Das richtige' Marketing-Verständnis
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Kapitel 2 Das ‚richtige‘ Marketing-Verständnis Wie schon im einleitenden Teil dargelegt, ist unwirksames Marketing meist zu- nächst das Problem eines falschen Marketing-Verständnisses. Daher ist es auch für dieses Buch unabdingbar, zuerst ein tieferes (richtiges) Marketing-Verständnis auf- zubauen, bevor es in den späteren Teilen und Abschnitten um die Frage des ‚Mar- keting-Handelns‘ geht. Dieser wie auch die folgenden Teile 3 und 4 beinhalten demnach elementars- te Sichtweisen, Einsichten sowie Denkmuster des Marketing und bilden quasi die ‚Philosophie‘ des Marketing. Sind sie erst einmal durchdrungen, wird alles Weitere viel klarer und einfacher. Dabei handelt es sich keineswegs um schwer verständli- che und tief verborgene Geheimnisse, wie es vielleicht den Anschein erheben mag. Nein, teilweise sind es auch ganz einfache Erkenntnisse, deren Wert sich aber erst auf den zweiten (tieferen) Blick offenbart. Die Ausführungen beginnen mit einigen verbreiteten ‚Kurzschlüssen‘, die sich im Zusammenhang mit der Frage „Was ist das eigentlich: ‚Marketing‘?“ bis heute hartnäckig halten, und räumt mit diesen fehlerhaften Ansichten gründlich auf. 2.1 Abgrenzung von ‚Werbung‘ bzw. ‚Verkauf‘ Typische Aussagen im Zusammenhang mit ‚Marketing‘ Als Verantwortlicher im Marketing sieht man sich im Alltag mit Menschen aus anderen Abteilungen und mit anderen Hintergründen regelmäßig mit einem oder mehreren der nachfolgenden Statements konfrontiert. N. Gerth, IT-Marketing, 13 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
14 2 Das ‚richtige‘ Marketing-Verständnis Aber auch die Betroffenen selbst ertappt man nicht selten mit Aussagen, für die der folgende Dialog typisch ist. Frage: „Du arbeitest doch im Marketing – was machst du denn da so?“ Antwort: „Prospekte, Internet.“ Wann entdecken Unternehmen das Marketing? Und schließlich gibt es auch noch ganz typische Situationen, in denen der Ruf nach mehr ‚Marketing‘ im Unternehmen laut wird. Auch hierzu ein paar sehr vertraute Statements, die viel über das allgemeine Verständnis von Marketing aussagen: Verkürztes bzw. falsches Marketingverständnis Bei der Betrachtung all dieser Aussagen wird deutlich, dass sie ein recht spezielles Grundverständnis von Marketing ausdrücken. Und zwar beruht dieses auf einer ver- kürzten begrifflichen Gleichsetzungen des Marketing-Begriffs mit vermeintlichen Synonymen wie Marketing = Verkauf Marketing = Werbung Die Gründe für die Gleichsetzung klingen zunächst plausibel Bei der Suche nach Gründen für die Gleichsetzung stößt man häufig auf folgende Argumente: • Marketing und Werbung bzw. Verkauf verfolgen die gleichen Ziele (z. B. Neu- kundengewinnung, Absatzsteigerung, Kundeninformation). • Werbung bzw. Verkauf sind die bedeutsamsten Instrumente, insbesondere vom Budgetvolumen her betrachtet. • Aus Kundensicht wird Marketing speziell durch Werbung bzw. Verkauf ‚sicht- und erlebbar‘. • Marketing hat sich traditionell aus dem Verkauf bzw. der Werbung heraus ent- wickelt. … doch sie sind ein logischer ‚Kurzschluss‘ Trotz ihrer Plausibilität greifen jedoch all diese Erklärungsversuche auf eine gefähr- liche Art und Weise zu kurz. ‚Gefährlich‘ deswegen, weil die Aussagen, die im Mar- keting angelegte Botschaft auf eine zu einfache und einseitige Weise verfälschen, und damit wesentliche Aspekte außer Betracht lassen: • Werbung und Verkauf sind nur Teilinstrumente: Beide stellen nur jeweils einen Teil des gesamten Instrumentariums des Marketing dar. Werbung beispielsweise ist nur eine Form der Kommunikation mit dem Kunden (hinzu treten: Verkaufs-
2.1 Abgrenzung von ‚Werbung‘ bzw. ‚Verkauf‘ 15 förderung, Public Relation, Direktwerbung etc.) Und auch die Kommunikation bildet nur einen Teil der absatzmarktbezogenen Aktivitäten ab. Weitere wichtige Entscheidungen, wie z. B. Preisstellung, Serviceangebote oder Logistik bleiben dann unberücksichtigt. • Die Gleichsetzung basiert auf einem veralteten Kundenbild: Der Kunde wird hier ausschließlich in der Rolle des (stummen) ‚Abnehmers‘ von Unternehmens- leistungen gesehen. Diese Sichtweise zeugt jedoch von einer zu geringen Kun- denorientierung. • Werbung und Verkauf sind Instrumente der Marktbearbeitung, die ausschließlich der Beeinflussung des Kunden dienen: Wäre nur das die Aufgabe des Marketing, so wäre dies ein Verstoß gegen die Grundlogik erfolgreichen Vermarktens. Mar- keting wird in dieser Form degradiert zu einem allen anderen Unternehmenspro- zessen nachgelagerten Bereich, der dafür zu sorgen, dass die dort entwickelten Leistungen bestmöglich dem Markt/Kunden ‚aufzuschwatzen‘ sind. Der Markt- erfolg von Produkten hängt jedoch ganz entscheidend von der erlebten Nützlich- keit seitens des Kunden ab. In diesem Sinne ist vor der Leistungserstellung erst einmal herauszufinden, welches Problem es eigentlich zu lösen gilt (z. B. über die Marktforschung). • Es fehlen strategische Vorgaben: Werbung und Verkauf stellen lediglich operati- ve Instrumente der Marktbearbeitung dar. Um jedoch unternehmensseitig sinn- voll eingesetzt zu sein, benötigen sie grundlegende Vorgaben aus dem strategi- schen Marketing (siehe hierzu auch Kap. 5.3.1). • Zukünftige Marktpotenziale werden vernachlässigt: Zudem beziehen sich Wer- bung und Verkauf nur auf das bestehende Sortiment, während Marketing auch zukünftige Erfolgspotenziale im Blick haben muss. • Innengerichtete Funktionen fehlen: Schließlich unbestreitbar, dass Werbung und Verkauf nur die Außenorientierung des Marketing betonen (Instrumentcha- rakter), Marketing aber sehr wohl auch eine wichtige innengerichtete Funktion übernimmt (Unternehmenssteuerung im Sinne des Absatzmarktes). Woher kommen diese Ansichten? Eine wesentliche Ursache für diese Aussagen ist sicherlich, dass Außenstehende das Marketing danach beurteilen, was sie davon zu sehen bekommen. Und das ist nun mal Werbung in Zeitschriften und TV (mehr oder weniger gefällig bzw. unterhalt- sam) und Verkauf (meist aufdringlich und nicht immer hilfreich). Der ‚Kurzschluss‘ ist gefährlich Die Verkürzung des Marketing-Begriffes ist jedoch mehr als nur eine Stilfrage. Im Wirtschaftsalltag angewandt, birgt die Reduktion des Marketing auf seine Absatz- funktion sogar existenzielle Gefahren. Leistungen werden unabhängig vom Markt entwickelt Die verkaufszentrierte Interpretation des Marketing impliziert, dass (bereits vor- handene) Produkte/Leistungen möglichst geschickt abzusetzen sind, getreu dem Motto: „Der Kunde hat das zu kaufen, was von unseren Ingenieuren entwickelt und produziert wurde“. Wer aber seine Leistungen weitgehend unabhängig vom Markt entwickelt, trägt das Risiko, dass seine Angebote nur zufällig vom Kunden akzep-
