20 000 Jahre Klimawandel und Kulturgeschichte - von der Eiszeit in die Gegenwart

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20 000 Jahre Klimawandel und Kulturgeschichte - von der Eiszeit in die Gegenwart
Wolf Dieter Blümel

    20 000 Jahre Klimawandel
    und Kulturgeschichte
    – von der Eiszeit in die
    Gegenwart

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20 000 Jahre Klimawandel und Kulturgeschichte - von der Eiszeit in die Gegenwart
Verunsichert durch Meldungen über zunehmende Sturmtätigkeit, Hochwasserbedro-
hung oder Dürre bangt die Menschheit einer ,Klimakatastrophe‘ entgegen. Der Geist
ist aus der Flasche, und er ist so schnell nicht wieder hineinzuzwingen: Gemeint sind
                                                                                           schen Determinanten in der Nahrungs-
die noch nicht zu bestimmenden Ausmaße und Folgen eines eskalierenden Einsatzes            sicherung war aber weit gewichtiger als
fossiler Kohlenwasserstoffe (= über lange Zeiträume gespeicherte Sonnenenergie)            in einer Zeit technologisch unterstützter
                                                                                           oder gar substituierter Lebensmittelpro-
und eines radikalen Landschaftsverbrauchs in geologisch kürzesten Zeiträumen. Da-
                                                                                           duktion mit Kunstdünger, Treibhäusern
mit verbunden ist eine mögliche Temperaturerhöhung, die in ihrer synergetischen            und teils unartgerechter Massentierhal-
Wirkung auf das globale Klimasystem und seine Dynamik nur schwer zu fassen ist.            tung.
                                                                                              Die Grenzen der Ökumene, die Wur-
                                                                                           zeln des heutigen Siedlungsmusters,
                                                                                           ,Völkerwanderungen‘, Hochkulturen usw.
                                             Rekonstruktionen des Klimas in immer          stehen meist in kausalem Zusammen-
                                             feinerer zeitlicher Auflösung sollen hel-     hang mit dem Naturpotenzial. Letzteres
                                             fen, Ursache und vor allem Wirkung kli-       bestimmt „Gunst-“ und „Ungunstfakto-
                                             matischer Veränderungen besser zu ver-        ren“. Diese wiederum stehen in starker
                                             stehen und prognostische Vorstellungen        Abhängigkeit vom Klima als ökologi-
                                             zu entwickeln. Aus der Physischen Geo-        schem Regelfaktor. Zwar soll hier keine
                                             graphie sowie der Geologie und Paläon-        pauschalierende Determinismus-Lehre
                                             tologie stammten bereits aus dem 19.          verfolgt werden, doch auf die unter-
                                             Jahrhundert Hinweise auf teils drasti-        schätzte Tragweite selbst kleiner klimati-
                                             sche klimatische Veränderungen auch in        scher Fluktuationen verwiesen werden,
                                             der jüngsten erdgeschichtlichen Entwick-      innerhalb derer klimatische Variabilitäten
                                             lung, vor allem die Wechselfolge von Eis-     zusätzliche Stress- oder Gunstsituationen
                                             zeiten und Warmzeiten – anfänglich ver-       zur Folge haben. Als solche Variabilitäten
                                             bunden mit recht abenteuerlichen Vor-         innerhalb einer Klimaperiode können in
                                             stellungen [1]. Inzwischen ist (Paläo-)Kli-   Trockengebieten beispielsweise die bibli-
                                             maforschung zum zentralen Objekt zahl-        schen „sieben fetten“ oder „mageren Jah-
                                             reicher Wissenschaftszweige geworden.         re“ betrachtet werden.
                                             Auch am Lehrstuhl für Physische Geogra-
                                             phie der Universität Stuttgart werden ein-                                 Wolf Dieter Blümel      y

                                             schlägige Fragen bearbeitet.                        20000 Jahre Klimawandel und Kulturgeschichte y

                                                Der folgende grobe Überblick beleuch-                         – von der Eiszeit in die Gegenwart y

                                             tet unter anderem eine ungewohnte Fa-
                                             cette des Faches Geographie – die
                                             Schnittstelle der Paläoklimatologie mit
                                             der Kulturgeschichte und der historischen
                                             Siedlungsforschung. Der Blick geht zu-
                                             rück in eine Zeit, als die Welt noch nicht
                                             so drangvoll eng war (die erste Milliarde
                                             Menschen dürfte etwa um das Jahr
                                             1820 erreicht worden sein). Folglich
                                             erscheint die Betroffenheit gegenüber
                                             Naturkatastrophen geringer, das Risiko
                                             stärker im Raum verteilt. Das Maß der
                                             Abhängigkeit von physisch-geographi-

                                                                                                                                               3
20 000 Jahre Klimawandel und Kulturgeschichte - von der Eiszeit in die Gegenwart
WechselWirkungen       Fernwirkung in die angrenzenden Ozean-
                                            y
                                                                                                                         Klima der Jetztzeit – stabil
                             Jahrbuch 2002 y    becken ausüben kann. Zu einer Zeit, als                                  oder labil?
                                                Antarktika seinen bis heute persistenten
                                                Eispanzer aufbaute, herrschte auf dem                                    Eine Retrospektive in die jüngste und be-
                                                gesamten übrigen Globus ein ,tropoides’                                  deutsamste Phase menschlicher Entwick-
                                                Warm-Klima mit Waldvegetation – unter                                    lung beginnt meist 20 000 – 18 000
                                                anderem Lebensraum der Hominiden-                                        Jahre vor heute zur Zeit des letzten Hoch-
                                                Vorfahren in Afrika. (Noch während des                                   Glazials, dem Höhepunkt der Würm- oder
                                                älteren und mittleren Tertiärs wurden auf                                Weichsel-Kaltzeit/-Eiszeit. Daran schließt
   „KLIMA ist die für einen Ort, eine Land-     Spitzbergen aus Sumpfwäldern Kohlela-                                    sich die bis heute anhaltende Warmzeit/
schaft oder einen größeren Raum typi-           gerstätten gebildet. Heute herrscht hier                                 Interglazial an, das so genannte Holozän
sche Zusammenfassung der erdnahen               ein baumloses Polarklima.)                                               (Beginn 10 200 Jahre vor heute; Abb. 1),
und die Oberfläche beeinflussenden at-                                                                                   in der sich entscheidende kulturelle und
                                                   Das Herunterkühlen der Atmosphäre
mosphärischen Zustände und Witte-                                                                                        siedlungsgeschichtliche Entwicklungen
                                                vollzog sich vor allem über Meeresströ-
rungsvorgänge während eines längeren                                                                                     einstellten. Diese Periode von etwa
                                                mungen im Rahmen globaler Konvektions-
Zeitraumes in charakteristischer Vertei-                                                                                 10 000 Jahren gilt unter Klimaforschern
                                                systeme. Es führte zu einer zunehmenden
lung der häufigsten, mittleren und extre-                                                                                als klimatisch ausgesprochen stabil und
                                                Aridisierung der Kontinente und damit
men Werte.“ (J. Blüthgen 1966)                                                                                           von bemerkenswert langer Dauer: Eis-
                                                zur Entstehung ‘offener’ Landschaften
                                                                                                                         bohrkerne und Analysen von Meeressedi-
   Laufende Untersuchungen zur jüngeren         wie Savannen, Steppen oder Wüsten. Die
                                                                                                                         menten belegen immer deutlicher, dass
und jüngsten Klimageschichte zeigen,            Vor- und Frühmenschen als auf den tropi-
                                                                                                                         das gesamte Eiszeitalter (Beginn vor 2,4
dass es immer die wärmeren Phasen wa-           schen Bäumen lebende Primaten muss-
                                                                                                                         Millionen Jahren) gekennzeichnet war
ren, in denen es dem Menschen gut ging,         sten zumindest zeitweilig von ihren Nah-
                                                                                                                         durch häufigen Klimawandel, nicht selten
seine Lebensumstände angenehmer und             rungsspendern herabsteigen, um zu den
                                                                                                                         durch rapide ,Sprünge’. Zehn Jahrtausen-
seine kulturellen Entwicklungsmöglichkei-       nächsten zu gelangen. Der Weg führte
                                                                                                                         de klimatischer Stabilität in einem Inter-
ten größer waren. (Im Hinblick auf ein an-      durch hohe Gräser – ein Grund, sich auf-
                                                                                                                         glazial wie der Jetztzeit erscheinen als
thropogen verstärktes ,Global Warming‘          zurichten, um den lebenswichtigen Über-
                                                                                                                         bemerkenswerte Seltenheit.
und seine Folgen in einer überbevölker-         blick zu erhalten – eine noch umstrittene
ten Welt muss diese positivistische Aus-        Hypothese, aber nicht ohne Logik. Die                         Betrachtet man jedoch die Klimaent-
sage jedoch in Frage gestellt werden.)          Ausbreitung der Homoniden erfolgte von                    wicklung in höherer zeitlicher Auflösung
Andererseits ist in klimatischen Krisensi-      Afrika aus. Ihre Migration nach Eurasien                  und versucht, das Augenmerk auch auf
tuationen häufig ein Stimulanz für tech-        wurde durch offene Landschaften sicher-                   weniger dramatische Fluktuationen mit
nologische Innovationen und Anpas-              lich erleichtert.                                         entprechend kleinerer Amplitude zu len-
sungsstrategien erkennbar.                                                                                                        ken, so wird eine
                                                                                                                                  signifikante ,Instabi-
                                                                                                                                  lität’ sichtbar und
Aufrechter Gang durch                                                                                                             ihre Auswirkungen
Trockenheit?                                                                                                                      auf menschliche
                                                                                                                                  Aktivitäten wie die
                                                                                                 Holozän / Postglazial

