Passagen - Kunststiftung DZ BANK
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Reihe Kunststiftung DZ BANK Band 4 Passagen Mit Werken von: Gwenneth Boelens Christian Boltanski F&D Cartier Raphael Hefti 01.06. – 15.10.2022 Sven Johne Timo Kahlen Sandra Kranich Lilly Lulay Beatrice Minda Richard Mosse Manfred Paul Stephan Schenk Titelbild: Sven Johne, 47 Faults between Calais and Idomeni, 2017 (Detail) © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Passagen Auf vertraute Muster, auf bereits Eingeüb- Zusammenleben befindet sich auch wei- tes haben wir uns kaum verlassen können. terhin im Übergang. Und dabei bleibt es An unserer eigenen Hochschule haben eine offene Aufgabe an uns alle, wie die wir versucht, aus dieser Zumutung eine von Arnold van Gennep beschriebene Steffen Siegel Tugend zu machen. An die Stelle des dritte Phase der Integration – und damit längst geplanten Seminars trat eine das Neue – aussehen wird. wöchentliche Veranstaltung, die wir Können uns Fotografien dabei helfen, »Orientierung in Bildern« nannten. In Bil- diese Form des Übergangs genauer zu dern drückte sich nicht allein ein großer verstehen? Wir meinen ja! Formuliert ist Teil der uns erreichenden Nachrichten damit eine These, die am Beginn einer aus, vielmehr lebten und arbeiteten wir Kooperation steht, die die Kunststiftung ja nun selbst in zahlreichen Bildräumen. DZ BANK und die Folkwang Universität Als wir im Frühjahr 2020 an der Folkwang mehr als hundert Jahren hat der französi- Der Alltag wurde zu einer Sache von Bild- der Künste aufgenommen haben. Ge- Universität der Künste das Sommer sche Ethnologe Arnold van Gennep in schirmen, vor denen wir uns versammel- meinsam wollen wir nach Orientierungen semester beginnen wollten, war – wie seinem Buch »Les rites de passage« (1909) ten und mit denen wir auf noch einmal suchen, die sich in den Werken von zeit- überall sonst auch – große Spontaneität diese dreiteilige Struktur beschrieben. ganz neue Weise umzugehen lernten. genössischen Künstlerinnen und Künstlern gefragt. Erst wenige Wochen zuvor war Er unterscheidet dabei folgende Phasen: Heute, mehr als zwei Jahre später, lohnt finden lassen. Kaum eines der von uns die Pandemie in Europa angekommen. den Moment der Ablösung, eine Zeit es, sich noch einmal an diese Tage und für die Ausstellung ausgewählten Bilder An den zu diesem Zeitpunkt lange schon des Dazwischen und die Phase der Inte Wochen zu erinnern, denn längst schon wurde geschaffen, um einen direkten geplanten Seminaren ließ sich nicht ohne gration. Es handelt sich um ein Schema, ist uns selbstverständlich geworden, Bezug zur Pandemie der jüngsten Jahre Weiteres festhalten. Universitäten leben das uns auch heute noch in unserer was noch vor Kurzem eine ganz neue herzustellen. Tatsächlich sind die meisten von direkter Interaktion, vom gemeinsa- Lebensführung immer wieder begegnet, Erfahrung war. dieser Werke bereits älter als diese neues- men Nachdenken an einem Ort. Wie je- zum Beispiel in den Übergangsriten der Was wir seinerzeit nicht wissen konn- te Erfahrung. Dennoch laden sie uns doch sollte sich das verwirklichen lassen, Taufe, der Eheschließung oder auch der ten, zeichnet sich nun aber umso deut dazu ein, über die vielfältigen Formen wenn unsere Lehrveranstaltungen nur Beerdigung. licher ab: Nicht der plötzliche Beginn der des Übergangs nachzudenken und deren noch aus einer Addition vieler kleiner Wie es bereits der Titel dieses längst Pandemie, sehr wohl aber die anschlie- Logik genauer zu durchdringen. Bildschirme bestehen würden? Es liegt klassischen Buches ausspricht, interessier- ßenden Monate und bald schon Jahre Mit der Kunststiftung und der Univer- auf der Hand: Mit diesem neuen Alltag an te sich Arnold van Gennep dabei vor allem waren und sind eine Zeit des Übergangs. sität haben sich zwei Partner zusammen der Hochschule haben wir einzig geteilt, für den rituellen Charakter solcher Über- Beschrieben wird mit ihnen eine Passage, geschlossen, die sich auf je ganz eigene, was für die Gesellschaft als ganze galt. gänge. Passagen, so seine grundlegende die uns alle – ob wir nun wollen oder beide Male aber in besonders intensiver Es ist wohl keine Übertreibung, wenn These, ereignen sich nicht einfach, sie nicht – verändert hat und auch weiterhin Weise der künstlerischen Fotografie ver- wir behaupten: Von einem Tag auf den werden vielmehr gestaltet, ja inszeniert. verändern wird. Vielleicht haben wir im pflichtet fühlen. Beide Institutionen tra- nächsten hatte sich unser aller Leben Schon deshalb wird es nicht zutreffen, Frühjahr 2020 daran geglaubt, dass wir gen seit Jahrzehnten zur Gegenwart dieser dramatisch verwandelt. unsere kollektive Erfahrung aus dem Früh- kaum mehr als einige Wochen werden Kunstform bei – als ein Gegenstand der Handelte es sich um eine Passage? jahr 2020 als eine Passage zu beschrei- improvisieren müssen, dann aber würden künstlerischen Ausbildung, der theoreti- Wohl eher nicht. Passagen beschreiben ben. Für solche rituellen Gestaltungen wir in unsere vertrauten Lebensformen schen Reflexion, des Sammelns, Ausstel- einen Prozess des Übergangs. Er führt blieb uns damals keine Zeit. Vielmehr zurückkehren können. Doch wissen wir lens und der Vermittlung. Wir teilen die nicht allein von A nach B, entscheidend wurden wir in etwas Neues gestürzt; und längst, dass sich solche Vorstellungen Neugier auf künstlerische Formen, die mit ist vielmehr jener Weg, der zwischen wohl erst ganz allmählich ließ sich begrei- als Irrtum erwiesen haben. Unsere Gesell- dem Fotografischen besondere Möglich- diesen beiden Punkten liegt. Bereits vor fen, worum es sich überhaupt handelte. schaft ist eine andere geworden; unser keiten der Orientierung in Bildern verbin- 4 Passagen Passagen 5
