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print Januar 2017 DAS MAGAZIN DES WDR TÜRKEI: (un)zensiert Neue Erzählform: Die 360-Grad-Reportage ist die Zukunft des Storytellings Neues Quiz: WDR 5 fragt – Studenten antworten Neues Angebot: WDR bringt junge Frauen in Technikberufe
POLIZEILICHE MASSNAHME Foto: WDR/Kost Ballauf und Schenk rekonstruieren den Tathergang. In einer Zoohandlung wurde ein Mann erschossen. Die Kölner Kommissare versuchen mit Maßband und Laserpointer, die Schussposition zu ermitteln. Autor Jürgen Werner schrieb Klaus J. Behrendt (r.) und Dietmar Bär für diese Szene einen Dialog. Ballauf: „Mmh“, darauf Schenk: „Mmh, Mmh!“, Ballauf antwortet: „Mmmh!“ – bis er eine zwingende Schlussfolgerung ausspricht, die hier nicht verraten werden soll. Sondern erst am Sonntag, den 15. Januar zur »Tatort«-Zeit. 2
SCHNITZEL- SAGA Foto: WDR/Dicks Nach „Ein Schnitzel für drei“ und „Ein Schnitzel für alle“ (Deutscher Comedypreis 2014) heißt es jetzt „Schnitzel geht immer“. Die Langzeitarbeitslosen Günther Kuballa (Armin Rohde, r.) und Wolfgang Krettek (Ludger Pistor) wollen sich mit einem T-Shirt-Druck-Laden selbstständig machen. Zum Schritt ins freie Unternehmertum fehlen noch 4000 Euro Startkapital vom Jobcenter. Doch Sachbearbeiterin Frau Gottschalk hat andere Pläne für ihre „Kunden“. Darauf- hin reagiert Kuballa (drei Motivationskurse in sechs Jahren) ein wenig über. Am 18. Januar um 20.15 Uhr im Ersten. 3
Der mit seiner Fliege eigentlich stets seriös wirkende Chorleiter Hans-Ulrich Henning (unten) und Chor- Coach Giovanni Zarrella (oben) wälzten sich vor Freude gemeinsam am Boden, nachdem Marco Schreyl das Ergebnis verkündet hatte. Warum auch nicht, schließlich heißt es im Sieger-Song: „In dulci jubilo, nun singet und seid froh.“ Fünf Chöre hatten es ins große Finale von »Der beste Chor im Westen« geschafft. Der Christophorus- Jugendkammerchor aus Versmold überzeugte die Fernsehzuschauer Mitte Dezember mit dem Vortrag eben 4
SIEGET UND SEID FROH Foto: WDR/Grande jenes mittelalterlichen Kirchenliedes und konnte über ein Drittel der Anrufe für sich verbuchen. Der jüngste Chor im Wettbewerb hat eindeutig bewiesen, dass Zahnspangen und anspruchsvoller mehrstimmiger Gesang sich nicht ausschließen müssen. Er darf die schicke Trophäe mit nach Hause nehmen. Außerdem gewannen die jubilierenden Schülerinnen und Schüler der Jugenddorf-Christophorusschule einen exklusiven Auftritt mit den Profis vom WDR Rundfunkchor in ihrer Heimatstadt. 5
GLAMOUR- GIRLS Foto: WDR / beckround Nach über zehn Jahren Fernsehabstinenz ist Annemie Hülchrath (Cordula Stratmann, r.) wieder da, denn sie wird gebraucht. Wer sonst sollte in die Glamourwelt der gefeierten deutschen Stars Til Schweiger und Ute Lemper eintauchen? Hier ein Erinnerungsfoto auf Ute Lempers Dachterrasse in New York. Nochmal für alle Ute-Lemper- Kritiker: Sie hat eine Wohnung in New York. Mit Dachterrasse. »Annemie Hülchrath & Til Schweiger« zeigt das WDR Fernsehen am 2.1. um 22.10 Uhr. »Annemie Hülchrath & Ute Lemper« am Tag darauf zur gleichen Zeit. 6
Inhalt Editorial Titel 8 Europa schaut derzeit besorgt auf die Türkei. Die Pressefreiheit wird massiv einge- schränkt. Wie der WDR durch »Türkei unzen- siert« versucht, türkischen Journalistinnen und Journalisten eine Stimme zu geben Foto: Anneck 14 Can Dündar war ehemaliger Chefredakteur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“. Er hat die Einflussnahme der türkischen Politik auf die Medien miterlebt 18 WDR-Journalistin Hatice Kamer bekam die ver- änderte Situation in der Türkei zu spüren und wurde kurzzeitig verhaftet. WDRprint sprach mit ihr 20 »Köln Radyosu« ist für viele Türkinnen und Türken in Deutschland eine wichtige Infor- Liebe Leserinnen und Leser, mationsquelle. Ein Gespräch mit Redaktions- leiter Erkan Arikan Foto: WDR/Brill es ist mehr als bitter, in den Medien zu verfol- Radio gen, wie sich das Land am Bosporus in eine 22 Ab 18 Uhr hört man in den Redaktions- Diktatur wandelt. Teils wütend, manchmal fluren von COSMO ungewohnte Klänge. zu Tränen gerührt, hörten meine Kollegen In drei verschiedenen Sprachen wird dort und ich die Radiotagebücher kritischer tür- kischer Journalisten, die in ihrem Land nicht Wer weiß es? parallel aufgezeichnet und gestreamt. Ein Redaktionsbesuch mehr publizieren dürfen. Möglich macht 28 Wenn Rätseln ein Volksport 26 Im Hörspiel „Sirius FM – Expedition an den Bandtellerrand“ wird die Geschichte des diese unabhängige Berichterstattung der der Deutschen ist, dann ist das Knei- legendären WDR-Soundlabors gewürdigt Story- und Recherchepool unter der Leitung penquiz seit einigen Jahren eine 28 Ein Kneipenquiz, das durch NRW tourt. WDR 5 der stellvertretenden Chefredakteurin Helga veranstaltet in diesem Semester eine Quiz- Schmidt mit dem Radio- und Online-Projekt Trendsportart. WDR 5 veranstaltet in Reihe, und WDRprint war dabei »Türkei unzensiert«. diesem Semester Quizabende in Uni- Perspektiven Dank ihrer Kontakte konnten wir mit eini- Städten. In Bochum waren wir dabei. 