Pilotstudie: Vergleich zweier Bewegungseinheiten bei Kindern und Jugendlichen während eines stationär psychiatrischen Aufenthalts ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
LEOPOLD-FRANZENS-UNIVERSITÄT INNSBRUCK Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft, Institut für Sportwissenschaft Pilotstudie: Vergleich zweier Bewegungseinheiten bei Kindern und Jugendlichen während eines stationär psychiatrischen Aufenthalts MASTERTHESIS Zur Erlangung des akademischen Grades Master of Science (M.Sc.) im Fach Sportwissenschaft Richter, Katharina, B.A. 26.05.2020 Sommersemester 2020 Matrikelnummer: 11719346 Katharina.richter@student.uibk.ac.at Betreuer: Univ.- Prof. Dr. Martin Kopp
I Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Eidesstattliche Erklärung Ich erkläre hiermit an Eides statt durch meine eigenhändige Unterschrift, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe. Alle Stellen, die wörtlich oder inhaltlich den angegebenen Quellen entnommen wurden, sind als solche kenntlich gemacht. Die vorliegende Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form noch nicht als Magister-/Master-/Diplomarbeit/Dissertation eingereicht. 26.05.2020 Datum Unterschrift
II Danksagung An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei meiner Betreuerin Anika Frühauf sowie Univ.- Prof. Dr. Kopp für das Ermöglichen dieser Masterarbeit und die bestmögliche Unterstützung bedanken. Mein Dank gilt ebenso der Station der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Tirol- Kliniken in Hall für eine gute Zusammenarbeit während den Interventionen. Bei meinen Freunden und Kommilitonen möchte ich mich für die schöne Zeit während des Studiums und natürlich für eure Unterstützung bei dieser Arbeit bedanken! Ihr habt mir durch eure gute Laune, viele hilfreiche Tipps, Korrekturlesungen und bei allem Anderen sehr geholfen. Ein großer Dank geht auch an meine Familie, welche mir in jeder Phase meines Studiums zur Seite stand und mich in all meinen Entscheidungen unterstützt hat. Danke vor allem an meinen Bruder, der mir mit seinen technischen Ratschlägen viel Zeit und Arbeit erspart hat.
III Inhalt Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................................... V Tabellenverzeichnis ................................................................................................................ VI Abbildungsverzeichnis ..........................................................................................................VII Zusammenfassung ............................................................................................................... VIII 1. Einleitung .......................................................................................................................... 1 2. Theoretischer Hintergrund ................................................................................................ 2 2.1 Körperliche Aktivität und Gesundheit ....................................................................... 2 2.1.1. Präventive Maßnahmen ...................................................................................... 4 2.1.2. Rehabilitative Maßnahmen................................................................................. 8 2.1.3. Ansätze und Erklärungsmodelle ....................................................................... 11 2.2 Ätiologie, Definition, Klassifikation und Epidemiologie von psychiatrischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen..................................................................... 19 2.3 Messinstrumente zur Erhebung der Befindlichkeit ................................................. 26 2.4 Bewegungstherapie .................................................................................................. 30 2.5 Klettertherapie ......................................................................................................... 33 2.5.1 Physiologische und psychologische Aspekte ................................................... 34 2.5.2 Vergleich zu anderen Behandlungsmethoden .................................................. 38 2.5.3 Kletterinterventionen in der Therapie .............................................................. 39 2.6 Studienziel ............................................................................................................... 43 3. Methodik ......................................................................................................................... 43 3.1 Stichprobe und Studiendesign ................................................................................. 43
IV 3.2 Messaufbau und -instrumente .................................................................................. 44 3.2.1 Durchführung der Therapieeinheiten ............................................................... 44 3.2.2 PANAS-C ......................................................................................................... 45 3.2.3 Feeling Scale und Felt Arousal Scale ............................................................... 46 3.2.4 BORG-Skala ..................................................................................................... 48 3.3 Datenverarbeitung und statistische Auswertung ..................................................... 49 4. Ergebnisse ....................................................................................................................... 50 5. Diskussion ....................................................................................................................... 55 5.1 Veränderungen im affektiven Bereich ..................................................................... 55 5.2 Der Einfluss der Intensität ....................................................................................... 61 5.3 Evidenzbasierte Bewegungstherapie ....................................................................... 62 5.4 Wirksamkeit des therapeutischen Kletterns............................................................. 64 5.5 Limitationen............................................................................................................. 67 5.6 Conclusio ................................................................................................................. 69 6. Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 71
V Abkürzungsverzeichnis ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung BDNF Brain Derived Neurotrophic Factor COPD Chronisch obstruktive Lungenerkrankung CVD Cardiovascular Disease DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders FAS Felt Arousal Scale FS Feeling Scale HDL High Density Lipoprotein HPA-Achse Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse ICD International Classification of Disease IL Interleukine KHK Koronare Herzkrankheiten MS Multiple Sklerose PANAS Positive and Negative Affect Scale SDQ Strength and Difficulties Questionnaires VLDL Very Low Density Lipoprotein WHO World Health Organization