16 2 Das ‚richtige‘ Marketing-Verständnis tiert werden. Trifft die angebotene Leistung nicht den ‚Geschmack‘ des Kunden, so drohen mehrere negative Konsequenzen: • Unzufriedenheit beim Kunden, weil das Produkt nur bedingt als Problemlösung taugt. • Absatzeinbußen, weil Folgetransaktionen unterbleiben bzw. negative Mund-zu- Mund-Werbung einsetzt. • Absatzerfolge müssen teuer ‚erkauft‘ werden, da Kunden mühsam ‚überredet‘ werden müssen (mehr Werbung, mehr Verkaufsgespräche). • Geringere Ausgabebereitschaft der Kunden, was sich in Nachlassforderungen äußert und mittelfristig über Rabattschlachten eine Preiserosion einleitet. ‚Hit and Run-Marketing‘ Ein weiterer Punkt tritt hinzu: Im Falle einer strengen Verkaufsorientierung endet das Bemühen um den Kunden mit dem Auftrag bzw. bei Misserfolg mit der Absage des Kunden. Anschließend folgt die Suche nach einem neuen (potenziellen) Kun- den. Dieses sog. ‚Hit and run-Marketing‘ birgt aber mittel- bis langfristig immense Risiken. Denn aus Sicht des Kunden endet das Geschäft gerade nicht mit dem Ver- tragsabschluss. Für ihn steht in den seltensten Fällen der Erwerb einer Leistung im Vordergrund, als vielmehr deren Nutzung bzw. eine umfassende Problemlösung. Entsprechend umfangreich bzw. weiterführend ist sein Anspruch: Mindestens ebenso wichtig sind aus seiner Sicht die problemlose Abwicklung und Auslieferung, eine störungsfreie Inbetriebnahme und Nutzung sowie Möglichkeiten der Aktuali- sierung und Erweiterung. Defizite in diesen Bereichen wirken ebenso negativ auf die Gesamtzufriedenheit, wie Mängel in der Kernleistung (dem Produkt). Außerdem widerspricht das Vorgehen gewissen ökonomischen Grundlogiken. In vielen Branchen wird beim Erstverkauf in den seltensten Fällen ‚Geld verdient‘, da die Marktbearbeitungskosten die Erlöse deutlich übertreffen. Um aber Folgekäufe zu stimulieren, benötigt es ein anderes Verständnis als die, bestehende Produkte lediglich ‚abzuverkaufen‘. Und schließlich sollten bereits einmal (aufwendig) gewonnene Neukunden im Anschluss an den Verkaufsabschluss nicht ‚allein‘ gelassen werden, da man an- sonsten Gefahr läuft, dass diese von der Konkurrenz abgeworben werden und man immer wieder bei ‚Null‘ anfangen muss. Bereits gewonnene Kunden zu halten und dort Folgeaufträge zu erzielen ist für das Unternehmen deutlich günstiger als Kun- den immer wieder aufs Neue zu begeistern bzw. diese teuer von der Konkurrenz abzuwerben. Diese Überlegungen ernst nehmend, muss Marketing also umfassender verstan- den werden. 2.2 Anspruch und Aufgaben des Marketing Marketing ist kundenorientierte Wertschöpfung Anspruch des Marketing muss es sein, den Kunden selbst und dessen Beziehung zum Unternehmen zum Referenzpunkt des gesamten betrieblichen Geschehens zu
2.2 Anspruch und Aufgaben des Marketing 17 machen. Alle Wertschöpfung im Unternehmen sollte kundenorientiert sein. In die- sem Sinne haben sich im Prinzip alle (bzw. die meisten) Unternehmensprozesse an der Frage zu orientieren, inwieweit ihr Handeln dem Kunden und dessen Bedürf- nissen dient bzw. inwieweit es die dafür notwendigen Voraussetzungen schafft. Überdies ist ein grundsätzliches Umdenken erforderlich, was den Wertschöpfungs- prozess angeht (siehe Abb. 2.1). Abb. 2.1 Marketing ist kundenorientierte Wertschöpfung. Eine kurze prägnante Charakteristik Marketing in diesem Sinne ist ein Führungskonzept, dessen Anspruch in folgender Kurzformel prägnant zusammengefasst werden kann: Die zwei Perspektiven des Marketing Das Verständnis des Marketing als marktorientiertes Führungskonzept hat zur Bedingung, dass es die einfache Ebene der ‚Funktionsbereichsperspektive‘ verlas- sen muss, geht es doch um weit mehr als bloßes Handeln. Führungskonzepte ganz allgemein basieren nämlich in ihrem Kern v. a. auf einer ‚geistigen Haltung bzw. Einstellung‘. Diese spiegelt sich konsequenterweise auch im Wertesystem der ganzen Unternehmung wieder und ist so bindend für den Um- gang mit Problemen. Bezogen auf das Marketing als Führungskonzept bedeutet dies, dass ‚Kundenorientierung‘ als ein wesentlicher Bestandteil der Kultur einer Unternehmung anzusehen ist und diese sich auch entsprechend in der Grundein- Kundenorientierung bedeutet dabei keinesfalls, dass man versuchen sollte, es jedem potenziellen Kunden um jeden Preis Recht zu machen. Vielmehr kommt es darauf an, sich gezielt auf solche Kundengruppen zu konzentrieren, aus denen ein angemessener Ertrag zu erwarten ist.
18 2 Das ‚richtige‘ Marketing-Verständnis stellung aller Mitarbeiter wiederfinden sollte. So gesehen wirkt und handelt das Marketing aus zwei Perspektiven (vgl. Meffert u. a. 2008, S. 13 f.): • Als gelebter Unternehmenswert stellt das Marketing sicher, dass bei Führungs- entscheidungen eine hinreichende Ausrichtung an den Absatzmarkterfordernis- sen erfolgt (>> ‚Shared Values‘). • Als gleichberechtigte Unternehmensfunktion garantiert das Marketing eine profes- sionelle Umsetzung des Führungskonzeptes durch entsprechende Fachabteilungen. Konsequenzen aus dem Führungsanspruch des Marketing Die Forderung nach einer grundsätzlichen kundenseitigen Anpassungsleistung des Unternehmens, seiner Mitarbeiter und Prozesse wird in Literatur und im Unter- nehmensalltag in aller Regel mit dem Begriff ‚Kundennähe‘ umschrieben. Diesem Anspruch gerecht zu werden, ist eine in der Praxis oftmals unterschätzte Heraus- forderung. Wesentliche Eckpunkte kundennaher Unternehmen sind: • Das Begreifen des Kunden und seiner Bedürfnisse/Wünsche als ‚Dreh- und An- gelpunkt‘ aller Bemühungen. • Die konsequente Ausrichtung der Unternehmensprozesse auf den Kunden. • Der Aufbau einer offenen und verfügbaren Unternehmensorganisation (erreich- bar bzw. örtlich nah). • Die Entwicklung attraktiver Nutzenangebote für den Kunden (>> Problemlösun- gen!). • Die Erzielung dauerhafter Kundenzufriedenheit als Basis für den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens. Die Aufgaben des Marketing sind vielfältig Die absatzmarktbezogenen Aufgaben des Marketing können auch allgemein als Nachfragesteuerung umschrieben werden. Denn in modernen Märkten reicht es heute meist nicht mehr aus, sich im Denken und Handeln ausschließlich auf bestehende Bedürfnisse/Wünsche zu konzentrieren und den Bedarf einer vorhan- denen Nachfrage zu decken. Ausgehend von verschiedenen Marktkonstellationen lassen sich vielmehr weitere Marketingaufgaben präzisieren, die in Abb. 2.2 dar- gestellt werden. Daraus folgt, dass das Marketing nicht nur auf die Befriedigung vorhandener Wünsche und des bestehenden Bedarfs ausgerichtet ist, wie es streng ausgelegt im Konzept der Kundenorientierung ausgedrückt wird. Vielmehr geht es auch um die systematische Bedarfs- bzw. Verhaltensbeeinflussung der Nachfrager. Gleichzeitig aktive und passiv Marketing in diesem Sinne muss als wechselseitiger Prozess verstanden werden, bestehend aus zwei Komponenten: Einer passiven Komponente, derzufolge sich das Unternehmen am Markt bzw. Kunden orientiert und so versucht, Markt- sowie Absatzchancen zu erkennen. Und einer aktiven Komponente, über welche das Unter- nehmen bei seinen Zielkunden ein Bedürfnisbewusstsein schafft und anschließend deren Präferenzen beeinflusst (vgl. auch Abb. 2.3).