Gemeinsames Erarbeiten der Ausstellungshängung anhand eines Grundrisses der Ausstellungshalle; Christina Leber und Steffen Siegel mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Seminars »Passagen« im Wintersemester 2021 / 22 an der Folkwang Universität der Künste, Essen. Fotos: Silviu Guiman den. Dass uns diese Bilder stets ihre eige- sie aufeinander bezogen werden können wird sie uns helfen können, die Aufgabe So stehen kurze kunstwissenschaftliche ne Wahrheit erzählen, liegt auf der Hand. und wie sie schließlich das gemeinsame des Übergangs, die uns seit 2020 gege- Interpretationen neben ganz persönlichen Doch wollen wir gerne genauer wissen, Ganze bilden, das wir von einer Ausstel- ben ist, genauer in den Blick zu nehmen. Annäherungen an einzelne Bilder, nüchter- welche es sind. Unter dem programma lung erwarten. Die Studierenden der Folkwang Univer- ne Analysen neben essayistischen Kom- tischen Titel »Passagen« haben wir sehr Ein solches Ergebnis lässt sich nicht sität der Künste sind in zwei verschiede- mentaren. Eine solche Vielfalt an Text- unterschiedliche Annäherungen zusam- durch Abstimmung herbeiführen, bei der nen Studiengängen eingeschrieben: formen scheint uns gerade deshalb richtig mengetragen: nüchterne und dramati- die Mehrheit entscheidet – dies würde Der Master »Photography Studies and zu sein, weil wir alle auf ganz persönliche sche, politische und poetische, zugäng zu sonderbaren Kompromissen führen. Research« widmet sich – in dieser Form Weise den Fragen der Passage begegnen. liche und verschlossene. Vielmehr musste und sollte unsere Zusam- einmalig innerhalb des deutschsprachigen Wir alle haben in den zurückliegenden Hinter diesem Parcours aus vielen ver- menarbeit selbst die Form einer Passage Raums – den Fragen von Theorie und Monaten ein bemerkenswert breites schiedenen künstlerischen Stimmen steht annehmen. Es galt, eine gemeinsame Geschichte der Fotografie. Der Master Spektrum an Reaktionen beobachten ein ungewöhnliches kuratorisches Team. Bewegung herzustellen, die von Fragen »Photography Studies and Practice« wie- und erfahren können: Abwehr und Angst, Oder sollten wir besser sagen: ein bei nach dem Übergang ihren Ausgang nahm derum ist der künstlerischen Fotografie in Ungewissheit und Sorge, aber auch nahe unmögliches? Auf Einladung der und zu Perspektiven führen sollte, von de- all ihren gegenwärtigen und zukünftigen Neugierde, Hoffnung und Zuversicht. Kunststiftung DZ BANK haben sechzehn nen aus sich über die Herausforderungen Formen verpflichtet. Wichtig ist uns dabei Oft genug begegnen uns diese Emotionen Studierende der Folkwang Universität der unserer eigenen Zeit nachdenken lässt. stets das Miteinander dieser beiden Studi- ungeordnet, ja durcheinander. Indem wir Künste gemeinsam mit Christina Leber Gemeinsam kuratieren wollten wir aber engänge, praktisches und theoretisches den Blick auf einzelne, von uns besonders und mir an dieser Ausstellung gearbeitet. eine Kunstausstellung, und daher sollten Wissen sollen sich gegenseitig durchdrin- geschätzte fotografische Werke lenken, Mehrere Tage lang haben wir diskutiert, nicht Thesen, sondern künstlerische Wer- gen können. Daher eröffnen die Texte, wollen wir dazu einladen, inmitten einer welche Arbeiten wir zeigen wollen, war- ke im Mittelpunkt stehen. Wir wollen die die die Studierenden für diesen Katalog Zeit des Übergangs über Erfahrungen um sie für unsere Reflexion der Passagen von uns gemeinsam gefundene Form geschrieben haben, sehr unterschiedliche nachzudenken, die am Beginn von etwas wichtig sind, in welcher Form sie zur als eine Konstellation verstehen, die zur Perspektiven auf die von uns gemeinsam Neuem stehen werden. Erscheinung gebracht werden sollen, wie weiteren Diskussion einlädt. Im besten Fall ausgewählten Werke. 6 Passagen Passagen 7
En passant – Lebens, haben wir weniger bedacht. In Ausschnitt auf ein Thema, das jeden von der Vorbereitung konnten wir nicht ahnen, uns immer wieder auf so unterschiedliche dass ein erneuter Krieg in Europa diese Weise ereilt. Jede andere Zusammenstel- Im Vorübergehen Entscheidung noch untermauern würde. Schauen wir auf die Geschichte, lung aus den über 1000 Kunstwerken hätte andere Schwerpunkte ergeben und scheint das Verweilen meist nicht von damit andere Geschichten erzählt. Christina Leber langer Dauer zu sein. Im Grunde lässt sich Beginnen wir unsere »Passage« mit daraus folgern, dass die »Passage« der Lilly Lulay (* 1985, Frankfurt am Main, natürliche Zustand jeglicher Existenz ist: Deutschland), die wir bereits aus der letz- von einem Tag zum nächsten, von einer ten Ausstellung »Durchblick. Lilly Lulay Begebenheit zu einer anderen. Nicht nur und Susa Templin« kennen. Im Rahmen ei- Ereignisse »passieren«. Sie geschehen scheinbar »en passant«, im das Festhalten an lieb gewordenen Men- nes Stipendiums, das mit einem Aufenthalt Vorübergehen. Machen uns zu »Passanten«. Die »Passage« entstammt schen und Strukturen bestimmt unseren in Istanbul verbunden war, entstand die Alltag, sondern ebenso das Loslassen und Collage »Istanbul up and down«, 2015 eigentlich einer Architekturform des 19. Jahrhunderts. »Sie ist Freilassen, um sich immer wieder neuen (Abb. 2). Im Kontext der Ausstellung charakterisiert durch Eingang, Durchgang und Ausgang und bildet Aufgaben und Verbindungen zuzuwen- »Passagen« erhält die filmische Aneig- ein Verbindungsglied zwischen frequentierten Straßen – eine den. Schlimm ist es, wenn dies zu existen- nung fotografischer Motive eine ganz Abkürzung, die nur dem Fußgänger, dem Passanten, zugänglich ist«, ziellen Traumata führt. neue Bedeutung. Die verwendeten Foto- so Bernadette Malinowski, Inhaberin der Professur für Neuere Deutsche Bei einer ersten Durchsicht der grafien, die die Künstlerin teils gefunden DZ BANK Kunstsammlung zu den The- hat, teils geschenkt bekam und die aus und Vergleichende Literaturwissenschaft an der TU Chemnitz in ihrer mengebieten »Wandel, Veränderung, ganz unterschiedlichen Zeiten stammen, Antrittsvorlesung 2011. Sie steht für den gesellschaftlichen Wandel Passage« haben wir über 1000 Werke zu- setzt sie zu ihrem persönlichen Porträt der im 19. Jahrhundert. sammengetragen. Die Auswahl in unserer Stadt am Bosporus zusammen. Sie verbin- In der Ausstellung »Passagen« geht es uns jedoch weniger um den Ausstellung »Passagen« beläuft sich det mit den Bildern durch ihre Erlebnisse kulturgeschichtlichen oder den ethnologischen Begriff der Passage auf 28. Auch der Weg zur Reduktion und auch durch die Arbeit mit ihnen an- der Kunstgegenstände bis hin zu einer dere Assoziationen als wir. Diejenigen von und seine Interpretationen als vielmehr um Übergänge im Allgemeinen, endgültigen Zusammenstellung lässt sich uns, die schon einmal in Istanbul waren, um Situationen des Wandels, befinden wir uns doch selbst einmal als eine Passage bezeichnen, wie Steffen fühlen sich vielleicht erinnert, andere mehr in einer Phase des gesellschaftlichen Umbruchs. Was sind seine Siegel das in seinem Vorwort so schön begeben sich gedanklich und visuell auf Ursachen und wie werden die Wirkungen aussehen? In jedem Fall nachzeichnet. Eine Passage gemeinsam eine Reise. Warum hat sich Lilly Lulay hinterlassen Übergänge Spuren, im Guten wie im Schlechten. mit anderen Menschen und anhand von gerade für diese Ausschnitte entschieden? Themengebieten: Jeder und jede von uns Warum legt sie die Bilder ausgerechnet musste Vorstellungen aufgeben und hat in dieser Reihenfolge übereinander? Hat Es war wohl vor allem den erschreckenden Geburt, der Eintritt in die Adoleszenz, der dabei neue Erkenntnisse dazugewonnen. dies etwas mit dem zeitlichen Ablauf ihres Wandlungen im Zeitgeschehen wie den Übergang ins Berufsleben oder dann in Jeder und jede hat sich bei der Auseinan- Aufenthaltes zu tun oder verbergen sich Auswirkungen der Klimakrise oder der den Ruhestand spielen in der Ausstellung dersetzung mit den Kunstwerken verän- darin andere, möglicherweise spontane globalen Pandemie geschuldet, dass wir eine eher untergeordnete Rolle. Auch dert, vielleicht sogar gewandelt, und lieb Beweggründe? Was in der filmischen uns eher politischen und gesellschaftlichen Transformationen, die aus biologischen gewordene Überzeugungen aufgegeben. Arbeit sichtbar wird, ist ein Charakter der Passagen zugewendet haben als rein per- Gründen auf uns einwirken, wie die kör- Kurz, wir alle haben viel gelernt. So liefert Stadt. Die häufig vorkommenden Orna- sönlichen. Übergänge des Lebens wie die perlichen Veränderungen im Laufe eines die Ausstellung einmal mehr nur einen mente spielen dabei ebenso eine Rolle 10 Passagen Passagen 11