32 360-Grad-Reportagen sind eine völlige neue gen »Türkei unzensiert«-Autoren sprechen, Form des journalistischen Erzählens. Über darunter mit der freien Journalistin Hatice erste WDR-Projekte und Chancen sprachen Kamer. Sie wurde Ende November bei einem wir mit Filmemachern und Entwicklern. BBC-Einsatz in der Türkei festgenommen. Dokumentation Ihr Bericht aus dem Gefängnis hat viele Höre- 38 In der neuen Doku-Reihe »WDR Crime« zeigen rInnen tief berührt. Unser Interview mit ihr Rechtsmediziner und Profiler, wie sie arbeiten. lesen Sie auf Seite 18. Glosse 39 Auch Christian Gottschalk mag Quiz. Er hat Ich wünsche Ihnen einen guten Start in ein sich sogar bei einem beworben. Jetzt hat er hoffentlich friedlicheres Jahr 2017 Angst, dass er genommen wird. Maja Lendzian Technik 40 Die neue MINT-Akademie des WDR startet im Frühjahr. Ein Gespräch über Wege für junge Frauen in Technikberufe Medienmenschen 44 Karin Kuhn wird neue Unterhaltungschefin des WDR/ Katja Stehmann leitet seit Dezember Karlheinz Stockhausen 1962 im Elektronischen das WDR-Studio Wuppertal / Europäischer Studio des WDR LEGENDÄRES SOUNDLABOR Foto: WDR Filmpreis für Toni Erdmann 46 Andreas Meyer-Lauber ist Vorsitzender des Außerirdische Klangforschung neu gewählten Rundfunkrates. Berufsbilder 26 Das legendäre „Studio für Elektronische Musik“ im Kölner WDR- 48 Eine von uns: Silke Tiggemanns Reich ist das Funkhaus schrieb ab den 1950er Jahren Musikgeschichte. 2001 wurde WDR-Notenarchiv. Sie ist Musikarchivarin. Im Gespräch es geschlossen. Nun öffnet es wieder seine Pforten – zumindest für 50 Auf ein Wasser mit Marco Schreyl, der ein das Hörspiel »Sirius FM – Expedition an den Bandtellerrand«. Dort neues Quiz im WDR Fernsehen moderiert. machen sich Außerirdische auf die Suche nach dem Soundlabor. 51 Service / Impressum 7
unzensiert Die Türkei bewegt sich Onlineprojekt »Türkei Richtung Diktatur, unzensiert« eine unabhängige Medien Überlebenschance. geraten unter Druck, Und »Köln Radyosu« die meisten wurden ist für viele Türkinnen bereits verboten. und Türken in Deutsch- Der WDR eröffnet dem land und der Türkei kritischen türkischen eine unverzichtbare Journalismus mit unabhängige Informati- seinem Radio- und onsquelle. 9
Türkei unzensiert: DEN JOURNALIS STIMME ZURÜC In ihrer Heimat haben sie keine Chance mehr auf Veröffentlichung – unter dem Titel »Türkei unzensiert« erzählen renommierte türkische JournalistInnen und AutorInnen vom Leben im Ausnahmezustand. WDR 3 sendete ihre Radiotage bücher im November und Dezem- ber. Das Projekt des Story- und Re- cherchepools mündet im neuen Jahr in ein zweisprachiges Online-Portal für Meinungs- und Pressefreiheit. 10
STEN IHRE CKGEBEN Fristlose Kündigungen, Massen- verhaftungen, Kritiker werden mundtot gemacht: Szene einer Demonstration in Istanbul. Foto: Imago 11
Titelthema Man stelle sich vor: Der Leiter des SZ- Investigativressorts, Hans Leyendecker, säße im Gefängnis, morgen würde vielleicht die ARD-Journalistin Anne Will in den Knast gesteckt, übermorgen »Monitor«-Chef Georg Restle und so weiter und so fort. Alles nur, weil sie etwas gesagt oder geschrieben haben, das der Kanzlerin nicht gefällt. In der Türkei ist dieses absurde Szenario Realität. Mehr als 140 Journalistinnen und Journa- listen seien im Zuge der „Säuberungen“ Recep Tayyip Erdoğans verhaftet worden, berichtet Kürşat Akyol. Etwa 170 regierungs- kritische Zeitungen, Fernseh- oder Radio- stationen und Hunderte Websites seien auf Betreiben von Präsident Erdoğan und seiner AKP-Regierung verboten worden. Alle Beiträge online und zweisprachig Seit 28 Jahren arbeitet Akyol als Jour- nalist, war an zahlreichen Kriegsschauplät- zen und in vielen Krisengebieten dieser Welt. „Ich hatte eigentlich schon geglaubt, das Staunen verlernt zu haben“, sagt er, „aber die türkischen Zustände belehren mich eines Besseren.“ Für »Türkei unzen- Akyol und vier weitere türkische Kol- Die Resonanz im WDR auf »Türkei siert« erzählt er davon, was es bedeutet, legInnen begannen, regelmäßig mit dem unzensiert« sei einfach „großartig“ gewe- wenn mehr als Hunderttausend von heute Handy aufzunehmen, was sie in ihrer Hei- sen, berichtet Helga Schmidt: „Die aktuellen auf morgen aus dem Staatsdienst, dem Bil- mat nicht mehr sagen dürfen, und schickten Programme der Wellen haben immer wie- dungs- und Gesundheitswesen oder den ihre Berichte dem WDR. Die Journalistin der Platz geschaffen für Live-Gespräche und Medien entlassen werden – für die Existenz und Übersetzerin Dilek Zaptçioğlu übertrug Reportagen. So konnten wir zusätzlich zum dieser Menschen, aber auch für das Gemein- die Texte ins Deutsche. Die Hörspielredak- Hörspielpublikum von WDR 3 ein großes wohl in diesem Land. tion des WDR setzte das Material unter Publikum erreichen.