Das wohl älteste Beispiel für die Interde-                                                                                        Ausbreitung und
pendenz Mensch – Klima mag in der                                                                                                 Veränderung der
menschlichen Evolution selber zu sehen                                                                                            Ökumene betont.
sein. Die Umstellung der ostafrikanischen                                                                                         Die genauere Re-
Vor- und Frühmenschen (Ramapithecus;                                                                                              konstruktion sol-
Australopithecus) auf den aufrechten                                                                                              cher Klima-
Gang seit ca. 12 Millionen Jahren wird                                                                                            fluktuationen, ihre
häufig mit der Savannisierung in Verbin-                                                                                          hochauflösende
dung gebracht – der Entstehung von of-                                                                                            zeitliche Einord-
fenen, baum-durchsetzten Graslandschaf-                                                                                           nung und die Ab-
ten, wie sie heute für Teile der trockenen                                                                                        schätzung ihrer Wir-
Tropen typisch sind [2]. Diese lösten re-                                                                                         kung auf die Kultur-
gional mehr oder minder geschlossene                                                                                              und Siedlungsge-
Waldlandschaften ab als Folge der sich                                                                                            schichte oder die
seit dem Miozän (ca. 20 Millionen Jahre)                                                                                          Änderung von na-
vollziehenden allmählichen Abkühlung                                                                                              türlichen Ökosys-
des gesamten Globus. Ursache der welt-                                                                                            temgrenzen (zum
weiten Abkühlung ist der Kontinent Ant-                                                                                           Beispiel Wüsten-
arktika, mit dessen plattentektonischer                                                                                           grenzen) ist ein Teil
Drift in eine polare Lage seine Vereisung                                                                                         der Forschungen
initiiert wird und nach erfolgter Isolierung                                                                                      am Institut für Geo-
von den übrigen Südkontinenten der cir-                                                                                           graphie der Univer-
cum-antarktische Kaltwasserstrom seine          Abb. 1:   Zeitskala und kulturgeschichtliche Gliederung des jüngeren Pleistozäns. sität Stuttgart. Im

4
20 000 Jahre Klimawandel und Kulturgeschichte - von der Eiszeit in die Gegenwart
Abb. 2: Absolute Alters-
datierungen (14C) an
fossilen Humushorizon-
ten belegen zahlreiche
Gletscherschwankun-
gen in der Hohen Arktis
Spitzbergens (ca. 80°N)
allein im Zeitraum der
letzten viertausend Jah-
re (nach Furrer aus Blü-
mel 1992). Die Pfeile in
der dritten Spalte sym-
bolisieren die Zeiten mit
Gletschervorstößen in
diesem Raum.

                                                                  Abb. 3: Luftaufnahme
                                                                  des Monaco-Gletschers
                                                                  (Liefde-Fjord/Nordwest-   Abb. 4: Die an eine Mondlandschaft erinnernde Abla-
                                                                  Spitzbergen) aus dem      gerung am Rand der ,Lerner-Insel’(s. Abb. 3) ist eine
                                                                  Jahr 1990. Die Kal-       Endmoräne des Monaco-Gletschers. Sie markiert den
                                                                  bungsfront des größten    Eisrand etwa um das Jahr 1850 am Ende der ‘Kleinen
                                                                  Fjord-Gletschers Spitz-   Eiszeit’.
                                                                  bergens liegt heute ca.
                                                                  acht Kilometer südlich
                                                                  der ,Lerner-Inseln’       der Hohen Arktis seit dem Ende der letz-
                                                                  (oberer Bildrand). Der
                                                                                            ten Eiszeit. Es zeigte sich ein überra-
                                                                  Beginn des Eisrück-
                                                                  gangs konnte auf die      schendes Ergebnis: Hier in den nördlichs-
                                                                  Mitte des 19. Jahrhun-    ten Landmassen der Erde erwartete man
                                                                  derts datiert werden.
                                                                  (s. Abb. 2,4)
                                                                                            eigentlich eine recht stabile Klimasi-
                                                                                            tuation. Eine intensive geomorphologi-
                                                                                            sche Spurensuche und Grabungstätigkeit
                                                                                            förderte datierbare Ablagerungen zu Ta-
                                                                                            ge, vor allem Humus-Horizonte, die be-
                                                                                            weisen, dass allein in den letzten 3 600
                                                                                            Jahren die hochpolaren Gletscher Nord-
                                                                                            Spitzbergens mindestens siebenmal kräf-
                                                                                            tige Vorstöße und entsprechende Rück-
                                                                                            schmelzphasen erlebt haben (Abb. 2).
Kontext dieses Überblicks sollen einige    schlossen. An ihr nahmen insgesamt               Diese Schwankungen blieben innerhalb
ausgewählte globale Beispiele angespro-    150 Wissenschaftler/-innen verschiede-           der Reichweite, die das Rückschmelzen
chen werden.                               ner geographischer, geologischer und             der Gletscher seit dem Jahr 1850 – dem
                                           biowissenschaftlicher Disziplinen teil, die      Ende der ,Kleinen Eiszeit’ – vollzogen ha-
  Vor zehn Jahren wurde die von Stutt-     17 Teilprojekten angehörten [3, 4]. Eines        ben (Abb. 4). Hierbei muss es sich
gart aus organisierte und koordinierte     der Teilprojekte widmete sich der Unter-
dreijährige ,Geowissenschaftliche Spitz-   suchung von auch gegenwärtig beob-                                             WechselWirkungen      y

bergen-Expedition’ (SPE 90-92) abge-       achtbaren Gletscherschwankungen in                                                  Jahrbuch 2002 y

                                                                                                                                               5
20 000 Jahre Klimawandel und Kulturgeschichte - von der Eiszeit in die Gegenwart
WechselWirkungen    y
                                                Savannen, Steppen und Wüsten aus. Die                    Klimabedingungen wieder aus und ver-
                            Jahrbuch 2002 y     Ursache dafür liegt in der kälteren tropo-               drängte die kaltzeitlich-trockeneren Vege-
                                                sphärischen Luft, die weniger Feuchtigkeit               tationsgesellschaften. Ähnlich verlief die
                                                aufnehmen kann und damit generell we-                    Entwicklung im Kongo-Becken und ver-
zwangsläufig um natürlich induzierte Kli-
                                                niger Niederschläge produziert. Ände-                    mutlich auch in Teilen der asiatischen
maschwankungen handeln. Interessant
                                                rung in den Strukturen der gesamten at-                  Tropen. Das Beispiel, zeigt, welche Verän-
ist nun die Frage, wie diese Fluktuationen
                                                mosphärischen Zirkulation stellten sich                  derungen an Ökosystemen und Lebens-
ausgelöst werden und ob es sich hier um
                                                ein. (In der letzten Kaltzeit/Eiszeit sank               raumgrenzen durch eine nur um vier Kel-
nur regional oder um global wirksame
                                                die Globaltemperatur auf 11°C; die der                   vin (K) abgesenkte Globaltemperatur
Schwankungen handelt.
                                                jetzigen Warmzeit liegt bei etwa 15°C.)                  nach sich zieht (vgl. auch Abb. 8, 10).
                                                Die nach Nord-Amerika eingewanderten
                                                Völkerschaften trafen also vornehmlich
Zu Fuß von Sibirien nach
Amerika                                         Tundren und Steppen an, in denen sie ja-                 Kälterückfall in der Tundrenzeit
                                                gen und ihre Lebensform weit verbreiten
Bevor dieses Thema global wirksamer ho-         konnten. Die im Naturzustand schwer                      Das so genannte Spätglazial steht für das
lozäner Klimafluktuationen weiter verfolgt      durchdringlichen tropischen Regenwäl-                    Abklingen der Würm-/Weichsel-zeitli-
wird, zunächst einen Schritt zurück in die      der Mittelamerikas und Amazoniens wa-                    chen Vereisungsphase. Der Übergang zur
letzte Eiszeit. Die Bildung gigantischer        ren nur noch in inselartigen Rückzugsge-                 nachfolgenden jetzigen Warmzeit (,Holo-
Eismassen auf dem nordamerikanischen            bieten erhalten geblieben (Abb. 6). Da-                  zän‘, Abb. 1) erfolgt unstetig und global
Kontinent (Laurentischer Eisschild), über       zwischen existierten die erwähnten offe-                 nicht völlig synchron. Das nordamerikani-
Nordwest-Europa (Fennoskandischer Eis-          nen, gut passierbaren Savannen-Ökosys-                   sche Inlandeis schmilzt ab und erzeugt
schild), die Zunahme der antarktischen          teme. Stellenweise finden sich unter der                 einen riesigen Schmelzwasserstausee,
und grönländischen Vereisung sowie die          aktuellen Regenwalddecke Amazoniens                      der die Fläche der kanadischen Provinzen
verstärkte Vergletscherung der Hochge-          und in Teilen Venezuelas äolische Abla-                  Sasketchewan, Manitoba sowie der ame-
birge ließen den Weltmeeresspiegel um           gerungen wie Dünen, Flugsanddecken                       rikanischen Staaten Nord- und Süd-Dako-
ca. 130 Meter absinken. Manche                  oder löss-artige Sedimente, die beweisen,                ta und Minnesota umfasst (,Agassiz-Eis-
Schelfmeere fielen trocken, die damalige        dass regional sogar halbwüsten- oder                     stausee‘). Ein Ausbruch gewaltiger Was-
Küstenlinie war regional deutlich zurück-       wüstenhafte Verhältnisse während der                     sermassen und Eisbergtrümmer über die
gewichen, die Festlandsfläche damit             letzten Kaltzeit herrschten. In der Nach-                heutigen kanadisch-amerikanischen Seen
größer. Im Hoch- und Spätglazial der            eiszeit breitete sich der heute anthropo-                weiter über den St. Lorenz-Strom ergießt
Würm-(Weichsel-)Eiszeit (ca. 25 000 –           gen stark reduzierte amazonische Regen-                  sich in den Nordatlantik und unterbricht
11 000 Jahre vor heute; Abb.1) vollzog          wald unter den warmzeitlich-feuchten                     den wieder angelaufenen Golfstrom. Das
sich die letzte transkontinentale Einwan-
derung: Asiatisch-mongolische Stämme
kamen über die trockengefallene Bering-
straße von Ost-Sibirien nach Alaska, das
damals nur teilweise vergletschert war.
Entlang der Rocky Mountains gelangten
sie auf das Territorium der heutigen USA,
wo sie die Ureinwohnerschaft der beiden
amerikanischen Kontinente begründeten
– die paläoindianische Urbevölkerung,
aus der die Inuits hervorgingen ebenso
wie die Indios Südamerikas. Abbildung 5
zeigt die rekonstruierten Einwanderungs-
wege. Gen-Forscher, die mehrere Ein-
wanderungswellen ermittelten, warfen
die Frage nach der überraschend schnel-
len Ausbreitung der Kulturen auf, die ih-
rerseits durch archäologische Funde be-
legt und datiert sind [5]: Wie konnten alt-
steinzeitliche Jäger- und Sammler-Grup-
pen sich in nur wenigen Jahrtausenden
bis nach Chile ausbreiten, wo sie bereits
vor 13 000 Jahren vor heute die Monte
Verde-Kultur begründeten?
   Eine plausible Antwort kann die Paläo-
geographie geben: Weltweite kühle oder
kalte Klimaperioden sind durch einen
                                                Abb. 5: Rekonstruktion der Einwanderung mongolischer Stämme von Sibirien über die trockengefallene Be-
Rückgang von Waldgesellschaften ge-             ring-Straße nach Nordamerika während des letzten Hoch- und Spätglazials. Markiert sind datierte Kulturen (ver-
kennzeichnet. Im Gegenzug breiten sich          ändert nach Der Spiegel, 1999).

