Passagen - Kunststiftung DZ BANK

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Passagen - Kunststiftung DZ BANK
Passagen
Passagen - Kunststiftung DZ BANK
Reihe Kunststiftung DZ BANK
Band 4

                                                                                             Passagen
Mit Werken von:
Gwenneth Boelens
Christian Boltanski
F&D Cartier
Raphael Hefti
                                                                                             01.06. – 15.10.2022
Sven Johne
Timo Kahlen
Sandra Kranich
Lilly Lulay
Beatrice Minda
Richard Mosse
Manfred Paul
Stephan Schenk

Titelbild:
Sven Johne, 47 Faults between Calais and Idomeni, 2017 (Detail) © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Passagen - Kunststiftung DZ BANK
Passagen
                                                                                           Auf vertraute Muster, auf bereits Eingeüb-   Zusammenleben befindet sich auch wei-
                                                                                           tes haben wir uns kaum verlassen können.     terhin im Übergang. Und dabei bleibt es
                                                                                               An unserer eigenen Hochschule haben      eine offene Aufgabe an uns alle, wie die
                                                                                           wir versucht, aus dieser Zumutung eine       von Arnold van Gennep beschriebene
Steffen Siegel
                                                                                           Tugend zu machen. An die Stelle des          dritte Phase der Integration – und damit
                                                                                           längst geplanten Seminars trat eine          das Neue – aussehen wird.
                                                                                           wöchentliche Veranstaltung, die wir              Können uns Fotografien dabei helfen,
                                                                                           »Orientierung in Bildern« nannten. In Bil-   diese Form des Übergangs genauer zu
                                                                                           dern drückte sich nicht allein ein großer    verstehen? Wir meinen ja! Formuliert ist
                                                                                           Teil der uns erreichenden Nachrichten        damit eine These, die am Beginn einer
                                                                                           aus, vielmehr lebten und arbeiteten wir      Kooperation steht, die die Kunststiftung
                                                                                           ja nun selbst in zahlreichen Bildräumen.     DZ BANK und die Folkwang Universität
Als wir im Frühjahr 2020 an der Folkwang     mehr als hundert Jahren hat der französi-     Der Alltag wurde zu einer Sache von Bild-    der Künste aufgenommen haben. Ge-
Universität der Künste das Sommer­           sche Ethnologe Arnold van Gennep in           schirmen, vor denen wir uns versammel-       meinsam wollen wir nach Orientierungen
semester beginnen wollten, war – wie         seinem Buch »Les rites de passage« (1909)     ten und mit denen wir auf noch einmal        suchen, die sich in den Werken von zeit-
überall sonst auch – große Spontaneität      diese dreiteilige Struktur beschrieben.       ganz neue Weise umzugehen lernten.           genössischen Künstlerinnen und Künstlern
gefragt. Erst wenige Wochen zuvor war        Er unterscheidet dabei folgende Phasen:       Heute, mehr als zwei Jahre später, lohnt     finden lassen. Kaum eines der von uns
die Pandemie in Europa angekommen.           den Moment der Ablösung, eine Zeit            es, sich noch einmal an diese Tage und       für die Ausstellung ausgewählten Bilder
An den zu diesem Zeitpunkt lange schon       des Dazwischen und die Phase der Inte­        Wochen zu erinnern, denn längst schon        wurde geschaffen, um einen direkten
geplanten Seminaren ließ sich nicht ohne     gration. Es handelt sich um ein Schema,       ist uns selbstverständlich geworden,         Bezug zur Pandemie der jüngsten Jahre
Weiteres festhalten. Universitäten leben     das uns auch heute noch in unserer            was noch vor Kurzem eine ganz neue           herzustellen. Tatsächlich sind die meisten
von direkter Interaktion, vom gemeinsa-      Lebensführung immer wieder begegnet,          Erfahrung war.                               dieser Werke bereits älter als diese neues-
men Nachdenken an einem Ort. Wie je-         zum Beispiel in den Übergangsriten der            Was wir seinerzeit nicht wissen konn-    te Erfahrung. Dennoch laden sie uns
doch sollte sich das verwirklichen lassen,   Taufe, der Eheschließung oder auch der        ten, zeichnet sich nun aber umso deut­       dazu ein, über die vielfältigen Formen
wenn unsere Lehrveranstaltungen nur          Beerdigung.                                   licher ab: Nicht der plötzliche Beginn der   des Übergangs nachzudenken und deren
noch aus einer Addition vieler kleiner           Wie es bereits der Titel dieses längst    Pandemie, sehr wohl aber die anschlie-       Logik genauer zu durchdringen.
Bildschirme bestehen würden? Es liegt        klassischen Buches ausspricht, interessier-   ßenden Monate und bald schon Jahre               Mit der Kunststiftung und der Univer-
auf der Hand: Mit diesem neuen Alltag an     te sich Arnold van Gennep dabei vor allem     waren und sind eine Zeit des Übergangs.      sität haben sich zwei Partner zusammen­
der Hochschule haben wir einzig geteilt,     für den rituellen Charakter solcher Über-     Beschrieben wird mit ihnen eine Passage,     geschlossen, die sich auf je ganz eigene,
was für die Gesellschaft als ganze galt.     gänge. Passagen, so seine grundlegende        die uns alle – ob wir nun wollen oder        beide Male aber in besonders intensiver
Es ist wohl keine Übertreibung, wenn         These, ereignen sich nicht einfach, sie       nicht – verändert hat und auch weiterhin     Weise der künstlerischen Fotografie ver-
wir behaupten: Von einem Tag auf den         werden vielmehr gestaltet, ja inszeniert.     verändern wird. Vielleicht haben wir im      pflichtet fühlen. Beide Institutionen tra-
nächsten hatte sich unser aller Leben        Schon deshalb wird es nicht zutreffen,        Frühjahr 2020 daran geglaubt, dass wir       gen seit Jahrzehnten zur Gegenwart dieser
dramatisch verwandelt.                       unsere kollektive Erfahrung aus dem Früh-     kaum mehr als einige Wochen werden           Kunstform bei – als ein Gegenstand der
    Handelte es sich um eine Passage?        jahr 2020 als eine Passage zu beschrei-       improvisieren müssen, dann aber würden       künstlerischen Ausbildung, der theoreti-
Wohl eher nicht. Passagen beschreiben        ben. Für solche rituellen Gestaltungen        wir in unsere vertrauten Lebensformen        schen Reflexion, des Sammelns, Ausstel-
einen Prozess des Übergangs. Er führt        blieb uns damals keine Zeit. Vielmehr         zurückkehren können. Doch wissen wir         lens und der Vermittlung. Wir teilen die
nicht allein von A nach B, entscheidend      wurden wir in etwas Neues gestürzt; und       längst, dass sich solche Vorstellungen       Neugier auf künstlerische Formen, die mit
ist vielmehr jener Weg, der zwischen         wohl erst ganz allmählich ließ sich begrei-   als Irrtum erwiesen haben. Unsere Gesell-    dem Fotografischen besondere Möglich-
diesen beiden Punkten liegt. Bereits vor     fen, worum es sich überhaupt handelte.        schaft ist eine andere geworden; unser       keiten der Orientierung in Bildern verbin-

4   Passagen                                                                                                                                                           Passagen   5
Passagen - Kunststiftung DZ BANK
Gemeinsames
                                                                                                                                                               Erarbeiten der
                                                                                                                                                               Ausstellungshängung
                                                                                                                                                               anhand eines
                                                                                                                                                               Grundrisses der
                                                                                                                                                               Ausstellungshalle;
                                                                                                                                                               Christina Leber und
                                                                                                                                                               Steffen Siegel mit
                                                                                                                                                               Teilnehmerinnen
                                                                                                                                                               und Teilnehmern des
                                                                                                                                                               Seminars »Passagen«
                                                                                                                                                               im Wintersemester
                                                                                                                                                               2021 / 22 an der
                                                                                                                                                               Folkwang Universität
                                                                                                                                                               der Künste, Essen.
                                                                                                                                                               Fotos: Silviu Guiman