“ In seiner Karriere hat Akyol für die der Regie von Susanne Krings fürs Radio Alle Beiträge sind online nachzuhören meisten t ürkischen sowie in deutscher und türkischer Sprache Zeitungen gearbeitet. Inzwischen beschäf- „Es gibt vielleicht noch drei nachzulesen. Hintergrundbeiträge zur Ent- wicklung der türkischen Gesellschaft, zur tigen ihn nur noch ausländische Medien, Zeitungen in der Türkei, Rolle des Islam und zum System Erdoğan ergänzen die Radiotagebücher. unter anderem BBC und WDR. „Es gibt vielleicht die man als unabhängig Auch Can Dündar beteiligte sich an dem Projekt. Der derzeit wohl bekannteste noch drei Zeitungen in der Türkei, die man als bezeichnen kann.“ Ayça Tolun türkische Journalist beschreibt unter ande- rem, wie Erdoğan bereits vor Verhängung unabhängig bezeichnen kann“, sagt Ayça in Szene. „Uns war wichtig, soviel türki- des Ausnahmezustands nahezu alle Medien Tolun. Im September wechselte die Leite- schen Originalton wie möglich neben dem seines Landes unter seinen Einfluss stellte rin der türkischen Redaktion von COSMO einfühlsam gesprochenen deutschen Voice- (siehe Seite 14). Der ehemalige Chefredak- (ehemals Funkhaus Europa) zum Story- und over hörbar werden zu lassen“, sagt Hör- teur der Tageszeitung „Cumhuriyet“ verlor Recherchepool des WDR-Hörfunks. Die spiel-Chefin Martina Müller-Wallraf. Ausge- seinen Job und saß drei Monate in Untersu- Verantwortliche dort, die stellvertretende wählte Stücke türkischer Musiker schlagen chungshaft, weil er über türkische Waffen- Chefredakteurin Helga Schmidt, berich- dabei die Brücke zwischen den Welten. lieferungen an Islamisten in Syrien schrieb. tet: „Wir wollten unabhängigen türkischen Aktualität mit hohen Produktionsmaßstä- Nun lebt er im Exil in Berlin. Seine Frau sitzt Journalisten ihre Stimme zurückgeben ben zu verbinden, sei sehr anspruchsvoll in der Türkei fest, weil die Regierung ihren und haben sie gebeten, uns zu erzählen, gewesen: „Das hat toll geklappt. Das Team Pass beschlagnahmte. Kein Einzelfall: Viele was sie in der Türkei nicht veröffentlichen war begeistert vom Inhalt, sehr flexibel und TürkInnen können in ihrer Heimat weder können.“ ambitioniert.“ ihren Lebensunterhalt bestreiten, noch ist 12
Mumay war immer ein großer Kritiker der religiösen Gülen-Bewegung, auch als Erdoğan und der mutmaßliche Rädelsfüh- rer des Putschversuchs Fethullah Gülen noch dicke Freunde waren. Auf Druck der Regie- rung wurde der Journalist entlassen. Später war er zeitweise in Haft: „Ich soll die Güle- nisten und den Putschversuch unterstützt haben – selbst die staatstreuen Richter haben das nicht geglaubt und mich freigelassen.“ Im Dezember kam Mumay auf Einladung von Amnesty International nach Köln. Er nutzte die Gelegenheit für einen Besuch beim WDR. Bülent Mumay, ehe- „Für ausländische Medien zu schreiben, ist maliger Online-Chef eine große Chance, aber auch sehr gefährlich“, der Zeitung „Hürri- sagte er, „dafür kann man heutzutage als Lan- yet“, im Gespräch mit desverräter angeklagt werden.“ Auf die Frage, Helga Schmidt (r.) und Ayça Tolun. Der »Tür- ob er in Deutschland bleiben will, antwortete kei unzensiert«-Autor Mumay: „Nein, ich will mein Land nicht ver- nutzte im Dezember lassen.“ Andererseits, so fügte er hinzu, könne eine Einladung von er nur dort leben, wo er die Möglichkeit hat, Amnesty Internatio- seinen Beruf auszuüben. nal zu einem kurzen Besuch beim WDR in Köln. WDR sichert Gegenöffentlichkeit Foto: WDR/Sachs Die fünfte »Türkei unzensiert«-Autorin ihnen die Ausreise gestattet. Manchmal wer- wächters, der eine junge Frau ins Gesicht trat, ist Hatice Kamer. Die WDR-Reporterin über- den sogar Vermögen und Besitz vom Staat weil sie Shorts trug, ist für Kivilcim eine Folge mittelt ihr Radiotagebuch aus Diyarbakir. konfisziert. dieser Politik. Der Täter ging straffrei aus. Darin zeichnet sie ein erschütterndes Bild Auch Bülent Mumay, ehemaliger der Zustände in den kurdischen Gebieten Aufreibender Kampf der Intellektuellen Online-Chef der Zeitung „Hürriyet“, beklagt im Südosten der Türkei – für staatstreue tür- die Islamisierung der Türkei, die die AKP vor kische Medien eine No-reporting-Area. Ende Die Schriftstellerin Gönül Kivilcim lebte in allem über das Bildungswesen vorantreibe. November sorgte die Verhaftung Kamers für den 1990er Jahren in Köln, arbeitete damals Die säkular denkenden Pädagogen seien internationale Proteste (siehe das Interview bereits für den WDR. Heute gehört sie in auf Seite 18). Istanbul einer Aktivistengruppe an, die sich „Nicht nur die Gesell- für inhaftierte JournalistInnen und AutorIn- „Wir dürfen der Erdoğan- schaft in der Türkei, sondern nen einsetzt. Ihr Radiotagebuch handelt vom auch die türkischen Com- aufreibenden Kampf der türkischen Intellek- Presse nicht die Deutungs- munities im Ausland sind tuellen für Gerechtigkeit und Freiheit, aber von Angst beherrscht und auch von der schleichenden Beschneidung hoheit überlassen!