6
20 000 Jahre Klimawandel und Kulturgeschichte - von der Eiszeit in die Gegenwart
Der Übergang von kaltzeitlichen zu
                                                                                                                    interglazial-warmzeitlichen Klimabedin-
                                                                                                                    gungen vollzog sich jedoch nicht völlig
                                                                                                                    synchron. Die atmosphärische Zirkula-
                                                                                                                    tion und die sie teilweise steuernden
                                                                                                                    ozeanischen Bedingungen mussten sich
                                                                                                                    umstellen und Platz greifen. Selbstver-
                                                                                                                    stärkungseffekte brauchten Zeit, sich kli-
                                                                                                                    matisch auszuprägen. Die Folge war
                                                                                                                    schließlich ein Globus mit neuen Klima-,
                                                                                                                    Vegetations- und Bodenzonen. Bei unse-
                                                                                                                    ren Untersuchungen zur Landschaftsent-
                                                                                                                    wicklung im südwestlichen Afrika konnte
                                                                                                                    beispielsweise festgestellt werden, dass
                                                                                                                    der Großteil namibischen Territoriums
                                                                                                                    während des letzten Hoch- und Spätgla-
                                                                                                                    zials deutlich trockener war als heute.
                                                                                                                    Das gesamte Land wurde von Wüsten
                                                                                                                    und Halbwüsten bestimmt. Vorzeitliche
                                                                                                                    Dünenbildungen in der heutigen Dorn-
                                                                                                                    busch- oder Trockensavanne konnten
                                                                                                                    auf 16 000 – 8 000 vor heute datiert
Abb. 6: Die erstaunlich schnelle Ausbreitung der eiszeitlichen/steinzeitlichen Kulturen auf beiden amerikanischen   werden (vgl. Abb. 8). Es gelang, die riesi-
Kontinenten erklärt sich durch die paläogeographische Situation: Das globale ,Kaltklima‘ der letzten Eiszeit be-
günstigte offene Landschaften (Savannen, Steppen, Halbwüsten, Wüsten) und damit auch die Migration von              gen Längsdünenfelder der westlichen
Jäger- und Sammler-Kulturen. Der schwer durchdringliche tropische Regenwald Mittel- und Südamerikas konnte          Kalahari zeitlich einzuordnen: Ihre Dyna-
nur in kleineren Rückzugsgebieten überdauern, von wo aus er sich in der Nacheiszeit (Holozän) wieder ausbreiten
                                                                                                                    mik (Aufbau, Verlagerung usw.) endete
konnte (nach Whitmore 1998(6)).

leichtere Süßwasser vermindert die ther-
mo-haline Zirkulation, das heißt das Ab-
sinken besonders salzhaltiger, kalter und                                                                                                 Abb. 7: Flanke einer
                                                                                                                                          Längsdüne am Rand der
damit dichterer Wassermassen. Der zu-
                                                                                                                                          Kalahari (SO-Namibia):
gehörige Nachstrom warmen Tropik-                                                                                                         Während der Eiszeit war
Wassers in den Nord-Atlantik wird                                                                                                         die Kalahari eine Sand-
                                                                                                                                          wüste. Seit etwa 8 000
blockiert, die ,Fernwärme‘ bleibt aus: In                                                                                                 Jahren hat sich unter den
West- und Nordeuropa zieht für knapp                                                                                                      feuchteren holozänen Kli-
1 000 Jahre erneut die Eiszeit ein. Die                                                                                                   mabedingungen eine
                                                                                                                                          Trockensavanne mit
erst junge Wiederbewaldung geht                                                                                                           Baum- und Graswuchs
zurück. Permafrost breitet sich wieder im                                                                                                 ausgebreitet und die Dü-
Untergrund aus, Gebirgsgletscher wie                                                                                                      nen weitgehend fixiert.
auch die restlichen Inlandeismassen über
Skandinavien stoßen erneut vor. Die spät-
glazialen Jäger-Kulturen in Europa müs-
sen sich an neue, restriktive Lebensbedin-                Nacheiszeitliches Wärmeopti-                              vor ca. 9 000 – 8 000 Jahren (Abb.
gungen eines Tundren-Klimas anpassen –                    mum: Paradiesische Zustände                               7)[7a]. Seither ist die Kalahari kein Wüs-
an die Phase der ,Jüngeren Tundren-Zeit‘                                                                            ten-Ökosystem, sondern eine Savanne
oder ,Jüngere Dryas-Zeit‘ zwischen                        Nach dem drastischen Kälterückschlag                      oder regional allenfalls eine Halbwüste
11 000 und 10 200 Jahren vor heute                        im Spätglazial folgt beinahe unvermittelt                 (Abb. 8). Von Norden und Nordosten her
(Abb. 1). Dieser Vorgang demonstriert                     eine globale Wärmezeit – ein neues Inter-                 hielt das monsunal geprägte randtropi-
eindringlich die Wechselwirkung zwi-                      glazial. Man kann davon ausgehen, dass                    sche Klima wieder Einzug im südwest-
schen Ozean und Festlandklima, wobei                      mit dem Datum ,10 200 Jahre vor heute‘                    lichen Afrika und ließ die Wüsten
dem Energieaustausch über Meeresströ-                     die letzte Kaltzeit mit dem Zerfall der                   schrumpfen [7b].
mungen eine steuernde Rolle zukommt.                      Gletschermassen definitiv zu Ende war
Das Scenarium der Jüngeren Tundren-Zeit                   und sich unmittelbar die bisher wärmste
– mangelnde Kaltwasserreproduktion im                     nacheiszeitliche Klimaperiode anschloss
Nordatlantik durch vermehrten Zustrom                     – das sogenannte ,Postglaziale Wärmeop-
leichten Süßwassers – mag ein lehrreiches                 timum‘ (Boreal und Atlantikum, s. Abb.
Beispiel abgeben für potentielle Folgen                   1). Es dauerte mehrere tausend Jahre
von ,Global Warming‘, wenn zum Beispiel                   und brachte ganz entscheidende kultur-
durch starken Eisabbau zukünftig zuviel                   geschichtliche Entwicklungen in Gang.
Süßwasser in das Nordpolarmeer oder                       Die Temperaturen dürften 2 – 2,5°C                                                 WechselWirkungen     y

den Nordatlantik geliefert wird.                          höher gelegen haben als heute.                                                          Jahrbuch 2002 y

                                                                                                                                                                 7
WechselWirkungen   y
                                               Namib (Abb. 8) wie der Sahara (Abb. 10)      den. Bekannte Felsmalereien wie die
                            Jahrbuch 2002 y    vergleichsweise üppige Lebensmöglich-        ,Schwimmer in der Wüste‘ vom Djebel
                                               keiten auch für Großwild und seine Jäger     Uweinat (Abb. 9) belegen eindrucksvoll
                                               [8]. Datierungen geben Hinweis darauf,       die ökologische Gunst durch vermehrte
                                               dass seit etwa 8 000 Jahren – in der Zeit    Niederschläge in diesem Raum. Im Ver-
                                               des Atlantikums – vermehrte Feuchte          lauf des Postglazialen Klimaoptimums
                                               existierte, die von monsunal-tropischen      war in der Sahara sogar die Domestika-
                                               Niederschlägen stammt. Das südwestli-        tion von Rindern möglich.
                                               che Afrika war insgesamt feuchter, die
                                               Wüste Namib deutlich geschrumpft
                                               (Abb. 8). Große Teile der heutigen Wüste     Die Erfindung der Sesshaftig-
                                               Sahara waren ,grün‘, dürften etwa dem        keit
                                               Ökosystem einer Trockensavanne mit
                                               Galeriewäldern entlang der Wadis ent-        Der Eishaushalt ging im Atlantikum auf
                                               sprochen haben. Elephanten, Giraffen         sein bisheriges Minimum zurück – der zu-
                                               und Antilopen fanden gute Lebensmög-         gehörige Meeresspiegelanstieg ließ zahl-
                                               lichkeiten vor; in Flusskolken oder Seen     reiche Küstenabschnitte untergehen: Die
   Das postglaziale Wärmeoptimum mit           lebten Flusspferde und Krokodile. Die        sogenannte ,Flandrische Transgression‘
seiner Feuchte veränderte die paläogeo-        Ost-Sahara mit dem Murzuk-Becken oder        erreichte einen Stand etwa einen Meter
graphische Situation vollkommen. Fels-         der Serir Calancio waren von zahlreichen     über dem heutigen. Küstenkulturen gin-
malereien und Gravuren, wie man sie in         Seen durchsetzte Landschaften [9]. Zahl-     gen unter – eine Interpretationsmöglich-
heute wieder wüsten- oder halbwüsten-          reiche Kulturspuren wie Artefakte, Fessel-   keit für die biblische ,Sintflut‘. Doch die
haften Landschaften findet (Abb. 9), bele-     steine oder Keramik sind unter heute ex-     Gunstfaktoren dieses Klimaoptimums
gen sowohl für den Bereich der Wüsten          trem wüstenhaften Bedingungen zu fin-        überwiegen: Im Bereich des ,Fruchtbaren