den. Dass uns diese Bilder stets ihre eige-   sie aufeinander bezogen werden können         wird sie uns helfen können, die Aufgabe      So stehen kurze kunstwissenschaftliche
ne Wahrheit erzählen, liegt auf der Hand.     und wie sie schließlich das gemeinsame        des Übergangs, die uns seit 2020 gege-       Interpretationen neben ganz persönlichen
Doch wollen wir gerne genauer wissen,         Ganze bilden, das wir von einer Ausstel-      ben ist, genauer in den Blick zu nehmen.     Annäherungen an einzelne Bilder, nüchter-
welche es sind. Unter dem programma­          lung erwarten.                                     Die Studierenden der Folkwang Univer-   ne Analysen neben essayistischen Kom-
tischen Titel »Passagen« haben wir sehr           Ein solches Ergebnis lässt sich nicht     sität der Künste sind in zwei verschiede-    mentaren. Eine solche Vielfalt an Text-
unterschiedliche Annäherungen zusam-          durch Abstimmung herbeiführen, bei der        nen Studiengängen eingeschrieben:            formen scheint uns gerade deshalb richtig
mengetragen: nüchterne und dramati-           die Mehrheit entscheidet – dies würde         Der Master »Photography Studies and          zu sein, weil wir alle auf ganz persönliche
sche, politische und poetische, zugäng­       zu sonderbaren Kompromissen führen.           Research« widmet sich – in dieser Form       Weise den Fragen der Passage begegnen.
liche und verschlossene.                      Vielmehr musste und sollte unsere Zusam-      einmalig innerhalb des deutschsprachigen     Wir alle haben in den zurückliegenden
    Hinter diesem Parcours aus vielen ver-    menarbeit selbst die Form einer Passage       Raums – den Fragen von Theorie und           Monaten ein bemerkenswert breites
schiedenen künstlerischen Stimmen steht       annehmen. Es galt, eine gemeinsame            Geschichte der Fotografie. Der Master        Spektrum an Reaktionen beobachten
ein ungewöhnliches kuratorisches Team.        Bewegung herzustellen, die von Fragen         »Photography Studies and Practice« wie-      und erfahren können: Abwehr und Angst,
Oder sollten wir besser sagen: ein bei­       nach dem Übergang ihren Ausgang nahm          derum ist der künstlerischen Fotografie in   Ungewissheit und Sorge, aber auch
nahe unmögliches? Auf Einladung der           und zu Perspektiven führen sollte, von de-    all ihren gegenwärtigen und zukünftigen      Neugierde, Hoffnung und Zuversicht.
Kunst­­stiftung DZ BANK haben sechzehn        nen aus sich über die Herausforderungen       Formen verpflichtet. Wichtig ist uns dabei   Oft genug begegnen uns diese Emotionen
Studierende der Folkwang Universität der      unserer eigenen Zeit nachdenken lässt.        stets das Miteinander dieser beiden Studi-   ungeordnet, ja durcheinander. Indem wir
Künste gemeinsam mit Christina Leber          Gemeinsam kuratieren wollten wir aber         engänge, praktisches und theoretisches       den Blick auf einzelne, von uns besonders
und mir an dieser Ausstellung gearbeitet.     eine Kunstausstellung, und daher sollten      Wissen sollen sich gegenseitig durchdrin-    geschätzte fotografische Werke lenken,
Mehrere Tage lang haben wir diskutiert,       nicht Thesen, sondern künstlerische Wer-      gen können. Daher eröffnen die Texte,        wollen wir dazu einladen, inmitten einer
welche Arbeiten wir zeigen wollen, war-       ke im Mittelpunkt stehen. Wir wollen die      die die Studierenden für diesen Katalog      Zeit des Übergangs über Erfahrungen
um sie für unsere Reflexion der Passagen      von uns gemeinsam gefundene Form              geschrieben haben, sehr unterschiedliche     nachzudenken, die am Beginn von etwas
wichtig sind, in welcher Form sie zur         als eine Konstellation verstehen, die zur     Perspektiven auf die von uns gemeinsam       Neuem stehen werden.
Erscheinung gebracht werden sollen, wie       weiteren Diskussion einlädt. Im besten Fall   ausgewählten Werke.

6   Passagen                                                                                                                                                            Passagen      7
Passagen - Kunststiftung DZ BANK
Abb. 1
Beatrice Minda, Dawei, 2014–2016,
aus der Serie: Dark Whispers

8   Passagen                        Passagen   9
Passagen - Kunststiftung DZ BANK
En passant –
                                                                                            Lebens, haben wir weniger bedacht. In           Ausschnitt auf ein Thema, das jeden von
                                                                                            der Vorbereitung konnten wir nicht ahnen,       uns immer wieder auf so unterschiedliche
                                                                                            dass ein erneuter Krieg in Europa diese         Weise ereilt. Jede andere Zusammenstel-
Im Vorübergehen                                                                             Entscheidung noch untermauern würde.
                                                                                                Schauen wir auf die Geschichte,
                                                                                                                                            lung aus den über 1000 Kunstwerken
                                                                                                                                            hätte andere Schwerpunkte ergeben und
                                                                                            scheint das Verweilen meist nicht von           damit andere Geschichten erzählt.
Christina Leber                                                                             langer Dauer zu sein. Im Grunde lässt sich          Beginnen wir unsere »Passage« mit
                                                                                            daraus folgern, dass die »Passage« der          Lilly Lulay (* 1985, Frankfurt am Main,
                                                                                            natürliche Zustand jeglicher Existenz ist:      Deutschland), die wir bereits aus der letz-
                                                                                            von einem Tag zum nächsten, von einer           ten Ausstellung »Durchblick. Lilly Lulay
                                                                                            Begebenheit zu einer anderen. Nicht nur         und Susa Templin« kennen. Im Rahmen ei-
Ereignisse »passieren«. Sie geschehen scheinbar »en passant«, im                            das Festhalten an lieb gewordenen Men-          nes Stipendiums, das mit einem Aufenthalt
Vorübergehen. Machen uns zu »Passanten«. Die »Passage« entstammt                            schen und Strukturen bestimmt unseren           in Istanbul verbunden war, entstand die
                                                                                            Alltag, sondern ebenso das Loslassen und        Collage »Istanbul up and down«, 2015
eigentlich einer Architekturform des 19. Jahrhunderts. »Sie ist                             Freilassen, um sich immer wieder neuen          (Abb. 2). Im Kontext der Ausstellung
charakterisiert durch Eingang, Durchgang und Ausgang und bildet                             Aufgaben und Verbindungen zuzuwen-              »Passagen« erhält die filmische Aneig-
ein Ver­bindungsglied zwischen frequentierten Straßen – eine                                den. Schlimm ist es, wenn dies zu existen-      nung fotografischer Motive eine ganz
Abkürzung, die nur dem Fußgänger, dem Passanten, zugänglich ist«,                           ziellen Traumata führt.                         neue Bedeutung. Die verwendeten Foto-
so Bernadette Malinowski, Inhaberin der Professur für Neuere Deutsche                           Bei einer ersten Durchsicht der             grafien, die die Künstlerin teils gefunden
                                                                                            DZ BANK Kunstsammlung zu den The-               hat, teils geschenkt bekam und die aus
und Vergleichende Literaturwissenschaft an der TU Chemnitz in ihrer                         mengebieten »Wandel, Veränderung,               ganz unterschiedlichen Zeiten stammen,
Antritts­vorlesung 2011. Sie steht für den gesellschaftlichen Wandel                        Passage« haben wir über 1000 Werke zu-          setzt sie zu ihrem persönlichen Porträt der
im 19. Jahrhundert.                                                                         sammengetragen. Die Auswahl in unserer          Stadt am Bosporus zusammen. Sie verbin-
   In der Ausstellung »Passagen« geht es uns jedoch weniger um den                          Ausstellung »Passagen« beläuft sich             det mit den Bildern durch ihre Erlebnisse
kulturgeschichtlichen oder den ethnologischen Begriff der Passage                           auf 28. Auch der Weg zur Reduktion              und auch durch die Arbeit mit ihnen an-
                                                                                            der Kunstgegenstände bis hin zu einer           dere Assoziationen als wir. Diejenigen von
und seine Interpretationen als vielmehr um Übergänge im Allgemeinen,                        endgültigen Zusammenstellung lässt sich         uns, die schon einmal in Istanbul waren,
um Situationen des Wandels, befinden wir uns doch selbst einmal                             als eine Passage bezeichnen, wie Steffen        fühlen sich vielleicht erinnert, andere
mehr in einer Phase des gesellschaftlichen Umbruchs. Was sind seine                         Siegel das in seinem Vorwort so schön           begeben sich gedanklich und visuell auf
Ursachen und wie werden die Wirkungen aussehen? In jedem Fall                               nachzeichnet. Eine Passage gemeinsam            eine Reise. Warum hat sich Lilly Lulay
hinterlassen Übergänge Spuren, im Guten wie im Schlechten.                                  mit anderen Menschen und anhand von             gerade für diese Ausschnitte entschieden?
                                                                                            Themengebieten: Jeder und jede von uns          Warum legt sie die Bilder ausgerechnet
                                                                                            musste Vorstellungen aufgeben und hat           in dieser Reihenfolge übereinander? Hat
Es war wohl vor allem den erschreckenden      Geburt, der Eintritt in die Adoleszenz, der   dabei neue Erkenntnisse dazugewonnen.           dies etwas mit dem zeitlichen Ablauf ihres
Wandlungen im Zeitgeschehen wie den           Übergang ins Berufsleben oder dann in         Jeder und jede hat sich bei der Auseinan-       Aufenthaltes zu tun oder verbergen sich
Auswirkungen der Klimakrise oder der          den Ruhestand spielen in der Ausstellung      dersetzung mit den Kunstwerken verän-           darin andere, möglicherweise spontane
globalen Pandemie geschuldet, dass wir        eine eher untergeordnete Rolle. Auch          dert, vielleicht sogar gewandelt, und lieb      Beweggründe? Was in der filmischen
uns eher politischen und gesellschaftlichen   Transformationen, die aus biologischen        gewordene Überzeugungen aufgegeben.             Arbeit sichtbar wird, ist ein Charakter der
Passagen zugewendet haben als rein per-       Gründen auf uns einwirken, wie die kör-       Kurz, wir alle haben viel gelernt. So liefert   Stadt. Die häufig vorkommenden Orna-
sönlichen. Übergänge des Lebens wie die       perlichen Veränderungen im Laufe eines        die Ausstellung einmal mehr nur einen           mente spielen dabei ebenso eine Rolle