wie die Farben und Häuser, die Plätze und Straßen. Im Grunde ist die Stadt selbst ein Ort des Übergangs, denn sie liegt be- kanntlich an der Grenze zwischen Europa und Asien. Gleichzeitig erhält Istanbul in einer Ausstellung mit politischen Inhalten eine ganz andere Bedeutung – ist die Stadt gegenwärtig doch der Ort, an dem mögliche Friedensverhandlungen zwi- schen der Ukraine und Russland stattfin- den. Das Phänomen der neuen Konnota tion aus aktuellen Gegebenheiten kennen wir schon aus anderen bildlichen Verbin- dungen. So haben die Umgebung bzw. der Zusammenhang, in dem Kunstwerke Abb. 3 und 4 Beatrice Minda, Dawei, 2015, gezeigt werden, grundsätzlich Einfluss auf aus der Serie: Dark Whispers die Lesart einer Arbeit. Auch Beatrice Minda (* 1968, Mün- chen, Deutschland) hat sich für ihre Serie »Dark Whispers« von 2016 auf die Reise Übergangswohnungen, in den Gebäuden umfängt, wie die »angehaltene Luft« aus begeben. Myanmar, früher auch Birma ausharren (Abb. 1, 3 und 4). Vielleicht tun der Arbeit »Holding My Breath«, 2020 von oder Burma genannt, hat eine lange sie dies, weil die Häuser undichte Dächer Timo Kahlen in dieser Ausstellung, ganz Geschichte der Umbrüche erlebt; teils haben, vielleicht aber auch nur, um sich so, als warteten die Zurückgelassenen auf von außen, durch eine britische und dann eine Höhle zu bauen, in der sie sich sicher den Kuss des Prinzen, der sie aus dem Zu- eine japanische Kolonialzeit im 19. und fühlen können. Selbst wenn Möbel in gro- stand des Wartens befreit. Beatrice Minda 20. Jahrhundert, teils von innen, durch ßen Teilen Asiens eine andere Bedeutung befasst sich nicht zum ersten Mal mit einer Aufstände von einzelnen Volksgruppen haben und nicht so raumgreifend sind Fremde, die durch starke politische Aus des über 135 Ethnien umfassenden wie beispielsweise in Europa, so wirken einandersetzungen und Umbrüche ge- Vielvölkerstaates in Südostasien. Einzige die Häuser doch leer. Andere Motive des prägt wurde. Auch im Iran hat sie Häuser Konstante war die immer wieder durch- sorgfältig angeordneten Tableaus zeigen fotografiert, die im Dornröschenschlaf greifende Militärherrschaft, die die Bevöl- Lagerräume, in denen verstaubte Skulptu- zu ruhen scheinen. Biografisch ist es nicht kerung nach der Wahl 2020 wieder ver- ren und Gegenstände schon lange darauf verwunderlich, dass sich die Künstlerin stärkt zu kontrollieren begann. Die Orte, zu warten scheinen, wieder ans Licht und mit Übergangsorten beschäftigt, haben die Beatrice Minda 2016 besuchte, wirken ins Leben geholt zu werden. Unweigerlich doch auch ihre Eltern ihre Heimat Rumäni- Abb. 2 wie aus »Tausendundeiner Nacht«. Es sind fragt man sich, ob die Besitzer wohl zu- en verlassen. Als Kind hat Beatrice Minda Lilly Lulay, Istanbul up and down, Häuser und Wohnungen, die keiner Ver- rückkehren werden. Die Künstlerin hat die die Herkunftsorte ihrer Eltern bei Besu- 2015 (Detail) änderung unterworfen zu sein scheinen. Flure und Fenster, die Türen und Fluchten, chen immer wieder auch deswegen als Sie scheinen zu ruhen, ja zu schlafen. Sie die in der Kunstgeschichte sämtlich als heil erlebt, weil sie dort Menschen begeg- scheinen entleert. Viele Menschen haben Übergangsräume verstanden werden, so net ist, die ihr nahe waren, die eine ähn ihre Wohnorte verlassen. Zurück bleiben fotografiert, als würden sie in die Ferne liche Vergangenheit hatten und mit denen Einzelne, die zum Beispiel in Zelten, also weisen. Gleichzeitig wirkt die Stille, die sie sie sich verbunden fühlte. In »Dark Whis- 12 Passagen Passagen 13
Material eingeschrieben. Manfred Paul, scheint Timo Kahlen die Konsequenzen der selber Bürger der DDR war, wollte die eher leicht zu nehmen, wendet er sich Erinnerung wachhalten. Nicht etwa aus doch dem Spiel mit Seifenblasen zu. nostalgischen Gründen, sondern vielmehr Immer wieder pustet er durch den Kunst- aus Gründen der möglichen Verarbeitung stoffring und lässt die entstehenden einer Staatsform, die 40 Jahre lang die Blasen mal kleiner, mal größer werden Geschicke der dort lebenden Bevölkerung oder bringt sie zum Platzen. Auch diese und auch die Geschichte aller Deutschen Größenveränderung der Seifenblasen kann und Europäer geprägt hat. Ihm war wohl man auf die Pandemie beziehen, die im bewusst, dass mit dem Einreißen der weiteren Verlauf des Sommers abnahm, Mauer die Erfahrungen nicht ebenso ver- um dann im Herbst und Winter wieder schwunden sein würden. Auch ließe sich anzuschwellen und alle erneut in ihren fragen, was beide Seiten voneinander Bann zu ziehen. Was auf den spiegelgleich hätten lernen können und sollen. Immer- reflektierenden Seifenblasen in Erschei- hin erleben wir heute, nach über 30 Jah- nung tritt, ist das Umfeld des Künstlers, ren der Wiedervereinigung, eine andere die Wohnung, sein Schutzraum. Man kann Verarbeitung der Geschehnisse, die in das Zimmer, die Möbel und den Künstler Ausstellungen und Veranstaltungen des selbst deutlich erkennen. Die Spiegelung Endes der DDR gedenkt und danach fragt, wird zum Brennglas und dient hier auch ob die überhasteten Ereignisse 1989/90 als Instrument der Selbstreflexion. Wie einer integrativen Aufarbeitung womög- gehe ich mit dem verordneten Rückzug lich entgegenstanden. Die politischen und der Bedrohung von außen um? Abb. 5 Konsequenzen der überstürzten Verbin- Als über den Film gelegte Klangstruktur Timo Kahlen, Holding My Breath, 2020, aus der Serie: Arbeiten mit Wind, 1989–2021 (Detail) dung beider deutscher Staaten erleben vernehmen wir das Schnurren eines Katers wir bis heute. oder einer Katze, das durch eine erhöhte Mit »Holding My Breath«, 2020 be- Atemfrequenz ausgelöst wird. Das Tier pers« wird spürbar, wie sehr das Auf