VI Tabellenverzeichnis Tabelle 1 Wöchentliche Bewegungsempfehlung der WHO .................................................... 5 Tabelle 2 Prävalenz psychischer Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter ...................................................................................................................... 22 Tabelle 3 BORG-Skala ........................................................................................................... 48 Tabelle 4 Ergebnisse der Positive and Negative Affect Scale ............................................... 51 Tabelle 5 Ergebnisse der Feeling Scale und Felt Arousal Scale ............................................ 52 Tabelle 6 Ergebnisse der BORG-Skala .................................................................................. 54
VII Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Circumplexmodell der affektiven Befindlichkeit .............................................. 29 Abbildung 2 Studiendesign .................................................................................................... 44 Abbildung 3 Feeling-Scale ..................................................................................................... 47 Abbildung 4 Felt-Arousal-Scale............................................................................................. 47 Abbildung 5 Prozentuale Veränderung der Positive and Negative Affect Scale ................... 51 Abbildung 6 Circumplexmodell der Feeling-Scale und Felt-Arousal-Scale.......................... 52 Abbildung 7 Prozentuale Verteilung der Mittelwerte der BORG-Skala ................................ 54
VIII Zusammenfassung Hintergrund: Im Bereich der Bewegungstherapie wurden in den vergangenen Jahren die Auswirkungen der Klettertherapie auf die physische und psychische Gesundheit untersucht. Allerdings ist die wissenschaftliche Evidenz der Wirksamkeit, besonders im Bereich der Kinder- und Jugendtherapie, sehr gering. Das Ziel dieser Studie ist die Untersuchung akuter Effekte des therapeutischen Kletterns im Vergleich zu einer Schwimm- und einer Ergotherapieeinheit auf die Befindlichkeit bei psychiatrisch stationären Kindern und Jugendlichen. Methodik: An dieser Pilotstudie nahmen 19 psychisch erkrankte und verhaltensauffällige stationäre Kinder und Jugendliche mit einem Durchschnittsalter von 13 Jahren teil. Während einer 60-minütigen Kletter-, Schwimm- und Ergotherapieeinheit wurden die aktuelle Befindlichkeit anhand der PANAS-C, der FAS und FS sowie die subjektiv empfundene Erschöpfung anhand der BORG-Skala erfasst. Die PANAS-C wurde vor (t0) und nach (t3) der Therapie, die FAS, FS und BORG-Skala alle 20 Minuten zu den Zeitpunkten t0, t1, t2 und t3 gemessen. Die statistische Analyse erfolgte anhand der einfaktoriellen ANOVA mit Messwiederholung. Ergebnisse: Es gab in Bezug auf die PANAS keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen zu den Zeitpunkten t0 und t3 (PA: F(2,34)=0,464; p=0,633; η²=0,027, f=0,17; NA: F(2,34)=1,443; p=0,250; η²=0,078; f=0,29). Es gab zudem keine signifikanten Unterschiede in der wahrgenommenen Aktivierung (FAS: F(6,102)=0,347; p=0,910; η²=0,020; f=0,14) oder in der affektiven Befindlichkeit (FS: F(6,102)=0,851; p=0,474; η²=0,048; f=0,23) zwischen den Gruppen zu den Zeitpunkten t0-t3. In Bezug auf die BORG-Skala konnte ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen Klettern und Schwimmen (p=0,001) sowie Klettern und Ergotherapie (p=0,009) analysiert werden (F(2,34)=5,304 p=0,020; η²=0,238; f=0,56), wobei sich beim Klettern eine höhere subjektive Belastung zeigte. Diskussion: Alle drei Interventionen führten zu einer Verbesserung der Befindlichkeit. Allerdings konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen den Interventionen gefunden werden. Damit kann aus den vorliegenden Ergebnissen keine Empfehlung der Klettertherapie gegenüber anderen Bewegungstherapien getroffen werden. Zukünftige Interventionen, die Klettereinheiten einschließen, sollten in kontrollierten Studien-Designs mit noch stärkerer Berücksichtigung der Diagnose und vielleicht zusätzlichen diagnostischen Inventaren untersucht werden. Schlüsselwörter: Klettertherapie, affektive Befindlichkeit, psychische Störung und Verhaltensauffälligkeit, Kinder und Jugendliche
IX Abstract Background: In the field of exercise therapy, the effects of climbing therapy on physical and mental health have been investigated in recent years. However, the scientific evidence of its effectiveness, especially in child and youth therapy, is very limited. The aim of this study is to investigate acute effects of a therapeutic climbing in comparison to swimming and occupational therapy on the mental health of psychiatrically inpatient children and adolescents. Methods: 19 psychologically and behaviorally disturbed inpatient children and adolescents with an average age of 13 years participated in this pilot study. During a 60-minute climbing, swimming and occupational therapy session, the current state of health was assessed using PANAS-C, FAS and FS and the subjectively perceived exhaustion by the BORG-scale. The PANAS-C was recorded before (t0) and after (t3) the therapy, the FAS, FS and BORG scale were recorded every 20 minutes at t0, t1, t2 and t3. Statistical analysis was performed using single factor repeated measured ANOVA. Results: There were no statistically significant differences between the groups at the time of t0 and t3 (PA: F(2.34)=0.464; p=0.633; η²=0.027, f=0.17; NA: F(2.34)=1.443; p=0.250; η²=0.078; f=0.29). There were also no significant differences in perceived activation (FAS: F(6.102)=0.347; p=0.910; η²=0.020; f=0.14) or affective valence (FS: F(6.102)=0.851; p=0.474; η²=0.048; f=0.23) between groups at times t0-t3. With regard to the BORG scale, a statistically significant difference between the groups climbing and swimming (p=0.001) and climbing and occupational therapy (0.009) could be analyzed (F(2.34)=5.304 p=0.020; η²=0.238; f=0.56), whereby climbing was characterized by a higher subjective load. Discussion: All three interventions led an improvement in well-being. However, no significant differences between the interventions could be found. Therefore, no recommendations of climbing therapy over other exercises therapies can be made from the available results. Future interventions, involving climbing units, should be investigated in controlled study designs with even greater emphasis on diagnosis and perhaps additional diagnostic inventories. Keywords: Climbing therapy, affective state, psychological and behavioral disorders, Children and adolescents
