Uhr noch Die Flüchtlinge waren oft tagelang unter- wach … wegs; sie haben Druckstellen vom langen Sitzen im Rollstuhl oder Harnwegsinfekte. Was schildern die Flüchtlinge? «Wir können Viele mussten ihre Behandlung im Krieg abbrechen. Wir unterstützen sie pflegerisch Sie erzählen von der Flucht; wen sie zurück- lassen mussten, welche Personen tot sind. hier sehr viel und medizinisch, aber auch, indem wir eine Atmosphäre schaffen, in der sie sich will- Sie sprechen auch medizinische Themen an oder wollen einfach ein Alltagsgespräch bewirken» kommen fühlen. Manchmal reicht es, ein- fach da zu sein und zuzuhören. führen. Ich finde es schön, dass sie mir so viel anvertrauen. Eine Zwanzigjährige schil- SPZ-Pflegefachfrau Sara Muff leitet seit derte, wie ihr gesagt wurde, ihr totgeglaub- April das Safe House der Schweizer Wie lange bleiben die Flüchtlinge? ter Freund sei nicht unter den Gefallenen Paraplegiker-Stiftung in Wolka Cycowska Das ist unterschiedlich. Einige möchten und gelte als verschollen. Seither versucht an der polnisch-ukrainischen Grenze. in Polen bleiben und sofort zurück, wenn sie ständig, ihn zu erreichen. Es ist so Das Gespräch fand Mitte April statt. der Krieg vorbei ist. Andere möchten zu schlimm – wir haben beide geweint. Eine Bekannten nach Europa und wir organisie- Mutter erzählte, wie ihre Familie im Flucht- ren die Transporte. Wir klären auch ab, wer korridor aus Mariupol im Auto beschossen eine medizinische Behandlung benötigt. wurde. Der Schock sitzt noch tief. Es sind In dringenden Fällen sorgen wir für einen berührende Geschichten. Diese Menschen Transport ins Schweizer Paraplegiker-Zen- stehen vor der absoluten Ungewissheit. trum nach Nottwil. Worüber kommunizieren Sie? Wie sieht Ihr typischer Tag aus? Oft nutzen wir «SayHi». Ich spreche einen Jeder Tag ist anders. Heute half ich einem Satz auf Deutsch und die App übersetzt in Tetraplegiker beim Duschen und beim Bla- die gewünschte Sprache. Meistens klappt es gut, aber es kommen auch kreuzfalsche Übersetzungen heraus. Dann können sogar wir kurz zusammen lachen. Wie lange bleibt dieses Safe House? Ich hoffe fest, dass es so lange bestehen kann, wie es gebraucht wird. Dieser Ort ist für Menschen mit Querschnittlähmung enorm wichtig. (manm, kste / zvg) Sara Muff bei der Arbeit mit querschnitt gelähmten Flüchtlingen und vor dem Safe House der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Linke Seite Der «Ring of Life» des SPZ leuchtet in den Farben der Solidarität. Bilder vom ersten Materialtransport nach Wolka Cycowska. Rechts: Heidi Hanselmann. PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2 7
SCHWERPUNKT Wie man lernt, einen Schicksalsschlag zu akzeptieren Die Diagnose Querschnittlähmung stellt den bisherigen Lebensentwurf infrage und führt häufig in eine Krise. Die betroffenen Menschen müssen nicht nur die Rehabilita tionsarbeit bewältigen, sondern auch eine Neuorientierung für ihr Leben finden. Maurizio Coldagellis Arbeitstag war eigent- leben. Als er endlich aus dem Bett kann, lich schon zu Ende, als sein Arbeitgeber ihn fährt er mit dem Rollstuhl zum nahen Bahn- bat, auf einer anderen Baustelle noch etwas übergang und ist entschlossen, sein Leiden zu überprüfen. Dabei stürzte der damals zu beenden. Was ihn schliesslich zurück- 40-Jährige zehn Meter tief in einen Lift- hält, kann er nicht mehr benennen: «Ich schacht. Er zog sich einen Rückenbruch zu vermute, es war der Gedanke an meine und wurde sehbehindert. Er werde in der Familie und an die Menschen, die mir nahe Klinik viel Zeit und Geduld brauchen, sag- sind und die mich lieben.» ten ihm die Ärzte. Und mehr noch: Sie sind Mit der Zeit hat Coldagelli gelernt, sein sich nicht sicher, ob er je wieder das Bett neues Leben zu akzeptieren. Er zeigt wie- verlassen kann. der sein typisches Lächeln – obwohl er fast Der einst aktive Mann aus Chiavenna täglich mit Schwierigkeiten konfrontiert ist. (IT) liebt die Natur; er jagte, fischte und ging «Aber ich gebe nicht auf», sagt er. In emo- leidenschaftlich gern in die Berge. Stän- tional belastenden Momenten denkt er an dig im Bett liegend wird ihm zunehmend all das, was er bereits erreicht hat. bewusst, dass er all das, was bisher sein Leben bereichert hat, nicht mehr machen Krise für den Neustart nutzen kann. Im Sommer 2013 liegt er bereits viele Die meisten der betroffenen Menschen Maurizio und Agata Coldagelli: Monate im Schweizer Paraplegiker-Zen- schaffen eine Neuorientierung erst dann, «Ich kann meiner Frau nur danken. trum (SPZ) in Nottwil. Er hat schon viel Kraft wenn sie den erlittenen Schicksalsschlag Sie ist immer an meiner Seite und lässt gebraucht, viel Geduld gezeigt, die ständi- in ihre Gefühlswelt integriert haben, sagt mich nie im Stich.» gen starken Schmerzen ausgehalten. Doch Kamran Koligi, Leitender Arzt Paraplegio- jetzt beherrscht dieses Gefühl seinen Kopf: logie am SPZ. Aus diesem Grund wurden Ich schaffe das nicht mehr. So will ich nicht in Nottwil Programme entwickelt, um die 8 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