tenden Abbau der Mauer dokumentieren zeichnet Timo Kahlen (* 1966, Berlin, mag es genossen haben, dass seine Mit- brechen aus einer vertrauten Umgebung (Abb. 15–18). Es kam ihm fast so vor, als Deutschland) seinen Film, den er während bewohner mehr zu Hause waren und sich ein Leben prägen kann, sowohl derjeni- solle so schnell wie möglich unsichtbar des ersten Corona-Lockdowns aufgenom- so intensiver um es kümmern konnten. gen, die gegangen sind, wie auch jener, werden, was niemals hätte sein sollen, men hat (Abb. 5). Das Anhalten des Atems Auch das ein Phänomen, das sich auf die die zurückbleiben. Ja es wirkt sogar in die wurde doch die Mauer innerhalb nur ließe sich gleichermaßen auf die Aerosole Pandemie beziehen ließe und das vielleicht nächsten Generationen hinein. Wie wäre weniger Wochen abgerissen. Was man beziehen, die als primärer Übertragungs- nicht nur die Katze des Hauses als ange- ihrer aller Leben verlaufen, hätten sie passivisch als den »Fall der Mauer« be- weg der Pandemie identifiziert wurden, nehm empfand – wobei es auch nicht bleiben können? zeichnet, war also ganz im Gegenteil ein wie auf die Unbeweglichkeit, die mit dem wenige Geschöpfe gab, die unter den Die Polaroids von Manfred Paul aktiver Akt der Zerstörung. Der Künstler Ausbrechen von Corona verbunden war einengenden Bedingungen gelitten haben (* 1942, Schraplau, DDR) führen uns an die hielt ihn in als vergänglich und proviso- und die für zwei Jahre die ganze Welt zu mögen. deutsch-deutsche Grenze und zum Zusam- risch geltenden Polaroids fest, die er mit einem Umdenken zwang und immer noch Die sehr poetisch anmutende Arbeit menbruch der DDR, einer Passage, die bis dem Datum und der Uhrzeit der fort- zwingt. Die Bewegungsmöglichkeiten »Wait and See«, 2022 von Françoise heute nachwirkt. Mit »Mauerfall«, 1990 schreitenden Ereignisse bezeichnete. So wurden massiv eingeschränkt, die globale Cartier (* 1952, Tavannes, Schweiz) und wollte der Künstler den rasant fortschrei- ist das Flüchtige schon in das verwendete Welt kam gleichsam zum Erliegen. Dabei Daniel Cartier (* 1950, Biel, Schweiz) 14 Passagen Passagen 15
nicht nachzuvollziehen und beeinflussen Ein Erkenntnisprozess vollzieht sich auch doch unser Leben. »Erst wenn digitale beim Betrachten der Arbeit »Subtraction Produktionsprozesse wie Belichtungs as Addition«, 2012 von Raphael Hefti parameter und Blendenzahl in der analo- (* 1978, Boudevilliers, Schweiz). »Weg gen Fotografie für den Normalbürger nahme durch Zugabe« – so ließe sich sein ›durchschaubar‹ werden – erst wenn Ziel- absurd erscheinender Titel übersetzen. setzungen der verwendeten Algorithmen Durch das Aufdampfen einer Beschich- wie physikalische Gesetze vollständig tung wird dem Glas der reflektierende ›nachvollziehbar‹ werden, kann jeder eine Charakter genommen, da die Lichtbre- Entscheidung über Richtig und Falsch chung verändert wird. Derart beschichtete treffen. Bis dahin bleiben viele Menschen Scheiben kommen vor allem bei der Ver- nur unmündige Mitläufer in der digitalen glasung von hochwertigen Kunstwerken Revolution.« – so die Aussage des IT-Ex- zum Einsatz oder werden für Objektive perten Ludger Freitag während einer und andere Werkzeuge der Optik verwen- dialogischen Kunstführung im Rahmen det. Für seine Arbeiten nutzt der Künstler unserer diesjährigen Frühjahrsausstellung. eigens für ihn hergestellte Glasscheiben, Abb. 6 Raphael Hefti, From the series: Das Künstlerpaar Françoise und Daniel die er zigfach beschichten ließ. Dadurch Subtraction as Addition, 2012, Cartier konfrontiert uns somit nicht nur hebt sich nicht nur der antireflexive Effekt aus der Serie: mit nostalgisch Schönem, sondern auch auf, es werden auch Farben sichtbar, die Subtraction as Addition, 2012–2018 (Rückseite) mit der Zeitenwende, der Passage zwi- ausschließlich durch die Brechung des schen einer analogen und einer digital Lichts entstehen (Abb. 6). Damit führt uns Abb. 7 (rechte Seite) gesteuerten Welt, die uns einen anderen der Künstler vor Augen, dass Farben keine Christian Boltanski, Les Ombres, 1986, Zugang zu alltäglichen Mechanismen Substanzen sind, sondern mit der Licht- Foto: Rudolf Nagel abverlangt. brechung und der Funktion unseres Seh- führt uns die Vergänglichkeit vor Augen, auch ihre Farbigkeit. Wer sich an die ent- der alle Dinge und Lebewesen unterste- wickelten Filme der 1970er und 1980er hen. Unter Verwendung von unbelichteten Jahre erinnert, weiß um diese unterschied- analogen Fotopapieren aus dem 19. und lichen Farbtöne, hatten doch die Filme von frühen 20. Jahrhundert, die sie meist auf Agfa eine andere Anmutung als die von digitalen Plattformen finden und bestel- Kodak oder Fuji. Je länger die Fotopapiere len, präsentiert das Künstlerpaar ein dem Licht ausgesetzt sind, desto dunkler Tableau, das uns die Vielfältigkeit eines werden sie, wobei der Prozess irgendwann Materials vor Augen führt, das es auf- zu einem Stillstand kommt, was seinerseits grund der digitalen Entwicklung heute die Verschiedenheit der Papiere dokumen- immer weniger gibt (Abb. 14). Nicht nur tiert. Die heute vorherrschenden digitalen die Größe der Papiere variiert, sondern Prozesse sind für die meisten Menschen 16 Passagen Passagen 17
apparates zusammenhängen. Unter einem gen unserer Vorfahren in die nächsten anderen Winkel betrachtet, ändert sich Generationen hineinwirken. Je einschnei- die Farbmischung auf dem Glas. Den dender sie waren, desto unerbittlicher meisten nichtmenschlichen Lebewesen klopfen sie bei uns an und möchten be- bleibt dieses Phänomen verborgen. wusst betrachtet und verarbeitet werden. Der Vorgang des Sehens wird bei Die Arbeit »Ohne Titel«, 1993 aus der Serie Raphael Hefti zu einem physikalischen »L’Ombre Blanche« ist eine von zahllosen Prozess und somit zu einer Passage der Variationen, in denen der Künstler sich Erkenntnis. Auch die Kamera verdankt ihre mit Schattenbildern auseinandergesetzt Funktion physikalischen Phänomenen. hat (Abb. 20). Sein Theater der Schatten Wie von Geisterhand wird in einer Camera (»Théâtre d’ombres«) hat er an zahlreichen obscura die Umwelt durch die Brechung Orten präsentiert, wie beispielsweise auch des Lichts auf dem Kopf stehend abgebil- im Museum für Moderne Kunst in Frank- det. So hinterlässt das Licht, das durch ein furt am Main in der Rauminstallation kleines Loch in das Innere der ›Kammer‹ »LES OMBRES« von 1986 (Abb. 7). eindringt, ein Bild der Außenwelt an der Kleine Metallfiguren werden hier mit- gegenüberliegenden Wand. Raphael Hefti hilfe eines Teelichts von unten beleuchtet ist ein Analytiker. Er will die Funktionen und an die Wand projiziert. Durch die verstehen und für uns Betrachtende sicht- Bewegung der Flamme tanzen