1 1. Einleitung „Mein Ziel beim Klettern ist, das Schwere mit Leichtigkeit zu überwinden. Dazu braucht es Geschicklichkeit und Kraft, aber zuallererst den Glauben daran, es zu können“ (Ilgner, 2015). Der deutsche Kletterer und Bergsteiger Bernd Arnold bezieht sich mit seinem Zitat auf den Klettersport und beschreibt sowohl die physischen als auch psychischen Voraussetzungen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Auch im Alltag wird man häufig vor Herausforderungen gestellt, die ohne bestimmte Voraussetzungen nicht bewältigt werden können, besonders wenn dabei physische oder psychische Einschränkungen, beispielsweise in Form von Erkrankungen, auftreten. Um sich den alltäglichen Herausforderungen zu stellen, werden häufig Behandlungsmethoden in Form von medikamentösen Therapien oder Psychotherapien angewendet. Auch die bewegungsbezogene Therapie rückt sowohl auf physiologischer, als auch auf psychologischer Ebene immer weiter in den Fokus der Wissenschaft. So konnten beispielsweise internistische Erkrankungen wie Krebs, chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD), oder koronare Herzerkrankung (KHK) sowie orthopädische Funktionseinschränkungen bei chronisch nichtspezifischen Rückenschmerzen durch Bewegung vermindert werden (Pfeifer, Schöne & Brüggemann, 2008; Pottgießer, Bode & Röcker, 2014; Spruit, Pitta, McAuley, ZuWallack & Nici, 2015; Stout, Baima, Swisher, Winters-Stone & Welsh, 2017). Eine wachsende Anzahl an Publikationen in den letzten Jahren zu den Effekten von Bewegung auf die psychische Gesundheit deutet auf ein großes Forschungsinteresse in diesem Bereich hin (Cooney et al., 2013). Einige Belege deuten darauf hin, dass psychische Erkrankungen wie Depression, Angststörung oder Schizophrenie, durch die Bewegungstherapie, meist in Form eines Ausdauertrainings, reduziert werden könnten (Blumenthal et al., 2007; Broocks & Wedekind, 2009; Lukowski, 2018). Die Klettertherapie wurde in den letzten Jahren immer häufiger in das therapeutische
2 Programm im klinischen Setting aufgenommen, allerdings fehlt es noch an eindeutigen wissenschaftlich Belegen für die Wirksamkeit dieser Bewegungseinheit (Frühauf, Sevecke & Kopp, 2019). Besonders die akuten Auswirkungen des Kletterns wurden bisher nur limitiert diskutiert (Kleinstäuber, Reuter, Doll & Fallgatter, 2017). Wie die körperliche Aktivität und insbesondere das Klettern auf Patienten mit psychischen Erkrankungen wirken, soll in dieser Arbeit diskutiert werden. Zu Beginn werden Informationen über die allgemeine körperliche Aktivität im Zusammenhang mit der Gesundheit sowie Informationen über psychische Erkrankungen gegeben. Anschließend wird genauer auf die Effekte des Kletterns sowie auf aktuelle Interventionen diesbezüglich eingegangen. Der empirische Teil der Arbeit beschäftigt sich mit einer durchgeführten Kletterintervention mit Kindern und Jugendlichen, in Folge dessen die Ergebnisse zusammengefasst und diskutiert werden. In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich miteingeschlossen, soweit es für die Aussage erforderlich ist. 2. Theoretischer Hintergrund 2.1 Körperliche Aktivität und Gesundheit Im Jahr 2016 waren weltweit 23 % der Männer und 32 % der Frauen ab 18 Jahren körperlich nicht ausreichend aktiv, wobei Nord- und Südamerika mit 39 % und der östliche Mittelmeerraum mit 35 % die höchste Prävalenz aufwiesen (Guthold, Stevens, Riley & Bull, 2018). 81 % der Schulkinder und Jugendlichen im Alter von 11-17 Jahren waren weltweit im Jahr 2010 nicht ausreichend körperlich aktiv, wobei die Inaktivität der Mädchen mit 84 %
3 gegenüber der Jungen mit 78 % höher war (World Health Organization, 2020). Aber was versteht man unter körperliche Aktivität und welchen Stellenwert nimmt sie in der Gesundheit ein? Körperliche Aktivität umfasst jede körperliche Bewegung, die von der Skelettmuskulatur hervorgerufen wird und zu einer erheblichen Erhöhung des Energieverbrauchs führt. Zu den positiven physiologischen Auswirkungen zählen unter anderem der Anstieg der kardiorespiratorischen Ausdauerleistung, Insulinaktivitäten in der Skelettmuskulatur sowie im Gewebe, ein Anstieg des High Density Lipoprotein (HDL) Cholesterins und die Senkung des Blutdrucks (Bouchard, Blair & Haskell, 2007). Die World Health Organization (WHO) zählt zu den gesundheitsfördernden Auswirkungen der körperlichen Aktivität zudem noch die verbesserte Knochenstabilität, die Reduktion von KHK, Schlaganfällen, Diabetes, unterschiedlichen Krebsarten und Depressionen sowie die Risikominimierung von Stürzen, Hüft- und Wirbelbrüchen. Zudem sei das Sterblichkeitsrisiko inaktiver Menschen um 20-30 % höher als das körperlich Aktiver (World Health Organization, 2018). Eine Metaanalyse bestätigt diese Statistik in einer Untersuchung über den Einfluss regelmäßiger körperlicher Aktivität auf die Gesamtmortalität und konnte einen signifikanten Zusammenhang zwischen aktiven Personen und einer niedrigen Mortalitätsrate im Vergleich zu häufig sitzenden Personen feststellen (Löllgen, Böckenhoff & Knapp, 2009; Naci & Ioannidis, 2013). Neben den physiologischen Auswirkungen von körperlicher Aktivität auf die Gesundheit sind auch die psychologischen Faktoren zu berücksichtigen. Bevor der Einfluss von Bewegung auf psychische Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten analysiert wird, folgt ein Überblick über die Prävalenz dieser Erkrankungen. Eine Analyse der WHO zeigt die weltweite Prävalenzrate im Jahr 2015 von Depression und Angststörung, die als häufig auftretende psychische Erkrankungen deklariert werden. Dabei wird die Gesamtzahl der Bevölkerung mit Depressionen auf über 300 Millionen Menschen
4 geschätzt und entspricht damit 4,4 % der Weltbevölkerung. Frauen seien mit 5,1 % häufiger betroffen als Männer (3,6 %). 264 Millionen Menschen (3,6 % weltweit) leiden unter einer Angststörung. Auch hier sind Frauen mit 4,6 % häufiger betroffen als Männer mit 2,6 %. Laut der WHO nimmt die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten weltweit zu. Dieses Phänomen zeigt sich insbesondere in Ländern mit geringem Einkommen, da die Bevölkerung stetig wächst und immer mehr Menschen in das Alter von 55-74 Jahren kommen, in denen Depressionen am häufigsten auftreten. Für das Jahr 2015 wird die Selbstmordrate auf 788 000 geschätzt, wobei die depressive Erkrankung eine der Hauptursachen darstellt (World Health Organization, 2017). Aufgrund dieser Datenlage ist es wichtig, Ansätze und Modelle zur Reduktion von physischen und psychischen Erkrankungen zu finden. Neben den Standardinterventionen, wie der medikamentösen und der Psychotherapie, nimmt auch die Bewegungstherapie einen immer höheren Stellenwert ein. In den folgenden Abschnitten werden die präventiven und rehabilitativen Maßnahmen in Form von Bewegung analysiert. Anschließend wird der Einfluss der körperlichen Aktivität auf die Psyche anhand von verschiedenen Erklärungsmodellen betrachtet. 2.1.1. Präventive Maßnahmen Um präventive Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu ergreifen, stellt die WHO eine altersspezifische Bewegungsempfehlung dar, die für Menschen ohne Kontraindikationen gilt (s. Tabelle 1). Dabei geben die jeweiligen Einheiten ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität wieder.