2.3 Kundenorientierung – was heißt das eigentlich genau? 19 Abb. 2.2 Aufgaben des Marketing. Quelle: in Anlehnung an Meffert u. a. 2008, S. 15. Abb. 2.3 Aktive und passive Komponente des Marketing. 2.3 Kundenorientierung – was heißt das eigentlich genau? Wichtige Schlüsselbegriffe Mit diesen grundsätzlichen Ausführungen zum Marketing-Verständnis ist jetzt der richtige Zeitpunkt erreicht, um tiefer in die Marketing-Philosophie einzusteigen. Zu diesem Zweck werden anschließend mit dem Marketing eng verbundene Schlüs-
20 2 Das ‚richtige‘ Marketing-Verständnis selbegriffe erläutert, um an diesen das Wesen der Kundenorientierung zu verdeut- lichen. Es sind dies: • Kunde • Bedürfnis, Wunsch, Nachfrage • Zielgruppe(n)/Segmente • Produkt und Kundennutzen 2.3.1 Kunde ist nicht gleich Kunde Welche Kunden sind gemeint? Zu Beginn soll verdeutlicht werden, dass je nach Perspektive die in Abb. 2.4 dar- gestellten verschiedenen Kundentypen unterschieden werden können. Abb. 2.4 Kundenarten. Auch Nicht-Kunden sind Kunden Während erstere Unterscheidungen relativ verbreitet sind, überrascht die Unter scheidung nach der ‚Intensität der Kundenbeziehung‘ immer wieder mit der Tat- sache, dass auch ‚nicht-aktive‘ Kunden (potenzielle Kunden und Leads) aus Marketingsicht als ‚Kunden‘ angesehen werden. Ihnen wird ebenfalls eine beträcht- liche Aufmerksamkeit zuteil, wie in den folgenden Kapiteln noch zu sehen ist.
2.3 Kundenorientierung – was heißt das eigentlich genau? 21 Kundenbeziehung als Prozess Außerdem verdeutlicht die Logik, dass die sprichwörtliche Kundenbeziehung ein Prozess über mehrere Stufen hinweg ist. In diesem durchläuft der Kunde mehrere Stadien, die jeweils durch unterschiedliche Kundenbegriffe charakterisiert werden. Es beginnt mit den potenziellen Kunden. Bei ihnen handelt es sich um theore- tische Bedarfsträger. Aus verschiedenen Gründen (Unkenntnis, keine Gelegenheit, kein Geld, Konkurrenzkunde) haben sie aber bisher noch nicht beim eigenen Unter- nehmen gekauft. Sie stellen mögliche Neukunden dar, sind aber oftmals diesem nicht bekannt, weswegen sie zunächst identifiziert und qualifiziert werden müssen (Name, Adresse, weitere Kundendaten). Im Rahmen der Qualifizierung versucht das Unternehmen die aussichtsreichen Potenzialkunden herauszufiltern. Diese sog. ‚Leads‘ werden anschließend aktiv weiter verfolgt. Es handelt sich also um Personen oder Organisationen, die dem Unternehmen bekannt sind und – zumindest potentiell – ein starkes Interesse an dem Produkt haben und es auch bezahlen könnten. Der Rest bildet eine ‚Residual- größe‘ an potenziellen Kunden, die dem Unternehmen entweder (noch) nicht be- kannt sind, bzw. die vom Unternehmen als ungeeignet eingestuft wurden, weil sie z. B. nicht kreditwürdig oder unprofitabel sind. Das Unternehmen muss nun Maßnahmen ergreifen, um aussichtsreiche Neukun- den zu erstmaligen Kunden zu machen. Wenn es gelingt, diese zufrieden zu stellen, werden sie wahrscheinlich zu Gelegenheitskunden. Aber auch solche wiederholt kaufende Kunden kaufen möglicherweise immer noch bei Konkurrenzfirmen, wes- wegen es ein erklärtes Ziel der meisten Unternehmen ist, diese zu Stammkunden zu entwickeln, die in der jeweiligen Produktkategorie den überwiegenden Anteil beim eigenen Unternehmen kaufen. Diese könnten auch noch in einem nächsten Schritt noch in ‚aktiv fürsprechende Kunden‘ verwandelt werden. Damit werden sie zu Schlüsselkunden, die sich positiv über das Unternehmen äußern und andere dazu ermutigen, ebenfalls Kunden zu werden. Gleichzeitig muss berücksichtigt werden, dass manche Kunden unvermeidlich inaktiv werden oder ganz aus dem Kundenkreis herausfallen (ehemalige Kunden), z. B. aufgrund von Unzufriedenheit, Umzug etc. Kunde ≠ Kunde Aus dieser zugegebenermaßen sehr differenzierten Betrachtung des ‚Kunden‘ und seiner Entwicklungsstadien, sind folgende wichtige Erkenntnisse abzuleiten: • Die ‚Wertigkeit‘ des einzelnen Kunden ist aus Sicht des Unternehmens (extrem) unterschiedlich. Aus Marketingsicht ist eben Kunde nicht gleich Kunde. • Jede der genannten Untergruppen muss durch das Marketing spezifisch ‚bedient‘ werden. Dies gilt für die Information, die Produkte, die Preise/Konditionen, den Vertrieb bis hin zum Service. Ausgewogene Verhältnisse schaffen Als zusätzliche Herausforderung für das Marketing kann darüber hinaus festge- halten werden, dass es gilt, ein relativ ausgewogenes Verhältnis aus potenziellen Kunden (sichern Wachstumsziele), Neukunden (stabilisieren die Ertragsbasis) und
22 2 Das ‚richtige‘ Marketing-Verständnis Stammkunden (sichern die Existenz) zu erreichen. Dieses dient der langfristigen Existenzsicherung sowie einer ‚Immunisierung‘ gegen kurzfristig auftretende Nachfrageschwankungen. Darüber hinaus gilt es, den Teil nicht-aktiver oder ehe- maliger Kunden zu minimieren bzw. zu reaktivieren. 2.3.2 Bedürfnisse als Kristallisationskern des Marketing Bei der Beantwortung der Frage, warum sich ein Käufer für ein bestimmtes Erzeugnis interessiert, hört man meist das Argument der ‚Bedürfnisbefriedigung‘ oder schlich- ter, der Kunde möchte sich durch den Kauf eines Produktes einen Wunsch erfüllen. Grund genug, diesen zentralen Konstrukten des Marketing erst einmal grund- sätzlich mit folgenden Fragen nachzuspüren: • Was genau ist ein Bedürfnis? • Welche Arten von Bedürfnissen gibt es? • Was unterscheidet Bedürfnis und Wunsch? 2.3.2.1 Was versteht man unter einem Bedürfnis? Bedürfnisse treiben uns an Menschen brauchen Nahrung, Schutz, Sicherheit, Zugehörigkeit oder Anerken- nung. Diese und weitere Bedürfnisse gelten als die Auslöser all unseres Handelns. Zu verstehen ist ein Bedürfnis am besten als Ausdruck eines subjektiv erlebten phy- siologischen oder psychologischen Mangels. Es handelt es sich demnach um einen inneren Prozess von stark emotionaler Art. Bedürfnisse sind darüber hinaus mit dem Streben verbunden, den erlebten Mangel zu beseitigen. Wichtige Eigenschaften von Bedürfnissen Von ihrer Herkunft her sind Bedürfnisse angeboren oder gelernt, weswegen sie auch für alle Menschen mehr oder weniger gleichermaßen gelten. Vom Einzelnen werden sie v. a. als Erregung bewusst erlebt. Allerdings geht das Bewusstsein i. d. R. nicht so weit, als dass das verursachende Motiv vom Individuum klar benannt und zwei- felsfrei zugeordnet werden kann. Sie initiieren Verhalten (Wahrnehmung, Denken und Handeln) und bestimmen da- bei v. a. dessen Grundausrichtung (>> Zuwendung oder Vermeidung) bzw. Intensität (>> Stärke des Strebens). Dabei sind sie relativ zeitstabil und werden deshalb auch gerne als ‚Motiv‘ bezeichnet (während ‚Bedarfe‘ genauso wie ‚Motivationen‘ eher kurzfristige Handlungsausrichtungen, also einen aktuellen Zustand, bezeichnen). Zu beachten ist, dass das Bedürfnisse nicht ‚sagt‘, womit seine Befriedigung stattfinden soll. Das Streben ist noch nicht auf ein konkretes Objekt zur Bedürfnis- befriedigung ausgerichtet.