10   Passagen                                                                                                                                                             Passagen   11
Passagen - Kunststiftung DZ BANK
wie die Farben und Häuser, die Plätze und
                                     Straßen. Im Grunde ist die Stadt selbst
                                     ein Ort des Übergangs, denn sie liegt be-
                                     kanntlich an der Grenze zwischen Europa
                                     und Asien. Gleichzeitig erhält Istanbul in
                                     einer Ausstellung mit politischen Inhalten
                                     eine ganz andere Bedeutung – ist die
                                     Stadt gegenwärtig doch der Ort, an dem
                                     mögliche Friedensverhandlungen zwi-
                                     schen der Ukraine und Russland stattfin-
                                     den. Das Phänomen der neuen Konnota­
                                     tion aus aktuellen Gegebenheiten kennen
                                     wir schon aus anderen bildlichen Verbin-
                                     dungen. So haben die Umgebung bzw.
                                     der Zusammenhang, in dem Kunstwerke           Abb. 3 und 4
                                                                                   Beatrice Minda, Dawei, 2015,
                                     gezeigt werden, grundsätzlich Einfluss auf    aus der Serie: Dark Whispers
                                     die Lesart einer Arbeit.
                                         Auch Beatrice Minda (* 1968, Mün-
                                     chen, Deutschland) hat sich für ihre Serie
                                     »Dark Whispers« von 2016 auf die Reise        Übergangswohnungen, in den Gebäuden              umfängt, wie die »angehaltene Luft« aus
                                     begeben. Myanmar, früher auch Birma           ausharren (Abb. 1, 3 und 4). Vielleicht tun      der Arbeit »Holding My Breath«, 2020 von
                                     oder Burma genannt, hat eine lange            sie dies, weil die Häuser undichte Dächer        Timo Kahlen in dieser Ausstellung, ganz
                                     Geschichte der Umbrüche erlebt; teils         haben, vielleicht aber auch nur, um sich         so, als warteten die Zurückgelassenen auf
                                     von außen, durch eine britische und dann      eine Höhle zu bauen, in der sie sich sicher      den Kuss des Prinzen, der sie aus dem Zu-
                                     eine japanische Kolonialzeit im 19. und       fühlen können. Selbst wenn Möbel in gro-         stand des Wartens befreit. Beatrice Minda
                                     20. Jahrhundert, teils von innen, durch       ßen Teilen Asiens eine andere Bedeutung          befasst sich nicht zum ersten Mal mit einer
                                     Aufstände von einzelnen Volksgruppen          haben und nicht so raumgreifend sind             Fremde, die durch starke politische Aus­
                                     des über 135 Ethnien umfassenden              wie beispielsweise in Europa, so wirken          einandersetzungen und Umbrüche ge-
                                     Vielvölkerstaates in Südostasien. Einzige     die Häuser doch leer. Andere Motive des          prägt wurde. Auch im Iran hat sie Häuser
                                     Konstante war die immer wieder durch-         sorgfältig angeordneten Tableaus zeigen          fotografiert, die im Dornröschenschlaf
                                     greifende Militärherrschaft, die die Bevöl-   Lagerräume, in denen verstaubte Skulptu-         zu ruhen scheinen. Biografisch ist es nicht
                                     kerung nach der Wahl 2020 wieder ver-         ren und Gegenstände schon lange darauf           verwunderlich, dass sich die Künstlerin
                                     stärkt zu kontrollieren begann. Die Orte,     zu warten scheinen, wieder ans Licht und         mit Übergangsorten beschäftigt, haben
                                     die Beatrice Minda 2016 besuchte, wirken      ins Leben geholt zu werden. Unweigerlich         doch auch ihre Eltern ihre Heimat Rumäni-
Abb. 2                               wie aus »Tausendundeiner Nacht«. Es sind      fragt man sich, ob die Besitzer wohl zu-         en verlassen. Als Kind hat Beatrice Minda
Lilly Lulay, Istanbul up and down,   Häuser und Wohnungen, die keiner Ver-         rückkehren werden. Die Künstlerin hat die        die Herkunftsorte ihrer Eltern bei Besu-
2015 (Detail)
                                     änderung unterworfen zu sein scheinen.        Flure und Fenster, die Türen und Fluchten,       chen immer wieder auch deswegen als
                                     Sie scheinen zu ruhen, ja zu schlafen. Sie    die in der Kunstgeschichte sämtlich als          heil erlebt, weil sie dort Menschen begeg-
                                     scheinen entleert. Viele Menschen haben       Übergangsräume verstanden werden, so             net ist, die ihr nahe waren, die eine ähn­
                                     ihre Wohnorte verlassen. Zurück bleiben       fotografiert, als würden sie in die Ferne        liche Vergangenheit hatten und mit denen
                                     Einzelne, die zum Beispiel in Zelten, also    weisen. Gleichzeitig wirkt die Stille, die sie   sie sich verbunden fühlte. In »Dark Whis-