“ Helga Schmidt tief gespalten“, weiß Tolun. der Frauenrechte in der Türkei. Jüngster Das könne man auch an den Höhepunkt sei ein Gesetzentwurf der AKP, alle entlassen worden. „Die neuen Genera- Reaktionen auf »Türkei unzensiert« in den nach dem sexuelle Übergriffe auf Minderjäh- tionen werden vor allem mit einem Hass auf sozialen Medien ablesen. Umso wichtiger rige straffrei bleiben sollten, wenn der Täter andere Denk- und Lebensweisen erzogen“, so findet Schmidt die Fortführung des Projekts: sein Opfer heiratet. Mumays bitteres Fazit. „Wir dürfen der Erdoğan-Presse nicht die Wegen massiver Proteste zog die AKP Seit 14 Jahren regiert die AKP. Ihre Deutungshoheit überlassen!“ Im neuen Jahr den Entwurf zurück. Doch das sei nur ein Umwälzung des Landes begann lange vor werde »Türkei unzensiert« in Kooperation Etappensieg. „Diese Atemnot, das Herzrasen, dem Putschversuch und führte vor drei Jah- mit COSMO als zweisprachige Online-Platt- die Beklemmungen im Brustkorb sind uns ren zum so genannten Gezi-Aufstand, aus- form etabliert: Audios, Videos und sonstige Frauen in der Türkei schon lange bekannt“, gelöst durch ein Bauvorhaben Erdoğans im Beiträge türkischer JournalistInnen aus aller sagt Kivilcim, „wir haben kein Vertrauen Istanbuler Gezi-Park. „Es ging dabei wirklich Welt sollen weiter für Gegenöffentlichkeit mehr in die Regierung. Sie versucht, die nicht um ein paar Bäume“, erklärt Mumay, sorgen. Christine Schilha Prinzipien des Laizismus aufzuweichen, die „man wollte das modernste Viertel der Stadt Trennung zwischen Staat und Religion aufzu- nicht widerstandslos den Islamisten über- Türkei unzensiert heben.“ Der Fall eines selbsternannten Sitten- lassen.“ www. wdr.de/k/tuerkei 13
Türkei unzensiert: MEDIEN ALS PROPAGANDA- MASCHINERIE Can Dündar (55) war Chefredakteur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“, bevor er verhaftet und wegen Landesverrats verurteilt wurde. Aus dem Exil berichtet er in »Türkei unzensiert« über die besorg- niserregenden Zustände in seinem Land. In diesem Beitrag, den WDR print nach- druckt, schreibt er über den Niedergang des türkischen Mediensystems. 14
„Erdoğan ist inzwischen ein noch größerer Medienmogul als Silvio Berlusconi.“ Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“. Foto: laif/Pein 15
Titelthema Nur noch wenige Zeitungen und Fernsehkanäle, darunter die Zei- tung „Cumhuriyet“, leisten laut Can Dündar Widerstand. Die Fotos stammen von Protesten und Demonstrationen im November vor dem „Cumhuriyet“- Verlagshaus in Istanbul, nachdem Mitarbeiter der Zeitung inhaftiert worden waren. Foto: Imago Von Can Dündar auf die Knie. „Chef, haben wir dich etwa geärgert?“, sagte er zu Erdoğan. Er entschuldigte sich hundert Mal bei ihm. Er versprach, Es war im vorigen Sommer. Ich machte gerade Urlaub in den verantwortlichen Redakteur sofort zu entlassen. Dann begann Bodrum, da erreichte mich ein Anruf von meinem damaligen er tatsächlich zu heulen: „Ach“, klagte er bitter, „warum habe ich Verleger. Ein ungewöhnliches Telefonat. Schließlich sind Gesprä- mich nur auf diesen Deal mit der Zeitung eingelassen.“ Ja, wirk- che mit Zeitungsbossen nichts Alltägliches. Redakteure und ihre lich. Da weinte ein gestandener Geschäftsmann am Telefon dar- Arbeitgeber haben eigentlich kaum direkten Kontakt zueinander. über, dass er sich bereit erklärt hatte, den oppositionellen Verlag Bei diesem Gespräch allerdings ging es auch um ein außerge- zu übernehmen. Das war in der Tat ein dramatischer Beweis für wöhnliches Thema. Mein Verleger hatte mich angerufen, um mich den Einfluss Erdoğans auf die türkische Presse. … nun, um mich zu feuern. Unsere Unterhaltung war nach wenigen Sätzen beendet. „Wir wollen nicht mehr mit Ihnen zusammen- Regierungstreues Medienimperium arbeiten“, sagte er. Ich antwortete: „Na gut – nach dem Grund brauche ich Sie nicht zu fragen.“ Denn ich kannte ihn bereits. Aber wir sollten noch viele andere Mitschnitte hören, die von der Übernahme der Medien durch die Regierung zeugten. „Chef, haben wir dich etwa geärgert?“ Es entstand ein neuer, regierungstreuer „Medienpool“, der vor drastischen Methoden nicht zurückschreckt. Warum sprechen Meine sozialdemokratisch ausgerichtete Zeitung, für die ich wir von einem „Pool“? Vor drei Jahren kamen sechs Geschäftsleute seit 15 Jahren eine Kolumne schrieb, war wegen ihrer kritischen auf Erdoğans Geheiß zusammen und zahlten je 100 Millionen Haltung ins Visier der Regierung geraten. Erst wurde sie mit den Dollar in einen Fonds ein, um damit die größte Mediengruppe höchsten Steuerstrafen belegt, danach wurde auf den Verleger des Landes aufzukaufen. Keiner dieser Geschäftsmänner hatte Druck ausgeübt, damit er sie verkauft. Und der neue Verleger der Erfahrung im Mediensektor. Sie führten lediglich Erdoğans Befehl Zeitung hatte schon bei der ersten Belegschaftsversammlung aus. Die Belohnung sollte kurz darauf mit lukrativen Beteiligun- seinen Standpunkt klar gemacht. „Passt mal auf“, sagte er, „ich gen an Großprojekten wie dem dritten Flughafen und der dritten will in dieser Zeitung ab jetzt keinen einzigen Bericht und kei- Bosporusbrücke in Istanbul folgen. nen Kommentar lesen, der Erdoğan ärgern könnte.“ Seit dem Tag Die Aufträge bekamen sie. Und schufen ganz nebenbei mit wusste ich, dass ich bei dieser Zeitung nicht mehr lange bleiben den Geldern aus dem Pool ein regierungstreues Medienimperium. würde. Aber danach passierte doch etwas Unerwartetes. Ein Damit war Erdoğan ein noch größerer Medienmogul geworden als Telefongespräch zwischen Erdoğan und meinem neuen Verleger der italienische Politiker Silvio Berlusconi. Er beauftragte seinen kursierte im Internet. Erdoğan beschimpfte meinen Boss wegen Schwiegersohn mit der Leitung der Zeitungen, Zeitschriften und einer Nachricht in der Zeitung, und dieser fiel vor ihm regelrecht Fernsehkanäle in diesem Pool. Damit rollte die Propagandama- 16