SCHWERPUNKT Kraftquelle Familie Die Familie hat ihn in schwierigen Zeiten gestützt: der Paraplegiker mit seiner Frau und den gemeinsamen Söhnen. Patientinnen und Patienten in schwierigen Phasen zu begleiten. Fachlich gesehen, befinden sie sich in einer Krise. «Eine Krise gilt in unserer Gesell- schaft als etwas Negatives», sagt der Arzt. «Dabei übersehen wir aber, dass in Krisen auch starke Veränderungsenergien freige- setzt werden können.» Sein Ziel ist, dass die Betroffenen lernen, diese Energien für ihren Neustart zu nutzen. Das Wort «Akzeptanz» bedeutet in diesem Kontext, dass eine Person aner- kennt: Ihre Rückenmarkverletzung wird fortan ihr Leben prägen. Gerade junge Menschen stehen dabei oft vor völlig ver- änderten Lebensperspektiven. «Unsere Aufgabe ist zu vermitteln, dass das Leben mit einer Querschnittlähmung ein norma- les, genauso lebenswertes Leben ist», sagt Koligi. «Es findet einfach in einer anderen Form statt.» Durch die interprofessionelle Betreu- ung in Nottwil kommen die Betroffenen täglich mit unterschiedlichen Fachpersonen ins Gespräch. Alle sind geschult, Symptome einer Krise zu erkennen. Wer von ihnen aber den entscheidenden Zugang findet, ist von Fall zu Fall verschieden. Bei Mauri- zio Coldagelli war es die Sozialarbeiterin der Station, Daniela Vozza. Heute leitet sie den Fachbereich Lebensberatung der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung. Das Personal war wie eine Familie «Maurizio kam aus dem Kantonsspital Chur zu uns, er hatte gravierende Verletzungen, war fast blind und sprach nur Italienisch», sagt sie. Seine Unsicherheit in der fremden Umgebung war gross. Daniela Vozza half ihm und seinen Angehörigen, die nötige Stabilität für die Rehabilitation zu finden: «Die Angehörigen machen ganz andere Prozesse durch als die Betroffenen, sie sehen die Konsequenzen viel früher. Am meisten benötigen sie Information und praktische Unterstützung.» Die Erleichte- rung sei jeweils gross, wenn sie erfahren, dass sie sich nicht um alles selber kümmern müssen – etwa um eine Unterkunft für die PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2 9
SCHWERPUNKT Auch über Schwieriges reden Maurizio Coldagelli mit Daniela Vozza, Leiterin Lebensberatung bei der SPV Kamran Koligi Leitender Arzt Paraplegiologie men mit meinen Angehörigen hat es mir die Kraft gegeben, auf meinem Lebensweg weiterzumachen.» Ein Drittel findet ein Gleichgewicht Das Verarbeiten eines Schicksalsschlags geschieht zwar individuell – und dennoch zeigen sich Muster. So gibt es eine Gruppe von Menschen, die ihre Querschnittläh- mung erstaunlich gut akzeptieren kann. Mayra Galvis von der Schweizer Paraplegi- ker-Forschung hat untersucht, was ihnen gemeinsam ist. «Damit erhalten wir Ansatz- punkte, um jenen zu helfen, die mehr «Das Personal in Nottwil war Schwierigkeiten mit der Akzeptanz haben», sagt die Psychologin. wie eine Familie für mich.» Am Ende der Erstrehabilitation iden- Maurizio Coldagelli tifiziert Galvis' Studie drei psychologische Muster, die weder vom Lebensalter noch vom Ausmass der Querschnittlähmung beeinflusst sind: 33 Prozent befinden sich erste Zeit in Nottwil, den Wohnungsumbau onellen Team aus, bei Bedarf wird der psy- psychisch in einem Gleichgewicht. 37 Pro- zu Hause oder die Verhandlungen mit den chologische Dienst hinzugezogen. zent sind zufrieden, aber weisen sehr hohe Versicherungen. Man darf durchaus traurig und wütend Stresswerte auf. Und 30 Prozent leiden an Maurizio Coldagelli ist ein Mensch, der über den erlittenen Verlust der Körperfunk- psychischen Problemen wie Angst- und aktiv auf andere zugeht und rasch Freunde tionen sein, sagt sie. Aber in der Rehabili- Depressionssymptomen (siehe Grafik). gewinnt. Mit Daniela Vozza spricht der Pati- tation gehe es auch darum, eine Vision für Was gibt der ersten Gruppe die Fähig- ent offen über seine Gedanken und Gefühle, das weitere Leben als Para- oder Tetraple- keit, eine Krise gut bewältigen zu können auch wenn es ihm nicht gut geht. Sie ver- giker zu entwickeln: Wovon lasse ich mich («Resilienz»)? Für die Studienleiterin sind die sucht dann, Anknüpfungspunkte ans Leben inspirieren? Welche Ziele habe ich? persönlichen Ressourcen ausschlaggebend: zu setzen – «Lichtpunkte nach vorne», wie Durch seine kommunikative Art ist es «Je mehr eine Person darauf zurückgrei- sie sagt. Zum Beispiel lenkt sie das Gespräch Maurizio Coldagelli schliesslich gelungen, fen kann, desto besser ist ihre psychische auf den nächsten Besuch der Familie. Oder in Nottwil ein Fundament für sein Leben Gesundheit», sagt Mayra Galvis. Solche auf konkrete Aspekte wie die Wohnsitua- als Paraplegiker zu festigen. «Das Perso- Ressourcen sind zum Beispiel ein zentraler tion oder die Finanzen. Einmal pro Woche nal war dabei wie eine Familie für mich», Lebensinhalt, ein Lebenssinn oder ein kon- tauscht sie ihre Eindrücke im interprofessi- sagt der ehemalige Bauarbeiter. «Zusam- kretes Ziel. Auch eine optimistische Grund- 10 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
SCHWERPUNKT Psychologische Muster am Ende der Rehabilitation 33 Prozent Quelle: swisci.ch reagieren nach relativ kurzer Zeit «resilient» auf die Quer- schnittlähmung: Sie sind sehr zufrieden, wenig gestresst und haben kaum depressive Mayra Galvis Symptome oder Ängste. Wissenschaftlerin (Post Doc) bei der Schweizer Paraplegiker- Forschung 30 Prozent haben psychische Probleme. Sie sind weniger zufrieden, 37 Prozent fühlen sich gestresst und zeigen geben an, mit ihrem Symptome von Depression Leben zufrieden zu sein. und Angst. 