12   Passagen                                                                                                                                                     Passagen   13
Passagen - Kunststiftung DZ BANK
Material eingeschrieben. Manfred Paul,      scheint Timo Kahlen die Konsequenzen
                                                                                                    der selber Bürger der DDR war, wollte die   eher leicht zu nehmen, wendet er sich
                                                                                                    Erinnerung wachhalten. Nicht etwa aus       doch dem Spiel mit Seifenblasen zu.
                                                                                                    nostalgischen Gründen, sondern vielmehr     Immer wieder pustet er durch den Kunst-
                                                                                                    aus Gründen der möglichen Verarbeitung      stoffring und lässt die entstehenden
                                                                                                    einer Staatsform, die 40 Jahre lang die     Blasen mal kleiner, mal größer werden
                                                                                                    Geschicke der dort lebenden Bevölkerung     oder bringt sie zum Platzen. Auch diese
                                                                                                    und auch die Geschichte aller Deutschen     Größenveränderung der Seifenblasen kann
                                                                                                    und Europäer geprägt hat. Ihm war wohl      man auf die Pandemie beziehen, die im
                                                                                                    bewusst, dass mit dem Einreißen der         weiteren Verlauf des Sommers abnahm,
                                                                                                    Mauer die Erfahrungen nicht ebenso ver-     um dann im Herbst und Winter wieder
                                                                                                    schwunden sein würden. Auch ließe sich      anzuschwellen und alle erneut in ihren
                                                                                                    fragen, was beide Seiten voneinander        Bann zu ziehen. Was auf den spiegelgleich
                                                                                                    hätten lernen können und sollen. Immer-     reflektierenden Seifenblasen in Erschei-
                                                                                                    hin erleben wir heute, nach über 30 Jah-    nung tritt, ist das Umfeld des Künstlers,
                                                                                                    ren der Wiedervereinigung, eine andere      die Wohnung, sein Schutzraum. Man kann
                                                                                                    Verarbeitung der Geschehnisse, die in       das Zimmer, die Möbel und den Künstler
                                                                                                    Ausstellungen und Veranstaltungen des       selbst deutlich erkennen. Die Spiegelung
                                                                                                    Endes der DDR gedenkt und danach fragt,     wird zum Brennglas und dient hier auch
                                                                                                    ob die überhasteten Ereignisse 1989/90      als Instrument der Selbstreflexion. Wie
                                                                                                    einer integrativen Aufarbeitung womög-      gehe ich mit dem verordneten Rückzug
                                                                                                    lich entgegenstanden. Die politischen       und der Bedrohung von außen um?
Abb. 5
                                                                                                    Konsequenzen der überstürzten Verbin-       Als über den Film gelegte Klangstruktur
Timo Kahlen, Holding My Breath, 2020,
aus der Serie: Arbeiten mit Wind, 1989–2021 (Detail)                                                dung beider deutscher Staaten erleben       vernehmen wir das Schnurren eines Katers
                                                                                                    wir bis heute.                              oder einer Katze, das durch eine erhöhte
                                                                                                        Mit »Holding My Breath«, 2020 be-       Atemfrequenz ausgelöst wird. Das Tier
pers« wird spürbar, wie sehr das Auf­                  tenden Abbau der Mauer dokumentieren         zeichnet Timo Kahlen (* 1966, Berlin,       mag es genossen haben, dass seine Mit-
brechen aus einer vertrauten Umgebung                  (Abb. 15–18). Es kam ihm fast so vor, als    Deutschland) seinen Film, den er während    bewohner mehr zu Hause waren und sich
ein Leben prägen kann, sowohl derjeni-                 solle so schnell wie möglich unsichtbar      des ersten Corona-Lockdowns aufgenom-       so intensiver um es kümmern konnten.
gen, die gegangen sind, wie auch jener,                werden, was niemals hätte sein sollen,       men hat (Abb. 5). Das Anhalten des Atems    Auch das ein Phänomen, das sich auf die
die zurückbleiben. Ja es wirkt sogar in die            wurde doch die Mauer innerhalb nur           ließe sich gleichermaßen auf die Aerosole   Pandemie beziehen ließe und das vielleicht
nächsten Generationen hinein. Wie wäre                 weniger Wochen abgerissen. Was man           beziehen, die als primärer Übertragungs-    nicht nur die Katze des Hauses als ange-
ihrer aller Leben verlaufen, hätten sie                passivisch als den »Fall der Mauer« be-      weg der Pandemie identifiziert wurden,      nehm empfand – wobei es auch nicht
bleiben können?                                        zeichnet, war also ganz im Gegenteil ein     wie auf die Unbeweglichkeit, die mit dem    wenige Geschöpfe gab, die unter den
    Die Polaroids von Manfred Paul                     aktiver Akt der Zerstörung. Der Künstler     Ausbrechen von Corona verbunden war         einengenden Bedingungen gelitten haben
(* 1942, Schraplau, DDR) führen uns an die             hielt ihn in als vergänglich und proviso-    und die für zwei Jahre die ganze Welt zu    mögen.
deutsch-deutsche Grenze und zum Zusam-                 risch geltenden Polaroids fest, die er mit   einem Umdenken zwang und immer noch             Die sehr poetisch anmutende Arbeit
menbruch der DDR, einer Passage, die bis               dem Datum und der Uhrzeit der fort-          zwingt. Die Bewegungsmöglichkeiten          »Wait and See«, 2022 von Françoise
heute nachwirkt. Mit »Mauerfall«, 1990                 schreitenden Ereignisse bezeichnete. So      wurden massiv eingeschränkt, die globale    Cartier (* 1952, Tavannes, Schweiz) und
wollte der Künstler den rasant fortschrei-             ist das Flüchtige schon in das verwendete    Welt kam gleichsam zum Erliegen. Dabei      Daniel Cartier (* 1950, Biel, Schweiz)

14   Passagen                                                                                                                                                                 Passagen   15
Passagen - Kunststiftung DZ BANK
nicht nachzuvollziehen und beeinflussen      Ein Erkenntnisprozess vollzieht sich auch
                                                                                         doch unser Leben. »Erst wenn digitale        beim Betrachten der Arbeit »Subtraction
                                                                                         Produktionsprozesse wie Belichtungs­         as Addition«, 2012 von Raphael Hefti
                                                                                         parameter und Blendenzahl in der analo-      (* 1978, Boudevilliers, Schweiz). »Weg­
                                                                                         gen Fotografie für den Normalbürger          nahme durch Zugabe« – so ließe sich sein
                                                                                         ›durchschaubar‹ werden – erst wenn Ziel-     absurd erscheinender Titel übersetzen.
                                                                                         setzungen der verwendeten Algorithmen        Durch das Aufdampfen einer Beschich-
                                                                                         wie physikalische Gesetze vollständig        tung wird dem Glas der reflektierende
                                                                                         ›nachvollziehbar‹ werden, kann jeder eine    Charakter genommen, da die Lichtbre-
                                                                                         Entscheidung über Richtig und Falsch         chung verändert wird. Derart beschichtete
                                                                                         treffen. Bis dahin bleiben viele Menschen    Scheiben kommen vor allem bei der Ver-
                                                                                         nur unmündige Mitläufer in der digitalen     glasung von hochwertigen Kunstwerken
                                                                                         Revolution.« – so die Aussage des IT-Ex-     zum Einsatz oder werden für Objektive
                                                                                         perten Ludger Freitag während einer          und andere Werkzeuge der Optik verwen-
                                                                                         dialogischen Kunstführung im Rahmen          det. Für seine Arbeiten nutzt der Künstler
                                                                                         unserer diesjährigen Frühjahrsausstellung.   eigens für ihn hergestellte Glasscheiben,
                                                       Abb. 6
                                                       Raphael Hefti, From the series:   Das Künstlerpaar Françoise und Daniel        die er zigfach beschichten ließ. Dadurch
                                                       Subtraction as Addition, 2012,    Cartier konfrontiert uns somit nicht nur     hebt sich nicht nur der antireflexive Effekt
                                                       aus der Serie:                    mit nostalgisch Schönem, sondern auch        auf, es werden auch Farben sichtbar, die
                                                       Subtraction as Addition,
                                                       2012–2018 (Rückseite)             mit der Zeitenwende, der Passage zwi-        ausschließlich durch die Brechung des
                                                                                         schen einer analogen und einer digital       Lichts entstehen (Abb. 6). Damit führt uns
                                                       Abb. 7 (rechte Seite)             gesteuerten Welt, die uns einen anderen      der Künstler vor Augen, dass Farben keine
                                                       Christian Boltanski,
                                                       Les Ombres, 1986,                 Zugang zu alltäglichen Mechanismen           Substanzen sind, sondern mit der Licht-
                                                       Foto: Rudolf Nagel                abverlangt.                                  brechung und der Funktion unseres Seh-

führt uns die Vergänglichkeit vor Augen,    auch ihre Farbigkeit. Wer sich an die ent-
der alle Dinge und Lebewesen unterste-      wickelten Filme der 1970er und 1980er
hen. Unter Verwendung von unbelichteten     Jahre erinnert, weiß um diese unterschied-
analogen Fotopapieren aus dem 19. und       lichen Farbtöne, hatten doch die Filme von
frühen 20. Jahrhundert, die sie meist auf   Agfa eine andere Anmutung als die von
digitalen Plattformen finden und bestel-    Kodak oder Fuji. Je länger die Fotopapiere
len, präsentiert das Künstlerpaar ein       dem Licht ausgesetzt sind, desto dunkler
Tableau, das uns die Vielfältigkeit eines   werden sie, wobei der Prozess irgendwann
Materials vor Augen führt, das es auf-      zu einem Stillstand kommt, was seinerseits
grund der digitalen Entwicklung heute       die Verschiedenheit der Papiere dokumen-
immer weniger gibt (Abb. 14). Nicht nur     tiert. Die heute vorherrschenden digitalen
die Größe der Papiere variiert, sondern     Prozesse sind für die meisten Menschen