Titelthema Deutschland die Regierung im Nu wegfegen würden, werden sorgfältig unter den Teppich gekehrt. Zeitungen versuchen mit unpolitischen Schlagzeilen und freundlichen Kommentaren der Regierung zu gefallen. Die Angst ist überall im Land. Angst vor der Schließung der Zeitung. Angst vor einem Gerichtsprozess. Angst vor Arbeitslosig- keit. Und Angst, zur Zielscheibe der Regierungsmedien zu werden. Die Auflage ist zweitrangig. Erdoğan hat fast alle Verleger mit der Steuerkeule in die Knie gezwungen. Aber gibt es denn nicht eine einzige von unbeugsamen Journalisten gemachte Zeitung, die Widerstand leistet?! Tatsächlich leisten jetzt nur noch wenige Zeitungen und Fernsehkanäle Widerstand – darunter auch meine Zeitung „Cumhuriyet“. Sie halten sich an die Wahrheit und kämpfen für die Pressefreiheit in der Türkei. Aber jetzt scheinen auch sie an der Reihe zu sein. Stellen Sie sich vor: Alle leitenden Redakteure der Zeitung „Cumhuriyet“, mein Nachfolger eingeschlossen, sitzen Foto: Mehmet Kacmaz/NarPhotos/laif heute im Gefängnis. Auch der gesamte Vorstand der Stiftung und der Verleger der Zeitung sind verhaftet. Der Staatsanwalt wirft mir und den Anderen vor, die politische Linie der Zeitung geändert zu haben. Wo in aller Welt gibt es einen solchen Straftatbestand?! Was geht die Arbeit der Redaktion den Staatsanwalt an? Das größte Mediengefängnis der Welt In der Türkei ist das so. Der Staatsanwalt wirft uns vor, Put- schisten und Terroristen zu unterstützen. Als Beweise dienen ihm Schlagzeilen und Kolumnen. In keinem dieser Schriftstü- cke wird auf irgendeine Weise der Militärputsch oder der Terror verherrlicht. Aber es herrscht Ausnahmezustand in der Türkei und man kann sich nicht verteidigen, ohne monatelang in Haft gesessen zu haben. Die türkische Regierung hat schnell gemerkt, dass die Verhaftung eines einzigen Journalisten hundert weitere zum Schweigen bringt. Diesen Trumpf spielt sie nun großzügig aus. So ist die Türkei mittlerweile zum größten Mediengefängnis Foto: Reuters der Welt geworden. Soll man darüber lachen oder weinen? Die Regierung beteuert schinerie erst richtig an. Ein weiterer Auftrag dieser Medien war, ständig, dass nicht ein einziger Journalist im Gefängnis sitze und Foto: laif/Pein die Opposition einzuschüchtern. dass alle Haftbefehle wegen Terror ausgestellt seien! Ich frage mich, in welchem Land der Erde es sonst so viele Journalisten Zeitungen versuchen, der Regierung zu gefallen gibt, die als Terroristen im Einsatz sind? Wer soll das um Gottes Willen glauben? Heute gibt es Dutzende von Zeitungen in der Türkei, die Oh – einen Moment. Mein Telefon klingelt. Ist das jetzt mein tagtäglich von Erdoğan und seinen Heldentaten berichten, ja, die Verleger? Darf ich jetzt etwa hier auch nicht mehr arbeiten? von vorne bis hinten mit Lobeshymnen über Erdoğan voll sind. Auf den dazu gehörenden Fernsehkanälen sind ständig nur Erdoğan und seine Anhänger zu sehen. Es ist kein Geheimnis mehr, dass Can Dündar, 55 Jahre, genauer Wohnsitz unbekannt. Erdoğan sehr oft mit den Chefredakteuren dieser Medien telefo- Der zurzeit bekannteste türkische Journalist lebt im Exil, niert, sie tadelt, lobt und leitet. Dieselben Fernsehkanäle erpressen irgendwo in Berlin. Can Dündar war Chefredakteur der renommierten Tageszeitung „Cumhuriyet“. Nachdem und bedrohen tagtäglich die Opposition. Mehr als die Hälfte der er über türkische Waffenlieferungen an Islamisten in türkischen Medien machen diese Regierungstreuen aus. Syrien berichtet hatte, wurde er zu sechs Jahren Gefäng- nis verurteilt. Der Vorwurf: Landesverrat und Spionage. In Und was ist mit den anderen? einem anderen Verfahren stand er wegen Beleidigung des Foto: laif/Pein Staatspräsidenten vor Gericht. Seit der Ausnahmezustand herrscht, ist Can Dündar aus Furcht vor einer erneuten Fest- Die alten, etablierten Medienhäuser haben unter der Steu- nahme nicht mehr in seine Heimat zurückgekehrt. erlast schon längst resigniert. Nachrichten, die in Ländern wie 17
Titelthema „Die Angst hat inzwischen das ganze Land befallen.“ Festnahme während einer Demonstration in Istanbul. Foto: laif Türkei unzensiert: „Die Umstände werden täglich beängstigender“ Hatice Kamer berichtet als WDR-Repor terin über die bürgerkriegsähnlichen Zustände aus den Kurdengebieten im Südosten der Türkei. Am 27. November wurde sie in der Provinz Siirt verhaftet, als sie Hinterbliebene von Opfern eines Grubenunglücks interviewen wollte. Mittlerweile ist die Journalistin wieder auf freiem Fuß. Christine Schilha sprach mit der »Türkei unzensiert«-Autorin über ihre derzeitige Situation, ihre Gefühle und ihre Hoffnungen. 18