                                                                                                                  Abb. 8: Mittels eines multi-
                                                                                                                  plen Methodenspektrums
                                                                                                                  konnte die eiszeitliche und
                                                                                                                  nacheiszeitliche Klimaent-
                                                                                                                  wicklung im südwestlichen
                                                                                                                  Afrika rekonstruiert wer-
                                                                                                                  den. Zeitangaben in ka =
                                                                                                                  tausend Jahre; LGM = Last
                                                                                                                  Glacial Maximum/Letztes
                                                                                                                  Hochglazial; Holocene Al-
                                                                                                                  tithermal = postglaziales
                                                                                                                  Wärmeoptimum). Oben
                                                                                                                  links: Zur Zeit des LGM vor
                                                                                                                  20 000 Jahren war das
                                                                                                                  gesamte Areal des heuti-
                                                                                                                  gen Namibia Wüste oder
                                                                                                                  Halbwüste. Oben rechts:
                                                                                                                  Im Spätglazial setzt der
                                                                                                                  monsunale Einfluss im
                                                                                                                  Norden und Nordosten
                                                                                                                  des Landes wieder ein
                                                                                                                  und bewirkt das Aufkom-
                                                                                                                  men von Dornbusch- und
                                                                                                                  Trockensavannen, während
                                                                                                                  im Süden und Südosten
                                                                                                                  (Kalahari) noch wüstenhaf-
                                                                                                                  te Verhältnisse mit Dünen-
                                                                                                                  bildung herrschen. Unten
                                                                                                                  links: Zur Zeit des Postgla-
                                                                                                                  zialen Wärmeoptimums
                                                                                                                  (8 000 – 4 000 Jahre vor
                                                                                                                  heute) sind alle Landestei-
                                                                                                                  le wesentlich feuchter und
                                                                                                                  üppiger bewachsen als
                                                                                                                  heute (s. Abb. unten rechts).
                                                                                                                  Die Wüste Namib ist deut-
                                                                                                                  lich schmaler als gegen-
                                                                                                                  wärtig. Buschmann-Kultu-
                                                                                                                  ren können sich in dieser
                                                                                                                  Zeit besonders weitflächig
                                                                                                                  ausbreiten. Unten rechts:
                                                                                                                  Seit etwa vier- bis fünftau-
                                                                                                                  send Jahren ist das Klima
                                                                                                                  wieder kühler und damit
                                                                                                                  trockener geworden. Der
                                                                                                                  Globus geht langsam wie-
                                                                                                                  der auf die nächste Eiszeit
                                                                                                                  zu (aus Eitel, Blümel & Hü-
                                                                                                                  ser, 2002 (7)).

8
Abb. 9: Links: Steinzeitliche Felsgravuren wie in Twyfelfontein (Damara-Land/Nami-
bia) zeigen die ehemalige weite Verbreitung von Savannentieren auch an Standor-
ten, die heute deutlich trockener und damit lebensfeindlicher sind. – Rechts:
,Schwimmer in der Wüste: Zeichnung einer Felsmalerei im Djebel Uweinat (Ägyp-
tisch-Libysche Wüste), die auf Seen und Flüsse während der Jungsteinzeit im
heutigen Extremwüstengebiet der Ost-Sahara hinweist.

Halbmonds‘ (Palästina, Libanon, Syrien,                  gründet, die älteste Stadt der Welt. Ein                Vom Fruchtbaren Halbmond aus ver-
Mesopotamien, Türkei, Persien; s. Abb.                   stationäres Städteleben und -wesen wird             breitet sich (seit 8 000 Jahren vor heute)
11) vollzieht sich die ,Neolithische Revo-               möglich, weil geregelte Versorgung aus              die Lebensform sesshafter Bauern durch
lution‘ (ca. 7 000 v. Chr.): Aus nomadisie-              dem nahen Umland besteht. Die Agrar-                Einwanderung oder durch Kontaktdiffu-
renden Wildbeuter-Kulturen entwickeln                    technik entwickelt dabei schon unterstüt-           sion bis nach Zentraleuropa (Abb. 11). In
sich sesshafte Ackerbauern-Gesellschaf-                  zende, die Produktivität steigernde Be-             bestimmten Bereichen wird die Megalith-
ten und Viehzüchter. Jericho wird ge-                    wässerungssysteme.                                  kultur (Großsteingräber) gepflegt – Süd-
                                                                                                             ost-Spanien, Bretagne, England, Irland,
                                                                                                             Nordwestdeutschland (Abb. 12, 13).
                                                                                                             Leistungen, die zum Beispiel beim Auf-
                                                                                                             bau gigantischer Großsteingräber von An-
                                                                                                             tequera/ SO-Spanien oder New-Grange/
                                                                                                             Irland, der Steinanlage Stonehenge/Eng-
                                                                                                             land (Abb. 13), aber auch bei den unzäh-
                                                                                                             ligen kleineren Dolmen und Hügelgrä-
                                                                                                             bern nötig waren, werden nicht von aus-
                                                                                                             gemergelten Kräften erbracht. Diese Ge-
                                                                                                             sellschaften konnten sich auf eine pro-
                                                                                                             duktive, überschüssige Landwirtschaft
                                                                                                             stützen – erklärbar durch eine ausgespro-
                                                                                                             chen günstige Klimasituation mit optima-
                                                                                                             lem Jahreszeitenverlauf und verlässlichen
                                                                                                             Ernten.

Abb. 10: Während des Höchststandes der letzten Eiszeit war die Wüste Sahara deutlich weiter nach Süden
ausgedehnt als heute. Zur Zeit des Postglazialen Wärmeoptimums mit seinem wesentlich höheren atmosphäri-
sche Feuchtegehalts war die Wüste fast nicht existent. Der Monsun brachte Niederschläge bis in das heutige                           WechselWirkungen   y

Kerngebiet der Wüste Sahara.                                                                                                             Jahrbuch 2002 y

                                                                                                                                                        9
WechselWirkungen   y

                            Jahrbuch 2002 y

   Es sind vor allem Bandkeramische Kul-
turen, die Mitteleuropa besiedeln. Eine
der am besten erhaltenen Siedlungen
aus der Jungsteinzeit ist bei Vaihingen/
Enz freigelegt worden. Sie datiert auf
7 500 vor heute [11]. Dr. S. Hönscheidt
(ehemalige Wissenschaftliche Mitarbeite-
rin am Institut für Geographie) war an der
Bearbeitung und Auswertung der Gra-
bung beteiligt, und zwar an der Rekon-
struktion der jungsteinzeitlichen Umwelt-
verhältnisse. Aus reliktischen Böden und
Sedimenten und ihrer multiplen Analyse
                                               Abb. 11: Entstehungsgebiete bäuerlicher Wirtschaftsformen im Bereich des ,Fruchtbaren Halbmonds‘ (etwa 7 000
lassen sich Aussagen über paläoökologi-
                                               v. Chr.) und Ausbreitung der Bandkeramischen Kultur in Zentraleuropa – 5. Jahrtausend v. Chr. (verändert aus
sche Verhältnisse treffen und der damals       H. Müller-Beck, 1983 (10 )).
einsetzende anthropogene Landschafts-
wandel analysiert werden [12]. Auffällig
waren die sehr dunklen, teils schwarzen
Bodenrelikte im Grabungsfeld, die an
Steppenschwarzerden der Ukraine oder
amerikanischer Prärien erinnern (Abb.
14, 15). Die Untersuchungen zeigten,
dass der neolithischen Besiedlung ein
Steppenklima mit Schwarzerdebildung
vorausging und sich in abgeschwächter
Form in den südwestdeutschen Becken-
landschaften erhielt. Grau- und Braunhu-       Abb. 12: Großsteingräber in heutigen Heideland-          Abb. 13: Das von Mythen umrankte Megalith-Kunst-
                                               schaften Niedersachsens sind selten Kultstätten oder     werk von Stonehenge (Süd-England) steht sinnbild-
minsäure-reiche Böden und ihren kaltzeit-      ,Fürstengräber‘, sondern jungsteinzeitliche Bestat-      lich für die Vitalität seiner Schöpfer: Eine darbende
lichen Löss-Beimengungen sind als ein          tungsplätze einer sesshaften Bauernkultur.               Agrargesellschaft wird kaum die erforderlichen über-
wesentlicher Grund für die weit über-                                                                   schüssigen Kräfte mobilisieren können, den Ferntrans-
                                                                                                        port gigantischer Gesteinsblöcke (über mehr als 200
durchschnittliche, nachhaltige Fruchtbar-                                                               Kilometer) zu leisten. Immerhin waren an Steigungen
keit zu sehen, die die Grundlage bildete                                                                geschätzt etwa 1 000 Mann nötig, um die Riesen-
                                                                                                        blöcke auf Schlitten über Steigungen zu ziehen. Das
für eine über Jahrhunderte durchhalten-
                                                                                                        damalige landwirtschaftliche Produktionsklima muss
de Besiedlung und Nutzung dieses                                                                        sehr günstig, längerfristig stabil und damit berechen-
Raumes. Das milde sommerwarme Klima                                                                     bar gewesen sein. Die Funktion der Steinsetzung ist
                                                                                                        noch unbekannt. Vielleicht war es ein Kalender
des Atlantikums mit seinen verlässlichen                                                                zur Bestimmung zum Beispiel optimaler Saatzeiten
Witterungsverläufen ist verantwortlich für                                                              und zeitgleich Kultstätte zur Beschwörung anhalten-
eine hohe agrarische Produktivität und                                                                  der Fruchtbarkeit.
die erfolgreiche Behauptung der Jung-
steinzeitlichen Kulturen in Mitteleuropa.
   Im Rahmen eines DFG-Projektes unter-
suchen Dr. Ursula Maier und Dipl.-Geogr.
Richard Vogt in Zusammenarbeit mit
dem Landesdenkmalamt Stuttgart sied-
lungsarchäologische Fragestellungen im
Bodensee- und Federsee-Gebiet/Ober-
schwaben. Auch hier steht das Klima des
Neolithikums, die Rekonstruktion der Le-
bensbedingungen und die anthropogene           Abb. 14: Freigelegte Palisadengräben markieren die       Abb. 15: Eines von mehr als hundert Skeletten, die
                                               Befestigung der neolithischen Siedlung Vaihingen/        im Graben der bandkeramischen Siedlung Vaihingen/
Landschaftsentwicklung im Vordergrund          Enz (Kreis Ludwigsburg). Auffällig sind die dunkel-hu-   Enz gefunden wurden. Die große Zahl deutet auf eine
detaillierter und systematischer Untersu-      mosen Bodenfarben, die an fruchtbare Steppen-            längere Siedlungskontinuität hin.
chungen [13].                                  schwarzerden erinnern.