5 Tabelle 1 Wöchentliche Bewegungsempfehlungen der WHO für Kinder, Erwachsene und Senioren (World Health Organization, 2018) Alter (in Jahren) Ausdauertraining (in min) Krafttraining (pro Woche) 5-17 60 pro Tag (moderat bis intensiv) 3 18-64 150 (moderat) oder 75 (intensiv) 2-3 während der Woche >65 150 (moderat) oder 75 (moderat- 2 intensiv) während der Woche Auf staatlicher Ebene wurde in Deutschland im Jahr 2016 das Präventionsgesetz (§ 20d Abs. 3 SGB V) verabschiedet. Dieses zielt besonders auf die gesetzliche Kranken-, Renten- und Unfallversicherung, die soziale Pflegeversicherung und auf Unternehmen der privaten Krankenversicherung ab, welche aufgerufen werden, Leistungen zur Förderung der Gesundheit und Minimierung gesundheitlicher Risiken zu erbringen. Basierend auf dem Gesetz sollen die Kranken- und Pflegekassen in Zukunft rund 300 Mio. Euro jährlich in die Gesundheitsförderung und Prävention investieren, wobei besonders Kitas, Schulen, Kommunen, Betriebe und Pflegeeinrichtungen mit Gesundheitsprojekten gefördert werden sollen (Nationale Präventionskonferenz, 2018). Das Sozialministerium in Österreich beruft sich in der Frage nach Prävention und Gesundheitsförderung auf die Bangkok-Charta für Gesundheitsförderung, in der zum aktiven Handeln für das globale Ziel „Gesundheit für alle“ aufgerufen wird und in der die Bedeutung Setting übergreifender Kooperationen für die Gesundheit verdeutlicht wird (World Health Organization, 2008). Zudem beruft sich das Ministerium auf die Jakarta-Deklaration, in der die Entwicklung nationaler Gesundheitsstrategien fokussiert wird (World Health Organization, 1997). Mit dem Gesundheitsförderungsgesetz wurde eine gesetzliche Grundlage geschaffen, welche die Maßnahmen zur Erhaltung, Förderung und Verbesserung der Gesundheit sowie Aufklärung über vermeidbare Krankheiten umfasst. Zudem sollen Informationen über seelische, geistige und soziale Faktoren, die die Gesundheit beeinflussen
6 können, bereitgestellt werden (StF: BGBI. I Nr.51/1998). Seit dem Jahr 2006 existiert die Gesundheit Österreich GmbH, welche das nationale Forschungs- und Planungsinstitut im Gesundheitswesen sowie die Kompetenzstelle für Gesundheitsförderung darstellt. Dabei wird ein besonderer Fokus auf die Handlungsfelder Bewegung, Ernährung, seelische Gesundheit, Menschen am Arbeitsplatz, ältere Menschen sowie Kinder und Jugendliche gelegt (Gesundheit Österreich GmbH, 2018). Der Einfluss von körperlicher Aktivität auf das Risiko an KHK und weiteren kardiovaskulärer Erkrankungen (CVD) zu erkranken, konnte in einer Metaanalyse dargestellt werden. Anhand von verschiedenen Studien wurde eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen Perzentilen der körperlichen Aktivität und dem Risiko einer KHK oder CVD erstellt. Das Perzentil gibt dabei an, wie viel Prozent der Gesamtstichprobe weniger (geringerer Wert) oder mehr (höherer Wert) körperliche Aktivität betreiben, um diesen Prozentsatz als Vergleichswert einordnen zu können. Die Ergebnisse belegen, dass die Risiken einer KHK oder CVD ab dem 25ten Perzentil linear mit der steigenden körperlichen Aktivität abnehmen (Williams, 2001). Bei der Krebsprävention konnte aufgezeigt werden, dass körperlich aktive Männer und Frauen im Vergleich zu inaktiven Personen ein 30-60 % geringeres Darmkrebsrisiko aufweisen. Das Brustkrebsrisiko bei körperlich aktiven Frauen reduziert sich um 20-30 % im Gegensatz zu Frauen, die körperlich eher inaktiv sind (Lee, 2003). Auch in der Prävention von Gebärmutter-, Nieren-, Blasen-, Speiseröhren- und Magenkrebs ist ein aktiver Lebensstil von Vorteil, wohingegen Inaktivität im Umkehrschluss mit einem höheren Risiko von Melanomen verbunden ist (Patel et al., 2019). Außerdem hat körperliche Aktivität auf neurologischer Ebene einen Einfluss auf die Gesundheit, da beispielsweise das Schlaganfallrisiko bei Menschen mit arteriosklerotischen Gefäßerkrankungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich erhöht ist. Beiden Erkrankungen kann durch regelmäßige körperliche Aktivität entgegengewirkt werden
7 (Goldstein et al., 2006). Im Jahr 2010 wurde weltweit 17,7 % des Risikos, an Alzheimer zu erkranken, auf körperliche Inaktivität zurückgeführt (Norton, Matthews, Barnes, Yaffe & Brayne, 2014). Ebenso ist die psychologische Ebene von entscheidender Bedeutung in der Prävention. Eine in Amerika durchgeführte Studie ergab, dass körperliche Inaktivität bei 15-54 jährigen Personen ein Risikofaktor für Depressionen und Angstzustände sein kann (Carek, Laibstain & Carek, 2011). Eine weitere Studie untersuchte den Effekt körperlicher Aktivität von Jugendlichen in Bezug auf die Depressionsrate. Ein höheres Maß an körperlicher Aktivität bei Jugendlichen war mit einem geringeren Maß an Depressionen sowie mit einem verlangsamten Anstieg, bzw. Rückgang der Depression im Laufe der Zeit verbunden (McPhie & Rawana, 2015). Die Ergebnisse eines Review-Artikels aus dem Jahr 2019 deuten darauf hin, dass Programme für körperliche Aktivität und Bewegung bei jungen Menschen in Bezug auf die Verbesserung der psychischen Gesundheit, vor allem in der Entwicklung von Depressionssymptomen, wirksam sein kann. Der Fokus der Bewegung lag dabei besonders auf den Bereichen Yoga sowie Kraft- und Ausdauertraining (Pascoe & Parker, 2019). Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2009 konnte belegen, dass die Sportbeteiligung im Jugendalter eine protektive Funktion besitzt. Regelmäßige körperliche Aktivität kann vor Depressionen und Suizidgedanken schützen, da hierdurch die endogenen Endorphin-Spiegel erhöht, das Selbstwertgefühl gesteigert, das Körperbild verbessert, die soziale Unterstützung erhöht und der Drogenmissbrauch beeinflusst wird (Babiss & Gangwisch, 2009). Goodwin (2003) konnte ebenfalls einen negativen Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und schweren Depressionen sowie Angststörungen feststellen. Diese Ergebnisse wurden anhand von Daten aus der Comorbidity National Survey analysiert, wobei hierbei keine Angaben zur Art und Dauer der körperlichen Aktivität gemacht wurden (Goodwin, 2003). Weitere interessante Ergebnisse, die den Zusammenhang