Titelthema Frau Kamer, wurde inzwischen Anklage Was wünschen Sie sich von der internatio- gegen Sie erhoben? nalen Öffentlichkeit? Mein Anwalt sagt, im Zusammenhang Ich hätte mir gewünscht, sie hätte mit dem Inhalt der Anklageschrift sollte sich mehr gekümmert, als der Ausnahme- eigentlich kein Prozess folgen. Aber es bleibt zustand in den Regionen mit kurdischer die Entscheidung des zuständigen Staatsan- Bevölkerung ausgerufen und mit aller walts. Juristisch gibt es keinen Grund für Härte durchgesetzt wurde. Dann hätten die eine Anklage und einen Prozess. Doch juris- Rechtsbrüche nicht dieses Ausmaß erreicht. tisch gesehen gab es auch keinen Grund für Amnesty International hat ausgerechnet, meine Festnahme. Der Vorwurf, ich hätte dass 500.000 Menschen ihre Häuser, ihren über einen anonymen Facebook-Account Stadtteil, ihre Stadt verlassen mussten. Die den Staat beleidigt und PKK-Propaganda Kurden glauben, Europa hat sich geduckt gemacht, war haltlos. Trotzdem wurde ich wegen des Flüchtlingspakts mit der türki- für 28 Stunden festgenommen und musste schen Regierung. Ein älterer Kurde sagte bei meiner Entlassung genau diese Ankla- mir: „Europa macht jetzt mit der Türkei auf geschrift unterschreiben. Ich hoffe es folgt gute Nachbarschaft. Aber wenn mein Nach- kein Prozess. Aber wir bar sein Kind verprügeln leben in außergewöhn- würde, wäre ich doch der lichen Zeiten. Alles ist Erste, der sagen würde, tu möglich. das nicht.“ Die Warnungen der Haben Sie schon daran Öffentlichkeit gegenüber gedacht, aufzugeben und der Türkei häufen sich, das Land zu verlassen? aber es f unktioniert Als ich noch sehr nicht. In der Türkei wird jung war, wollte ich im bereits diskutiert, die Ausland studieren. Aber Todesstrafe wieder ein- gänzlich wegzuziehen, zuführen. Das Kurden- das habe ich nie gewollt. problem wird nur noch In der letzten Zeit aller- als Sicherheitsproblem dings habe ich so viele diskutiert, so wurde es Empfehlungen bekom- auch eins. Der Backlash men, das Land zu ver- „Haltlose Vorwürfe“. Die Journalistin in der Türkei ist enorm. und »Türkei unzensiert«-Autorin Hatice lassen … Das beunruhigt Tausende Menschen, die Kamer hofft, dass ihr in der Türkei nicht mich natürlich. Aber der Prozess gemacht wird. Foto: privat arbeitslos wurden und wo ich auch hingehen sich um ihre Sicherheit würde auf dieser Welt, ich wäre mit meinen und ihre Zukunft sorgen, suchen hände- Gedanken immer hier. Also hoffe ich sehr, ringend nach einer Möglichkeit, auszuwan- ich kann bleiben. Und alle anderen auch. dern. Europa hat nicht mal eine Lösung für die Flüchtlinge aus Syrien. Natürlich muss Wie überwinden Sie Ihre Angst – was lässt man die Lösung gemeinsam mit der Türkei Sie weitermachen? finden. Es muss konstruktiv zugehen. Eine Es stimmt, die Umstände werden täg- Türkei, deren Fokus auf die Einhaltung der lich beängstigender. Gesellschaftlich, poli- Menschen- und Bürgerrechte gerichtet ist, tisch, wirtschaftlich geht alles den Bach ist natürlich besser für Europa als eine Tür- runter. Wir können nichts mehr vorausse- kei, die sich von Europa abwendet. hen. Niemand kann längerfristig irgendet- was planen. Überall gehen Bomben hoch. Jedes Mal betet man, hoffentlich ist unter den Opfern niemand, den ich kenne. Diese Angst hat inzwischen das ganze Land befallen. Was mir trotzdem Kraft gibt: Ich lebe hier mit meiner Familie, mit Menschen, die ich liebe. Mit Freunden. In solchen schweren Zeiten rückt man noch mehr zusammen. 19
Titelthema Türkei unzensiert: DIE WAHRHEIT ANS LICHT BRINGEN Seit dem missglückten Militär- in der Türkei kaum mehr ein Medium, das nicht in irgendeiner Weise von der Regierung gesteuert wird. Wir stehen als Redaktion putsch im Juli treibt der türkische deshalb momentan im Fokus, und man erkennt unsere langjäh- rige Expertise an. Das freut mich und meine Redaktionskollegin Präsident Recep Tayyip Erdoğan Serpil Eryılmaz einerseits, andererseits machen uns die Umstände natürlich traurig. die Gleichschaltung der Medien Und wie kommen Sie noch an unabhängige Informationen aus der in seinem Land noch massiver Türkei? Sehr schwer! Wir haben massive Schwierigkeiten, mit Kolle- voran. Für viele Türkinnen und ginnen und Kollegen vor Ort zu sprechen. Viele fürchten nicht nur Repressalien von staatlicher Seite, sondern sie trauen auch ihren Türken – in Deutschland und Nachbarn nicht mehr. Das Denunziantentum ist allgegenwärtig. Auch wenn wir Politikwissenschaftler oder andere Experten zur anderswo – ist das türkischspra- Lage in der Türkei befragen wollen, bekommen wir oft eine Absage. Aber wir bemühen uns, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Einige chige WDR-Hörfunkprogramm wenige, wie die kürzlich vorübergehend inhaftierte Journalistin Hatice