16   Passagen                                                                                                                                                        Passagen   17
Passagen - Kunststiftung DZ BANK
apparates zusammenhängen. Unter einem          gen unserer Vorfahren in die nächsten
anderen Winkel betrachtet, ändert sich         Generationen hineinwirken. Je einschnei-
die Farbmischung auf dem Glas. Den             dender sie waren, desto unerbittlicher
meisten nichtmenschlichen Lebewesen            klopfen sie bei uns an und möchten be-
bleibt dieses Phänomen verborgen.              wusst betrachtet und verarbeitet werden.
    Der Vorgang des Sehens wird bei            Die Arbeit »Ohne Titel«, 1993 aus der Serie
Raphael Hefti zu einem physikalischen          »L’Ombre Blanche« ist eine von zahllosen
Prozess und somit zu einer Passage der         Variationen, in denen der Künstler sich
Erkenntnis. Auch die Kamera verdankt ihre      mit Schattenbildern auseinander­gesetzt
Funktion physikalischen Phänomenen.            hat (Abb. 20). Sein Theater der Schatten
Wie von Geisterhand wird in einer Camera       (»Théâtre d’ombres«) hat er an zahlreichen
obscura die Umwelt durch die Brechung          Orten präsentiert, wie beispielsweise auch
des Lichts auf dem Kopf stehend abgebil-       im Museum für Moderne Kunst in Frank-
det. So hinterlässt das Licht, das durch ein   furt am Main in der Raum­installation
kleines Loch in das Innere der ›Kammer‹        »LES OMBRES« von 1986 (Abb. 7).
eindringt, ein Bild der Außenwelt an der           Kleine Metallfiguren werden hier mit-
gegenüberliegenden Wand. Raphael Hefti         hilfe eines Teelichts von unten beleuchtet
ist ein Analytiker. Er will die Funktionen     und an die Wand projiziert. Durch die
verstehen und für uns Betrachtende sicht-      Bewegung der Flamme tanzen die Figuren
bar machen. So verwendet er bei jeder          an der Wand und rufen Assoziationen
Arbeit ein anderes Verfahren, das sich         an asiatische Schattentheater und ihre
aber immer wieder mit physikalischen           märchenhaften Erzählungen wach. In
Gesetzen auseinandersetzt. Das kommt           der Serie »L’Ombre Blanche« werden die
sicher nicht von ungefähr. Raphael Heftis      schwarzen Schatten umgekehrt, indem
Vater ist Physiker. Vielleicht hat es den      Christian Boltanski sie als Fotogramme auf
Künstler ja bereits als Kind interessiert,     einem großformatigen Film belichtet hat.
die Physik erlebbar und dadurch nachvoll-      Sie erinnern zugleich an archaische Tänze,
ziehbar zu machen.                             mit denen beispielsweise versucht wird,
    Schatten und Geister begegnen uns          Kontakt zum Jenseits aufzunehmen.
in vielfachen Variationen in dieser Ausstel-   »Man stirbt jeden Tag. Man verliert jeden
lung, und das nicht nur bei Christian          Moment etwas«, erklärt der Künstler in
Boltanski (1944–2021, Paris, Frankreich).      einem seiner vielen Interviews. »Was mich
Es sind unsere eigenen Schatten, mit de-       am Tod interessiert, ist dieses Verschwin-
nen der Künstler uns konfrontieren möch-       den. Die Umwandlung in etwas Namen­
te, Schatten, die ebenso durch persönliche     loses.«
Erfahrungen hervorgerufen werden wie               Wie Christian Boltanski beschäftigen
durch gesellschaftliche Prozesse, die uns      auch Stephan Schenk (* 1962, Stuttgart,
aus der Gegenwart und der Vergangenheit        Deutschland) die Namenlosen, was er
mitgegeben werden. Christian Boltanski         in seiner Serie »Kreuzweg«, 2011/12 zum
weiß, dass die Erlebnisse und Erinnerun-       Ausdruck bringt (Abb. 8). Es sind die un-
                                                                                             Abb. 8
                                                                                             Stephan Schenk, Tannenberg, 2012,
                                                                                             aus der Serie: Kreuzweg
18   Passagen
zähligen namenlosen Soldaten des Ersten         Die Feuerwerke von Sandra Kranich             fackelns filmen. In der Ausstellung laufen     Es heißt, das Kleidungsstück sei dem
Weltkriegs, von denen auch sein Großvater       (* 1971, Ludwigsburg, Deutschland)            die Filmstreifen rückwärts, so dass die        König vorbehalten gewesen, wenn dieser
einer war. Er kämpfte auch im Zweiten           muten dagegen harmlos an. Sie erzeugen        zerstörten Bilder wieder auferstehen.          Hof hielt, »um zweifelhafte Wahrheiten zu
Weltkrieg, den er nicht überleben sollte.       keinen Schmerz. Doch auch sie haben mit       Ein Feuerwerk, das Sandra Kranich 2012         widerlegen«. Das Kleidungsstück dient
Auf diese Weise verlor der Vater von            Zerstörung – oder ihrer Umkehrung – zu        in Zürich inszenierte (Abb. 9), brannte        also der Verwandlung der Funktion einer
Stephan Schenk seinen eigenen Vater. Wie        tun. Die Künstlerin hat sich von Anfang       nicht in der geplanten Weise ab, so dass       Person, ähnlich wie die Talare, die einen
auch bei Christian Boltanski ist diese Arbeit   an mit Konstruktion und Dekonstruktion        schon auf dem zweiten Motiv ihrer Serie        Richter dazu befähigen sollen, Recht zu
eine sehr persönliche: Sein alter Herr habe     beschäftigt und nimmt sich dazu immer         »Firework 8.6.2012, 23.9.2012«, 2012 eine      sprechen. Die alten Techniken hat die
nie gesprochen, berichtet der Künstler          wieder auch den Weltraum zum Vorbild.         große, kosmisch wirkende Explosion zu          Künstlerin um neue Materialien wie reflek-
über die Wahrnehmung seines Vaters.             Das hat sie sich von den Chinesen abge-       sehen ist, während die Bildteile drei und      tierende und leitfähige Fäden sowie Ara-
Ein Schweigen, das fast alle Überlebenden       schaut, die das All in ihren Feuerwerken      vier dagegen wie ein verglühender Vulkan       mide (eine spezielle Textilfaser) ergänzt.
von Kriegen befällt, als könne man für das      verehrten und versuchten, es durch            in Erscheinung treten. Anschließend            Man kann die Arbeit »Liar’s cloth (guileless
Grauen keine Worte finden und als sei das       Nachahmung zu verstehen. Hier wird das        presste die Künstlerin die Überreste der       note)« auch als Aufforderung verstehen,
Alltägliche zu profan, um es in Sätze zu        Schwarzpulver nicht zum Töten von Men-        zu einem Haufen gestapelten und abge-          sich angesichts des sogenannten postkolo-
bannen. Der Künstler hat die Schlacht­          schen verwendet, sondern es werden Fra-       brannten ›Montage-Dosen‹ zusammen mit          nialistischen Zeitalters zu aktuellen Fragen
felder des Ersten Weltkrieges besucht und       gen gestellt: Wie ist der Kosmos zu verste-   denen der Knallkörper und Zündschnüre          zu positionieren. Welche Rolle kann und
von den Bauern vor Ort erfahren, dass sie       hen? Welche Phänomene erwachsen aus           zu der Skulptur »Compact Time«, 2012           soll Afrika in der Weltgemeinschaft spie-
auch noch nach 100 Jahren menschliche           ihm? Welche Ordnung liegt ihm zugrunde?       (Abb. 10). In dieser ist nicht nur die Zeit,   len? Es ist ein Kontinent, der durch die Ein-
Knochen im Boden finden. Es könnten die         Mit Fragen wie diesen setzt sich Sandra       sondern auch die Energie gespeichert,          griffe der westlichen Welt zahlreiche Wun-
Gebeine für die Knochenmänner von               Kranich in Form von Zeichnungen bereits       die das Feuerwerk abgegeben hat. Wie           den davongetragen hat, sei es durch seine
Christian Boltanski sein. Einige der Silber-    seit ihrem Studium auseinander. Eine          Françoise und Daniel Cartier geht es auch      Ausbeutung oder durch den Einfluss auf
gelatineabzüge hat Stephan Schenk von           Ausbildung zur Pyrotechnikerin befähigt       Sandra Kranich um die unabänderliche           die Staatslenker, die als Marionetten nicht
einer belgischen Firma in Tapisserien über-     sie dazu, Feuerwerke zu planen und die        Vergänglichkeit. Ganz wie die Fotopapiere      selten gegen ihre eigene Bevölkerung
tragen lassen. Belgien hat eine lange Tradi-    Sprengkörper geordnet abbrennen zu las-       in den schönsten Farben leuchten, bevor        agierten.
tion in der Herstellung von Gobelins, die       sen. Dabei baut sie zunächst Skulpturen,      sie durch den Einfluss des Lichts verdun-          »Eine Reise durch Europa, von Calais
schon im Mittelalter nicht selten von den       an denen die Böller befestigt werden. In      keln, verglühen auch die strahlenden           nach Idomeni«, so beginnt Sven Johne
Heldentaten der Könige und Fürsten auf          ihrer Formensprache bezieht sie sich dabei    Feuerwerkskörper.                              (* 1976, Bergen auf Rügen, DDR) seinen
ihren Kreuzzügen berichteten. Diese Tradi-      immer wieder auf konstruktivistische Ver-         Das Tuch, das Gwenneth Boelens             Text über das 2017 entstandene Tableau
tion nimmt Stephan Schenk auf und ver-          satzstücke. Da lag es nahe, sich auch mit     (* 1980, Soest, Niederlande) als Foto-         »47 Faults between Calais and Idomeni«
bindet sie mit Schauplätzen kriegerischer       dem neokonstruktivistischen und früh ver-     gramm direkt auf das Fotopapier belichtet      auf seiner Webseite (Abb. 12). Diese
Auseinandersetzungen. Dabei ist das Erleb-      storbenen brasilianischen Künstler Hélio      und entwickelt hat, wird als »Liar’s           scheinbar lapidaren Worte beziehen sich
nis in der Weberei nachhaltig: Die mit den      Oiticica (1937–1980) zu befassen. Es wur-     cloth (guileless note)«, 2015 bezeichnet       auf eine Reise, die man auch als Horrortrip
Fäden bestückten Schiffe werden mit einer       de erzählt, dass ein Großteil seiner Grafi-   (Abb. 11). Es ist ein Umhang, der seinen       bezeichnen könnte. Die »47 Faults« ließen
solchen Geschwindigkeit durch die bis zum       ken bei einem Brand seines Kunstlagers        Träger in die Lage versetzen soll, Lügner      sich mit Schuld, Mangel, Störung, Ver-
Bersten gespannten Kettfäden geschossen,        zerstört worden sei. Das nimmt Sandra         zu entlarven. Das Vorbild zu diesem            schulden, Verwerfung, Defekt, Bruch,
dass der Lärm, der dabei entsteht, an das       Kranich zum Anlass, sie wieder erstehen       Mantel (»nkontomo ntama«) stammt aus           Schwäche, Störstelle, Abschiebung über-
Maschinengewehrfeuer auf dem Schlacht-          zu lassen. In ihren Filmen »Back 1–4«,        dem 19. Jahrhundert und wurde einer            setzen und alle diese Begriffe könnten
feld erinnert. So nimmt selbst die Produk­      2010 hat sie vier grafische Motive ihres      westafrikanischen Webtechnik nachemp-          zutreffender nicht sein. »Auf meinem Weg
tion der Wandteppiche das ohrenbetäu-           Vorbilds mit Hilfe einer Zündschnur ›nach-    funden, die bis in die Zeit des Aschanti-      (entlang) dieser 47 Fehler: zugeschüttete
bende Gedonner des Krieges wieder auf.          gezeichnet‹ und ließ den Prozess des Ab­      reichs (das heutige Ghana) zurückreicht.       Schützengräben und Bombenkrater, abge-