2.3 Kundenorientierung – was heißt das eigentlich genau? 23 Goldene Marketing-Regel: Gehe erst über das ‚Bedürfnis‘ und dann auf ‚Los‘ Trotz ihrer eher allgemeinen Handlungsausrichtung sind Bedürfnisse der Anker- punkt für ein erfolgreiches Marketing. Denn dadurch, dass Bedürfnisse die Auslö- ser und Triebkräfte für unser tägliches Handeln sind, ist es so wichtig, alles Denken und Tun auch im Marketing immer wieder auf Frage nach den zugrunde liegenden Bedürfnissen zurückzuführen (Leitfrage: „Was treibt unsere Kunden an?“). Schafft das Marketing neue Bedürfnisse? Zur Frage, welche Bedürfnisse im Menschen vorhanden sind bzw. ob und welche Bedürfnisse neu geschaffen werden, existieren in der Literatur zahlreiche Meinun- gen und Diskussionen (vgl. Bänsch 2002; Kroeber-Riel u. a. 2008; Trommsdorff 2009). Konsensfähig erscheint die Ansicht, dass Bedürfnisse nicht vom Marketing geschaffen werden, sondern in der menschlichen Natur verankert sind und kultu- rell geprägt werden. Die Möglichkeiten des Marketing beschränken sich demnach auf das Bewusstmachen (oder Verstärken) von Bedürfnissen durch Problemappelle (Aktualisierung) bzw. das Aufzeigen mittels welcher Produkte/Leistungen das Bedürfnis am ehesten befriedigt werden kann (Verknüpfung zwischen Produkt und Bedürfnis). Beispielsweise verdeutlicht das Marketing dem Verbraucher, dass der Kauf eines Apple-PCs das persönliche Streben nach Zugehörigkeit zur Gruppe der ‚Kreativarbeitenden‘ erfüllen würde. Das Problem ist bekannt Bedürfnisse sind also innere (emotionale) Antriebe, die uns dazu bringen etwas zu tun, z. B. ein Produkt zu kaufen. Auch wirken Bedürfnisse (wie in den folgenden Kapiteln noch gezeigt wird) als wichtige treibende Kraft immer dann, wenn es um die Wahlentscheidung geht.
24 2 Das ‚richtige‘ Marketing-Verständnis Allerdings sind die Bedürfnisse als Antreiber für einen Kaufvorgang nicht im- mer offensichtlich. Oftmals sind es scheinbar faktische Probleme, die einen Hand- lungsdruck erzeugen. Solche, wie sie beispielsweise in folgenden Statements zum Ausdruck kommen: • „Der PC ist veraltet und ich benötige einen Neuen.“ • „Ich möchte meine Bilder lieber auf dem Rechner archivieren und suche daher eine entsprechende Software.“ • „Meine Firma möchte ein CRM-System einführen und ich kümmere mich um eine passende Lösung.“ … aber das Bedürfnis dahinter oft unbewusst Dabei wirken auch hier im Hintergrund motivatorische Kräfte mit starker Emotio- nalität, z. B. auch dazu gehören zu wollen („Auch mein Rechner hat bereits die neue Prozessorgeneration.“) bzw. modern sein zu wollen („Auch ich bearbeite meine Bilder online.“) oder für wichtig erachtet zu werden (>> „Wir führen CRM ein, und ich suche den Anbieter aus.“). Aber diese Art Antriebe sind weder dem Betroffenen immer bewusst noch werden sie offen artikuliert, was es auch für das Marketing schwer macht, diese gleich zu erkennen. Bekannt und gehandelt werden stattdessen die unterschiedlichsten Argumente, die das eigene Streben auf rationale Art zu erklären versuchen und die den Bedarf/ das Problem am besten ausdrücken. Wichtig nur: Marketingverantwortliche sollten sich gewahr sein, dass der Kunde sich diese rationalen Gründe mangels Bewusst- sein bezüglich der wahren Motive (aber auch aufgrund mangelnder [Selbst-] Ehr- lichkeit) oftmals nur selbst erdacht und zurecht formuliert hat. Dies führt oft zu falschen Lösungen Damit ist an dieser Stelle festzuhalten: Vor allem die offensichtlichen, rationalen Probleme, die von Kunden, aber auch im Marketing, als vermeintliche Kaufmotive angeführt werden, sind nicht immer die wahren Beweggründe für Kundenverhalten. Meist handelt es sich bei diesen ‚nur‘ um oberflächliche gedankliche Derivate, wel- che, wenn überhaupt, nur sehr vage auf die wirklichen Motive hinweisen. Das ist zunächst auch nicht schlimm und nur allzu menschlich (denn wer kann schon bzw. möchte seine Präferenzen und sein Verhalten zu jedem Zeitpunkt näher analysieren oder überhaupt ehrlich erkennen?). Problematisch ist dies also zunächst weder für den Kunden noch für Dritte in seinem Umfeld. Einzig für Marketingverantwortliche birgt dieser Missstand eine große Gefahr. Denn wer jetzt schon mit diesen ‚rohen‘ Problembeschreibungen los- rennt, in der vermeintlichen Erkenntnis, das Bedürfnis wäre ja offensichtlich (‚Der Mensch braucht eben einen PC‘), der springt deutlich zu früh (Fehlstart!) und läuft zudem Gefahr, eine völlig falsche Richtung einzuschlagen. Denn, Hand aufs Herz, gibt es das wirklich – ein menschliches Bedürfnis nach einem ‚PC‘? Wer sich mit solchen Begründungen begnügt, der wird auch vor weiteren ‚Kurz- schlüssen‘ nicht haltmachen, indem er beispielsweise gleich weiß, wie der PC denn beschaffen sein muss, damit er dem Kunden gefällt. Na, wie ein guter Rechner eben: Neuester Prozessor, großer Arbeitsspeicher, großes Display, DVD-Laufwerk ohnehin, multiple Anschlussoptionen usw. Und das Ergebnis ist dann? Eben …: Ein weiterer PC. Genauso toll (oder eben nicht), wie all die anderen PCs.