10
Eine andere Entwicklung als im südli-
chen Deutschland nahmen die ebenfalls
im Atlantikum besiedelten Gebiete auf
den sandigen Gletscherablagerungen
Niedersachsens und Schleswig-Holsteins.
Die im Klimaoptimum auch optimalen Le-
bensmöglichkeiten dokumentieren sich
in den oben angesprochenen Großstein-
gräbern, die meist nicht als Kultbauten
einzustufen sind, sondern als Bestat-
tungsplätze, die eine Siedlungskontinuität
in unmittelbarer Nähe dokumentieren
(Abb. 12). Zahlreiche Heidestandorte
Nordwestdeutschlands entstanden be-
reits früh als Folge von jungsteinzeitlicher
Übernutzung und erntebedingter Auslau-
gung ehemaliger Laubwaldböden. Auf-
grund ihrer quarzreichen, sandig-kiesigen      Abb. 16: ,Ötzi‘, der ,Mann vom Hauslabjoch‘ (Ötztaler Alpen) wurde bei einem sprunghaften Klimawechsel (= Ende
                                               des postglazialen Wärmeoptimums) vor 5 300 Jahren in einer Firnschnee-/Firneisdecke eingebettet, sein Körper
Ausgangssubstrate waren sie weit weni-         darin dehydriert und bis zum Jahr 1991 konserviert.
ger ,nachhaltig‘ in ihrer Fruchtbarkeit als
die löss-bürtigen Schwarzerden und Pa-
rabraunerden südwestdeutscher Becken-
                                               penhauptkammes im Ötztaler Gebiet aus                    Schneedecke eingebettet. Sein Tod vor
und Tallandschaften. Verheidung und
                                               und treiben ihre Schafherden über vereis-                5 300 Jahren bestätigt einen sprunghaf-
Podsolierung (grau-weiße Bleicherde) be-
                                               te Joche.) Auch das alpine Neolithikum                   ten Klimawechsel, der das postglaziale
endete die landwirtschaftliche Nutzung
                                               zu Zeiten des ,Ötzi‘ war durch deutlich                  Wärmemaximum schlagartig beendete.
primär günstiger, leicht zu bearbeitender
                                               verringerte Vergletscherung gegenüber                    ,Ötzi‘ wurde in einer wachsenden
Sandböden.
                                               heute und eine um 200 – 300 Meter                        Schnee- und Firndecke konserviert, sein
   Fazit: Generell lässt sich betonen, dass    höhere Waldgrenze (bis 2 300 Meter                       Körper durch Sublimationsprozesse dehy-
die klimatische Gunstperiode und in            ü. NN) klimatisch zu charakterisieren. Die               driert und damit mumifiziert (Abb. 16).
ihrem Gefolge das gesamte paläoökologi-        natürlichen Bedingungen erlaubten somit                  Ohne zwischenzeitlich länger wieder auf-
sche Milieu verantwortlich war für die         eine offensichtlich unproblematische sai-                gedeckt zu werden – dann wäre die Lei-
weitreichende Ausbreitung neolithischer        sonale Nutzung der oberen alpinen                        che zerfallen –, überdauerte der ,Eis-
Kulturen. Die damalige, rein auf physisch-     Höhenstufen. Funde von datierten Brand-                  mann‘ mehr als fünf Jahrtausende, bis
geographische Parameter (klimatische           horizonten belegen eine Nutzungstätig-                   durch die aktuelle klimatische Erwär-
Gunst und nachhaltig fruchtbare Böden)         keit an der oberen Waldgrenze zur Zeit                   mung die abtauende Firnkappe am Haus-
gestützte agrarische Tragfähigkeit ermög-      des neolithischen Wärmeoptimums.                         labjoch die Mumie wieder freigab. Paläo-
lichte bereits vor mehr als sechstausend                                                                botaniker hatten bereits früher auf Grund
Jahren auch die intensive Besiedlung pe-                                                                von Pollenanalysen eine Klimaverände-
ripherer Räume wie Irland, Schottland          ,Ötzi’s‘ Tod - abruptes Ende                             rung (Abkühlung) für den genannten Zeit-
und der Hebriden-Inseln. Das postglaziale      der nacheiszeitlichen Klima-                             raum begründet, die so genannte ,Piora-
Wärmeoptimum mit seinen etwa                   gunst                                                    Schwankung‘. Mit der 14C-Datierung am
2°/2,5°C höheren Jahrestemperaturen                                                                     ,Eismann‘ wird das Datum bestätigt. Die
und regional deutlich höheren Nieder-          Der mit immer neuen Spekulationen                        angesprochenen Umstände seiner Kon-
schlägen hatte globale Auswirkungen.           kommentierte Tod des ,Ötzi‘ vor 3 300                    servierung belegen, dass hier ein abrup-
Die Waldgrenze auf der Nordhalbkugel           Jahren v. Chr. lässt sich als frappierendes              ter Klimawechsel eintrat.
(Borealer Nadelwaldgürtel Kanadas und          Klimazeugnis interpretieren: Entgegen
Skandinaviens/Sibiriens) war um 300 –          immer wieder kolportierten Berichten,
400 Kilometer nach Norden verschoben,          der Mann sei in einen Gletscher gefallen,
die asiatischen Steppenareale waren ge-        ist festzuhalten, dass er auf einem Joch
schrumpft. Die Wüsten der Erde hatten          starb – einem eisfreien Sattel in der Nähe
ihre kleinste Ausdehnung, die Hochgebir-       von Vent /Ötztaler Alpen. Der Tod auf ei-
ge ihre geringste Vergletscherung. Dies        nem Gletscher oder in einer Gletscher-
wird auch durch den sensationellen Fund        spalte hätte den sensationellen Fund ei-
des ,Mannes vom Hauslabjoch‘ (,Ötzi‘,          ner neolithischen Mumie unmöglich ge-
1991) untermauert: Zu dessen Lebzeiten         macht. Die Leiche wäre längst mit der
war Transhumanz praktiziert worden, das        Gletscherbewegung abtransportiert wor-
heißt in den Sommermonaten wurden              den und spätestens in einer Moräne ver-
vom heutigen Südtirol aus Weidegebiete         west. Der ,Eismann‘ wurde (geschwächt,
oberhalb der Waldgrenze genutzt.               gesundheitlich angegriffen, im Kampf ver-
(Schnalstaler Bauern üben noch heute           letzt?) möglicherweise Opfer eines                                                      WechselWirkungen     y

traditionelle Weiderechte nördlich des Al-     Schneesturms, zumindest aber in einer                                                        Jahrbuch 2002 y