7 Prozent unter Aber die Personen in ihnen sind stark betroffen. dieser Gruppe fühlen sich sehr gestresst. einstellung und die Erfahrung, dass man manchmal stösst die Medizin an Gren- und unterstützt alle Beteiligten in der ethi- herausfordernde Situationen jeweils gut zen. Zum Beispiel, wenn eine achtzigjäh- schen Entscheidungsfindung. meistern kann, helfen. Ebenso wichtig ist rige Tetraplegikerin unheilbar an Krebs ein menschliches Umfeld, in dem man gut erkrankt. Dann müssen die Betroffenen Anderen Mut machen aufgehoben ist. und ihre Angehörigen lernen, das Unauf- Die Herausforderung, eine Veränderung im Mayra Galvis empfiehlt eine psycho- haltbare zu akzeptieren und auszuhalten. Leben akzeptieren zu müssen, die unum- therapeutische Begleitung zur Bewälti- «Auch für unsere Teams ist das schwierig», kehrbar ist, führt die betroffenen Menschen gung einer Querschnittlähmung: «Wer am erklärt der Arzt Kamran Koligi. «Es besteht in Situationen, mit denen sie im Alltag nur Anfang der Rehabilitation schon lernt, seine ja immer eine emotionale Bindung zu den ganz selten konfrontiert sind. Nach einem Gedanken und Gefühle richtig einzuordnen, Menschen, die wir behandeln.» Schicksalsschlag gibt es keine «Zurück- kann später mit diesen Fähigkeiten selber Wie geht das SPZ mit der Betreuung am Taste». Aber es gibt Wege, den Umgang weiterarbeiten.» Die Stärkung der persön- Lebensende um? Koligi sagt: «In der Palliativ- damit zu lernen. lichen Ressourcen trägt dazu bei, schneller pflege begleiten wir die Menschen auf vier Nach seinem folgenschweren Sturz ein psychisches Gleichgewicht zu finden. Ebenen – körperlich, psychisch, sozial und in einen Liftschacht schaut der ehemalige Die Forscherin lobt den psychologischen spirituell. Dabei geht es aber nicht mehr um Bauarbeiter Maurizio Coldagelli heute nach Dienst des SPZ als ein Vorbild für Kliniken lebensverlängernde Behandlungen im Rah- vorne. Seine bewegende Geschichte erzählt und Länder, die eine solche Unterstützung men der Spitzenmedizin, sondern um die er im Film zum Projekt «Orte der Hoffnung» nicht kennen. Ihre Studienergebnisse zei- Frage, wie wir den Betroffenen die für sie der Schweizer Paraplegiker-Stiftung – um gen aber auch für das SPZ eine Lücke, nach- höchste Lebensqualität für eine würdevolle anderen Menschen Mut zu machen. dem die Menschen aus der Klinik entlassen letzte Phase bieten können.» (kste / spvi, baad) sind: «Ihre psychologische Begleitung sollte Bei der individuellen Ausgestaltung intensiviert werden.» spielt wiederum die fachübergreifende Zusammenarbeit im SPZ eine grosse Rolle. Das Unaufhaltbare akzeptieren So gibt es eine eigene Expertengruppe «Pal- Das Schweizer Paraplegiker-Zentrum will liative Care», die den Behandlungsteams den Patientinnen und Patienten die jeweils zur Seite steht. Sie stellt das Spezialwissen paraplegie.ch/ bestmögliche Behandlung bieten. Doch zur Verfügung, organisiert Ausbildungen verankerung PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2 11
SCHWERPUNKT Die Familie ist mitbetroffen Wie gehen Eltern damit um, wenn ihr Kind eine Querschnittlähmung erleidet? Und wie reagieren Kinder, wenn der Vater oder die Mutter verunfallt? Die Familie Roos gibt uns Einblicke. Die Diagnose Querschnittlähmung ist met, kann nicht sprechen. Per Zwinkern dik- zusammen Pizza im SPZ-Restaurant oder nicht nur für die Betroffenen ein Schick- tiert er Buchstaben von einer ABC-Tafel. Sie gehen an die Beach Bar – damit rückt das salsschlag. Auch ihr Umfeld muss sich auf ergeben: «Ich will nicht mehr leben, stellt «normale» Leben näher an den Klinikalltag. ein neues Leben einstellen. «Der Anruf die Maschinen ab.» Die Mutter wird ener- Peti Roos fühlt sich aufgehoben. aus Amerika war ein Schock, wir ahnten gisch: «Vergiss es. Man kann immer etwas Nach neun Monaten kann er nach sofort: Jetzt kommt Peti in den Rollstuhl», machen aus seinem Leben. Ob man zu Fuss Hause. Die Mutter muss lernen, nicht her- sagen Pia (60) und Arthur Roos (65). «Ab geht oder nicht, spielt keine Rolle.» Diese beizueilen, wenn ihm etwas auf den Boden dann haben wir nur noch funktioniert.» An Grundhaltung prägt die Familie; die Eltern fällt – auch das Aufheben ist eine Therapie. einem Sonntag im März 2009 erfahren die haben mehrere Schicksalsschläge erlebt «Für mich war klar: Ich möchte möglichst Verkäuferin und der Maurer aus Schötz LU und nie aufgegeben. Ihr Sohn aber schliesst viel selber können und niemandem zur Last vom Badeunfall ihres Sohns in Florida. Sie jetzt seine Augen. Egal, wer kommt, er öff- fallen», sagt Peti Roos. Die Spitex über- möchten so schnell wie möglich zu ihm. net sie nicht mehr. nimmt die Morgenpflege und das Anzie- Sie telefonieren, organisieren, mobilisieren hen. Viele Wochen übt er den Transfer ins das Umfeld. Um Mitternacht erfahren sie, Pflegefachmann findet Zugang Auto, das ihm neue Perspektiven der Selbst- dass sie am Morgen einen Flug bekommen, «Ich wusste nicht, was ein Tetraplegiker ständigkeit verspricht. Am Anfang braucht aber sie haben weder eine Kreditkarte noch noch alles kann», sagt Peti Roos heute. «Ich er dafür fast eine Stunde, dann geht es einen für die USA gültigen Pass. Sie schaf- dachte, ich bleibe so liegen, unbeweglich immer besser. fen es trotzdem. und ohne Stimme – was will ich da noch?» Der 38-Jährige ist froh, dass seine Eltern Für die Töchter ist es normal Die Familie hält zusammen hartnäckig geblieben sind. Der SPZ-Pflege- Seit dem Unfall sind dreizehn Jahre vergan- Vor Ort erklärt der behandelnde Arzt, dass fachmann Hans Georg Zimmermann findet gen. Peti Roos hat vier Töchter, um die er kaum mehr Hoffnung besteht, und zeigt schliesslich einen Draht zu ihm. Zunächst sich mit seiner Frau Jeannine kümmert. Für ihnen die Spitalkapelle. Pia Roos ist ent- gibt er ihm Zeit, dann wird sein Tonfall ein- die Kinder ist es kein Thema, dass der Vater setzt: «Ich sagte ihm, dass unsere Familie dringlicher. «Lass dich nicht gehen», schüt- im Rollstuhl sitzt. Auch nicht, wenn er sie anders funktioniert. Wir halten zusammen telt er ihn, «du stehst erst am Anfang deines in der Kita abholt. «Einmal wollte ein Mäd- – und der Junior kommt heim.» Von Beginn Wegs.» Der Patient spürt die gute Energie. chen wissen, wie Papi Auto fahren kann», an steht sie in Kontakt mit der Schweize- Und aus kleinen Bewegungen, die zurück- sagt die fünfjährige Leni. «Sie durfte dann rischen Rettungsflugwacht Rega und dem kommen, fasst er wieder Lebensmut. beim Transfer zuschauen.» Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ). Zwei- Die Eltern besuchen ihn weiterhin Das Gespräch mit Leni zeigt: Wo früher mal wird die Rückholaktion wieder abge- jeden Tag. In der Mittagspause liest ihm viel Aufklärung in der Öffentlichkeit nötig brochen, weil die Lungen versagen. Nach die Mutter aus der Zeitung vor. Sie erkennt war, wächst heute eine Generation heran, einem weiteren Noteingriff ist Peti Roos seine Not, die endlosen Stunden, zur Untä- für die vieles normal ist – ob Patchwork- (38) schliesslich transportbereit. «Uns fiel tigkeit gezwungen. «Diese Besuche waren Familie oder ein Vater im Rollstuhl. Leni und ein Stein vom Herzen, als die Rega kam», sehr wichtig», sagt Peti Roos. «Ich freute ihre Schwestern finden es vielmehr cool, sagt die Mutter. Die Zeit in Florida war auch mich darauf: Da kommt jemand und ver- wenn ihr Vater mit dem «Töffli» angerollt für die Eltern sehr intensiv. bringt Zeit mit dir.» kommt, dem vor den Rollstuhl gespannten Als ihr Sohn auf der Intensivstation des Nach sieben Wochen beginnt die Zuggerät. Dann streiten sie sich, wer bei SPZ liegt, kann er nur die Augen bewegen. Rehabilitation. Der Tag ist nun dicht gefüllt ihm mitfahren darf. Der Köpfler in einen Pool hat ihn zum Tetra- mit Therapien. Regelmässig kommen seine Diese Normalität beruht nicht auf plegiker gemacht. Er wird künstlich beat- Freunde zum Jassen vorbei. Sie essen Erziehung. Sie würden nichts spezieller 12 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
SCHWERPUNKT «Ich sagte dem Arzt, dass wir zusammenhalten – und dass der Junior heimkommt.» Pia Roos machen als andere Paare, sagt Peti Roos: gen mehr Organisation, sagt Jeannine Roos Die Familie hält zusammen «Ich erklärte den Kindern einfach früh: (36), aber sonst erlebe sie keine Einschrän- V.r.: Peter Roos, von allen «Peti» Seht, das kann der Papi. Und das kann er kungen durch ihren Partner. Als Ergothe- genannt, das Baby Julie, Jeannine Roos, nicht.» Sie akzeptieren, dass sie unterwegs rapeutin im SPZ wusste sie, was auf sie die Zwillinge Anni und Sophie (3), bei ihm bleiben müssen, weil er ihnen nicht zukommt, als sie Peti beim Rollstuhlrugby und Leni (hinten). Grosses Bild: Pia Roos (l.) nachrennen kann. Und sie warten gedul- kennenlernte. «Ich geniesse die Vorteile», dig, wenn das Streichen der Morgenbröt- sagt sie. Männer mit einem Vollpensum chen viel länger dauert als bei der Mutter. kommen abends heim, wenn die Kinder Manchmal ärgert es sie, wenn er mit dem schon im Bett sind. Sie dagegen können Rollstuhl nicht auf einen sandigen Spielplatz als Familie viel gemeinsam erleben. «Und fahren kann, um sie anzuschieben. «Dafür wenn Peti mir im Haushalt nicht direkt hel- unternehmen wir viele andere Sachen, die fen kann, hält er mir den Rücken frei, damit Spass machen», sagt er. ich schneller vorankomme.» Die Familie kann man nicht austau- «Ich geniesse die Vorteile» schen, sie bleibt, sagt Mutter Pia zum Der ehemalige Maurer arbeitet in einem Abschied. Dreizehn Jahre nach Petis Unfall Teilpensum im Besucherzentrum ParaForum kümmern sich bereits drei Generationen in Nottwil und hat viel Zeit für die Kinderbe- umeinander. treuung. Nur ihre Familienausflüge benöti- (kste / baad, zvg) PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2 13
Herausforderungen akzeptieren Eine Querschnittlähmung betrifft nicht nur die Beine und die Arme. Die betroffenen Menschen müssen mit vielen körperlichen, psychischen und sozialen Herausforderungen umgehen lernen. 14 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2 Chronische Schmerzen Körperlich Beziehungen pflegen Rund 75 Prozent aller Familie, Partnerschaft und das Querschnittgelähmten leiden unter Psychisch soziale Netzwerk helfen, chronischen Schmerzen. Häufig Sozial die Herausforderungen der sind neuropathische Schmerzen, die im Querschnittlähmung zu meistern. Nervensystem entstehen und Oft überdauern nur stabile an Orten gespürt werden, an denen Beziehungen die Rehabilitationsphase. sie eigentlich keine Empfindung Wer auf fremde Unterstützung mehr haben. Fatigue angewiesen ist, muss neue Formen Mit der Zeit kann eine chronische der Selbstständigkeit finden. körperliche und mentale Müdigkeit entstehen – aufgrund Verändertes Sexualleben der minutiösen Tagesplanung, Eine Rückenmarkverletzung beeinflusst die hohen Selbsterwartungen und Sexualfunktionen (v.a. bei Männern) und die körperlichen Faktoren wie Sensibilität im Intimbereich. Mit Hilfsmitteln CAMPUS NOT T WIL Infektionen. können Querschnittgelähmte ein erfülltes Sexualleben haben und Kinder bekommen. Den Körper annehmen Knappe Luft Wer in den Rollstuhl kommt, fühlt sich oft Das Atmen wird weniger attraktiv für die Partnersuche. beeinträchtigt. Typisch Man muss ein Selbstwertgefühl entwickeln sind eine Verengung der für einen Körper, den man nicht mehr Bronchien, Sekret in der als Ganzes spürt. Lunge und Asthma-ähnliche Zustände. Atemstörungen Last für die Schultern im Schlaf sind 4- bis 5-mal Querschnittgelähmte benötigen häufiger. Muskeln mit Eigenleben ihre Arme für den Transfer in Mehr als zwei Drittel leiden unter Spastiken: den Rollstuhl und die Fortbewegung. Muskeln reagieren mit unwillkürlichen Die Belastung der Schultern kann Bewegungen und Verkrampfungen. Hinzu Entzündungen und Abnützungen kommt eine Übererregbarkeit der Reflexe. auslösen, die die Selbstständigkeit einschränken.