2.3 Kundenorientierung – was heißt das eigentlich genau? 25 Ein tieferes Eindenken ist gefordert Das Beispiel zeigt hoffentlich deutlich, dass viele der im Unternehmensalltag gehan- delten Kunden-Probleme nicht unbedingt die wahren Bedürfnisse sein müssen, bzw. dass das Arbeiten mit zu ‚rohen‘ Problembeschreibungen im Marketing nur bedingt funktioniert. Marketingverantwortliche haben daher die Pflicht, sich tiefer in den Kunden einzudenken, um die wahren (psychischen) Antriebe zu erkennen. Denn nur wem es gelingt, die ‚wahren‘ Bedürfniskategorien menschlichen Han- delns zu erfassen, der versteht, warum sich Menschen in bestimmten Situationen in einer konkreten Weise verhalten. Und nur wer dies versteht, der kann damit begin- nen und den Anspruch erheben, menschliches Verhalten beeinflussen zu wollen. Zeit für die Frage nach den ‚wahren‘ Antrieben von Kunden. Welche Bedürf- nisse gibt es eigentlich? 2.3.2.2 Bedürfnisarten Die Frage nach den ‚eigentlichen‘ Antrieben menschlichen Verhaltens wurde v. a. von Humanwissenschaftlern untersucht und ist aufgrund der Vielzahl der Studien nicht einfach zu beantworten. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass es drei grund- legende Erklärungsansätze gibt (siehe Abb. 2.5). Abb. 2.5 Drei Erklärungsansätze menschlicher Bedürfnisse. Von diesen drei Erklärungsansätzen bieten weder der monothematische, noch der athematische Ansatz dem Marketing wirkliche Erklärungshilfen, um daraus wichtige Schlüsse zu ziehen. Von daher werden hier im Folgenden verschiedene
26 2 Das ‚richtige‘ Marketing-Verständnis polythematische Erklärungsansätze vorgestellt, aus denen die ‚wahren‘ Triebkräfte menschlichen Handelns gut herauszulesen sind. Grundlage: Die Persönlichkeitstheorie von Murray Henry Alexander Murray (*1893 in New York City; †1988 in Cambridge), US- amerikanischer Psychologe, der über 30 Jahre lang an der Harvard University lehrte, gilt als Pionier der persönlichkeitspsychologischen Motivforschung. In sei- ner 1938 veröffentlichten Persönlichkeitstheorie erhebt er die Behauptung, dass menschliches Verhalten auf eigenen Impulsen basiert, sich aber auch nach situa- tionsspezifischen Anreizen und Kräften richtet (vgl. Murray 1938). Diese eigenen Impulse (‚Needs‘) unterscheidet er in primäre und sekundäre Bedürfnisse. • Primäre Bedürfnisse sind physischer Natur. Zu ihnen zählen Hunger, Durst etc. • Sekundäre Bedürfnisse sind seiner Ansicht nach ‚höherer‘ Art und werden im Verlauf der individuellen Entwicklung erworben. Zu ihnen zählen beispielswei- se Leistung, Zugehörigkeit, Unabhängigkeit, Machtausübung, Selbstdarstellung, Spaß/Spiel, aber auch Misserfolgsvermeidung und Sinnhaftigkeit. Mit dieser Unterscheidung in physische und psychische (höhere) Antriebe und dem Erstellen einer ersten Liste an Bedürfnissen, hat er eine wichtige Grundlage für weitere im Folgenden noch zu beschreibende Untersuchungen gelegt. Neun Bedürfnisse nach Max-Neef Eine weitere, weniger bekannte, aber durchaus interessante Bedürfnistaxonomie stammt von Manfred A. Max-Neef (*1932 in Valparaiso; ein chilenischer Ökonom deutscher Herkunft; u. a. auch Professor in Berkely, Cal.). Ihn brachten seine Erfah- rungen in diversen entwicklungspolitischen Projekten u. a. in Südamerika zu der Frage nach den menschlichen Antrieben. Und zwischen Projektarbeiten und theo- retischen Reflexionen entwickelte er in den frühen 80er Jahren die Idee, dass die menschlichen Grundbedürfnisse begrenzt, zahlenmäßig gering und klassifizierbar sind. Basierend auf seinen Beobachtungen schlug er dann 1991 eine Taxonomie aus neun Grundbedürfnissen vor, wie sie in Abb. 2.6 aufgeführt sind (vgl. Max-Neef Abb. 2.6 Bedürfnisarten nach Max-Neef. Quelle: Eigene Darstellung, basierend auf Max-Neef (1991).
2.3 Kundenorientierung – was heißt das eigentlich genau? 27 1991). Diese seien, so seine Vermutung, im Takt mit der Evolution des Menschen entstanden. Wertvoll für unsere Zwecke ist die Arbeit von Max-Neef v. a. durch zwei Dinge: Die Beschränkung der menschlichen Antriebe auf eine Liste von neun Grundbe- dürfnissen, sowie seine Hinweise auf drei grundsätzliche Möglichkeiten der Be- dürfnis-Befriedigung. Die Bedürfnisbefriedigung erfolgt wahlweise in Beziehung mit sich selbst (Eigenwelt), in Beziehung mit der sozialen Gruppe (Mitwelt) oder in Beziehung mit der Umwelt (siehe hierzu auch Abschn. 4.3). Bedürfnispyramide von Maslow Einen anderen, recht populären Ansatz bietet der US-Psychologe Abraham H. Maslow (*1908 in New York City; †1970 in Kalifornien). Er schlug bereits 1943 vor, die Bedürfnisse und Motivationen von Menschen in einer fünfstufigen Hier- archie zu systematisieren. Seinen Überlegungen nach lassen sich fünf stufenweise aufgebaute Bedürfnisklassen unterscheiden (siehe auch Abb. 2.7): Abb. 2.7 Bedürfnispyramide nach Maslow. Quelle: Eigene Darstellung, basierend auf Maslow (1943). Maslows Theorie zufolge versucht der Mensch zuerst die Bedürfnisse der nied- rigsten Stufe zu befriedigen, bevor die nächste Stufe zum neuen und stärkeren Be- dürfnis wird. Die unteren drei Stufen in der Pyramide (und auch Teile der vierten) nennt man auch Defizitbedürfnisse. Das ist darauf zurückzuführen, dass sie durch einen Man- gel an bedürfnisreduzierenden Reizen entstehen. Außerdem gibt es bei ihnen Sät- tigungserscheinungen, weswegen man mit zunehmender Erfüllung immer weniger