                                                                                                                                                          11
WechselWirkungen   y
                                                 gional verursachen Missernten gravieren-                und Ab der Temperaturkurve im Abstand
                              Jahrbuch 2002 y    de Versorgungsprobleme. Möglicherweise                  von einigen hundert Jahren. So lässt sich
                                                 sind die Folgen der Klimaverschlechte-                  die Ausdehnung des Römischen Imperi-
                                                 rung aber auch ein Stimulanz für techno-                ums zumindest teilweise durch eine kli-
                                                 logische Fortschritte in der Bronzezeit.                matisch günstige Situation unterstützen:
                                                                                                         Die Jahresmitteltemperatur in Europa ist
                                                     Vielfältige geographische Untersu-
                                                                                                         1 – 1,5°C höher als heute. Die Expansion
                                                 chungen und Datierungen vor allem in
                                                                                                         des Imperium Romanum wird erleichtert,
                                                 der Zentral- und Ostsahara belegen ein
                                                                                                         indem beispielsweise die Alpenpässe
                                                 Ende der Feuchtperiode und damit der
                                                                                                         auch im Winter benutzt werden können.
                                                 ,Grünen Sahara‘ ebenfalls um die Zeit
                                                                                                         (Hannibal überquerte 217 v. Chr. mit
                                                 5 200 Jahre vor heute – entsprechend
                                                                                                         38 000 Mann Fußtruppen, 8 000 Rei-
                                                 der Piora-Schwankung in den Alpen (s.
                                                                                                         tern und 40 Elephanten die Alpen.) Die
                                                 oben). Wüstenhafte Verhältnisse breiten
                                                                                                         Römer kolonisierten Süd- und Südwest-
                                                 sich auf verschiedenen Kontinenten er-
                                                                                                         deutschland. Wie im Neolithikum waren
                                                 neut aus. Es entwickelt sich der unge-
Vertreibung aus dem Paradies?                                                                            die Beckenlagen und Flussläufe bevor-
                                                 fähre heutige Stand der Wüstengrenzen
                                                                                                         zugte Siedlungsbereiche. Es kam zu Städ-
Es liegt nahe, solche paläoklimatischen          (s. Abb. 10). Das nördliche Afrika erlebt in
                                                                                                         tegründungen (Trier als älteste Stadt
Befunde mit prähistorischen oder histori-        der Folge der Aridisierung das Aufblühen
                                                                                                         Deutschlands) – ein Hinweis auf eine
schen Überlieferungen und Ereignissen            einer Hochkultur vor allem in Ägypten:
                                                                                                         leistungsfähige Landwirtschaft und eine
abzugleichen. Das postglaziale Wärme-            ,Wüstenflüchtlinge‘ entdeckten die Mög-
                                                                                                         leistungsfähige Infrastruktur auch in peri-
optimum hat zweifellos der Kulturge-             lichkeiten sesshaften Bewässerungs-
                                                                                                         pheren Lagen (Kontaktachsen mit Rom).
schichte entscheidende Impulse gege-             Ackerbaus in der hydrologisch verlässli-
ben und völlig neue Entwicklungen in             chen Nil-Oase. Vielleicht stimulieren die                   Im Jahr 54 v. Chr. gelang die römische
Gang gesetzt. Gern wird deshalb von der          veränderten Klima- und Lebensraumbe-                    Invasion in Britannien. Die Römer führten
,Neolithischen Revolution‘ gesprochen,           dingungen auch hier die Innovations-                    den Weinbau in England ein – ein deutli-
wenn die Erfindung des sesshaften                fähigkeit und den technologischen Fort-                 ches Signal für ein damals wärmebegün-
Ackerbaus gemeint ist. Die wahrhaft              schritt. In der Zeit um 3000 v. Chr. ent-               stigtes Klima. Der Handel Nord-Süd flo-
günstigen Lebensmöglichkeiten, die hier          stehen die ersten Pyramiden – Gigantis-                 rierte ebenso wie der West-Ost-Handel
nur exemplarisch angedeutet werden               mus als Ausdruck von Überschuss?                        über die Seidenstraße, die dank entspre-
konnten, sind möglicherweise dem bibli-                                                                  chender Versorgungsmöglichkeiten
schen Paradies gleichzusetzen, einer             Römerzeitliches Klimaoptimum                            (Wasser, Agrarprodukte) bis 400 n. Chr.
Leichtigkeit des Lebens: Die Mythologie          (2 300 – 1 600 Jahre vor heute)                         aktiv war. Klimatisch herrschten bere-
der Antike kennt beispielsweise den Gar-                                                                 chenbare, stabile Verhältnisse, wenig die
ten Eden, das Elysium oder das ,Goldene          Auffällig ist im weiteren Verlauf der klima-            Versorgung beeinträchtigende Variabi-
Zeitalter‘. Es ist sicherlich nicht allzu ge-    tischen Entwicklung ein zyklisches Auf                  lität (Abb. 17).
wagt, hierin eine Übereinstimmung mit
dem Klimaoptimum des Holozäns zu se-
hen, dessen Ursache in erster Linie mit
der Konstellation der Erdbahnparameter
erklärt werden kann (Sonnenwinkel, Ener-
gieeinstrahlung, Selbstverstärkungseffek-
te). Mit dem Ende dieser paradiesischen
Epoche geht der Globus wieder der nächs-
ten Eiszeit entgegen, jedoch nicht geradli-
nig, sondern auf einer seichten klimati-
schen Achterbahn mit Temperaturampli-
tuden von nur 1 – 2°C, aber beträchtli-
chen Folgen. Um im Bild zu bleiben – es
ist die ,Vertreibung aus dem Paradies‘.

Klimapessimum der Bronzezeit
(3 200 – 2 600 vor heute)
Auf die nacheiszeitliche Wärmezeit folgt
eine ausgeprägte Kaltepoche – zumin-
dest in Europa: die Bronzezeit. Die Jahres-
mitteltemperatur ist 1–2°C niedriger als
heute. Es ist die kälteste Periode seit dem
Ende der Würm-Kaltzeit. Verbreitet               Abb. 17: Das römische Weinschiff von Trier: Ausdruck einer klimatisch begünstigten Überfluss-Gesellschaft, der
stoßen die alpinen Gletscher weit vor. Re-       ,fun‘ und ,wellness‘ nicht fremd war.

12
Zeit der Völkerwanderungen:
Klimapessimum (3. – 6. Jahr-
hundert n. Chr.)
Die Klimaschaukel neigt sich wieder zur
anderen Seite: Anschließend an das rö-
merzeitliche Optimum zieht ein kühles,
stark wechselhaftes Klima in Süd- und
Mitteleuropa ein. In den Alpen wachsen
die Gletscher; römische Straßen und
Goldgruben werden zerstört. Ebenfalls
sinkt in Folge der Klimaverschlechterung
die Baumgrenze. Europäische Küsten er-
leben eine Zeit heftiger Sturmfluten und
geomorphologischer Veränderungen.
Gletscher als sehr sensible Klimaindika-
toren signalisieren auch hier mit ihren
Vorstößen die klimatische Veränderung.
   In Nord- und Nordwesteuropa stellen
sich auf Grund von Ernteausfällen gravie-
rende Versorgungsprobleme und Hun-
gersnöte ein. Letztere geben sehr wahr-       Abb. 19: Die Stadt Rothenburg o.d.T. und der Regensburger Dom stehen für das aufblühende mittelalterliche
                                              Städtewesen und das ,Himmelstreben‘ der gotischen Architektur – Sinnbild einer klimatisch verwöhnten,
scheinlich den entscheidenden Anstoß          äußerst produktiven Agrarwirtschaft im Umland der Städte.
für eine Nord-Süd-, West- und Südwest-
Wanderung ganzer Volksstämme. Ab              fällen ist ein weiterer Dominoeffekt im                  gentliche Erschließung dieser Räume be-
300 n. Chr. bestimmen sinkende Tempe-         Prozess der Völkerwanderung zu vermu-                    ziehungsweise Höhenstufen. Vom 11. bis
raturen und Trockenheit das ,Pessimum         ten, nicht aber die Ursache. Sie liegt in                zur Mitte des 14. Jahrhunderts erlebt die
der Völkerwanderungszeit‘. Für 270 n.         einer klimatisch begründeten physischen                  Kulturlandschaft Deutschlands ihre bisher
Chr. werden Abkühlung und Aridisierung        und sozialen Krise.                                      größte Ausdehnung und höchste Bevöl-
auch aus Italien, Arabien und Innerasien                                                               kerungsdichte. Der Flächenanteil des
berichtet [14]. Zwischen 300 und 400                                                                   Waldes geht unter 20 Prozent zurück.
n. Chr. lassen Dürreperioden den Handel       Mittelalterliches Wärmeopti-                             Ackerflächen und insbesondere das
über die Seidenstraße zum Erliegen kom-       mum (1 000 – ca. 1 230 n. Chr.)                          Dauergrünland nehmen entsprechend zu
men; sie verfällt [15]. Die zeitgleichen                                                               (Abb. 18).
Hunnen-Einfälle in Europa, die häufig         Mit Annäherung an die Gegenwart wer-
                                                                                                          In den Altsiedelgebieten erfolgen ver-
(und wohl fälschlich) als Auslöser der Völ-   den die Zeugnisse für klimatische Fluk-
                                                                                                       mehrt Städtegründungen. Das mittelalter-
kerwanderungen gesehen werden, könn-          tuationen und ihre Rekonstruktion ver-
                                                                                                       liche Wärmeoptimum ermöglicht auf-
ten selbst wiederum klimatisch mit verur-     ständlicherweise etwas häufiger und prä-
                                                                                                       grund idealer und nachhaltiger agrari-
sacht worden sein, und zwar durch die         ziser. Nach der schwierigen Ära Karls des
                                                                                                       scher Produktionsbedingungen die Ver-
Austrocknung der Weideflächen in Zen-         Großen steigen die mittleren Temperatu-
                                                                                                       sorgung einer wachsenden städtischen
tralasien. Kunde über üppigere Weide-         ren im Vergleich zu heute um 1,5 – 2°C.
                                                                                                       Bevölkerung und damit auch den Ausbau
möglichkeiten im regenreicheren Westen        Die Anbaugrenzen in den deutschen Mit-
                                                                                                       von Handel und Gewerbe. Ausdruck einer
Europas dürfte über die Seidenstraße ver-     telgebirgen reichen ca. 200 Meter höher
                                                                                                       leistungsfähigen, Überschuss erzeugen-
breitet worden sein. In den Hunnen-Ein-       als gegenwärtig. Es beginnt damit die ei-
                                                                                                       den Gesellschaft sind meines Erachtens
                                                                                                       Bauweise und Stil der Gotik. Eine himmel-
                                                                                                       strebende, aufwändige Architektur, aus-
                                                                        Abb. 18: Wandel der Land-      geführt mit handwerklicher Perfektion,
                                                                        nutzung in Deutschland         erscheint sinnbildlich für die physische
                                                                        seit der Zeit der Völker-      Gunst und damit für die Vitalität, Kreati-
                                                                        wanderung. Bemerkens-
                                                                        wert ist die drastische Ent-   vität und Leistungsfähigkeit der Bevölke-
                                                                        waldung zu Gunsten von         rung in dieser Zeit (Abb. 19).
                                                                        Acker, Weideland und
                                                                        Energiegewinnung vor al-
                                                                        lem im Mittelalter. In Folge
                                                                        der ,Kleinen Eiszeit‘ und
                                                                        den damit verbundenen
                                                                        Hungersnöten, Pestepede-
                                                                        mien führen die Bevölke-
                                                                        rungsverluste zu Sied-
                                                                        lungsaufgaben, Rückgang
                                                                        der Ackerflächen und einer
                                                                        Regeneration der Waldge-
                                                                        biete (aus Bork et al.                                      WechselWirkungen      y