die Figuren bar machen. So verwendet er bei jeder an der Wand und rufen Assoziationen Arbeit ein anderes Verfahren, das sich an asiatische Schattentheater und ihre aber immer wieder mit physikalischen märchenhaften Erzählungen wach. In Gesetzen auseinandersetzt. Das kommt der Serie »L’Ombre Blanche« werden die sicher nicht von ungefähr. Raphael Heftis schwarzen Schatten umgekehrt, indem Vater ist Physiker. Vielleicht hat es den Christian Boltanski sie als Fotogramme auf Künstler ja bereits als Kind interessiert, einem großformatigen Film belichtet hat. die Physik erlebbar und dadurch nachvoll- Sie erinnern zugleich an archaische Tänze, ziehbar zu machen. mit denen beispielsweise versucht wird, Schatten und Geister begegnen uns Kontakt zum Jenseits aufzunehmen. in vielfachen Variationen in dieser Ausstel- »Man stirbt jeden Tag. Man verliert jeden lung, und das nicht nur bei Christian Moment etwas«, erklärt der Künstler in Boltanski (1944–2021, Paris, Frankreich). einem seiner vielen Interviews. »Was mich Es sind unsere eigenen Schatten, mit de- am Tod interessiert, ist dieses Verschwin- nen der Künstler uns konfrontieren möch- den. Die Umwandlung in etwas Namen te, Schatten, die ebenso durch persönliche loses.« Erfahrungen hervorgerufen werden wie Wie Christian Boltanski beschäftigen durch gesellschaftliche Prozesse, die uns auch Stephan Schenk (* 1962, Stuttgart, aus der Gegenwart und der Vergangenheit Deutschland) die Namenlosen, was er mitgegeben werden. Christian Boltanski in seiner Serie »Kreuzweg«, 2011/12 zum weiß, dass die Erlebnisse und Erinnerun- Ausdruck bringt (Abb. 8). Es sind die un- Abb. 8 Stephan Schenk, Tannenberg, 2012, aus der Serie: Kreuzweg 18 Passagen
zähligen namenlosen Soldaten des Ersten Die Feuerwerke von Sandra Kranich fackelns filmen. In der Ausstellung laufen Es heißt, das Kleidungsstück sei dem Weltkriegs, von denen auch sein Großvater (* 1971, Ludwigsburg, Deutschland) die Filmstreifen rückwärts, so dass die König vorbehalten gewesen, wenn dieser einer war. Er kämpfte auch im Zweiten muten dagegen harmlos an. Sie erzeugen zerstörten Bilder wieder auferstehen. Hof hielt, »um zweifelhafte Wahrheiten zu Weltkrieg, den er nicht überleben sollte. keinen Schmerz. Doch auch sie haben mit Ein Feuerwerk, das Sandra Kranich 2012 widerlegen«. Das Kleidungsstück dient Auf diese Weise verlor der Vater von Zerstörung – oder ihrer Umkehrung – zu in Zürich inszenierte (Abb. 9), brannte also der Verwandlung der Funktion einer Stephan Schenk seinen eigenen Vater. Wie tun. Die Künstlerin hat sich von Anfang nicht in der geplanten Weise ab, so dass Person, ähnlich wie die Talare, die einen auch bei Christian Boltanski ist diese Arbeit an mit Konstruktion und Dekonstruktion schon auf dem zweiten Motiv ihrer Serie Richter dazu befähigen sollen, Recht zu eine sehr persönliche: Sein alter Herr habe beschäftigt und nimmt sich dazu immer »Firework 8.6.2012, 23.9.2012«, 2012 eine sprechen. Die alten Techniken hat die nie gesprochen, berichtet der Künstler wieder auch den Weltraum zum Vorbild. große, kosmisch wirkende Explosion zu Künstlerin um neue Materialien wie reflek- über die Wahrnehmung seines Vaters. Das hat sie sich von den Chinesen abge- sehen ist, während die Bildteile drei und tierende und leitfähige Fäden sowie Ara- Ein Schweigen, das fast alle Überlebenden schaut, die das All in ihren Feuerwerken vier dagegen wie ein verglühender Vulkan mide (eine spezielle Textilfaser) ergänzt. von Kriegen befällt, als könne man für das verehrten und versuchten, es durch in Erscheinung treten. Anschließend Man kann die Arbeit »Liar’s cloth (guileless Grauen keine Worte finden und als sei das Nachahmung zu verstehen. Hier wird das presste die Künstlerin die Überreste der note)« auch als Aufforderung verstehen, Alltägliche zu profan, um es in Sätze zu Schwarzpulver nicht zum Töten von Men- zu einem Haufen gestapelten und abge- sich angesichts des sogenannten postkolo- bannen. Der Künstler hat die Schlacht schen verwendet, sondern es werden Fra- brannten ›Montage-Dosen‹ zusammen mit nialistischen Zeitalters zu aktuellen Fragen felder des Ersten Weltkrieges besucht und gen gestellt: Wie ist der Kosmos zu verste- denen der Knallkörper und Zündschnüre zu positionieren. Welche Rolle kann und von den Bauern vor Ort erfahren, dass sie hen? Welche Phänomene erwachsen aus zu der Skulptur »Compact Time«, 2012 soll Afrika in der Weltgemeinschaft spie- auch noch nach 100 Jahren menschliche ihm? Welche Ordnung liegt ihm zugrunde? (Abb. 10). In dieser ist nicht nur die Zeit, len? Es ist ein Kontinent, der durch die Ein- Knochen im Boden finden. Es könnten die Mit Fragen wie diesen setzt sich Sandra sondern auch die Energie gespeichert, griffe der westlichen Welt zahlreiche Wun- Gebeine für die Knochenmänner von Kranich in Form von Zeichnungen bereits die das Feuerwerk abgegeben hat. Wie den davongetragen hat, sei es durch seine Christian Boltanski sein. Einige der Silber- seit ihrem Studium auseinander. Eine Françoise und Daniel Cartier geht es auch Ausbeutung oder durch den Einfluss auf gelatineabzüge hat Stephan Schenk von Ausbildung zur Pyrotechnikerin befähigt Sandra Kranich um die unabänderliche die Staatslenker, die als Marionetten nicht einer belgischen Firma in Tapisserien über- sie dazu, Feuerwerke zu planen und die Vergänglichkeit. Ganz wie die Fotopapiere selten gegen ihre eigene Bevölkerung tragen lassen. Belgien hat eine lange Tradi- Sprengkörper geordnet abbrennen zu las- in den schönsten Farben leuchten, bevor agierten. tion in der Herstellung von Gobelins, die sen. Dabei baut sie zunächst Skulpturen, sie durch den Einfluss des Lichts verdun- »Eine Reise durch Europa, von Calais schon im Mittelalter nicht selten von den an denen die Böller befestigt werden. In keln, verglühen auch die strahlenden nach Idomeni«, so beginnt Sven Johne Heldentaten der Könige und Fürsten auf ihrer Formensprache bezieht sie sich dabei Feuerwerkskörper. (* 1976, Bergen auf Rügen, DDR) seinen ihren Kreuzzügen berichteten. Diese Tradi- immer wieder auf konstruktivistische Ver- Das Tuch, das Gwenneth Boelens Text über das 2017 entstandene Tableau tion nimmt Stephan Schenk auf und ver- satzstücke. Da lag es nahe, sich auch mit (* 1980, Soest, Niederlande) als Foto- »47 Faults between Calais and Idomeni« bindet sie mit Schauplätzen kriegerischer dem neokonstruktivistischen und früh ver- gramm direkt auf das Fotopapier belichtet auf seiner Webseite (Abb. 12). Diese Auseinandersetzungen. Dabei ist das Erleb- storbenen brasilianischen Künstler Hélio und entwickelt hat, wird als »Liar’s scheinbar lapidaren Worte beziehen sich nis in der Weberei nachhaltig: Die mit den Oiticica (1937–1980) zu befassen. Es wur- cloth (guileless note)«, 2015 bezeichnet auf eine Reise, die man auch als Horrortrip Fäden bestückten Schiffe werden mit einer de erzählt, dass ein Großteil seiner Grafi- (Abb. 11). Es ist ein Umhang, der seinen bezeichnen könnte. Die »47 Faults« ließen solchen Geschwindigkeit durch die bis zum ken bei einem Brand seines Kunstlagers Träger in die Lage versetzen soll, Lügner sich mit Schuld, Mangel, Störung, Ver- Bersten gespannten Kettfäden geschossen, zerstört worden sei. Das nimmt Sandra zu entlarven. Das Vorbild zu diesem schulden, Verwerfung, Defekt, Bruch, dass der Lärm, der dabei entsteht, an das Kranich zum Anlass, sie wieder erstehen Mantel (»nkontomo ntama«) stammt aus Schwäche, Störstelle, Abschiebung über- Maschinengewehrfeuer auf dem Schlacht- zu lassen. In ihren Filmen »Back 1–4«, dem 19. Jahrhundert und wurde einer setzen und alle diese Begriffe könnten feld erinnert. So nimmt selbst die Produk 2010 hat sie vier grafische Motive ihres westafrikanischen Webtechnik nachemp- zutreffender nicht sein. »Auf meinem Weg tion der Wandteppiche das ohrenbetäu- Vorbilds mit Hilfe einer Zündschnur ›nach- funden, die bis in die Zeit des Aschanti- (entlang) dieser 47 Fehler: zugeschüttete bende Gedonner des Krieges wieder auf. gezeichnet‹ und ließ den Prozess des Ab reichs (das heutige Ghana) zurückreicht. Schützengräben und Bombenkrater, abge- 20 Passagen Passagen 21
Abb. 9 (links) Sandra Kranich, Firework 8.6.2012, 23.9.2012, 2012 (Detail), Foto: Maren Kindler Abb. 10 Sandra Kranich, Compact Time, 2012, aus der Serie: Compact Time 22 Passagen Passagen 23
baute oder immer noch existierende genommen an Orten der Flucht. Richard Grenzanlagen, ehemalige Munitionsde- Mosse haucht den Böden, die der gesenk- pots, verlassene Kasernen, nationalistische te Blick von Sven Johne einfängt, mensch- Denkmäler. Paradeplätze, ehemalige liches Leben ein. Dabei wirken die monu- Konzentrationslager, Orte von Massakern. mentalen Aufnahmen wie »Yayladagi, Ruinen und Gräber. Das gemeinsame Erbe Turkey«, 2017 zunächst wie gigantische von Europa hat sich nicht nur in die Gesell- Zeichnungen nahezu idyllischer Land- schaften und persönlichen Biografien ein- schaften. Erst bei eindringlicher Betrach- geschrieben, sondern auch in Backsteine tung erkennt man das Camp, das sich im und Granit, in Asphalt und Beton. Der Tal an den Berg zu schmiegen scheint. Boden hat ein Gedächtnis. Eine Reise Die Menschen, die sich dort aufhalten, durch Europa, vom (französischen) Calais werden auf dem Film weiß abgebildet. bis zum (griechischen) Idomeni.« Es ist Sie tarnen sich also nicht in der Dunkel- eine Route, auf der die flüchtenden Syre- heit; ihre ausströmende Wärme macht sie rinnen und Syrer in umgekehrter Richtung sichtbar, verrät ihre Gegenwart. Richard ihren Weg nach Europa zurückgelegt Mosse geht immer wieder in Krisen haben. »Auf meinem Weg (entlang) dieser gebiete und wendet dort fotografische 47 Verschulden: 3.407 gefahrene Kilome- Verfahren an, die die Perfidität der ter, kein Auge für die Umgebung oder die Geschehnisse unterstreichen. Wo Wärme- Menschen, auch nicht für ihre Schönheit. bildkameras eingesetzt werden, können Die Kamera wird nur auf den Boden ge- sich die Menschen auf der Flucht nicht richtet, auf die früheren und zukünftigen verstecken. Selbst in den verborgensten Schlachtfelder.« Denn, wie Sven Johne Winkeln, in denen sie Zuflucht suchen, schreibt, auch der Boden hat ein Gedächt- werden sie ausgemacht. nis, was wir bereits bei Stephan Schenk Mit Richard Mosse schließt sich zu- erfahren durften. Beide Künstler richten gleich der Kreis der präsentierten Künstle- ihren Blick nach unten, auf die Erde. rinnen und Künstler. Mit seiner Aufnahme Wie kann man das Grauen abbilden? kehren wir zurück in die Türkei, mit deren Und als hätten sie es geahnt, finden in Hauptstadt Istanbul wir anhand von Lilly unmittelbarer Nähe der alten Stationen Lulays Collage »Istanbul up and down«, heute neue Gräueltaten statt, die die 2015 gestartet sind. Und so gerät die Abb. 11 endlose Serie von verstümmelten Orten Ausstellung am Ende zu einer Rundreise. Gwenneth Boelens, Liar‘s cloth (guileless note), 2015 fortschreiben und Menschen einmal mehr Wir kehren noch einmal in ein Land zu- zur Passage zwingen, zum Aufbruch ins rück, das sich – wie so viele andere auch Ungewisse. – in einer Passage befindet. Politische und Das Konvolut aus fotografischen und gesellschaftliche Umbrüche prägen die filmischen Aufnahmen, das Richard Türkei seit vielen Jahren. Auch hier Mosse (* 1980, Kilkenny, Irland) mit dem mussten Menschen ihre Heimat verlassen. Titel »Heat Maps« versehen hat, wurde Es bliebe zu hoffen, dass das Flüchten mit Wärmebildkameras erzeugt (Abb. 21). zugunsten des Reisens irgendwann ein Die Szenen geschossen und die Filme auf- Ende hat. 24 Passagen Passagen 25
Zusammen mit den Teilnehmerinnen und F&D Cartier bis hin zu den dokumentari- entscheidende Rolle, wie der Einsatz der dass auch die Hoffnung sichtbar wird, Teilnehmern des Seminars »Passagen« im schen Erzählstrukturen bei Sven Johne und Wärmebildkamera von Richard Mosse und die in der Zusammenstellung der Werke Wintersemester 2021/22 an der Folkwang Beatrice Minda. Sie wird von filmischen die Polaroids von Manfred Paul zeigen. mitschwingt. Denn in der Auseinander Universität der Künste unter Leitung von Momentaufnahmen wie bei Timo Kahlen Jedes Material untermauert dabei eine setzung mit den Themen liegt immer auch Steffen Siegel haben wir als Kunststiftung und Lilly Lulay bis hin zur Philosophie des andere inhaltliche Struktur und unter- der Wunsch, die Verhältnisse, die uns DZ BANK einmal mehr versucht, neben Fotografischen bei Raphael Hefti gedacht. streicht die Erzählungen der Autorinnen gegenwärtig so beunruhigen, besser einer Erzählung, die mit den Motiven Sie schließt Plastiken von Sandra Kranich und Autoren. zu verstehen. Vielleicht hinterlässt diese einhergeht, auch die Geschichte der genauso ein wie die Tapisserien von Abschließend möchten wir Steffen Ausstellung ja bei dem einen oder der fotografischen Materialvielfalt in den Stephan Schenk oder die kameralosen Siegel und all seinen Studentinnen und anderen eine Spur. Eine Spur im guten, Blick zu nehmen. Sie reicht in dieser Aus- Fotografien von Gwenneth Boelens und Studenten Danke sagen. Das Ergebnis im besten Sinne. stellung von den malerischen Farbverläu- Christian Boltanski. Dabei spielen immer der Ausstellung hat sich als erschreckend fen der Fotopapiere des Künstlerpaares wieder auch fotografische Verfahren eine aktuell erwiesen. Bleibt zu wünschen, Abb. 12 Sven Johne, 47 Faults between Calais and Idomeni, 2017 26 Passagen Passagen 27