28 2 Das ‚richtige‘ Marketing-Verständnis Motivation verspürt, diese zu befriedigen (wenn man nicht mehr durstig ist, ver- sucht man beispielsweise nicht mehr zu trinken). Unstillbare Bedürfnisse können demgegenüber nie wirklich befriedigt werden. Diese treten ab der vierten Stufe auf (Beispiel: Ein Maler zeichnet zur Selbstverwirklichung; sein Bedürfnis nach Krea- tivität ist nicht nach einer bestimmten Anzahl Bildern gestillt). Die Darstellung ist eine gelungene Systematik und leistet als Denkraster gute Dienste. Maslows größter Verdienst liegt damit zweifelsfrei in der Sammlung, Strukturierung und Ordnung verschiedener Bedürfnisarten. Allerdings sind seine Aussagen auch nicht ohne Kritik geblieben, wie folgende Punkte verdeutlichen: • Nicht erst die Sättigung rangniederer Bedürfnisse führt zum Aufleben höherer Bedürfnisse. • Häufig kann ein gleichzeitiges Streben nach mehreren der genannten Bedürf- nisse festgestellt werden (z. B. Sicherheit und Anerkennung). • Es sind die Bedingungen unklar, ab wann die Bedürfnisse einer nächst höheren Hierarchiestufe aktiviert werden. • Die Kategorien sind aufgrund ihrer sehr allgemeinen Formulierung eher ‚Sam- melbecken‘ für konkrete Einzelbedürfnisse. • Eine abschließende Liste ist nicht zwingend erkennbar und jede Kategorie bietet großen Interpretationsspielraum. • Die zweifelsfreie Zuordnung von Einzelbedürfnissen zu den Gruppen ist schwie- rig. • Einzelne wichtige Bedürfnisse sind nicht explizit erkennbar bzw. nicht zuord- nenbar, z. B. Bequemlichkeit, Spaß/Unterhaltung/Zerstreuung, Idealismus, so- ziale Gerechtigkeit, Fairness, Altruismus/Güte sowie Vermeidungsstreben (be- stimmte Dinge aus Angst, Abscheu, Verachtung, Scham etc. heraus nicht tun zu wollen). Ungeachtet dieser Kritik hat die Maslowsche Systematik allein dadurch einen ho- hen Nutzwert für die Marketingpraxis, dass die beschriebenen fünf Bedürfnisklas- sen sehr gut geeignet sind, um damit beinahe alle jemals diskutierten Einzelbedürf- nisse einzufangen (siehe auch weiter unten). Im Sinne einer ‚Bedürfnisessenz‘ zeigt sie übersichtlich und klar alle wesentlichen Bedürfniskategorien, die menschliches Verhalten auslösen. Eine Liste relevanter Bedürfnisarten Vergleicht man die Ergebnisse der hier besprochenen Ansätzen mit den Erkennt- nissen weitere Untersuchungen von Forschern aus dem Bereich der Kaufverhal- tensforschung (vgl. Bänsch 2002; Gröppel-Klein 1998; Trommsdorff 2009), so erkennt man einen recht hohen Grad an inhaltlicher Nähe der einzelnen Arbeiten und Taxonomien, sieht man einmal von unterschiedlichen Ausdrucksweisen ab. Diese Tatsache ermöglicht es hier, eine notwendige Verdichtung vorzunehmen. Diese ist zweckmäßig, um zu einer überschaubaren, pragmatischen Liste an rele- vanten Grundbedürfnissen zu gelangen, mit denen Marketingverantwortliche im Alltag arbeiten können. Arbeiten in dem Sinne, dass diese mit Hilfe dieser Liste versuchen können,
2.3 Kundenorientierung – was heißt das eigentlich genau? 29 • artikulierte Kundenprobleme und -wünsche auf die ‚wahren‘ Grundbedürfnisse zurückzuführen (>> sie zu ‚übersetzen‘; erste Hypothesen zu Ursachen von Kun- denäußerungen und –verhalten zu bilden). • zukünftige Marketingkonzepte auf Basis der identifizierten Grundbedürfnisse zu planen bzw. • bestehende Marketingobjekte (Produktideen, Werbeanzeigen etc.) auf ihren Be- dürfnisbezug zu überprüfen (>> Sind zur Zielgruppe passende Bedürfnisbezüge sichtbar?). Abbildung 2.8 zeigt einen Vorschlag für eine solche Liste relevanter Grundbedürf- nisse für die Marketingpraxis. Auf diese Grundbedürfnisse lassen sich die allermeisten der im Alltag beob- achteten Kaufhandlungen zurückführen. Diese sind auch ursächlich für bestimmte Wahlentscheidungen im Geschäft mit IT-Produkten, wie nachfolgend noch gezeigt werden wird. Abb. 2.8 Liste relevanter Grundbedürfnisse für die Marketingpraxis.
30 2 Das ‚richtige‘ Marketing-Verständnis Die Bedeutung einzelner Bedürfnisse verändert sich Die Bedeutung einzelner Bedürfnisse unterliegt langfristigen Wandlungen. Denn über die Jahre hinweg sind sie gesellschaftlichen, kulturellen, historischen und wirt- schaftlichen Veränderungen ausgesetzt, die zu Bedeutungsverlagerungen innerhalb der Bedürfnisse führen können. So gelten beispielsweise die physiologischen Grundbedürfnisse ‚niederer‘ Ord- nung in den meisten entwickelten Volkswirtschaften für weitgehend erfüllt. Auf- grund dieser Tatsache ist es wenig erfolgsversprechend für ein bestimmtes Produkt mit derartigen Bedürfnisansprachen zu werben (z. B. Nudeln, die satt machen). Geeigneter erscheinen in diesem Fall Ansprachen, die an den derzeitigen Defizi- ten/Mängeln unserer heutigen Gesellschaft ansetzten. So ist beispielsweise seit den 80er-Jahren ein verstärkter Wunsch nach emotionaler Anregung (Spaß) zu beobach- ten und die Krisen der letzten Jahre haben dem Sicherheitsbedürfnis insgesamt zu einer Renaissance verholfen. 2.3.2.3 Bedürfnisse von Geschäftskunden Ticken Geschäftskunden wirklich anders? Die bisherigen Ausführungen erfolgten aus der Perspektive von Individuen und gel- ten damit in jedem Fall für Privatkunden. Bleibt die wichtige Frage, ob Geschäfts- kunden (B2B) gleiche, ähnliche oder ganz andere Bedürfnisse haben? Auf den ersten Blick wird man bei der Antwort auf diese Frage eher geneigt sein, größere Unterschiede erkennen zu wollen. Und dieser Eindruck scheint sich zu verfestigen, wenn man z. B. Werbemittel von B2B-Anbietern betrachtet. Von ihrer Grundausrichtung ist die Tonalität hier viel rationaler und es dominieren Ar- gumente, wie ‚mehr Leistung‘, ‚zuverlässig‘, ‚schnell‘, ‚anwendungsfreundlich‘, ‚flexibel‘, ‚kostensparend‘ usw. In diesem Sinne scheinen es v. a. funktionale Nutzenkomponenten und Produkt- leistungsaspekte zu sein, die das Entscheidungsverhalten von B2B-Kunden prägen. Dies liegt an der oftmals geschäftskritischen Bedeutung der beschafften Güter (bei- spielweise als Systembestandteile einer umfassenden IT-Infrastruktur), aber auch am im B2B-Bereich verbreiteten Menschenbild des ‚Homo oeconomicus‘ und der damit einhergehenden Vorstellung, dass nur rationale Aspekte die industrielle Kauf- entscheidung bestimmen. Bedeutet dies umgekehrt, dass die oben aufgelisteten Be- dürfnisse als Antriebe für Kaufverhalten hier keine Gültigkeit besitzen? Abschied vom ‚rationalen Entscheider‘ Vor dieser Sichtweise soll hier jedoch ausdrücklich gewarnt werden. Denn wenn man genauer hinsieht, wird man feststellen, dass es auch im B2B-Bereich emotio- nale Aspekte sind, die das Entscheidungsverhalten der Handelnden erheblich mit prägen, wie Studien immer wieder belegen (vgl. stellvertretend Bausback 2007 bzw. Forum/DGQ 2006). Wer nur auf Leistung und rationale Nutzenaspekte (den ‚Zweck‘) setzt, liegt hier oft falsch. Denn funktionale Aspekte allein entfalten in aller Regel keinen hinreichenden Handlungstrieb (Funktion als Selbstzweck?).