20   Passagen                                                                                                                                                                Passagen   21
Abb. 9 (links)
                Sandra Kranich, Firework 8.6.2012,
                23.9.2012, 2012 (Detail),
                Foto: Maren Kindler

                Abb. 10
                Sandra Kranich, Compact Time, 2012,
                aus der Serie: Compact Time

22   Passagen                                         Passagen   23
baute oder immer noch existierende             genommen an Orten der Flucht. Richard
Grenzanlagen, ehemalige Munitionsde-           Mosse haucht den Böden, die der gesenk-
pots, verlassene Kasernen, nationalistische    te Blick von Sven Johne einfängt, mensch-
Denkmäler. Paradeplätze, ehemalige             liches Leben ein. Dabei wirken die monu-
Konzentrationslager, Orte von Massakern.       mentalen Aufnahmen wie »Yayladagi,
Ruinen und Gräber. Das gemeinsame Erbe         Turkey«, 2017 zunächst wie gigantische
von Europa hat sich nicht nur in die Gesell-   Zeichnungen nahezu idyllischer Land-
schaften und persönlichen Biografien ein-      schaften. Erst bei eindringlicher Betrach-
geschrieben, sondern auch in Backsteine        tung erkennt man das Camp, das sich im
und Granit, in Asphalt und Beton. Der          Tal an den Berg zu schmiegen scheint.
Boden hat ein Gedächtnis. Eine Reise           Die Menschen, die sich dort aufhalten,
durch Europa, vom (französischen) Calais       werden auf dem Film weiß abgebildet.
bis zum (griechischen) Idomeni.« Es ist        Sie tarnen sich also nicht in der Dunkel-
eine Route, auf der die flüchtenden Syre-      heit; ihre ausströmende Wärme macht sie
rinnen und Syrer in umgekehrter Richtung       sichtbar, verrät ihre Gegenwart. Richard
ihren Weg nach Europa zurückgelegt             Mosse geht immer wieder in Krisen­
haben. »Auf meinem Weg (entlang) dieser        gebiete und wendet dort fotografische
47 Verschulden: 3.407 gefahrene Kilome-        Verfahren an, die die Perfidität der
ter, kein Auge für die Umgebung oder die       Geschehnisse unterstreichen. Wo Wärme-
Menschen, auch nicht für ihre Schönheit.       bildkameras eingesetzt werden, können
Die Kamera wird nur auf den Boden ge-          sich die Menschen auf der Flucht nicht
richtet, auf die früheren und zukünftigen      verstecken. Selbst in den verborgensten
Schlachtfelder.« Denn, wie Sven Johne          Winkeln, in denen sie Zuflucht suchen,
schreibt, auch der Boden hat ein Gedächt-      werden sie ausgemacht.
nis, was wir bereits bei Stephan Schenk            Mit Richard Mosse schließt sich zu-
erfahren durften. Beide Künstler richten       gleich der Kreis der präsentierten Künstle-
ihren Blick nach unten, auf die Erde.          rinnen und Künstler. Mit seiner Aufnahme
Wie kann man das Grauen abbilden?              kehren wir zurück in die Türkei, mit deren
Und als hätten sie es geahnt, finden in        Hauptstadt Istanbul wir anhand von Lilly
unmittel­barer Nähe der alten Stationen        Lulays Collage »Istanbul up and down«,
heute neue Gräueltaten statt, die die          2015 gestartet sind. Und so gerät die         Abb. 11
endlose Serie von verstümmelten Orten          Ausstellung am Ende zu einer Rund­reise.      Gwenneth Boelens, Liar‘s cloth (guileless note), 2015
fortschreiben und Menschen einmal mehr         Wir kehren noch einmal in ein Land zu-
zur Passage zwingen, zum Aufbruch ins          rück, das sich – wie so viele andere auch
Ungewisse.                                     – in einer Passage befindet. Politische und
    Das Konvolut aus fotografischen und        gesellschaftliche Umbrüche prägen die
filmischen Aufnahmen, das Richard              Türkei seit vielen Jahren. Auch hier
Mosse (* 1980, Kilkenny, Irland) mit dem       mussten Menschen ihre Heimat verlassen.
Titel »Heat Maps« versehen hat, wurde          Es bliebe zu hoffen, dass das Flüchten
mit Wärmebildkameras erzeugt (Abb. 21).        zugunsten des Reisens irgendwann ein
Die Szenen geschossen und die Filme auf-       Ende hat.

24   Passagen                                                                                                                                        Passagen   25
Zusammen mit den Teilnehmerinnen und                F&D Cartier bis hin zu den dokumentari-       entscheidende Rolle, wie der Einsatz der    dass auch die Hoffnung sichtbar wird,
Teilnehmern des Seminars »Passagen« im              schen Erzählstrukturen bei Sven Johne und     Wärmebildkamera von Richard Mosse und       die in der Zusammenstellung der Werke
Wintersemester 2021/22 an der Folkwang              Beatrice Minda. Sie wird von filmischen       die Polaroids von Manfred Paul zeigen.      mitschwingt. Denn in der Auseinander­
Universität der Künste unter Leitung von            Momentaufnahmen wie bei Timo Kahlen           Jedes Material untermauert dabei eine       setzung mit den Themen liegt immer auch
Steffen Siegel haben wir als Kunststiftung          und Lilly Lulay bis hin zur Philosophie des   andere inhaltliche Struktur und unter-      der Wunsch, die Verhältnisse, die uns
DZ BANK einmal mehr versucht, neben                 Fotografischen bei Raphael Hefti gedacht.     streicht die Erzählungen der Autorinnen     gegenwärtig so beunruhigen, besser
einer Erzählung, die mit den Motiven                Sie schließt Plastiken von Sandra Kranich     und Autoren.                                zu verstehen. Vielleicht hinterlässt diese
einhergeht, auch die Geschichte der                 genauso ein wie die Tapisserien von               Abschließend möchten wir Steffen        Ausstellung ja bei dem einen oder der
foto­grafischen Materialvielfalt in den             Stephan Schenk oder die kameralosen           Siegel und all seinen Studentinnen und      anderen eine Spur. Eine Spur im guten,
Blick zu nehmen. Sie reicht in dieser Aus-          Fotografien von Gwenneth Boelens und          Studenten Danke sagen. Das Ergebnis         im besten Sinne.
stellung von den malerischen Farbverläu-            Christian Boltanski. Dabei spielen immer      der Ausstellung hat sich als erschreckend
fen der Fotopapiere des Künstlerpaares              wieder auch fotografische Verfahren eine      aktuell erwiesen. Bleibt zu wünschen,