Auch die Seele ist verletzt Quellen Nach dem Unfall wirken psychologische H. G. Koch, V. Geng: «Querschnittlähmung verständlich erklärt», Schutzmechanismen. Gefühle wie Trauer, Manfred-Sauer-Stiftung und Schweizer Hilflosigkeit, Angst oder Wut treten oft Paraplegiker-Vereinigung (2021) verzögert auf. Man muss lernen, einen SwiSCI, Schweizer Kohortenstudie für Umgang mit dem Verlust zu finden. Menschen mit Rückenmarksverletzungen, swisci.ch Mit Barrieren umgehen Das öffentliche Umfeld ist nicht barrierefrei, und man muss im Alltag Demütigungen wie unüberwindbare Hindernisse oder Vorurteile akzeptieren. Solche «Behinderungen» sind sozial gemacht. Sitzen als Problem Eine ständige Gefahr sind Druckgeschwüre, die einen monatelangen Spitalaufenthalt erfordern. Wer im Rollstuhl sitzt, muss sein Gesäss alle Viertelstunde entlasten und die Haut täglich auf Druckstellen kontrollieren. Neuer Lebensentwurf C AS M Prägende Teile des gewohnten Lebens C HP W brechen weg. Dies erfordert eine mentale Anpassung, ein Zurückfinden zur eigenen Person. Ein neuer Lebensentwurf wird nötig. Mobilität zurückgewinnen Für die Teilhabe an der Gesellschaft sind U SE RNPOUTNTKWT I L Hilfsmittel wie Rollstuhl und umgebautes Auto zentral. Sie ermöglichen selbstständige Wege zur Arbeit, in die Therapie, zum Sport oder ins Sozialleben. Illustration: Doreen Borsutzki Kontrollverlust über Blase und Darm Die Blase nicht mehr kontrollieren zu können, ist oft die grösste Einschränkung. Betroffene müssen sich mehrmals täglich katheterisieren, Harnwegsinfektionen sind häufig und es drohen Nierenschäden. Ebenso belastend ist der Kontrollverlust über die Darmfunktion. Wirtschaftliche Wiedereingliederung Mit Sozialversicherungen verhandeln Die Teilnahme am Erwerbsleben ist wichtig für Man muss mit den Sozialversicherungen die Integration. Ist die Rückkehr an den bisherigen umgehen lernen. Dazu zählt das Warten auf Arbeitsplatz nicht möglich, sind Abklärungen, Entscheide und das Vorgehen bei PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2 Umschulungen und Weiterbildungen nötig. nicht akzeptierbaren Entscheidungen oder 15 61 Prozent schaffen den Wiedereinstieg. in veränderten Lebenssituationen.