2.3 Kundenorientierung – was heißt das eigentlich genau? 31 Das Streben nach Gewinn Unstrittig ist, dass kommerzielle Unternehmen v. a. nach Gewinnmaximierung stre- ben. Und jeder Produkterwerb im B2B-Bereich dient in diesem Sinne primär der Steigerung des wirtschaftlichen Erfolges der Unternehmung. Gelingt es, diesen zu mehren, so hat dies auch indirekt positive Effekte für das Individuum. Denn durch die stark monetär ausgerichteten Ziel- und Bewertungssystemen in Unternehmen, profitiert auch jeder Einzelne vom wirtschaftlichen Erfolg seiner Firma. Der Inhaber dadurch, dass er den Mehrgewinn unmittelbar als Zusatzrendite einstreichen kann, und die Mitarbeiter, indem sie sich wahlweise über erfolgsabhängige Lohnbausteine oder Sonderboni persönlich finanzielle Vorteile sichern können bzw. dadurch, dass die Zielerfüllungen für die eigenen Karriereansprüche förderlich sind. Und diese Aussichten sind sicherlich ein Antrieb für alle Handelnden. Entsprechend hat das Bedürfnis nach Teilhabe am ‚wirtschaftlichen Erfolg/ Gewinn‘, mit seinen Ablegern ‚Kosteneinsparungen‘ und ‚Umsatzsteigerungen‘ bzw. ‚höhere Rendite‘ bei Geschäftskunden ganz unstrittig einen großen Stellenwert. Die Belohnung kommt jedoch erst spät Allerdings werden die positiven Effekte der Teilhabe für den Einzelnen nicht unmit- telbar wirksam, sondern erst später. Auch ist zum Zeitpunkt der Entscheidung noch unsicher, ob es überhaupt dazu kommt, denn die einzelne Aktion liefert meist nur einen verschwindend kleinen Beitrag zur Gewinnsteigerung und kann durch Fehl- entwicklungen in anderen Bereichen im negativen Sinne egalisiert werden. Es ist daher anzunehmen, dass der Bedürfnisappell nach Teilhabe am ‚wirtschaftlichen Erfolg‘ nicht die einzige Triebkraft im B2B-Bereich sein kann. Geschäftskunden sind zuallererst Menschen Auch im Geschäftskundenbereich werden Produkte letztendlich von Individuen gekauft. Kunden im B2B-Geschäft sind auch Menschen und nicht, wie oft irrtüm- lich angenommen, gesichtslose Organisationen (das Unternehmen als ‚Kunde‘). Das tatsächliche Verhalten der Gruppe bzw. Organisation wird über die Individual- ebene determiniert. Kaufentscheidungen werden daher auch hier stets von den Interessen der in- volvierten Personen mitbestimmt. Und diese achten dabei genauso auf ihren per- sönlichen Nutzen. Damit sind die Entscheidungen aber automatisch auch den oben beschriebenen individuellen Antrieben und Bedürfnissen unterworfen (siehe Abb. 2.8). Denn niemand wirft diese am ‚Firmentor‘ einfach ab. Stattdessen laufen sie immer mit und greifen ein in die täglichen Beurteilungs- und Entscheidungs- prozesse. Ein bestimmtes Produkt kann einem Einkäufer helfen, mehr zu verdienen, ihn in seinem beruflichen Umfeld absichern, sein Ego betonen oder einfach nur sein Leben erleichtern. Darin liegt sein eigentlicher Nutzen (neben dem sachlichen Zweck, den das Produkt erfüllt). Auch Sie brauchen Statussymbole Sucht man nach den maßgeblichen Triebkräften im Geschäftsleben, so entdeckt man neben dem Gewinnstreben schnell den inneren Drang nach ‚Prestige und Status‘. Leicht zu erkennen ist dieser, wenn es beispielsweise um die Wahl des Firmenwa-
32 2 Das ‚richtige‘ Marketing-Verständnis gens (Marke und Ausstattung) geht. Aber auch bei IT-Beschaffungsentscheidungen schwingen solche Fragen gerne mit. Auch hier schmücken sich Entscheider nicht selten, aber gerne mit der Software des teuren Marktführers (Motto: „Wir können uns das leisten.“). ... und möchten nichts falsch machen Ebenfalls bei genauem Hinsehen recht gut beobachtbar ist im B2B-Bereich noch das Sicherheitsbedürfnis. Beispiel Softwarebeschaffung: Die Verantwortlichen in Unternehmen treibt hier eine gewisse Ambivalenz. Einerseits zeichnen sie sich durch eine natürliche Aufgeschlossenheit gegenüber Technologien und Innovationen aus. Andererseits bedeuten Softwarebeschaffungen häufig gewaltige Investitionssum- men, so dass bei den Abnehmern gleichzeitig die Angst vor Fehlentscheidungen, mit u. U. negativem Einfluss auf die eigene Stellung im Unternehmen, vorhanden ist. In einer solchen Situation werden die Verantwortlichen versuchen, alles daran- zusetzen, dass die Restrisiken einer Kaufentscheidung minimiert werden (Motto: „Bloß nichts falsch machen.“). Das dann auftretende Streben nach ‚Risikover- meidung‘ führt zum Phänomen des sog. ‚Trendmitläufers‘ (vgl. Herzwurm 1998, S. 86): Die Entscheidung fällt in solchen Fällen, wie bei anderen Unternehmen auch, z. B. auf den Marktführer SAP mit seiner Standard-Software, die dann ge- eigneter für die eigenen Ansprüche zu sein scheint (im Übrigen ist diese Wahl auch für die interne Rechtfertigung der Investition förderlich – anders wäre dies beim Kauf eines ‚Exoten‘). Gelobt wurde auch schon lange keiner mehr Ein schon eher wenig offensichtliches Motiv bei B2B-Entscheidungen ist das Streben der Beteiligten nach ‚Anerkennung und Lob‘. Allerdings sagt die geringe ‚Öffentlichkeit‘ des Antriebs nichts über dessen wahre Bedeutung für die Kauf- entscheidung aus, was übrigens auch für alle noch folgenden Beispiele gilt. Die Ursache für das Streben nach Anerkennung und Lob ist schnell ausgemacht. Denn das tägliche Leben in Unternehmenshierarchien mit den zugehörigen dauernden Machtkämpfen und dem Zwang zu Kompromissen oder einem Zurückstecken ist ein idealer Nährboden dafür. Und so wächst das Bedürfnis des Einzelnen in bestimmten Entscheidungen ‚auch mal Recht zu haben‘ und Bestätigung für seine Idee zu bekommen beinahe täglich an. Und da dieses Bedürfnis unternehmensintern leider viel zu selten bedient wird, eröffnet sich hier ein noch wenig genutztes Ter- rain für Zulieferer, die mit ihren Produkten und Leistungen genau dieses Gefühl vermitteln könnten (Motto: „Server der Marke X, da haben Sie eine wirklich gute Idee gehabt.“). Ähnlich gelagert ist übrigens das Streben nach ‚Selbstwertschätzung‘ z. B. über eine ‚Belohnung‘ (Motto: „Dann gönne ich mir eben einen größeren Bildschirm.“ oder „ … das Modell der Firma K“). Und auch das Streben nach ‚Gruppenzugehö- rigkeit und Nachahmung‘ lässt sich im Geschäftskundenalltag bei genauem Hinse- hen gut beobachten (Motto: „Unsere CRM-Anwendung ist auch von …“ oder klarer „Wir als Kreativagentur arbeiten nur mit PCs der Firma Y.“). Weitere Beispiele