Abb. 13 Beatrice Minda, Daungyi, 2016, aus der Serie: Dark Whispers 28 Passagen Passagen 29
»Daungyi«, 2016 Sarah Gramotke und Özlem Arslan Ich schaue dich an, du ziehst mich hinein. Eine Ruine wie ein Fantasma hinter grünblauem Monsun-Schleier. Du bist wie ein altes Buch. Aufgetürmter Koloss, gleich dem British Empire? Und ich blättere in deinen vergilbten und eingeknickten Seiten. Welche Geister atmen mit dir? Welche Geschichten sind es, die du mir erzählen willst? Unsichtbare Stimmen soufflieren Fragmente menschlichen Seins. Ich laufe durch die menschenleeren Räume und erblicke all die verstaubten Gegenstände. Sie offenbaren mir Rudimente der Vergangenheit. Ist zerrinnende Pracht ein Durchbruch des Scheins? Ihre hinterlassenen Narben beschwören Gespenster mit vielsagenden Blicken herauf. Eingefärbte Erinnerungen derer, die dich verlassen haben. Ich werde verfolgt von ihrem Geflüster. Doch wie viele Staubschichten kannst du tragen? Ihre Stimmen folgen mir überallhin. Dich in die Passage der unaufhaltsamen Zeit wagen? Gehüllt in Schatten, gehüllt in Dunkelheit. Wovor versteckst du dich? Was ist es, das sie mir erzählen wollen? Ist es das Licht, das deine wahren Farben zeigt? Sind es Geschichten aus einer versunkenen Vergangenheit? Ist es das unaufhaltsame Spurenschreiben der Zeit? 30 Passagen Passagen 31
Zu F&D Cartier, Wait … »Wait and see«, 2022 Marie Lansing Max Beck Vor einigen Jahren bin ich auf eine alte Fotografie gestoßen, die eine Straßenecke in Warten – ein ungeliebter Zustand. In einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft, in der Halberstadt zeigt. Es war erstaunlich zu bemerken, wie gut ich mich in diese Situation jede Verzögerung verhindert, jede Minute, jede Sekunde effizient genutzt werden soll, einer unbestimmten Vergangenheit versetzen konnte. Klirrendes Geschirr ist aus den ist das auferzwungene Warten für die meisten Menschen ein Zustand, der Nervosität Fenstern der Fachwerkhäuser zu hören und das Klackern von Pferdehufen auf dem und Unzufriedenheit auslöst. Kopfsteinpflaster hallt durch den Raum. Die Straße ist menschenleer, die Geschäfte Warten ist Verlust. Verlorene Zeit. sind geschlossen. Langsam gehe ich an der feucht riechenden steinernen Fassade des Wir wollen immer mehr in immer weniger Zeit erreichen, erfahren, erleben. Wo mittelalterlichen Gebäudes vorbei. Die Luft ist kalt und ich lausche meinen Schritten. immer es also möglich ist, versuchen wir, das Warten zu umgehen oder so kurz wie nur Häufig habe ich mich gefragt, warum mir das Erleben dieser Stimmung durch das unbedingt nötig anzuhalten. Während des Wartens werden wir auf uns selbst zurück Bild klarer erscheint als beim wirklichen Entlanggehen einer Straße. geworfen. Wir müssen uns aushalten – mit all unseren Gedanken und Gefühlen. Kein Während des Betrachtens der Fotopapiere, die sich extrem langsam und dadurch Wunder, dass wir am liebsten jede Sekunde, die leer zu bleiben droht, mit Beschäfti- unbemerkt verändern (Abb. 14), bin ich Teil des fotografischen Prozesses. Kein Raum, gung füllen wollen. keine Gegenstände sind zu erkennen, und so gibt es auch nicht die Möglichkeit, mich in Dank unseres Smartphones ist das mittlerweile auch problemlos möglich, es bietet einen vergangenen Moment zu versetzen. Die Zeit steht nicht still – der Blick kann sich eine unerschöpfliche Unzahl an Beschäftigungsmöglichkeiten. So können wir schon nicht an einem Ausschnitt erfreuen. auf dem Weg zur Arbeit E-Mails beantworten oder uns auf Social-Media-Kanälen bis ins Das Blau ist schön und draußen rauschen die Autos über die Straße. Unendliche scrollen. Gleichzeitig streben wir nach mehr Zeit für uns selbst, nach Entspannung und Erholung – nach Entschleunigung. Freie Zeit wird zum Luxusgut, während zeitgleich das Leben immer schneller zu werden scheint und es immer schwieriger wird, das Tempo zu halten. Doch liegt nicht die eigentliche Intention dieses geschäftigen Treibens gerade darin, irgendwann einmal langsam sein zu dürfen? Warum ist uns das Warten dann so sehr verhasst? Ist es nicht paradox, dass diese vehemente Vermeidung von auferlegten Warte-Pausen letztlich ein Pausieren zum Ziel hat? Sind es nicht gerade diese vermeint lichen Zwangspausen, die es uns ermöglichen, in unserer von Effizienz getriebenen Lebenswelt für einen Moment zur Ruhe zu kommen? … and see 32 Passagen Passagen 33
Erblindende Papiere Malte Radtki Fotografien zirkulieren und migrieren, sie werden verteilt, gehandelt und repro- duziert. Dabei unterhalten fotografische Bilder ein prekäres Verhältnis zu ihren Trägermaterialien. Bild und Träger bewe- gen sich in unterschiedlichen Geschwin- digkeiten. Immateriell gehen Bilder den Objekten voraus, überholen und überle- ben diese. Als Objekte wiederum über dauern Fotografien, bezeugen vergangene Abb. 14 und vergessene Gebrauchswerte und F&D Cartier, aus der Serie: Wait and See, tragen ihre Bilder in neue Kontexte. 1998 – fortlaufend, Foto: Daniel Cartier Das Schweizer Künstler:innen-Duo F&D Cartier insistiert auf dieser Spaltung. Für die ortsspezifischen Installationen der Werkgruppe »Wait and See«, 2022 wer- Bereits mit fortschreitendem Alter nimmt gewinnen die instabilen Blätter an ästheti- Projektionsfläche zur Reflexion all jener den einzelne Bögen Silbergelatinepapier, die Empfindlichkeit von fotochemischem scher Autonomie. Das Glas des Fensters – Bilder einlädt, die sich dort hätten mate ohne belichtet, entwickelt und fixiert zu Material ab. Das Potenzial, zum Träger um jene Metapher aufzugreifen, die die rialisieren können: die künstlerischen wie werden, im Raum montiert und mit Aus- zirkulierender Bilder zu werden, erlischt Fotografie seit ihren Anfängen begleitet die profanen. Die Bilder des Alltäglichen stellungsbeginn dem Umgebungslicht jedoch spätestens im abrupten Moment – ermattet und rückt dabei selbst in den wie die des Besonderen und der Kata- ausgesetzt (Abb. 14). Die Papiere, die der vollständigen Belichtung. Langsam, Fokus. In einer Geste der Verweigerung strophe. Jene, die für die Öffentlichkeit sie dafür zusammengetragen haben, aber unaufhaltsam setzt ein Verände- scheinen Bild und Träger vollends geschie- bestimmt waren, genauso wie die privaten überspannen einen Zeitraum von 110 rungsprozess ein. Die Papiere beginnen den. Und doch bewahrt das Material eine und intimen. Die propagandistischen wie Jahren Zeit-, Medien- und Bildgeschichte: mit dem Licht zu reagieren, sie verdunkeln Potenzialität. Die fotografischen Bilder die emanzipatorischen, die gewaltvollen Die ältesten wurden 1890 produziert, sich und nehmen individuelle Farbtöne an. zeigen sich beharrlich. Sie huschen als wie die verbindenden. Die Bilder der Täter die jüngsten im Jahr 2000. Von der Verpflichtung abzubilden befreit, Geister über das erblindete Papier, das als und die Bilder der Opfer. 34 Passagen Passagen 35