Abb. 12
Sven Johne, 47 Faults between Calais and Idomeni, 2017

26   Passagen                                                                                                                                                               Passagen   27
Abb. 13
Beatrice Minda, Daungyi, 2016,
aus der Serie: Dark Whispers

28   Passagen                    Passagen   29
»Daungyi«, 2016
                                                                                           Sarah Gramotke und Özlem Arslan

                                                                                           Ich schaue dich an, du ziehst mich hinein.
                      Eine Ruine wie ein Fantasma hinter grünblauem Monsun-Schleier.
                                                                                           Du bist wie ein altes Buch.
                                       Aufgetürmter Koloss, gleich dem British Empire?
                                                                                           Und ich blättere in deinen vergilbten und eingeknickten Seiten.
                                                         Welche Geister atmen mit dir?
                                                                                           Welche Geschichten sind es, die du mir erzählen willst?
     Unsichtbare Stimmen soufflieren Fragmente menschlichen Seins. Ich laufe durch die
                  menschenleeren Räume und erblicke all die verstaubten Gegenstände.
                                                                                           Sie offenbaren mir Rudimente der Vergangenheit.
                                    Ist zerrinnende Pracht ein Durchbruch des Scheins?
                                                                                           Ihre hinterlassenen Narben beschwören Gespenster mit vielsagenden Blicken herauf.
                              Eingefärbte Erinnerungen derer, die dich verlassen haben.
                                                                                           Ich werde verfolgt von ihrem Geflüster.
                                      Doch wie viele Staubschichten kannst du tragen?
                                                                                           Ihre Stimmen folgen mir überallhin.
                                   Dich in die Passage der unaufhaltsamen Zeit wagen?
                                                                                           Gehüllt in Schatten, gehüllt in Dunkelheit.
                                                             Wovor versteckst du dich?
                                                                                           Was ist es, das sie mir erzählen wollen?
                                        Ist es das Licht, das deine wahren Farben zeigt?
                                                                                           Sind es Geschichten aus einer versunkenen Vergangenheit?
                                    Ist es das unaufhaltsame Spurenschreiben der Zeit?

30   Passagen                                                                                                                                                      Passagen    31
Zu F&D Cartier,                                                                           Wait …
»Wait and see«, 2022                                                                      Marie Lansing

Max Beck

Vor einigen Jahren bin ich auf eine alte Fotografie gestoßen, die eine Straßenecke in     Warten – ein ungeliebter Zustand. In einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft, in der
Halberstadt zeigt. Es war erstaunlich zu bemerken, wie gut ich mich in diese Situation    jede Verzögerung verhindert, jede Minute, jede Sekunde effizient genutzt werden soll,
einer unbestimmten Vergangenheit versetzen konnte. Klirrendes Geschirr ist aus den        ist das auferzwungene Warten für die meisten Menschen ein Zustand, der Nervosität
Fenstern der Fachwerkhäuser zu hören und das Klackern von Pferdehufen auf dem             und Unzufriedenheit auslöst.
Kopfsteinpflaster hallt durch den Raum. Die Straße ist menschenleer, die Geschäfte            Warten ist Verlust. Verlorene Zeit.
sind geschlossen. Langsam gehe ich an der feucht riechenden steinernen Fassade des            Wir wollen immer mehr in immer weniger Zeit erreichen, erfahren, erleben. Wo
mittelalterlichen Gebäudes vorbei. Die Luft ist kalt und ich lausche meinen Schritten.    immer es also möglich ist, versuchen wir, das Warten zu umgehen oder so kurz wie nur
    Häufig habe ich mich gefragt, warum mir das Erleben dieser Stimmung durch das         unbedingt nötig anzuhalten. Während des Wartens werden wir auf uns selbst zurück­
Bild klarer erscheint als beim wirklichen Entlanggehen einer Straße.                      geworfen. Wir müssen uns aushalten – mit all unseren Gedanken und Gefühlen. Kein
    Während des Betrachtens der Fotopapiere, die sich extrem langsam und dadurch          Wunder, dass wir am liebsten jede Sekunde, die leer zu bleiben droht, mit Beschäfti-
unbemerkt verändern (Abb. 14), bin ich Teil des fotografischen Prozesses. Kein Raum,      gung füllen wollen.
keine Gegenstände sind zu erkennen, und so gibt es auch nicht die Möglichkeit, mich in        Dank unseres Smartphones ist das mittlerweile auch problemlos möglich, es bietet
einen vergangenen Moment zu versetzen. Die Zeit steht nicht still – der Blick kann sich   eine unerschöpfliche Unzahl an Beschäftigungsmöglichkeiten. So können wir schon
nicht an einem Ausschnitt erfreuen.                                                       auf dem Weg zur Arbeit E-Mails beantworten oder uns auf Social-Media-Kanälen bis ins
    Das Blau ist schön und draußen rauschen die Autos über die Straße.                    Unendliche scrollen.
                                                                                              Gleichzeitig streben wir nach mehr Zeit für uns selbst, nach Entspannung und
                                                                                          Er­holung – nach Entschleunigung. Freie Zeit wird zum Luxusgut, während zeitgleich das
                                                                                          Leben immer schneller zu werden scheint und es immer schwieriger wird, das Tempo
                                                                                          zu halten.
                                                                                              Doch liegt nicht die eigentliche Intention dieses geschäftigen Treibens gerade darin,
                                                                                          irgendwann einmal langsam sein zu dürfen? Warum ist uns das Warten dann so sehr
                                                                                          verhasst? Ist es nicht paradox, dass diese vehemente Vermeidung von auferlegten
                                                                                          Warte-Pausen letztlich ein Pausieren zum Ziel hat? Sind es nicht gerade diese vermeint­
                                                                                          lichen Zwangspausen, die es uns ermöglichen, in unserer von Effizienz getriebenen
                                                                                          Lebenswelt für einen Moment zur Ruhe zu kommen?

                                                                                          … and see
32   Passagen                                                                                                                                                         Passagen   33
Erblindende
Papiere
Malte Radtki

Fotografien zirkulieren und migrieren,
sie werden verteilt, gehandelt und repro-
duziert. Dabei unterhalten fotografische
Bilder ein prekäres Verhältnis zu ihren
Trägermaterialien. Bild und Träger bewe-
gen sich in unterschiedlichen Geschwin-
digkeiten. Immateriell gehen Bilder den
Objekten voraus, überholen und überle-
ben diese. Als Objekte wiederum über­
dauern Fotografien, bezeugen vergangene
                                              Abb. 14
und vergessene Gebrauchswerte und             F&D Cartier, aus der Serie: Wait and See,
tragen ihre Bilder in neue Kontexte.          1998 – fortlaufend, Foto: Daniel Cartier
    Das Schweizer Künstler:innen-Duo
F&D Cartier insistiert auf dieser Spaltung.
Für die ortsspezifischen Installationen der
Werkgruppe »Wait and See«, 2022 wer-          Bereits mit fortschreitendem Alter nimmt     gewinnen die instabilen Blätter an ästheti-   Projektionsfläche zur Reflexion all jener
den einzelne Bögen Silbergelatinepapier,      die Empfindlichkeit von fotochemischem       scher Autonomie. Das Glas des Fensters –      Bilder einlädt, die sich dort hätten mate­
ohne belichtet, entwickelt und fixiert zu     Material ab. Das Potenzial, zum Träger       um jene Metapher aufzugreifen, die die        rialisieren können: die künstlerischen wie
werden, im Raum montiert und mit Aus-         zirkulierender Bilder zu werden, erlischt    Fotografie seit ihren Anfängen begleitet      die profanen. Die Bilder des Alltäglichen
stellungsbeginn dem Umgebungslicht            jedoch spätestens im abrupten Moment         – ermattet und rückt dabei selbst in den      wie die des Besonderen und der Kata­-
ausgesetzt (Abb. 14). Die Papiere, die        der vollständigen Belichtung. Langsam,       Fokus. In einer Geste der Verweigerung        s­trophe. Jene, die für die Öffentlichkeit
sie dafür zusammengetragen haben,             aber unaufhaltsam setzt ein Verände-         scheinen Bild und Träger vollends geschie-    bestimmt waren, genauso wie die privaten
überspannen einen Zeitraum von 110            rungsprozess ein. Die Papiere beginnen       den. Und doch bewahrt das Material eine       und intimen. Die propagandistischen wie
Jahren Zeit-, Medien- und Bildgeschichte:     mit dem Licht zu reagieren, sie verdunkeln   Potenzialität. Die fotografischen Bilder      die emanzipatorischen, die gewaltvollen
Die ältesten wurden 1890 produziert,          sich und nehmen individuelle Farbtöne an.    zeigen sich beharrlich. Sie huschen als       wie die verbindenden. Die Bilder der Täter
die jüngsten im Jahr 2000.                    Von der Verpflichtung abzubilden befreit,    Geister über das erblindete Papier, das als   und die Bilder der Opfer.