2.3 Kundenorientierung – was heißt das eigentlich genau? 33 dafür, wie auch im B2B-Bereich emotionale Faktoren unmittelbar in das Entschei- dungsverhalten einwirken. Eigentlich sind sie ja wie wir alle In gleichem Maße sind es die individuellen Triebe nach ‚Unabhängigkeit/Freiheit‘ oder ‚Identität, Individualität‘ die hinter der Grundsatzentscheidung eines Unter- nehmens stehten, komplett auf das Betriebssystem Z umzusteigen. Hinzu treten Bedürfnisaspekte wie ‚Erlebnis, Genuss bzw. Spaß‘, die im grauen Büroalltag im Allgemeinen ebenfalls recht kurz kommen, weswegen dann doch die Software mit den eher fröhlichen Oberflächenfarben zum Zuge kommt oder der Drucker mit dem etwas ausgefalleneren Design gewählt wird. Und schließlich hat auch das zutiefst unrationelle Thema ‚Sex/Erotik‘ in der Ge- schäftswelt durchaus seine Bedeutung (man denke hier nur an die zahllosen Dar- stellungen, in denen Produkte an der Seite von überaus attraktiven, zumeist Damen präsentiert werden). Wenn auch grenzwertig und gewagt, so ist es doch nicht grund- sätzlich unsinnig, technisch eher emotionslose, kalte Produkte mit einer hohen Aus- tauschbarkeit und Standardisierung einen gewisses ‚Sexappeal‘ verleihen zu wol- len, um sie dadurch von Konkurrenzprodukten abzuheben. Abbildung 2.9 fasst die wichtigsten Antriebe im B2B-Geschäft nochmals zu- sammen. Abb. 2.9 Wichtige Antriebe im B2B-Geschäft. Emotionale Bedürfnisse sind oft ausschlaggebend Die Gedanken und Beispiele mögen verdeutlichen, dass auch beim Kauf von Pro- dukten durch Unternehmensvertreter nicht nur deren Beitrag zur Erreichung der Unternehmensziele (u. a. Gewinnsteigerung) maßgeblich ist. Vielmehr schwingen bei allen Entscheidungen genauso die individuellen Bedürfnisse der Handelnden
34 2 Das ‚richtige‘ Marketing-Verständnis mit, und in nicht wenigen Fällen geben diese den Ausschlag, gerade wenn es um das Treffen der finalen Wahlentscheidung zwischen Anbieter A und B geht. Auch wenn sie nicht ‚sichtbar‘ sind Jetzt werden viele sagen „Das gibt es zwar, es spielt aber wirklich eine absolut untergeordnete Rolle. Im B2B-Bereich hat Emotionalität keinen wirklichen Raum“. Vorsicht! Diese Aussage klingt sehr stark nach: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf.“ Aber das Streben nach eher individuellen Bedürfnissen im Geschäftskunden- alltag sollte insgesamt nicht unterschätzt werden. Denn nur hierdurch sichert sich das Individuum bei Einkaufsentscheidungen seinen unmittelbaren und persönlichen Nutzen (>> Bedürfnisbefriedigung!!!), während die o. g. Aussicht auf Teilhabe am Mehrgewinn eher abstrakt wirkt. Der Zwang zur Rechtfertigung fördert eine rationale Argumentationskultur Und dass individuelle Bedürfnisse im B2B-Bereich selten sichtbar sind und quasi überhaupt nicht geäußert werden, heißt nicht, dass sie nicht da sind. Denn dies liegt an der Art und Weise, wie Entscheidungsprozesse in Unternehmen abzulau- fen haben. Der allgegenwärtige Zwang zur Rechtfertigung gegenüber Kollegen und Drittinstanzen (z. B. Einkauf) fordert und fördert letztendlich eine ausschließlich rationale Argumentationskultur. In dieser haben Gefühle kaum bis gar keinen Raum („Ich fühle mich einfach besser, wenn ich mit einem PC der Firma Y arbeite.“ zählt eben nicht). Gelingt es allerdings diese Gefühle in ein rationales Vorteilsargument zu überführen, dann sieht die Sache ganz anders aus (z. B. wirkt ein Hinweis darauf, um wie viel produktiver man dadurch sein könnte, tatsächlich Wunder). Ein Spiel mit den richtigen Argumenten In diesem Sinne ist die vermeintlich rationalere Entscheidungsfindung im B2B- Bereich nunmehr ein Spiel mit den richtigen Argumenten und Worten bis am Ende auch individuelle Bedürfnisse zur Durchsetzung kommen. Und dies ist – wie jeder sicherlich schon zur Genüge erfahren hat – ein gar nicht so schwieriges Unterfan- gen. Ein Schuss Kreativität, ein paar Zahlen und Statistiken, v. a. aber Wucht in der Behauptung und Nachhaltigkeit sind hier die größten Waffen. Und auch der Versuch Einkaufsentscheidungen möglichst stark gegen indivi- duelle Einflüsse zu immunisieren, indem man aufwendige Kontrollverfahren und formale Argumentationshürden schafft (z. B. in Behörden oder Großunternehmen) wirken letztendlich nur unzureichend. Denn wo ein Antrieb ist, da ist auch ein Weg (bzw. da findet sich ein passendes Argument). Die Server oder der Monitor der Fir- ma XY sind dann eben gerade aus diesem Grund zuverlässiger, leistungsstärker als die Konkurrenzmodelle. Objektive Leistungsvorteile haben alle Wichtig: Es soll hier nicht darum gehen, Firmenentscheidungen zu einfachen Privat- entscheidungen umzuinterpretieren. Natürlich bleiben Forderungen nach konkreten objektiven Leistungsvorteilen für die Unternehmensziele der wichtigste Maßstab im B2B-Bereich. Aber einen solchen leisten bei Lichte besehen doch alle (seriösen) Anbieter. Wer würde denn von sich behaupten, dass sein Produkt keine ‚Kosten spart‘ oder nicht
2.3 Kundenorientierung – was heißt das eigentlich genau? 35 den ‚Umsatz steigert‘? Aber damit tun es eben alle. Es dreht sich damit wiederum nur um PCs, die schneller ‚rechnern‘ bzw. um Server, die kostengünstiger ‚servern‘ etc. Das schafft keine klare Präferenz. Und nicht vergessen: Im Entscheidungsprozess werden andauernd knappe Ent- scheidungen getroffen („Wer ist auf der Shortlist?“, „Bei wem hole ich noch weitere Infos ein?“ bzw. „Welches Argument zählt am meisten?“). Und genau an diesen wichtigen Punkten ist dasjenige Unternehmen im Vorteil, dem es (glaubwürdig) gelungen ist, den Eindruck zu erwecken, dass es zusätzlich weitere (im Zweifel individuelle) Bedürfnisse, die ja vorhanden sind (!), befriedigen kann. Bedürfnisse als wichtiger (emotionaler) Mehrwert Diese Einsicht ist elementar. Denn sie eröffnet einen wichtigen Erkenntnisprozess für die Produktverantwortlichen im Geschäftskunden-Marketing: • Zunächst die Notwendigkeit dafür, tieferliegende ‚wahre‘ Bedürfnisse der Han- delnden auch im B2B-Bereich aufzuspüren und damit überhaupt erst zu erkennen. − Hier ist es notwendig, die oberflächlich-sichtbare Schicht der rationalen Vor- teilsargumentation zu verlassen, um sich auf die darunter liegenden emotional- motivationalen Schichten der menschlichen Antriebe begeben zu können. − Frage: „Was treibt meine Zielgruppe noch an, außer dem Streben nach mehr Gewinn/Erfolg?“ >> Prestige, Anerkennung, Unsicherheit, Zugehörigkeit usw.? • Anschließend sollte den erkannten Bedürfnissen auch hier ein entsprechender Raum in der Produkt- und Marketingplanung eingeräumt werden. • Hier sind die emotional-motivationalen Antriebe dann wieder in geeignete und akzeptierte Produktfeatures oder Werbeargumente umzuformulieren. Die wahren Bedürfnisse zu bedienen bzw. auf die richtige Art und Weise anzuspre- chen, sorgt auch im B2B-Bereich am Ende für den entscheidenden Mehrwert. 2.3.2.4 Wo und wie entfalten Bedürfnisse ihre Wirkung? Dass die Frage nach den Bedürfnissen elementar ist für das Marketing, konnte mehrfach deutlich herausgestellt werden. Aber wann bzw. wo entfalten die Bedürf- nisse eigentlich ihre enorme Wirkungskraft? Die Dreifachwirkung von Bedürfnissen Bedürfnisse wirken, vereinfachend dargestellt, an drei Stellen im Kaufprozess (siehe auch Abb. 2.10). Sie entfalten … • Initialwirkung: Zunächst einmal bringen sie uns dazu, überhaupt etwas kaufen zu wollen. Sie sind damit Auslöser einer Kaufhandlung. • Lenkungswirkung: Zum zweiten greifen Bedürfnisse als emotionale Prozesse in den Prozess der Informationsverarbeitung ein. Sie beeinflussen unsere Wahr- nehmung, unser Denken und die Produktbeurteilung.
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