SCHWERPUNKT Caroline Büchner wenige Tage vor ihrem Austritt aus der Klinik. Auszeiten für die psychische Gesundheit Eine Querschnittlähmung betrifft nicht nur den Körper eines Menschen, sondern auch seine sozialen und psychischen Aspekte. Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum ist deshalb die Psyche ein zentrales Element der ganzheitlichen Rehabilitation. 16 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
SCHWERPUNKT Ende März 2022. In einer Woche kann vielmehr einzelne Aspekte und erarbeiten Caroline Büchner das Schweizer Paraplegi- neue Perspektiven und Handlungsmöglich- ker-Zentrum (SPZ) verlassen. Der rollstuhlge- keiten.» Eine Querschnittlähmung ist ein rechte Umbau ihrer Wohnung in Zürich ist heftiger Einschnitt ins Leben und bedeu- zwar noch nicht ganz abgeschlossen. Doch tet häufig eine psychische Destabilisierung. die 41-jährige Werbeexpertin strahlt sehr Deshalb kümmern sich am SPZ acht Psycho- viel Zuversicht aus, dass ihr auch die nächs- therapeutinnen und -therapeuten um die ten grossen Aufgaben nach der sechsmona- psychische Gesundheit. Sie lenken die Auf- tigen Rehabilitation gelingen werden – den merksamkeit auf Möglichkeiten und per- Marianne Boller, Alltag ausserhalb des geschützten Rahmens sönliche Wachstumschancen. Sie aktivie- Leiterin Psychologie: «Wir setzen der Klinik einrichten, die Rückkehr an ihren ren vorhandene Ressourcen, bauen neue die psychologische Unterstützung Arbeitsplatz, und nicht zuletzt: ihre Hoch- auf und stärken die Autonomie. «Unser Ziel gezielt ein.» zeit. Dass sie dem Austritt zuversichtlich ist die psychische Stabilisierung sowie die entgegensieht, hat viel mit der Unterstüt- Wiederherstellung der Selbstbestimmung, zung durch den psychologischen Dienst des Würde und Integrität der betroffenen Men- SPZ zu tun. «Mein Unfall war einfach Pech», schen», so Boller. sagt sie. «Aber das zu akzeptieren, fiel nicht leicht.» Der Partner sieht den Unfall «Wieder ein vollwertiger Mensch …» Ende September 2021 prallte Caroline Im Rahmen der ganzheitlichen Rehabilita- Im Rückblick ist die Patientin dankbar, dass Büchner beim Gleitschirmfliegen im Berner tion ist die psychologische Unterstützung sie mit ihren Gedanken im SPZ nicht allein Oberland so unglücklich auf den Boden, ein zentrales Element neben den körperli- gelassen wurde. Der psychologische Dienst dass sie zur Paraplegikerin wurde. In ihrem chen und sozialen Aspekten. Alle Patientin- hat ihr neue Sichtweisen erschlossen und Umfeld ist sie bekannt für ihren pragmati- nen und Patienten bekommen ein Eintritts- ihr geholfen, sich von Ängsten zu befreien. schen Umgang mit herausfordernden Situa- gespräch, das eventuelle Vorbelastungen «Die Fachleute wissen, was in einem vor- tionen, doch in den ersten Wochen in Nott- und therapeutische Bedürfnisse abklärt. geht und wie man da wieder rauskommt», wil geht körperlich nichts mehr. Daran muss «Wir setzen die psychologische Unterstüt- sagt sie. «Am Anfang denkt man: Jetzt ist sie sich zuerst gewöhnen. Typische Fragen zung nicht nach dem Giesskannenprinzip, alles vorbei. Doch mit der bewussten Aus- tauchen auf: Wieso ich? Weshalb jetzt? In sondern sehr gezielt ein», sagt Marianne einandersetzung lernt man, diese Gedan- ein psychisches Loch fällt die Patientin zwar Boller. Eine eigentliche psychische Erkran- ken zu Ende zu denken, die Gefühle rich- nicht. Aber Ängste belasten sie, zum Bei- kung muss für die Behandlung im SPZ aber tig wahrzunehmen – und dass das Leben spiel wenn sie die schlimmen Bilder über die nicht vorliegen. weitergeht.» Gefahr eines Druckgeschwürs sieht: Was Eine bedeutende Stütze der Rehabi- Sie sieht die Gespräche mit ihrer Psy- ist, wenn das mir passiert? litation sind die Angehörigen. Oft fühlen chotherapeutin wie befreiende Auszeiten, auch sie sich hilflos und erleben Überfor- die den Kopf entlasten in der sonst streng Die Gespräche tun ihr gut derungen. Sie denken, sie müssten etwas getakteten Rehabilitationsphase. Und sie Sie bekommt eine Zimmerkollegin mit Besonderes leisten – und übersehen die lobt, dass es für die Fachleute normal ist, der gleichen Lähmungshöhe. Die junge Wichtigkeit ihrer Besuche, ihres Zuhörens dass man in den Gesprächen auch negative Frau macht rasch Fortschritte, körperli- und ihrer emotionalen Anteilnahme. Der Gedanken äussert. che Funktionen kommen zurück, sie kann psychologische Dienst bezieht die Ange- Bis zu einer Lebensbilanzierung ist es wieder stehen. Zunächst freut sich Caro- hörigen nach Möglichkeit in die Therapie bei Caroline Büchner nicht gekommen. line Büchner für die Mitbetroffene, aber mit ein und gibt ihnen Informationen und Wenige Tage vor ihrem Austritt spricht sie dann nagt es an ihr. Es ist schwierig, den praktische Tipps. optimistisch von ihren Zukunftsplänen. ständigen Vergleich auszuhalten, wenn Caroline Büchners Partner erlebt ihren Sie erzählt, wie das Rollstuhltraining ihr man selber höchstwahrscheinlich nie mehr Unfall besonders schlimm. Er geschah neue Dimensionen der Selbstständigkeit gehen kann. «Von Marianne Boller habe ich direkt vor seinen Augen, ohne dass er ihr erschlossen hat: «Am Anfang musste ich für gelernt, mit den negativen Gedanken umzu- helfen konnte. Nachdem sie medizinisch alles und jedes um Hilfe bitten und ärgerte gehen», sagt sie. Die regelmässigen Gesprä- versorgt ist, stürzt er sich ins Organisatori- mich, wenn ich etwas vergessen hatte. che mit der Leiterin Psychologie im SPZ tun sche, regelt Versicherungsfragen, klärt die Heute transferiere ich mich rasch in den ihr gut. Sie schildert ihrer Psychotherapeu- Arbeitssituation, informiert den Freundes- Rollstuhl und erledige es selber. Ich bin wie- tin alles, was sie beschäftigt, und sie lernt kreis. Auf der Intensivstation erklärt sie ihm, der ein vollwertiger Mensch.» Der Stolz, der Techniken kennen, um aus einer negativen dass sie es verstehen würde, wenn er sie in ihrer Stimme mitschwingt, zeigt, wie sehr Gedankenspirale wieder herauszufinden. verlässt. Wenig später hält er um ihre Hand die psychische und die körperliche Gesund- Dadurch kann sie sich besser auf die eigene an. Auch er ist froh um das Gespräch mit heit zusammenhängen. Rehabilitation konzentrieren. Marianne Boller, es hilft ihm, das Gesche- (kste / baad) «Unser Anspruch ist es nicht, dass die hene einzuordnen. Damit kann er seine Betroffenen schon alles akzeptiert haben, Verlobte besser unterstützen, dass sie den wenn sie die Klinik verlassen», erklärt die Rollstuhl als ein notwendiges Hilfsmittel zu paraplegie.ch/ Psychotherapeutin. «Wir thematisieren akzeptieren lernt. psychologie PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2 17