                                                                        1998(16)).                                                       Jahrbuch 2002 y

                                                                                                                                                      13
WechselWirkungen      y
                                                            Es stellt sich die grundsätzliche Frage,             Mittelalter: Regen in der Namib?
                                    Jahrbuch 2002 y      der wir an unserem Institut in einigen
                                                         Projekten nachgehen, ob solche in ihrer                 Ein weiteres Beispiel für eine mittelalterli-
                                                         thermischen Amplitude kleinen Klimafluk-                che Klimaschwankung stammt ebenfalls
                                                         tuationen auch globale Reichweiten ha-                  von der Südhalbkugel, und zwar aus der
                                                         ben. Als Exkurs sei auf zwei Befunde aus                Skelettküsten-Wüste Namibias. Bei unse-
                                                         unseren Arbeitsgebieten in Namibia und                  ren geomorphologisch-paläoökologi-
                                                         in der Antarktis hingewiesen. Abbildung                 schen Untersuchungen in einem der ex-
                                                         20 zeigt einen noch gefrorenen See an                   tremsten Abschnitte der Namib fielen
                                                         der Nordspitze der Antarktischen Halbin-                zahlreiche – wohl mehrere hundert – un-
                                                         sel. In der Südsommerzeit taut er bis zu                terschiedlich gut erhaltene Steinsetzun-
Wärmegunst auch in hohen Breiten                         zwei Meter Tiefe auf. Darunter liegt eine               gen auf (Abb. 21). Es sind Siedlungs-
                                                         ca. sechs Meter dicke Eisschicht. Eine                  spuren aus groben Geröllen oder Block-
Dieser mittelalterliche Temperaturanstieg                Bohrung im Jahr 1987 lieferte organi-                   werk auf einem vorzeitlichen Schwemm-
erlaubte Weinbau nun auch in klimatisch                  sches Material von der Basis des Eises,                 fächer eines ehemals geröll- und wasser-
bisher ungeeigneten Lagen Ostpreußens,                   also vom ehemaligen Seeboden. Eine                      reichen Flusses. Die runden Steinsetzun-
Pommerns oder Südschottlands. In Nor-                    14C-Datierung ergab ein Alter von etwa                  gen von < 2,0 bis > 3,0 Meter Durch-
wegen war zu dieser Zeit Getreideanbau                   1 000 Jahren vor heute. Dies bedeutet,                  messer sind Begrenzungssteine kuppel-
bis in 65° nördlicher Breite möglich. Peri-              dass zur mittelalterlichen Ablagerungs-                 förmiger oder spitzer Schutzhütten, die
phere Ungunstgebiete hoher Breite wie                    zeit der organischen Sedimente der See                  von Wildbeutern aus dünnen Stämmen
Island und Grönland (nomen est omen!)                    im Sommer bis zur Sohle aufgetaut ge-                   oder dem Geäst von Sträuchern errichtet
wurden jetzt durch die Wikinger besie-                   wesen sein muss, das damalige (Som-                     und mit Fellen oder Buschwerk bedeckt
delt. Auf dem randpolaren Island wuch-                   mer-)Klima bei ca. 63° südlicher Breite                 wurden. Die nomadisierenden Buschleu-
sen damals Wälder. Das neue Klimaopti-                   also deutlich wärmer war. Auch in der                   te in diesem gegenwärtig äußerst lebens-
mum gestattete dort neben der Schaf-                     Hohen Arktis Spitzbergens schmelzen die                 feindlichen Raum hatten sich gegen den
zucht auch Getreideanbau.                                Gletscher in diesem Zeitraum zurück (s.                 scharfen, kühlen Südwestwind vom kal-
                                                                                 Abb. 2) – ein Hin-              ten Beguela-Strom zu schützen. Zu jeder
                                                                                 weis auf die mögli-             Hütte gehörte eine kleine Feuerstelle. Die
                                                                                 che globale Aus-                bisher einzige 14C-Datierung an Holzasche
                                                                                 dehnung der mittel-             und Knochen erbrachte ein Alter von
                                                                                 alterlichen Wärme-              knapp 1 000 Jahren vor heute. Das ent-
                                                                                 phase.                          spricht der Zeit des hochmittelalterlichen
                                                                                                                 Klimaoptimums in Europa [18]. Die Be-
                                                                                                                 obachtung vergangenen Lebens in ge-
                                                                                                                 genwärtig fast steriler Umgebung ohne
                                                                                                                 Bäume, Sträucher und Gräser wirft die
                                                                                                                 Frage auf, ob dieser Raum damals unter
                                                                                                                 geänderten Klimabedingungen üppigeres
                                                                                                                 Pflanzenleben für Tier und Mensch zu
                                                                                                                 bieten hatte. Es ist kaum vorstellbar, dass
                                                                                                                 die Jäger und Sammler das Holz für ihre
                                                                                                                 Hütten über weite Strecken mit sich führ-
                                                                                                                 ten. Selbst wenn die Wildbeuter hier in
                                                                                                                 Atlantiknähe vor allem Muscheln gesam-

Abb. 20: Blick aus dem Hubschrauber auf die Nordspitze der Antarktischen Halb-
insel, ca. 1 300 Kilometer Luftlinie von Feuerland (Südamerika) entfernt. Oberhalb   Abb. 21: Reste früherer Buschmann-Hütten in der heutigen Vollwüste (Skelettküste/
der argentinischen Station Esperanza ist ein gefrorener See erkennbar (s. Pfeil;     Namibia). Der beigelegte Maßstab ist zwei Meter lang. Der Wuchs großer roter
Aufnahme Okt. 1987).                                                                 Flechten deutet ein hohes Alter der Steinsetzung an (Aufnahme 1999).

14
Abb. 22: Die Rekon-
                                                                                                                   struktion von Witterungs-
                                                                                                                   ereignissen im 16. Jahr-
                                                                                                                   hundert zeigt, dass
                                                                                                                   Deutschland in der ,Klei-
                                                                                                                   nen Eiszeit‘ immer wie-
                                                                                                                   der von mehrjährigen
                                                                                                                   Phasen besonders
                                                                                                                   schlechter Witterungsab-
                                                                                                                   läufe heimgesucht wur-
                                                                                                                   de. Hungersnöte führten
                                                                                                                   vermehrt zu Auswande-
                                                                                                                   rungen. (aus B. Humm-
                                                                                                                   ler, 1993(17)).

melt, vereinzelt Robben geschlagen und         nicht unmittelbar in eindeutigen Relikten   Krise und Auswanderung
von Seevögeln gelebt haben – es muss           dokumentiert, sondern indirekt erschlos-
zumindest Buschwerk vorhanden gewe-            sen werden muss.                            Vor allem vom 16. bis in die Mitte des
sen sein zum Hüttenbau.                                                                    19. Jahrhunderts lassen sich kräftige
                                                                                           Gletschervorstöße in den Alpen registrie-
    Im vergangenen Jahr entdeckten wir                                                     ren (s. Abb. 26). Die Waldgrenze sinkt
beiläufig in einem riesigen Sanddünenge-                                                   wieder spürbar ab. Der Höhepunkt der
biet mit zehn bis 25 Meter hohen Dünen,
                                               Neuzeitliches Klimapessimum:
                                               Die ,Kleine Eiszeit‘                        Entwicklung wird in Mitteleuropa um
ca. acht Kilometer vom Atlantik entfernt,                                                  1640 erreicht, zur Zeit des 30-jährigen
eine wiederaufgedeckte Feuerstelle mit
                                               (ab 1330; vor allem 1550 –
                                               1850 n. Chr.)                               Krieges. Vor allem Süd- und Südwest-
Knochenresten, Holzkohle, Keramikscher-                                                    deutschland leidet unter häufigen Miss-
ben und Straußeneierschalen. Die Be-                                                       ernten durch nasskalte Sommer und ex-
                                               Bereits Anfang des 14. Jahrhunderts
stimmung der Knochenreste durch Dr.                                                        treme Jahreszeitenausprägungen
                                               kann man den Beginn der sogenannten
D. Mörike (Staatliches Museum für Natur-                                                   (Abb.22). Das Getreide reift nicht mehr
                                               ,Kleinen Eiszeit‘ ansetzen – einen erneu-
kunde, Stuttgart) zeigte, dass hier Antilo-                                                aus, die Ernte verfault, Mehltau- oder an-
                                               ten Klimawandel zu kaltem, wechselhaf-
pen verzehrt wurden (Springbock und                                                        derer Pilzbefall beeinträchtigt das Ernteer-
                                               tem Klima mit entsprechend negativen
Oryx-Antilope) – keine Meerestiere, wie                                                    gebnis, Teile der Bevölkerung werden
                                               Auswirkungen auf den wirtschaftenden
zunächst vermutet. Die Altersbestim-                                                       durch Mutterkornvergiftungen betroffen.
                                               Menschen. 1313 bis 1319 stellten sich
mung an diesem Fund ist noch nicht ab-
                                               Extremereignisse mit Überschwemmun-
geschlossen. Der Befund stützt die ge-                                                        Unmittelbare Folgen der Agrarkrise
                                               gen ein. 1342 kam es zu einer ungeheu-
nannte Hypothese einer ehemaligen sa-                                                      sind Wüstungen in Mittelgebirgen; die
                                               ren Hochwasserkatastrophe in Mitteleu-
vannenartigen Vegetation in diesem                                                         Höhenlandwirtschaft wird aufgegeben.
                                               ropa, verbunden mit einer beträchtlichen
Raum, zumindest in der Nähe der Gerin-                                                     Mit der Abwanderung der Bevölkerung in
                                               Umgestaltung der Kulturlandschaft durch
nebetten. Das bedeutet entsprechend                                                        die Städte verschärft sich dort, wie auch
                                               Bodenerosion [16]. Während einer
hohe Niederschläge zumindest im Ein-                                                       auf dem Lande, die Versorgungslage
                                               außergewöhnlichen Wetterlage generiert
zugsgebiet des Uniab-Flusses, der als                                                      (Mangelernährung, Hygiene-Probleme).
                                               sich aus einem mehrtägigen wolken-
Fremdlingsfluss sicherlich regelmäßiger                                                    Getreide wird sehr knapp und damit teuer
                                               bruchartigen Dauerregen eine ,Jahrtau-
durch das Wüstengebiet geflossen ist als                                                   [17, 20]. Mitteleuropa erlebt einen weite-
                                               sendflut‘. Der Bodenabtrag auf den Nutz-
heute, so dass sich eine Galeriewald-                                                      ren drastischen Bevölkerungsrückgang
                                               flächen ist gewaltig. Man schätzt, dass
artige Begleitvegetation mit Graswuchs                                                     um 30 – 40 Prozent und Auswande-
                                               auf dieses eine Ereignis die Hälfte des
eingestellt hat. Möglicherweise fielen                                                     rungswellen in die Neue Welt.
                                               gesamten Bodenverlustes der letzten
auch flächenhaft innerhalb der heutigen
                                               2 000 Jahre entfällt. Im Gefolge dieser
Extremwüste, wo gegenwärtig im Jahres-
                                               Entwicklung treten Pestepedemien (zwi-
mittel weniger als 20 Millimeter Regen
                                               schen 1347 und 1352) auf – die Bevöl-
fallen, ausreichend hohe Niederschläge
                                               kerung ist auf Grund der Mangelversor-
für eine Strauch- oder Trockensavanne.
                                               gung durch die Klimakrise geschwächt
   Die aufgeführten Einzelbefunde sind         und für Seuchen disponiert. Zusammen
noch kein Beweis für eine weltweit wirk-       mit den Opfern der Hungersnöte redu-
same Klimafluktuation, sondern nur ein         ziert sich die Bevölkerung um mehr als
Hinweis. Es wird vielleicht deutlich, wie      40 Prozent. Mitteleuropa erlebt einen zi-
diffizil sich eine paläoklimatische ,Spuren-   vilisatorischen Rückfall mit Aberglauben                             WechselWirkungen     y