8 zwischen körperlicher Aktivität und der psychischen Gesundheit darstellen, wurden in einer Metaanalyse von Vancampfort et al. (2017) vorgestellt und bezogen sich auf den alters- und geschlechtsspezifischen Vergleich. Menschen mit psychischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten betrieben signifikant weniger mäßige bis intensive körperliche Aktivität als Gesunde und erfüllten die Richtlinien für körperliche Aktivität signifikant weniger. Auch die sitzende Lebensweise war bei psychisch erkrankten Menschen signifikant höher (Vancampfort et al., 2017). Demnach ist das Ergreifen präventiver Maßnahmen von entscheidender Bedeutung, da viele Krankheiten bereits vorgebeugt werden können, bevor sie überhaupt entstehen (Grams, 2018). 2.1.2. Rehabilitative Maßnahmen Körperliche Fitness ist nicht nur in der Prävention ein wichtiger Faktor, um Krankheiten vorzubeugen und die Gesundheit aufrecht zu erhalten, sondern auch in der Rehabilitation rückt die Bewegung in Form einer Therapie immer stärker in den Mittelpunkt. Das Ziel der Bewegungstherapie ist dabei die Steigerung der allgemeinen körperlichen Leistungsfähigkeit sowie die Behandlung lokaler Funktionsstörungen (Spring & Egger, 2005). Die medizinische Trainingstherapie ist in vielen Rehabilitationseinrichtungen von großer Bedeutung. Kraft, Koordination, Gleichgewicht, Ausdauer, Haltung oder Flexibilität sollen hierbei einen positiven Einfluss auf den Krankheitsverlauf sowie auf die Lebensqualität von Patienten nehmen (Gerstendorfer, 2012). Diese positive Wirkung konnte unter anderem bei onkologischen Patienten festgestellt werden. Die häufigsten Krebsarten in dieser Untersuchung waren Brust-, Prostata- und Darmkrebs. Laut der Autoren soll jedoch bei allen Krebsarten die körperliche Aktivität vorteilhaft für den Krankheitsverlauf und die körperlichen Funktionen sein. Dabei ist die Trainingsintensität von besonderer Bedeutung. Eine moderate bis hohe Intensität verbessert verschiedene körperliche und funktionelle
9 Indikatoren, wohingegen Interventionen mit niedriger Intensität positive Auswirkungen auf kognitive Prozesse, Depressionen und Angst aufzeigten (Stout et al., 2017). Auch bei weiteren Krankheitsbildern, wie beispielweise der COPD, führt Training in der Phase der Rehabilitation zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes sowie der Reduktion der Gesamtmortalität. Die Ergebnisse des Review-Artikels empfehlen im Frühstadium der COPD eine körperliche Betätigung von mindestens zwei Stunden pro Woche (Spruit et al., 2015). Allerdings gibt es in diesem Bereich noch Forschungsbedarf, um beispielsweise individuelle Trainingsvorschriften oder interdisziplinäre Ansätze für Verhaltensänderungen für COPD Patienten entwickeln zu können (Spruit et al., 2015; Zeng, Jiang, Chen, Chen & Cai, 2018). Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen muss die Bewegungstherapie differenziert betrachtet werden. Körperliche Aktivität wirkt sich positiv auf die arterielle Hypertonie aus, da die Vasodilatation, also die gefäßerweiternden Mechanismen, durch ein erhöhtes Schlagvolumen und einer erhöhten Herzfrequenz angeregt werden. Zudem wird die Sympathikus-Aktivität verringert und die Parasympathikus-Aktivität erhöht. Generell kann der arterielle Blutdruck durch körperliches Training dauerhaft gesenkt werden (Steinacker & Lesevic, 2017). Bei Patienten mit Herzinsuffizienz führt körperliche Aktivität zu einer Verbesserung der pathophysiologischen Parameter, einer Steigerung der Leistungsfähigkeit sowie der Lebensqualität und zu einem Rückgang der Mortalität (Pottgießer et al., 2014). Genauer gesagt kann durch regelmäßiges Training die maximale Sauerstoffaufnahme um 15- 30 % gesteigert und die Vasodilatation sowie die pulmonale Kapazität verbessert werden (Wonisch et al., 2004). Der Fokus in der Rehabilitation von KHK liegt in der Stabilisation des Krankheitsverlaufes, der Kontrolle der Risikofaktoren, dem Training neuer Verhaltensweisen sowie der Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Die Bewegungstherapie ist auch in Bezug auf die Auslastung verschreibungspflichtiger Medikamente von großer Bedeutung. In einer Studie über die Wirksamkeit von
10 Medikamenten und Trainingsinterventionen konnte aufgezeigt werden, dass hinsichtlich der Mortalität bei KHK und Prädiabetes einige Medikamente den gleichen Effekt aufwiesen wie körperliche Aktivität. Bei Schlaganfallpatienten war das Training sogar effektiver als die medikamentöse Therapie (Naci & Ioannidis, 2013). Nicht nur auf der somatischen, sondern auch auf der psychologischen Ebene soll der Fokus neben der medikamentösen- und Psychotherapie immer mehr auf die Sport- und Bewegungstherapie gelegt werden. In den vergangenen Jahren wurden Bewegungsinterventionen bei klinischen Populationen mit diagnostizierten Depressionen, Angstzuständen und Essstörungen durchgeführt (Stathopoulou, Powers, Berry, Smits & Otto, 2006). Allerdings ist die Wirksamkeit oftmals nicht eindeutig belegbar, da einige Studien erhebliche methodische Limitationen aufweisen (Cooney et al., 2013; Lawlor & Hopker, 2001; Stathopoulou et al., 2006). Dennoch konnten einige Autoren einen Zusammenhang zwischen aeroben Training und der psychischen Gesundheit feststellen (Biddle, Ciaccioni, Thomas & Vergeer, 2019; Stathopoulou et al., 2006). Cooney et al. (2013) berichtet in seiner Studie über einen mäßigen Effekt bei der Reduktion depressiver Symptomatik durch Bewegung im Vergleich zu Kontrollinterventionen ohne Bewegung. Laut dieser Metaanalyse scheint jedoch die Bewegungstherapie nicht wirksamer als psychologische oder pharmakologische Therapien zu sein, wobei diese Schlussfolgerung auf wenige kleinere Studien beruht (Cooney et al., 2013). Eine Studie mit depressiven und schizophrenen Patienten konnte nach einem vierwöchigen Ausdauertraining eine Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit in den Bereichen visuelles Lernen, Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie eine Abnahme der Zustandsangst und eine Steigerung der subjektiven Lebensqualität belegen (Oertel-Knöchel et al., 2014). Bei 180 Schulkindern, bei denen fast die Hälfte depressive Symptome aufwiesen, konnten Zusammenhänge von sportlicher Betätigung und die Häufigkeit depressiver Symptome gemessen werden. Je