Kamer, berichten trotz des Drucks weiterhin für uns. Und »Köln Radyosu« eine zunehmend mit berichten meinen wir „berichten“, nicht „Propaganda machen“. Kamer ist keine Propagandistin und wird deshalb sowohl von den wichtige Quelle für unabhängige türkischen Behörden als auch von manchen Kurden angefeindet: Die einen unterstellen ihr eine Nähe zur PKK, für die anderen ist Nachrichten. sie eine Verräterin. Hatice Kamer gehört auch zu den Autoren und Autorinnen der Reihe »Türkei unzensiert« auf WDR 3. Ist »Köln Radyosu« in dieses Projekt Erkan Arikan leitet die türkische Redaktion von COSMO (ehemals involviert? Funkhaus Europa). Christine Schilha sprach mit ihm über den Stel- Das ist das Baby des Story- und Recherchepools der WDR- lenwert von »Köln Radyosu« vor dem Hintergrund der aktuellen Chefredaktion, das wir mit unserem Know-how auch unterstützt Entwicklungen in der Türkei. haben. In Zukunft werden wir das Online-Portal »Türkei unzen- siert« in unserer Redaktion betreuen – in enger Zusammenarbeit »Köln Radyosu« wurde ab 1964 als „Gastarbeiterradio“ ausgestrahlt – mit dem Story- und Recherchepool. mit praktischen Tipps für das Leben in Deutschland und Nachrichten aus der Heimat. Während des Militärputschs 1980 politisierte sich Stellt die Arbeit für westliche Medien auch einen gewissen Schutz dann das Programm. Ist die Situation heute mit damals vergleichbar? für Ihre Korrespondenten dar? Bedingt. Wir verstehen uns nicht als politisches Sprachrohr, Leider nein. Alles was wir tun können, ist ihnen Verdienst- sondern als Informationsmedium, das ungefilterte Nachrichten möglichkeiten zu bieten und Gehör zu verschaffen. präsentiert. Schon während der Gezi-Park-Proteste 2013 (siehe auch Artikel auf Seite 13) war »Köln Radyosu« – auch für mich, der ich Trauen Sie sich denn noch, in die Türkei zu reisen? in der Zeit beim Norddeutschen Rundfunk gearbeitet habe – das Nach dem Putschversuch haben meine Frau und ich lange einzige Medium, durch das man erfahren konnte, was wirklich überlegt, ob wir mit den Kindern noch zu den Großeltern fah- in Istanbul und der Türkei vor sich geht. Das hat sich seit dem ren können oder nicht. Weil ich die doppelte Staatsbürgerschaft jüngsten Putschversuch nochmal potenziert. Es gibt mittlerweile habe, könnte das Auswärtige Amt nichts für mich tun, wenn ich 20
Titelthema in der Türkei verhaftet würde – ich unterläge dann der türkischen Gerichtsbarkeit. Ich bin eingereist, aber mit einem mulmigen Gefühl. Es gibt ja sogar eine Hotline über die man Türken, die im Ausland leben, denunzieren kann. Die Nummer wurde über die sozialen Medien verbreitet. Eine türkischstämmige Kollegin hat mir kürzlich erzählt, wie sie hartnäckig versucht hat, ein Interview mit einem AfD-Politiker zu bekommen. Der drohte ihr schließlich, sie über diese Hotline als Gülen-Anhängerin anzuschwärzen, wenn sie ihn nicht in Ruhe lässt. Wie sind derzeit die Reaktionen der Hörerinnen und Hörer auf das Programm von »Köln Radyosu«? Wir sehen an den Postings in den sozialen Medien, dass wir gehört werden – auch in der Türkei. Wir bekommen Lob für unsere Unabhängigkeit, werden aber auch heftig beschimpft. Wie gespalten ist die türkische Community in Deutschland? So sehr, dass wir eine Sondersendung darüber machen muss- ten, wie es in den Schulen aussieht. Es gibt eine Parallelgesellschaft in der Parallelgesellschaft, nicht nur unter den Erwachsenen: Kin- der von Erdoğan-Anhängern und Gülen-Anhängern bekriegen sich gegenseitig. Und wer sich auf keine der Seiten schlagen will, gilt ohnehin als „Vaterlandsverräter“. Auch wir müssen uns ständig dagegen wehren, in eine politische Ecke gestellt zu werden, nur weil wir verschiedene Stimmen zu Wort kommen lassen. Man wirft uns zum Beispiel gerne vor, die PKK zu unterstützen, weil wir auch Kurden in unserer Sendung zu Wort kommen lassen. Gibt es auch Konflikte innerhalb der Redaktion? Das kann ich ganz klar verneinen! Meine Kollegin Serpil Eryılmaz und ich ergänzen uns sehr gut und verstehen uns aus- nahmslos als Berichterstatter, die keinem Lager angehören. Wir wollen und werden auch in Zukunft keine Stimmung machen und uns vor keinen Karren spannen lassen. Müsste die Weltöffentlichkeit zu den Vorgängen in der Türkei ent- schiedener Stellung beziehen? Wenn Sie mich nach meiner persönlichen Meinung fragen: Definitiv ja! Erdoğan errichtet gerade ein diktatorisches Regime. Und dass die Beitrittsverhandlungen mit der EU nun eine neue Dimension erreichen, interessiert ihn nahezu gar nicht. Ich denke aber, dass der Zug der „EU-Mitgliedschaft“ abgefahren ist. Vor zehn Jahren war die Euphorie noch groß, da waren fast drei Viertel der Bevölkerung in der Türkei für einen EU-Beitritt. Aber die Zeiten sind vorbei. Denn heute glaubt ohnehin niemand mehr daran. »Köln Radyosu – Das türkische Magazin« „Wir bekommen Lob für unsere Unabhängig- COSMO keit, werden aber auch heftig beschimpft.“ MO - FR / 18:00 im Livestream Erkan Arikan, Leiter der und 20:00 Uhr im Radio türkischen Redaktion. Foto: WDR/Görgen www.wdr.de/k/radyosu 21