SCHWERPUNKT Integration heisst: Menschen ernst nehmen Die gesellschaftliche Akzeptanz für Menschen mit körperlichen Einschränkungen zeigt sich am Arbeitsplatz. Zusammen mit ParaWork besuchen wir ein Beispiel für die geglückte Integration. Wie gut Menschen mit körperlichen Einschrän- wegen seines fragilen Körpers. Erst im Teenager- kungen in eine Gesellschaft integriert sind, zeigt alter hat sich die Krankheit etwas abgemildert, sich am deutlichsten auf dem Arbeitsmarkt. In aber die Einschränkungen sind geblieben. der Schweiz sind – trotz Fortschritten im letzten Jahrzehnt – noch immer Hürden, Ängste und Vor- «Wir wissen, du kannst das …» urteile weit verbreitet. Niemand steht offen zur Heute ist David Komarica froh, dass er mithilfe von Diskriminierung, aber die betroffenen Menschen ParaWork, einer Abteilung des Schweizer Para- kennen die subtilen Signale. «Als Rollstuhlfahrer plegiker-Zentrums, einen Lehrbetrieb gefunden spürt man sofort, ob die Leute auf einen herab- hat, der nicht seinen Körper ins Zentrum stellt, sehen und man als Arbeitskraft unterschätzt sondern seine Möglichkeiten: «Es ist schön, wenn wird», sagt David Komarica aus Adligenswil LU. ich morgens ins Büro komme und einfach David In seinem zehnten Schuljahr hat sich der begabte bin und nicht ‹der Typ im Rollstuhl›.» Bei Digme- junge Mann sehr intensiv um eine Lehrstelle dia in Luzern werde er als Person ernst genom- bemüht – und ging leer aus. men und respektiert: «Ich bekomme Vertrauen Der Zwanzigjährige leidet an einer seltenen geschenkt und trage bereits viel Verantwortung. Form der Glasknochenkrankheit. Viele Jahre war Wir finden aber auch Lösungen, wenn ich körper- das Spital sein zweites Zuhause, monatelang lag lich etwas nicht kann – zum Beispiel bei der Mon- er im Bett, um seine zahllosen Knochenbrüche tage von Displaywänden.» Das kleine Team passt Lösungen finden (V.r.) Daniel Pfister und Brigitte auszuheilen. «Mein Körper war eher ein Kerker die Aufgaben an die Stärken der Mitarbeitenden Christen von Digmedia im für mich», erzählt Komarica über seine Kindheit. an. Die Grundlage dafür ist eine offene und ehr- Gespräch mit Jörg Hanschur Im Dorf war er die einzige Person im Rollstuhl, in liche Kommunikation. und Karin Schwerzmann der Schule stiess er immer wieder an Grenzen, Bei Digmedia absolviert David Komarica von ParaWork. eine vierjährige Lehre zum Mediamatiker. Er wird genauso gefordert wie alle anderen, aber das motiviert ihn zusätzlich: «Sie sagen: Wir wissen, du kannst das. Und wenn ich noch etwas brauche, melde ich es.» Der Lernende fühlt sich sehr aufge- hoben im familiären Umfeld der Luzerner Kommu- nikationsfirma mit Schwerpunkt digitale Anzei- getafeln. Er ist nicht der einzige Rollstuhlfahrer im Betrieb – aber das habe sich einfach so erge- ben, sagt Firmeninhaber Daniel Pfister. Der Unternehmer ist erstaunt, dass kein anderer Betrieb das Potenzial von David Koma- rica gesehen hat. «Er ist wie ein ungeschliffener Diamant, der Grosses in sich birgt», sagt er. Der Chef hat eine zupackende Art, ist anspruchs- voll und stellt dem Lernenden gezielte Heraus- forderungen, damit er sein Potenzial entwickeln kann. Zusammen mit dem Job Coach von Para- Work freut sich Pfister über jeden Fortschritt: «Wir 18 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
6 Tipps für Arbeitgebende 1. Machen, machen, machen Probieren Sie es aus und begeben Sie sich auf den Weg der Integration. ParaWork und die Job Coaches stehen Ihnen mit Lösungen zur Seite. 2. Offen kommunizieren Reden Sie offen über alles, sprechen Sie Unklar- heiten an, stellen Sie Ihre Fragen. Der Klient und die Klientin sowie der Job Coach helfen lösungs orientiert weiter. 3. Pensum anpassen Passsen Sie die Arbeitsbelastung an die körper lichen Möglichkeiten an. Ein Vollzeitpensum überfordert häufig. 4. Ressourcenorientiert denken Legen Sie den Arbeitsfokus auf Kompetenzen und Stärken, nicht auf Fragen der Mobilität. 5. Ressourcen schonen Passen Sie den Arbeitsplatz und die Arbeits- instrumente mithilfe eines Job Coaches rollstuhl gängig an – zum Beispiel bezüglich der Höhe und Zugänglichkeit. David Komarica an seinem Arbeitsplatz: 6. Coaching nutzen «Es ist schön, wenn einem Nutzen Sie das Angebot einer Begleitung wussten: Es funktioniert. – Und wenn etwas nicht bei der Arbeit der Körper durch Fachpersonen. Dies hilft allen Beteiligten, funktioniert, dann machen wir, dass es funkti- nicht mehr auffällt.» und oft trägt die Invalidenversicherung (IV) oniert.» Das Motto steht für die Firmenkultur. die Kosten der Massnahme. ParaWork bietet Diese Mediamatiker-Lehrstelle wurde eigens für Job Coachings in der ganzen Schweiz an. David Komarica geschaffen, nachdem Stellenver- mittlerin Karin Schwerzmann von ParaWork ihn als Talent empfohlen hatte und sein Praktikums- einsatz das Team begeisterte. Arbeitgebende gesucht Der Aufwand hat sich für alle gelohnt. «Unsere ist gut geknüpft. Für eine grössere Akzeptanz