11 häufiger sich die Kinder körperlich betätigten, desto geringer waren Schwere und Häufigkeit depressiver Symptome (Alghadir, Gabr & Al-Eisa, 2016). Wie genau sich körperliche Aktivität auf den Organismus auswirkt und warum die WHO bereits ab dem fünften Lebensjahr einen ausreichenden Bewegungsumfang empfiehlt, wird im folgenden Abschnitt erläutert. 2.1.3. Ansätze und Erklärungsmodelle Die Wirkmechanismen körperlicher Aktivität auf die Gesundheit lassen sich in zwei große Kategorien einteilen, auf die im folgenden Abschnitt genauer eingegangen wird: physiologische und psychologische Faktoren. Dabei beschäftigt sich der erste Teil mit den Auswirkungen auf die physische Gesundheit. Im zweiten Teil werden die Auswirkungen auf psychische Faktoren und Krankheitsbilder betrachtet. Körperliche Aktivität führt bereits im Kindesalter zu Anpassungen des Herz-Kreislauf- Systems sowie des Bewegungsapparates. Mit der physischen Belastung geht eine beschleunigte und vertiefte Atmung einher, sodass dies zu einer mechanischen Reinigung und Belüftung der Atemwege führt, wodurch die Anzahl von Krankheitserregern reduziert werden kann (Rosenhagen, 2017). Bewegungsmangel kann bereits im Kindesalter zu einer endothelialen Dysfunktion führen. Das Endothel ist eine metabolisch aktive einzellige Schicht, die das Gefäßsystem auskleidet und für die Gefäßweitung zuständig ist. Verschiedene Faktoren, wie beispielsweise die Hypercholesterinämie, können zu einem Versagen der Gefäßfunktionen und somit zu kardiovaskulären Problemen führen (Pires, Sena & Seiça, 2016). Die Aktivierung des Herz-Kreislauf-Systems durch Bewegung führt zu einem erhöhten Blutfluss und somit zu einer Stimulation der Endothelzellen, wodurch eine schnellere Vasodilatation begünstigt wird. Zudem wirkt Training inflammatorisch, also entzündungshemmend. Diese Faktoren wirken unter anderem positiv auf das Gefäßsystem
12 und somit auch auf KHK (Steinacker & Lesevic, 2017). Zusätzlich profitieren die passiven Strukturen von regelmäßiger körperlicher Aktivität. So kann beispielsweise die Knochenstabilität verbessert werden. Durch Druck oder Zug knöcherner Strukturen werden biomechanische Reaktionen (Mechanotransduktionen) ausgelöst, die im weiteren Verlauf zu einem stimulierenden Effekt auf die knochenbildenden Osteoblasten führen. Diese Knochenstabilisierung wirkt präventiv gegen Knochendegenerationen wie Osteopenie oder Osteoporose und verschiebt die Frakturschwelle des altersdegenerativen Knochens (Rosenhagen, 2017). Aufgrund des steigenden Wohlstandes in unserer Gesellschaft nehmen ausreichend körperliche Aktivität und ausgewogene gesunde Ernährung immer höhere Stellenwerte ein, da zunehmend mehr Menschen an der sogenannten Wohlstandserkrankung leiden. Darunter fällt das metabolische Syndrom, welches folgende kardiovaskuläre Risikofaktoren zusammenfasst: Adipositas, Insulinresistenz, bzw. Diabetes Mellitus Typ II, arterielle Hypertonie bei endothelialer Dysfunktion sowie die Dyslipoproteinämie, einem gestörten Verhältnis der Fettsäuren, bei dem eine Erhöhung der Triglyceriden und des Very Low Density Lipoprotein Cholesterin (VLDL) sowie ein erniedrigtes HDL-Cholesterin auftritt (König, 2017). Durch körperliche Aktivität kann dieses Syndrom gelindert werden, da Fettmasse zum Teil in Muskelmasse umgewandelt wird. Zusätzlich wird eine Verbesserung der Insulinresistenz durch eine erhöhte Anzahl von Insulinrezeptoren erzielt. In Bezug auf die Dyslipidämie das HDL-Cholesterin leicht gesteigert und das LDL, bzw. VLDL-Cholesterin reduziert werden (Wirth, 2002). Des Weiteren sollen die psychologischen Auswirkungen körperlicher Aktivität auf die neurophysiologischen Parameter betrachtet werden. Die Hypothalamus-Hypophysen- Nebennieren-Achse (HPA-Achse) spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung adaptiver Reaktionen auf physische und psychische Stressfaktoren. Das gesamte HPA- System ist so konzipiert, dass sich Organismen an physische und psychosoziale
13 Veränderungen in ihrer Umwelt anpassen können. Beim Menschen aktiviert akuter Stress das Zentralnervensystem und bewirkt unter anderem die Freisetzung des Glukokortikoids Cortisol aus der Nebennierenrinde (Burke, Davis, Otte & Mohr, 2005). Erhöhte Cortisolspiegel wiederum hemmen über negative Rückkopplungsmechanismen im Hippocampus, präfrontalen Kortex und der Amygdala das HPA-System (Burke et al., 2005; S. Lee, Jeong, Kwak & Park, 2010). Dies kann sich auf die neuronale Verhaltensfunktion der genannten Hirnregionen auswirken. So kann beispielsweise die Neurogenese, die Bildung neuer Nervenzellen, gehemmt werden. Die durch chronischen Stress verursachten Anomalien der Hippocampus-Neuronen können die Hemmschwelle der HPA-Achse reduzieren, was zur Hyperaktivität der HPA-Achse führen kann. Diese Hyperaktivität konnte bei der Hälfte der depressiven Patienten gemessen werden (Anderson & Shivakumar, 2013; S. Lee et al., 2010). Dysregulationen auf der HPA-Achse, wie beispielsweise eine Hyperaktivität, kann eine Manifestation von Depressionen und Angstsymptomen hervorrufen (Anderson & Shivakumar, 2013). Durch körperliche Aktivität konnte bei depressiven Frauen die Ausschüttung an Cortisol reduziert und der depressive Zustand signifikant vermindert werden (Nabkasorn et al., 2006). Diese Ergebnisse konnten durch eine weitere Studie bestätigt werden, die die Auswirkungen von Bewegung auf die HPA- Achse und die Cortisol-Reaktion bei 46 Frauen untersuchte. Unter Laborbedingungen wurden dabei Stresssituationen herbeigeführt und die darauffolgende Cortisol-Reaktion anhand von Speichel-Cortisol gemessen. Bei körperlich aktiven Frauen verzögerte sich der Cortisol-Anstieg und es folgte eine raschere Erholung der HPA-Achse nach der Stressinduktion im Vergleich zu körperlich inaktiven Frauen. Dies deutet darauf hin, dass Personen, die einen körperlich aktiven Lebensstil führen, vor den Auswirkungen von akutem Stress geschützt werden könnten (Puterman et al., 2011). Eine lang andauernde Hyperaktivität der HPA-Achse in Folge von chronischem Stress kann jedoch auch zu einem