34   Passagen                                                                                                                                                         Passagen   35
Abb. 15 und 16                                                                            Abb. 17 und 18
Manfred Paul, Mauerfall 1 und 2, 1990                                                     Manfred Paul, Mauerfall 6 und 9, 1990

Überlieferungen
                                                                                          Demgegenüber kommt bei Beatrice              aus verschiedenen fotografischen Träger-
                                                                                          Mindas Serie »Dark Whispers«, 2016 die       materialien, Entstehungszeiträumen und
                                                                                          Vergangenheit als etwas bereits Abge-        Urheber:innen ein. Aber wenn sich im
des Übergangs                                                                             schlossenes ins Bild (Abb. 1). Die oft aus
                                                                                          dunklem Teakholz errichteten Gebäude
                                                                                                                                       Verlauf der Videoarbeit die im Postkarten-
                                                                                                                                       format gehaltenen Stadtansichten von
                                                                                          mit ihrer pittoresken ruinen­haften Anmu-    prägenden Ornamenten, Bauten und
Dortje Fink                                                                               tung datieren allesamt aus der Zeit des      Strukturen überlagern und durchdringen,
                                                                                          Kolonialismus in Myanmar und sind trotz      so tun dies die ihnen innewohnenden
                                                                                          ihrer kulturellen Hybridität vornehmlich     Bedeutungsschichten ebenfalls.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion,           und Brachen entlang der Mauer in Berlin,     Relikte einer gewaltvollen Zeit der Fremd-       Durch ihren historischen Bezug über­
postkoloniale nationalstaatliche Unab­       wo sich noch kurz zuvor der Todesstreifen    bestimmung. Zwar wirken die menschen-        liefern die drei verschiedenen Arbeiten
hängigkeit, historische Regimewechsel –      befand. Mit einem Vermerk zu Datum           leeren Räume, als wäre in ihnen die Zeit     allesamt Bilder des Übergangs – ob nun
Übergänge von einem politischen System       und Ort auf jeder Sofortbildfotografie       stehengeblieben, aber sobald die improvi-    als Bruch wie bei Manfred Paul, als schlei-
in ein anderes sind Veränderungen, die       archiviert er die urbanen Relikte eines      sierten Schlafplätze der Bewohner:innen      chender Prozess wie bei Beatrice Minda
den Menschen, anders als physische oder      gerade erst zusammengebrochenen politi-      ins Bild kommen (Abb. 4), wird der           oder als Palimpsest wie bei Lilly Lulay.
seelische Transformationsprozesse, von       schen Systems und den damit ver­lorenen      Kontrast zwischen heutiger Nutzung und       Dabei werden die Fotografien selbst zu
außen widerfahren. Solche historischen       Schrecken des symbolhaften Bauwerks.         historischem Verweischarakter des Ortes      historischen Quellen und sind zugleich
Passagen bzw. Momente des politischen        Dass er sich eines fotografischen Verfah-    offenkundig.                                 aktiv an der Konstruktion von geschicht­
Wandels werden auch in drei Arbeiten         rens bedient, das wie kein anderes für die       Unter anderen Vorzeichen treffen         lichen Narrativen beteiligt.
dieser Ausstellung auf ihre jeweils eigene   unmittelbare Verhaftung im Moment der        auch in Lilly Lulays Bewegtbildcollage
Weise greifbar.                              Aufnahme steht, unterstreicht den Vor-       »Istanbul up and down«, 2015 verschiede-
    So streift etwa in der Serie »Mauer-     satz, die unaufhaltsamen und geschichts-     ne Zeitebenen aufeinander (Abb. 2).
fall«, 1990 (Abb. 15­–18) der Fotograf       trächtigen Veränderungen vor seinen          Zwar schreibt sich der mitunter klischee-
Manfred Paul durch die Straßen, Wege         Augen festzuhalten.                          behaftete touristische Blick in den Mix

36   Passagen                                                                                                                                                         Passagen   37
Wir alle erwarten
Antworten
Tabea Funke und Deborah Herber

Die Passage des Spiegels ist die Reflexion. Ein Spiegel ist nie einfach                      am Glas unsichtbar gemacht. Doch der               Spieglein, Spieglein
nur ein Spiegel, sondern steht in Abhängigkeit zu dem, was er spiegelt.                      Künstler schafft daraus etwas doppelt              an der Wand –
Er befindet sich gleichsam im ständigen Dialog.
                                                                                             Paradoxes: Er nimmt das Glas, dem die              Übungen zur Selbstreflexion
                                                                                             reflexive Eigenschaft genommen wurde,              im Ausstellungsraum
   Der Spiegel ist im wörtlichen Sinne ein Basiswerkzeug der Selbst­                         um sie ihm wieder zurückzuerstatten, in-
reflexion. Ein Mittel, um mich optisch zu reflektieren und mir die                           dem er es mehrfach schichtet und addiert.
                                                                                                                                             • Was sehe ich, wenn ich in den Spiegel
Chance zu geben, mein äußeres Selbst mit meinem inneren Selbst in                            Eine Passage vom Spiegeln zum Entspie-
                                                                                             geln zurück zum Spiegeln: So wird bereits         blicke? Sehe ich zuerst mein Spiegelbild
Verbindung zu bringen.                                                                                                                         und das des Raumes, in dem ich mich
                                                                                             in seiner Arbeitsweise das Phänomen
                                                                                             des Spiegelns im Werkstoff reflektiert.           befinde, oder sehe ich die Materialität
                                                                                                 Die künstlerische Position Raphael            des Spiegels?
Weil der Mensch sich selbst zu ergründen      lung arbeitet der Mensch seit jeher –          Heftis geht über einen Fotoabzug hinaus         • Wenn ich auf die Materialität achte,
und zu verstehen versucht, ist der Spiegel    das Instrument der Selbstreflexion wird        und bildet trotz seiner unbeweglichen,            was fällt mir auf? Reflektiert das zu-
ein »Phänomen« des Humanum. So hat            potenziert und reflektiert sich in weiteren    skulpturalen Erscheinung eines der inter-         nächst entspiegelte und dann künst­
der Spiegel seit Jahrtausenden eine andere    Spiegelungen, so etwa in den großen            aktivsten Werke hier im Raum. Wie es              lerisch durch Mehrfachschichtung
Wertigkeit als die sonstigen Werkzeuge,       Spiegelsälen von Versailles, in denen Spie-    reflektierende Dinge so an sich haben,            generierte spiegelnde Material anders?
die uns im Alltag nützlich sind. Ausgenom-    gel genutzt werden, um ein Gefühl der          tritt das Werk in einen direkten Dialog mit
men hiervon ist die relativ moderne Tech-     Unendlichkeit und Ewigkeit zu erzeugen.        dem Raum und verbindet auf diese Weise          • Verändern sich die anderen Werke des
nik von Fotografie- und Videoaufnahmen,           Dieses »Spiegel-Spiel« spielt auch         alle sich in ihm spiegelnden Kunstwerke           Raumes in der Reflexion durch das
die man von sich und anderen macht.           der Schweizer Künstler Raphael Hefti in        zu einer dreidimensionalen Wirklichkeit.          Werk von Raphael Hefti? Wie nehme
Diese funktionieren in einer ähnlichen        dem Werk aus der Serie »Subtraction as         Und auch ich als Betrachter:in kann mich          ich den Raum durch die Spiegelung
Weise wie der Spiegel.                        Addi­tion«, 2012, das wir in dieser Ausstel-   in dieser Wirklichkeit positionieren, reflek-     seines Werkes wahr?
    Ich trete fragend vor den Spiegel – er    lung sehen (Abb. 6 und 19).                    tieren oder einfach nur betrachten. Durch       • Kann eine Kamera den gleichen Zweck
gibt mir Antwort und setzt mich dadurch           Um den Nutzen von Glas, ungehindert        die farbige Füllung der addierten Spiegel         erfüllen wie der Spiegel?
zu mir selbst in ein Verhältnis. Im Märchen   hindurchsehen zu können, zusätzlich zu         entdecke ich mich neu – in einer imagi­
geschieht das, indem ein Zauberspiegel        verstärken, arbeitet Raphael Hefti mit         nären Landschaft.
zu sprechen beginnt. Auch mit dem ästhe-      eigens für Museen im Voraus entspiegel-            Wir alle erwarten Antworten von
tischen Aspekt der Spiegelung von Spiege-     tem Glas: Reflexion als Charakteristik wird    einem Spiegel.

38   Passagen                                                                                                                                                             Passagen   39
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