Abb. 15 und 16 Abb. 17 und 18 Manfred Paul, Mauerfall 1 und 2, 1990 Manfred Paul, Mauerfall 6 und 9, 1990 Überlieferungen Demgegenüber kommt bei Beatrice aus verschiedenen fotografischen Träger- Mindas Serie »Dark Whispers«, 2016 die materialien, Entstehungszeiträumen und Vergangenheit als etwas bereits Abge- Urheber:innen ein. Aber wenn sich im des Übergangs schlossenes ins Bild (Abb. 1). Die oft aus dunklem Teakholz errichteten Gebäude Verlauf der Videoarbeit die im Postkarten- format gehaltenen Stadtansichten von mit ihrer pittoresken ruinenhaften Anmu- prägenden Ornamenten, Bauten und Dortje Fink tung datieren allesamt aus der Zeit des Strukturen überlagern und durchdringen, Kolonialismus in Myanmar und sind trotz so tun dies die ihnen innewohnenden ihrer kulturellen Hybridität vornehmlich Bedeutungsschichten ebenfalls. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, und Brachen entlang der Mauer in Berlin, Relikte einer gewaltvollen Zeit der Fremd- Durch ihren historischen Bezug über postkoloniale nationalstaatliche Unab wo sich noch kurz zuvor der Todesstreifen bestimmung. Zwar wirken die menschen- liefern die drei verschiedenen Arbeiten hängigkeit, historische Regimewechsel – befand. Mit einem Vermerk zu Datum leeren Räume, als wäre in ihnen die Zeit allesamt Bilder des Übergangs – ob nun Übergänge von einem politischen System und Ort auf jeder Sofortbildfotografie stehengeblieben, aber sobald die improvi- als Bruch wie bei Manfred Paul, als schlei- in ein anderes sind Veränderungen, die archiviert er die urbanen Relikte eines sierten Schlafplätze der Bewohner:innen chender Prozess wie bei Beatrice Minda den Menschen, anders als physische oder gerade erst zusammengebrochenen politi- ins Bild kommen (Abb. 4), wird der oder als Palimpsest wie bei Lilly Lulay. seelische Transformationsprozesse, von schen Systems und den damit verlorenen Kontrast zwischen heutiger Nutzung und Dabei werden die Fotografien selbst zu außen widerfahren. Solche historischen Schrecken des symbolhaften Bauwerks. historischem Verweischarakter des Ortes historischen Quellen und sind zugleich Passagen bzw. Momente des politischen Dass er sich eines fotografischen Verfah- offenkundig. aktiv an der Konstruktion von geschicht Wandels werden auch in drei Arbeiten rens bedient, das wie kein anderes für die Unter anderen Vorzeichen treffen lichen Narrativen beteiligt. dieser Ausstellung auf ihre jeweils eigene unmittelbare Verhaftung im Moment der auch in Lilly Lulays Bewegtbildcollage Weise greifbar. Aufnahme steht, unterstreicht den Vor- »Istanbul up and down«, 2015 verschiede- So streift etwa in der Serie »Mauer- satz, die unaufhaltsamen und geschichts- ne Zeitebenen aufeinander (Abb. 2). fall«, 1990 (Abb. 15–18) der Fotograf trächtigen Veränderungen vor seinen Zwar schreibt sich der mitunter klischee- Manfred Paul durch die Straßen, Wege Augen festzuhalten. behaftete touristische Blick in den Mix 36 Passagen Passagen 37
Wir alle erwarten Antworten Tabea Funke und Deborah Herber Die Passage des Spiegels ist die Reflexion. Ein Spiegel ist nie einfach am Glas unsichtbar gemacht. Doch der Spieglein, Spieglein nur ein Spiegel, sondern steht in Abhängigkeit zu dem, was er spiegelt. Künstler schafft daraus etwas doppelt an der Wand – Er befindet sich gleichsam im ständigen Dialog. Paradoxes: Er nimmt das Glas, dem die Übungen zur Selbstreflexion reflexive Eigenschaft genommen wurde, im Ausstellungsraum Der Spiegel ist im wörtlichen Sinne ein Basiswerkzeug der Selbst um sie ihm wieder zurückzuerstatten, in- reflexion. Ein Mittel, um mich optisch zu reflektieren und mir die dem er es mehrfach schichtet und addiert. • Was sehe ich, wenn ich in den Spiegel Chance zu geben, mein äußeres Selbst mit meinem inneren Selbst in Eine Passage vom Spiegeln zum Entspie- geln zurück zum Spiegeln: So wird bereits blicke? Sehe ich zuerst mein Spiegelbild Verbindung zu bringen. und das des Raumes, in dem ich mich in seiner Arbeitsweise das Phänomen des Spiegelns im Werkstoff reflektiert. befinde, oder sehe ich die Materialität Die künstlerische Position Raphael des Spiegels? Weil der Mensch sich selbst zu ergründen lung arbeitet der Mensch seit jeher – Heftis geht über einen Fotoabzug hinaus • Wenn ich auf die Materialität achte, und zu verstehen versucht, ist der Spiegel das Instrument der Selbstreflexion wird und bildet trotz seiner unbeweglichen, was fällt mir auf? Reflektiert das zu- ein »Phänomen« des Humanum. So hat potenziert und reflektiert sich in weiteren skulpturalen Erscheinung eines der inter- nächst entspiegelte und dann künst der Spiegel seit Jahrtausenden eine andere Spiegelungen, so etwa in den großen aktivsten Werke hier im Raum. Wie es lerisch durch Mehrfachschichtung Wertigkeit als die sonstigen Werkzeuge, Spiegelsälen von Versailles, in denen Spie- reflektierende Dinge so an sich haben, generierte spiegelnde Material anders? die uns im Alltag nützlich sind. Ausgenom- gel genutzt werden, um ein Gefühl der tritt das Werk in einen direkten Dialog mit men hiervon ist die relativ moderne Tech- Unendlichkeit und Ewigkeit zu erzeugen. dem Raum und verbindet auf diese Weise • Verändern sich die anderen Werke des nik von Fotografie- und Videoaufnahmen, Dieses »Spiegel-Spiel« spielt auch alle sich in ihm spiegelnden Kunstwerke Raumes in der Reflexion durch das die man von sich und anderen macht. der Schweizer Künstler Raphael Hefti in zu einer dreidimensionalen Wirklichkeit. Werk von Raphael Hefti? Wie nehme Diese funktionieren in einer ähnlichen dem Werk aus der Serie »Subtraction as Und auch ich als Betrachter:in kann mich ich den Raum durch die Spiegelung Weise wie der Spiegel. Addition«, 2012, das wir in dieser Ausstel- in dieser Wirklichkeit positionieren, reflek- seines Werkes wahr? Ich trete fragend vor den Spiegel – er lung sehen (Abb. 6 und 19). tieren oder einfach nur betrachten. Durch • Kann eine Kamera den gleichen Zweck gibt mir Antwort und setzt mich dadurch Um den Nutzen von Glas, ungehindert die farbige Füllung der addierten Spiegel erfüllen wie der Spiegel? zu mir selbst in ein Verhältnis. Im Märchen hindurchsehen zu können, zusätzlich zu entdecke ich mich neu – in einer imagi geschieht das, indem ein Zauberspiegel verstärken, arbeitet Raphael Hefti mit nären Landschaft. zu sprechen beginnt. Auch mit dem ästhe- eigens für Museen im Voraus entspiegel- Wir alle erwarten Antworten von tischen Aspekt der Spiegelung von Spiege- tem Glas: Reflexion als Charakteristik wird einem Spiegel. 38 Passagen Passagen 39
Sie können auch lesen