14 Hypocortisolismus führen, also einem geringen Cortisol-Spiegel, der ebenfalls mit einer depressiven Symptomatik assoziiert wird (Fries, Hesse, Hellhammer & Hellhammer, 2005; Maripuu, Wikgren, Karling, Adolfsson & Norrback, 2014). Die bereits erwähnte gehemmte Neurogenese kann bei depressiven Patienten zu einem verringerten Volumen im Hippocampus führen (Wolf & Hautzinger, 2012). Einige Studien, zusammengefasst in einer Metaanalyse von Brunoni, Lopes und Fregni (2008), konnten einen Zusammenhang zwischen dem Wachstumsfaktor Brain Derived Neurotrophic Factor (BDNF), das am häufigsten im Gehirn vorkommende Neurotrophin, und der Depressionsrate erkennen. Bei depressiven Patienten war der BDNF-Spiegel signifikant niedriger als bei Gesunden (Brunoni et al., 2008). Dieser niedrige BDNF-Spiegel konnte auch bei anderen psychischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten beobachtet werden (Duman & Monteggia, 2006; Xiu et al., 2009). Die Auswirkung körperlicher Aktivität auf den BDNF wurde zunächst in einigen Tierstudien untersucht, wobei ein signifikanter Anstieg des BDNFs bei steigernder körperlicher Aktivität beobachtet werden konnte (Oliff, Berchtold, Isackson & Cotman, 1998; Russo-Neustadt, Beard & Cotman, 1999). Seit einigen Jahren gibt es diesbezüglich auch Ergebnisse in der Humangenetik. Durch akute aerobe körperliche Aktivität kann der BDNF-Spiegel im peripheren Blut gesteigert und somit möglicherweise der neuronale Wachstum im Hippocampus gefördert werden (Knaepen, Goekint, Heyman & Meeusen, 2010). Bereits eine einzige Trainingseinheit konnte bei depressiven Frauen einen Anstieg des BDNF hervorrufen (Laske et al., 2010). Zusätzlich sind die Neurotransmitter Monoamine bei der Betrachtung von psychischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten wichtig. Zu diesen zählen Serotonin, Noradrenalin und Dopamin, die den Hirnkreislauf durch die Regulierung von Stimmungen, die Reaktionsfähigkeit auf psychischen Stress, die Selbstkontrolle, die Motivation und kognitive Leistungen beeinflussen (Hamon & Blier, 2013). Durch körperliche Aktivität kann dieses Monoamin-
15 System aktiviert und somit eine Erholung der Depression bewirkt werden (van Praag, 2009). Besonders Serotonin (5-HT) ist in Bezug auf die Depression von entscheidender Bedeutung, da bei dieser Erkrankung häufig ein Mangel vorliegt. 5-HT wird mit seiner Auswirkung auf Schlaf, Lethargie und Motivationsverlust in Verbindung gebracht. Körperliche Aktivität kann den 5-HT Spiegel reduzieren, allerdings ist die Intensität der Belastung sowie die angesteuerte Hirnregion von entscheidender Bedeutung (Lin & Kuo, 2013). BDNF und Serotonin interagieren miteinander, um die Entwicklung und Plastizität neuronaler Schaltkreise zu regulieren, welche an psychischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten wie Depression und Angststörungen beteiligt sind. So fördert BDNF beispielsweise das Überleben und die Differenzierung von 5-HT-Neuronen und umgekehrt Serotonin die BDNF-Genexpression (Martinowich & Lu, 2008). Weitere wichtige Faktoren sind die immunologischen Prozesse. Die Transmitter Zytokine fungieren als Signalübertragung zwischen den Zellen und steuern den Transport von Immunzellen ins Gewebe, wo sie entweder hemmend oder aktivierend wirken. Interleukine (IL) bilden eine Subgruppe der Zytokine. Proinflammatorische IL können krankheitsbedingte Reaktionen wie Rückzug, Appetitmangel etc. auslösen, um somit beispielsweise Krankheitserreger zu bekämpfen. Bei depressiven Patienten scheint die Produktion des proinflammatorische IL-6 erhöht. Dieses aktiviert die HPA-Achse, was wiederum zur erneuten Ausschüttung von Glukokortikoiden führt. Zudem können proinflammatorische IL Wachstumsfaktoren wie BDNF hemmen, wodurch die depressive Symptomatik gesteigert werden kann (Wolf & Hautzinger, 2012). Eine Studie aus dem Jahr 2011 konnte aufzeigen, dass bei körperlich inaktiven Personen die Depressionsrate signifikant mit höheren IL-6 Werten assoziiert wurde. Daraufhin schlussfolgern die Autoren, dass moderate körperliche Aktivität das Risiko proinflammatorischen IL-Werte, welche häufig mit depressiven Symptomen assoziiert werden, vermindern kann (Rethorst, Moynihan, Lyness, Heffner & Chapman, 2011). Die
16 antidepressive Wirkung von IL-6 sowie deren Reaktion auf körperliche Bewegung konnte auch durch die Studie von Lavebratt et al. (2017) bestätigt werden. Patienten mit leichten bis mittelschweren Depressionen nahmen 12 Wochen an einem Trainingsprogramm teil, in Folge dessen eine Verringerung der IL-6 Werte signifikant mit einer parallelen Verringerung des Depressionsschweregrades einhergingen (Lavebratt et al., 2017). Die physiologische Wirkungsweise von körperlicher Aktivität auf die Gesundheit scheint überwiegend geklärt zu sein. Einige Studien weisen auf die Effizienz der Bewegung auf die psychische Gesundheit hin, allerdings ist der psychologische Mechanismus, der zu dieser Veränderung führen kann, bisher noch nicht ausreichend erforscht. Der folgende Abschnitt stellt drei Erklärungsmodelle vor, die den Einfluss der Bewegung auf die psychische Gesundheit beschreiben, wobei sich die Modelle überwiegend auf die Depression beziehen, da diese die meist verbreitete psychische Erkrankung darstellt (World Health Organization, 2017). In vielen Studien zum Thema psychische Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten wird die Selbstwirksamkeit thematisiert. Diese ist das Maß an Vertrauen einer Person in ihre Fähigkeit, bestimmte Handlungen selbstständig auszuführen, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen (Bandura, Freeman & Lightsey, 1999). Depressive Menschen haben oft ein niedriges Niveau der Selbstwirksamkeit. White, Kendrick und Yardley (2009) analysierten eine Verbesserung der Selbstwirksamkeit nach einer achtwöchigen Steigerung der körperlichen Aktivität bei depressiven Patienten und fand zudem heraus, dass dies mehr mit einer Verbesserung der positiven Gefühle als mit einer Verringerung der negativen Gefühlen einherging (White et al., 2009). Dies konnte auch von Bodin und Martinsen (2004) bestätigt werden, in deren Studie sich die Selbstwirksamkeit nach einer Kampfsport- Intervention bei klinisch-depressiven Patienten signifikant erhöhte. Auch die Zustandsangst sowie die negativen Gefühle konnten reduziert werden, sodass die Autoren von einer positiven Wirkung der erhöhten Selbstwirksamkeit auf die Stimmung der Patienten ausgehen