auf drei Mitarbeiter im Rollstuhl sind hochmotiviert, dem Arbeitsmarkt bräuchte es allerdings mehr pflichtbewusst, zuverlässig und setzen sich für die Unternehmen wie Digmedia mit offenen Teams, Firma ein», sagt Brigitte Christen, bei Digmedia die sagen, der Austausch mit Menschen im Roll- zuständig für die Finanzen und das Personal. «Es stuhl sei für sie jeden Tag eine Bereicherung. Wel- ist ein Geben und Nehmen – und es kommt viel chen Tipp würde Daniel Pfister anderen Arbeit- zurück.» Zudem hilft die Begleitung durch den gebenden geben? – «Ganz simpel: Nicht zu viel ParaWork Job Coach, dessen Einsatz die Invalidenversiche- nachdenken, sondern einfach machen. Alles Die Abteilung ParaWork rung (IV) finanziert: Jörg Hanschur entlastet das andere kann man lösen.» des Schweizer Paraplegiker- Unternehmen in administrativen Belangen und In einem Jahr wird David Komarica seine Zentrums unterstützt unterstützt seinen Klienten bei Stolpersteinen im Lehre zum Mediamatiker abschliessen. Danach Menschen bei der beruflichen Betrieb oder in der Berufsschule. «Mein Ziel ist, will er sich weiter für die Firma einsetzen, die ihn Eingliederung auf dem dass David die Ausbildung schafft», sagt er. Bei als erste wirklich ernst genommen hat. Er sagt, allgemeinen Arbeitsmarkt mit Bedarf vermittelt er rasch Lösungen zwischen den es wäre schön gewesen, hätte er als Kind schon individuellen Massnahmen. beteiligten Parteien. integrierte Menschen im Rollstuhl gesehen. Ein Das Netzwerk, das interessierte Unterneh- Vorbild hätte ihm manchen Umweg erspart. parawork.ch men in der Schweiz bei der Inklusion unterstützt, (kste / baad) PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2 19
BEGEGNUNG Zwischen Hölle und Paradies Wie Francesco Rullo ein Leben voller Hürden meistert, für bessere Bedingungen kämpft – und sich manchmal zwingen muss, glücklich zu sein. 20 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
BEGEGNUNG PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2 21
BEGEGNUNG Er kann so herrlich lachen und wunder- ja hochbegabte Schüler denkt an Suizid. gehoben. Er absolviert die Hotelfachschule, bar erzählen, er kann hartnäckig sein und Dann flieht er nach Süditalien, hofft, dass interessiert sich für Informatik und findet von Schönem träumen. Er möchte anderen die Grosseltern ihn aufnehmen. in der IT-Branche seine Berufung. Im Alter behinderten Menschen helfen und mindes- Zwei Tage ist er unterwegs, steigt in von neunzehn Jahren ist er endlich glück- tens achtzig werden, weil er das Leben so fremde Autos, trägt Krawatte, um älter zu lich, wohnt bei seinem Bruder Fausto und liebt. Wenn Francesco Rullo in Courgevaux wirken. Dass ihn die Polizei sucht, erfährt er verdient gutes Geld. Seine beruflichen Qua- FR am Murtensee aus dem Fenster schaut, erst später. Francesco erreicht das Ziel, doch litäten sprechen sich herum. sagt er: «Das ist mein Paradies.» die Grosseltern bringen ihn umgehend wie- Eines Morgens im Jahr 1998 wacht er Aber es gibt auch diese dunklen der zurück in den Norden, wo die rabiate auf und ist für wenige Sekunden blind. Seit Momente. Manchmal befällt ihn Panik, Tante wartet und seinen Alltag endgültig einigen Wochen plagt ihn Kopfweh. Stress, besonders nachts, wenn er allein im Bett zur Hölle macht. So sehr, dass er nur einen denkt er, das verfliegt wieder. An diesem liegt und Angst hat, dass ihm jemand etwas Ausweg sieht: Er muss weg von dieser Welt. Morgen aber lässt er sich im Spital untersu- antun könnte. Der 43-Jährige meidet Men- Wenn er viele rote Beeren isst, würde das chen. Die Diagnose: Hirnblutung. Zudem schenmengen und bevorzugt es, allein funktionieren. Das Resultat ist ein heftiges findet man einen Hirntumor. Er wird sofort unterwegs zu sein. So kommunikativ er Bauchweh. «Mist, ich lebe noch», denkt operiert. Als er aus der Narkose erwacht, ist, so herzlich und gastfreundlich, so offen sich Francesco. ist er auf der linken Körperseite teilweise spricht er darüber, dass er auch misstrauisch gelähmt, auf dem linken Ohr hört er nichts ist und zuweilen abweisend. Endlich glücklich, aber dann … und im linken Arm und Bein spürt er nichts Die Behörden schreiten ein. Francesco mehr. Sport bedeutet ihm viel – wie soll es Er wird früh gedemütigt kommt in ein Heim und fühlt sich gut auf- jetzt weitergehen? Um Francesco Rullo zu verstehen, muss man seine Geschichte aufrollen, die 1979 in Süditalien beginnt. Seine Mutter Giu- seppina ist schwanger, als sie mit ihrem Mann die Ferien in Kalabrien verbringt. Dort erleidet sie ein Schädel-Hirn-Trauma. Die Ärzte holen das Kind per Kaiserschnitt, seine Überlebenschancen sind gering, aber es kommt durch. Francesco startet in ein Leben voller Höhen und Tiefen, Abenteuer und schier unglaublichen Wendungen. Die Familie, die in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg lebt, kennt Harmonie nur bedingt. Der kleine Francesco leidet unter den Gewaltausbrüchen des Vaters, insgesamt zwölf Löcher im Kopf trägt er davon, einmal muss er sogar operiert wer- den. Die Brutalität führt zur Trennung der Eltern. Die Mutter erhält das Sorgerecht für ihre drei Söhne und die Tochter, Francesco blüht auf. Früh weiss er, dass er Männer liebt. Das wird ein Problem, als ein Schicksals- Möglichst selbstständig schlag sein Glück trübt. Die Mutter stirbt bei Francesco Rullo ist regelmässig einem Verkehrsunfall, die vier Kinder kom- mit dem Auto unterwegs – men bei der Schwester in Turin unter. Und und fährt zum Einkauf in einen da beginnt für Francesco eine furchtbare Discounter, der seine Kassen Zeit. Seine Tante verabscheut Homosexua- auf Menschen im Rollstuhl lität und demütigt ihren Neffen. Der kluge, angepasst hat. 22 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 2
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