sicherung‘ gestaltet, da ein Klimatyp sich     und Hexenverfolgung.                                                      Jahrbuch 2002 y

                                                                                                                                       15
WechselWirkungen     y
                                                                                                     führen sein. Jedoch stellt sich dieser Zeit-
                                                           Innerhalb der „Kleinen Eiszeit“ (1550 –
                                    Jahrbuch 2002 y                                                  abschnitt nicht als in sich einheitliche
                                                        1850) treten auch mildere Abschnitte
                                                        und sogar sehr warme Einzeljahre auf.        Periode unterdurchschnittlicher Tempera-
                                                        Klimatisch ist die Phase durch eine große    turen dar, sondern wurde immer wieder
                                                        Variabilität und damit durch ein großes      durch kurze Phasen erhöhter Temperatu-
                                                        Produktivitätsrisiko gekennzeichnet. Va-     ren, wie etwa um 1680–1690 oder
                                                        riabilität bedeutet damit (gegenüber sta-    1790–1810, unterbrochen (Abb. 24).
                                                        bilen, ,berechenbaren‘ Klimasituationen,
                                                        s. oben) Lebensbedrohung und Zukunfts-
                                                                                                     Verschütteter Galeriewald in der
                                                        angst. Spontane wie auch prophylakti-
                                                                                                     Wüste
                                                        sche Auswanderungswellen in die ,Neue
   Im nördlichen Europa erreicht die so                 Welt‘ sind die verständliche Folge. In das   In unserem südwestafrikanischen Arbeits-
genannte Kleine Eiszeit ihren absoluten                 Klimapessimum der Kleinen Eiszeit fallen     gebiet verfolgen wir Fragen zum Phäno-
Höhepunkt um 1680 – 1700 mit schlech-                   zusätzliche Extremereignisse, die die Ver-   men der unsteten Wüstengrenzen und
ten Getreideernten in Schottland, Irland,               sorgungssituation verschärfen, zum Bei-      Ökosystemveränderungen in der jünge-
Skandinavien und dem Baltikum. Wäh-                     spiel Vulkanausbrüche 1812–1817 in           ren Erdgeschichte im Rahmen internatio-
rend der Renaissance werden in Italien                  Indonesien. 1815 explodierte der Vulkan      naler Forschungsprogramme (IGCP: Inter-
zum Teil die Loggien verbaut. Im Nordat-                Tambora. Der um den Globus ziehende          national Geological Correlation Program.
lantik nimmt die saisonale Eisbedeckung                 gewaltige Aschenauswurf bescherte Tei-       Unter dem Leitthema ,Shifting Desert
wieder zu. Grönland wird vom Mutterland                 len der Welt ein ,Jahr ohne Sommer‘.         Margins and Palaeomonsoons‘ laufen
abgeschnitten. Die Inuits verdrängen die
                                                                                                     entsprechende Untersuchungen auf ver-
Wikinger, übernehmen deren Siedlungen.
                                                                                                     schiedenen Kontinenten.) Noch unklar ist,
Island wird zunehmend vom Packeisgür-                   Hochasien – Jahresringe als                  ob das nachfolgende bisher singuläre
tel blockiert (Abb. 23).                                Klimazeiger                                  Beispiel repräsentativ ist und tatsächlich
                                                                                                     die Reaktion eines Trockengebiets auf ei-
                                                        Ein weitere Ergänzung der ,klimatischen
                                                                                                     ne noch trockenere Klimasituation belegt:
                                                        Spurensuche‘ für eine global wirksame
                                                                                                     Von Vogel und Rust [19] wurde ein „in
                                                        Klimaverschlechterung der Neuzeit findet
                                                                                                     der Kleinen Eiszeit verschütteter Wald“
                                                        sich auch in Teilen Hochasiens. Die Den-
                                                                                                     am Hoanib-Rivier in NW-Namibia be-
                                                        drochronologie und -ökologie wird hier
                                                                                                     schrieben. In geschichteten Fluss-Sedi-
                                                        als Methode zur Klimarekonstruktion ein-
                                                                                                     menten gefundene Hölzer erbrachten
                                                        gesetzt. Dr. Achim Bräuning, Wissen-
                                                                                                     Alter, die auf eine Verschüttung in der
                                                        schaftlicher Assistent am Lehrstuhl für
                                                                                                     Zeit 1640 – 1720 n. Chr. schließen las-
                                                        Physische Geographie in Stuttgart, ver-
                                                                                                     sen. Spätestens im 18. Jahrhundert war
                                                        sucht, über die Analyse von maximalen
                                                                                                     die Akkumulationsperiode zu Ende. Da-
                                                        Spätholzdichten an Bäumen (insbeson-
                                                                                                     mit fällt das Ereignis voll in die Zeitschei-
                                                        dere Fichten und Wacholder) die Som-
                                                                                                     be des neuzeitlichen Klimapessimums.
                                                        mertemperaturen vergangener Jahrhun-
                                                                                                     Kritiker vermuteten, die datierten Hölzer
                                                        derte/Jahrtausende in Tibet zu rekonstru-
                                                                                                     seien nicht in situ, sondern vom Fluss
                                                        ieren (Abb. 24). Es zeigt sich, dass die
                                                                                                     verlagert – es handele sich wohl nicht um
                                                        Zeiträume mit den kältesten Sommern
                                                                                                     einen am Ort verschütteten Galeriewald.
                                                        während der letzten knapp 400 Jahre in
                                                                                                     Die paläoklimatische Interpretation der
                                                        der Mitte des 17. Jahrhunderts und um
                                                                                                     Autoren – eine deutlich verschärfte
                                                        1700 auftraten. Jedoch kommen auch
                                                                                                     Trockenheit dieses Raumes während der
                                                        um 1780–1790, 1810–1820, 1860–
                                                                                                     Kleinen Eiszeit – sei damit nicht zu bele-
                                                        1870, 1905–1920 und 1950–1970
Abb. 23: Die Apokalyptischen Reiter von A. Dürer ste-                                                gen. Im vergangenen Jahr hat unsere kol-
hen sinnbildlich für die neuzeitliche Klima- und Le-    Perioden mit einer erhöhten Häufigkeit
                                                                                                     legiale Arbeitsgruppe, zu der die Profes-
benskrise der ,Kleinen Eiszeit‘: Hungersnot, Pest,      kalter Sommer vor. (Es ist denkbar, dass
Krieg, Tod.                                                                                          soren Dr. B. Eitel (Heidelberg) und Dr. K.
                                                        solche kurzen Schwankungen innerhalb
                                                                                                     Hüser (Bayreuth) gehören, diesen schwer
                                                        einer längeren kühlen Klimaperiode auf
                                                                                                     zugänglichen Wüstenraum systematisch
                                                        Sonnenfleckentätigkeit zurückgeführt
                                                                                                     untersucht. Gefunden wurden fossile
                                                        werden können.)
                                                                                                     Bäume, die heute durch die aktuelle Ero-
                                                           Der Beginn der ,Kleinen Eiszeit‘ lässt    sion des episodisch fließenden Flusses
                                                        sich in Tibet anhand über 1 000 Jahre        exhumiert werden (Abb. 25). Sie waren
                                                        alter Wacholderchronologien auf etwa         tatsächlich in situ (stehend an Ort und
Abb. 24: Rekonstruktion der Temperaturen von Au-        1420 datieren und führte auch in Tibet       Stelle ihres Wachstums) von deutlich
gust und September für Ost-Tibet anhand der maxi-       zu einem verbreiteten Vorstoß der Ge-        geschichteten, bis über zehn Meter
malen Spätholzdichte von Fichten. (Die beprobten
Bäume wachsen in über 4 400 Meter Höhe nahe der         birgsgletscher. Dies dürfte überwiegend      mächtigen feinkörnigen Flussablagerun-
Waldgrenze.) Gefüllte Kurven stellen das fünfjährige    auf verminderte sommerliche Abschmelz-       gen verschüttet worden. Eine erste neue
Mittel dar. Blaue Bereiche sind kühler, rote Bereiche   raten der im Sommerhalbjahr fallenden
wärmer als das langjährige Mittel. (Entwurf A. Bräu-
                                                                                                     Altersbestimmung an den Hölzern ergab
ning, 2002)                                             monsunalen Niederschläge zurückzu-           ein Alter von 154+/– 18 Jahre (vor

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