17 (Bodin & Martinsen, 2004). Ekkekakis und Acevedo (2006) nehmen an, dass die Steigerung der Selbstwirksamkeit vor allem dann gewährleistet ist, wenn die Intensität unterhalb oder annährend der aerob-anaeroben Schwelle liegt (Ekkekakis & Acevedo, 2006). Außerdem konnte Craft (2005) in seiner Untersuchung eines Ausdauertrainings mittlerer Intensität eine Verbesserung der Depression bei Frauen feststellen und definierte als mögliche Ursache eine Erhöhung der Selbstwirksamkeit (Craft, 2005). Eine weitere mögliche psychologische Wirkung könnte in der Ablenkung liegen. Nach einem theoretischen Modell seien Menschen, die sich auf die Symptome der Depression sowie deren mögliche Ursachen und Folgen konzentrieren, länger depressiv als Menschen, die Maßnahmen ergreifen, um von diesen Symptomen abzulenken (Nolen-Hoeksema, 1991). Eine dieser Maßnahmen soll die körperliche Aktivität darstellen, da diese als Ablenkung von Sorgen und depressiven Gedanken dienen kann (Craft & Perna, 2004). Goode und Roth (1993) fanden heraus, dass nicht die Ablenkung an sich, sondern der Inhalt der Ablenkungstechniken mit Veränderungen des emotionalen Wohlbefindens verbunden ist. Genauer gesagt berichteten sie, dass Läufer, die sich auf nicht-assoziative Gedanken (solche, die nicht mit dem Training in Verbindung stehen) konzentrierten, im Vergleich zu Läufern, die sich auf assoziative Gedanken (Überwachung des Körpers und der Übung selbst) konzentrierten, weniger Müdigkeit und in einigen Fällen eine Abnahme von Anspannung und Angst zeigten (Goode & Roth, 1993). Allerdings ist die aktuelle Studienlage zu diesem Thema nicht eindeutig. Es konnte eine Verbesserung der Befindlichkeit bei depressiven Patienten auf einem Fahrradergometer aufgezeigt werden. Dies ließ sich auf einen gewissen Flow-Effekt und somit auf eine Art Beseitigung oder Reduktion negativer Gedanken zurückführen, wodurch die depressiven Symptome vermindert werden könnten. Dieser Effekt wurde allerdings nur akut und nicht langfristig gemessen (Reinhardt et al., 2008). Laut Craft (2005) scheint der psychologische Mechanismus der antidepressiven Wirkung von Bewegung allerdings nicht
18 die Ablenkung, sondern mehr die Erhöhung der Selbstwirksamkeit zu sein (Craft, 2005). Weitere Studien konnten zwar die Effizienz dieser Ablenkungstheorie bestätigen, allerdings handelte es sich bei den meisten Probanden um gesunde, nicht psychisch erkrankte und verhaltensauffällige Personen, sodass diese Studien für die vorliegende Arbeit nicht weiter als relevant erachtet werden. Des Weiteren könnte die interpersonelle Ebene, die in vielen Bewegungsformen (Teamsport oder Gruppensetting) auftritt einen Einfluss auf die Befindlichkeit nehmen. So ist ein sozialer Effekt laut Wolf und Hautzinger (2012) zwar eher unwahrscheinlich, da dieser bisher in einigen empirischen Studien nicht nachgewiesen werden konnte, allerdings gehen Kleinstäuber et al. (2017) in ihrer Studie über die akuten Effekte einer Klettertherapie bei depressiven Patienten auf diesen sozialen Faktor ein (Kleinstäuber et al., 2017; Wolf & Hautzinger, 2012). Demnach kann die Emotionsregulation auf zwischenmenschliche Effekte reagieren, wodurch die Auswirkungen sozialer Unterstützung auf die Depression erklärt werden könnte. Die Emotionsregulation bezieht sich dabei auf extrinsische oder intrinsische Prozesse, die für die Überwachung, Bewertung und Modifizierung emotionaler Reaktionen verantwortlich sind. Allerdings ist der Einfluss sozialer Unterstützung in Bezug auf die depressive Erkrankung uneinheitlich. Manchmal ist diese hilfreich, manchmal schädlich und manchmal macht sie keinen Unterschied (Marroquín, 2011). Generell kann gesagt werden, dass soziale Unterstützung positive Auswirkungen durch ein gesteigertes Wohlbefinden bietet und positive psychologische Zustände wie Selbstwertgefühl oder positive Affekte fördert (Cohen, Hammen, Henry & Daley, 2004). Besonders wichtig ist dabei allerdings die wahrgenommene Unterstützung (Marroquín, 2011; Rueger, Malecki, Pyun, Aycock & Coyle, 2016). Cohen et al. (2004) fanden heraus, dass ein geringes Maß an wahrgenommener sozialer Unterstützung ein Risiko für ein depressives Rezidiv darstellt (Cohen et al., 2004). Es gibt Hinweise darauf, dass eine Depression nicht nur durch eine
19 abnorme Emotionserfahrung (z.B. geringer positiver Affekt und hoher negativer Affekt (Watson, Clark & Tellegen, 1988)), sondern auch durch eine maladaptive Emotionsregulation gekennzeichnet ist (Marroquín, 2011). Es ist klar erkennbar, dass die empirische Datenlage, insbesondere in Bezug auf die psychologischen Wirkfaktoren körperlicher Aktivität nicht eindeutig geklärt ist. Allerdings nimmt die Forschung hierbei zunehmend einen wichtigen Stellenwert ein, da psychische Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten bereits im Kindes- und Jugendalter auftreten können. Dies wird im folgenden Abschnitt genauer erläutert. 2.2 Ätiologie, Definition, Klassifikation und Epidemiologie von psychiatrischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen Beim Auftreten diverser Krankheitsbilder wird häufig recht schnell die Frage nach der Ursache gestellt. Bei psychischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten, besonders wenn diese bereits im Kindes- und Jugendalter auftreten, trägt die Ursachenforschung einen wichtigen Teil zur Aufklärung und Behandlung bei. In den letzten Jahren wurden einige Modelle entwickelt, um Störungen während der kindlichen Entwicklung zu erklären. Dabei nimmt die Entwicklungspsychopathologie eine besondere Rolle ein. Diese beschäftigt sich mit der Entstehung, Ursache und dem Verlauf einer psychischen Störung und bezieht sowohl die psychischen, also auch die biologischen und sozialen Faktoren mit ein (Petermann & Resch, 2013). Psychische Störungen zeigen sich oft in Form von Symptomen. Diese sind aber laut Resch und Parzer (2015) nicht nur ein Ausdruck gestörter Hirnfunktionen, sondern stellen die Anpassung eines Individuums dar (Resch & Parzer, 2015). Entscheidende Faktoren, die hierbei berücksichtigt werden müssen, sind die Risiko-, Vulnerabilitäts-, Kompensations- und Schutzfaktoren. Vulnerabilitäts- und Schutzfaktoren werden durch ein belastendes Ereignis oder eine Bedingung wirksam, hingegen Risiko- und kompensatorische
Sie können auch lesen