In Köln beim WDR arbeiten die türkische Redaktion, die italieni- sche und die Südosteu- ropa-Redaktion. Fotos: WDR/Görgen Projekt Um 17.59 Uhr und ein paar Sekunden BABEL rückt Paola Fabbri noch einmal ihre Brille zurecht, schüttelt die schwarzen Haare zurück und setzt die Kopfhörer auf. Dann drückt sie einen Knopf und der Rahmen, der um das Sendepult vor ihr verläuft, beginnt rot zu leuchten. Um Punkt 18.00 Uhr ist »Radio Colonia« auf Sendung. „Buonasera, benvenuti al magazine in lingua italiana di Funkhaus Europa. Io sono Paola Fabbri“, WDR, rbb und Radio Bremen streamen live begrüßt die Moderatorin die Hörerinnen und Hörer. im Internet montags bis freitags zeitgleich Ma- Zur gleichen Zeit, im Studio direkt nebenan. Um 18.00 Uhr sind auch hier gazine in sechs Sprachen. Drei kommen aus die Mikrofone offen. „Makedonija nakon izbora – ponovo pat pozicija na političkoj Köln. Katrin Pokahr über das „Projekt Babel“. sceni.“ Die bosnische Moderatorin Suada 22
„COSMO Timeout“: Abenteur in fremden Welten COSMO lautet der neue Name von Funkhaus Europa. „Dieser Name wird auch in der digitalen Welt dem interna- tionalen und interkulturellen Anspruch unsers modernen Programms gerecht“, sagt Programmchef Thomas Reinke. COSMO Das junge, europäische Kulturradio von WDR, Radio Bremen, rbb und NDR startet aber nicht nur mit einem neuen Namen, sondern auch mit neuen Ideen ins Jahr 2017. Eine Auszeit nehmen und woan- ders leben? Mit der Aktion „COSMO Timeout“ ermöglicht COSMO den Hörern das Eintauchen in eine andere Welt, etwa als Wildlife-Ranger in Costa Rica oder bei den Nomaden in der Mongolei. Wer dabei sein will, kann Herak steigt direkt mit dem Hauptthema steht vor einem rot leuchtenden Studio- sich registrieren unter cosmoradio.de der heutigen Ausgabe des Südosteuropa- tisch. Sie drückt eine Taste und fährt die und ab 2. Januar auch telefonisch unter Magazins »Radio Forum« ein: den Wah- Erkennungsmelodie von »Köln Radyosu« 0221/5678-777. Die Gewinner sollten len in Mazedonien. Nach dem ersten ab. Die jüngsten Anschläge in Istanbul sind ein bis zwei Wochen Zeit mitbringen Nachrichtenüberblick stellt sie sich ihren das Hauptthema heute. Man wünsche sich, und werden ab 9. Januar im COSMO- Hörern auf Bosnisch vor: „Večeras je sa dass solche Anschläge bald ein Ende fin- Programm ermittelt. vama Suada Herak.“ den mögen, sagt sie, und stellt sich vor: „Biz Außerdem wird COSMO mehrere de ‚bunun son olması dileğiyle‘ açıyoruz „Radiobrücken“ in die Türkei und nach Kurztrip in die Kulturen yayınımızı. Mikrofonda Tuba Tuncak var.“ Italien schlagen. Dabei sprechen Leute Von einem Studio ins andere zu wech- in den ARD-Studios des jeweiligen Ein kurzer Gang durchs Sendezen- seln, ist wie ein Kurztrip in unterschiedliche Landes mit Leuten im COSMO-Studio trum von COSMO bringt einen aus den Sprachen und Kulturen. »Radio Colonia«, in Köln – über ihr Leben und ihren All- Ländern des ehemaligen Jugoslawiens an »Radio Forum« und »Köln Radyosu« – drei tag, ihre Ängste und Hoffnungen. Diese den Bosporus. Hinter der Glastür mit der Sprachensendungen bei COSMO (bisher Gespräche werden bei COSMO live zu Aufschrift „Regie 61“ geht um 18.00 Uhr Funkhaus Europa), die von Moderatoren in hören und auch als Video-Livestream das türkische Magazin »Köln Radyosu« ihrer jeweiligen Muttersprache präsentiert unter cosmoradio.de zu sehen sein. kp auf Sendung. Moderatorin Tuba Tuncak werden. ➔ 23
Radio Sie entstehen – parallel zum deutschspra- Uhr als Wiederholung im chigen Programm – werktäglich zur selben Radio und dauern 30 statt Zeit im Sendezentrum und werden live im vorher 60 Minuten, auch Internet gesendet, zusammen mit Magazi- »Radio Colonia«. Tom- nen in Russisch, Polnisch und Arabisch, die maso Pedicini: „Sicher der rbb (Rundfunk Berlin-Brandenburg) haben wir dadurch Hörer zeitgleich in Berlin produziert. Zusammen verloren, aber wir hoffen, sind sie das „Projekt Babel“. dass wir auch neue dazu gewinnen.“ Denn mit der Neue Kontakte über Facebook Reform erhielten die Sen- dungen eigene Facebook- Teamleiter der italienischen Redak- Seiten – neue Verbindun- tion ist Tommaso Pedicini. „Wir sind die gen zwischen den Hörern Sendung für Italiener in Deutschland“, sagt und ihren Sendungen. „Wir er. „Zu unseren Hörern gehören nicht nur bekommen viele Nachrich- Konferenz der italienischen Redaktion (v. l.): Moderatorin Paola Fabbri, die früheren Gastarbeiterfamilien, sondern ten von Hörern, die uns Tommaso Pedicini, Cristiano Cruciani, Paola Colombo und Daniela auch Auswanderer, die Italien aufgrund der über Facebook erst ent- Nosari aktuellen wirtschaftlichen Verhältnisse ver- deckt haben“, sagt Pedicini. lassen haben und nach Deutschland gekom- »Köln Radyosu« berichtet immer wie- das Internet weiter wächst: Als beispiels- men sind. Und wir haben auch deutsche der über die aktuellen politischen Entwick- weise der in Schweden lebende türkische Zuhörer, die gerne italienisch sprechen und lungen in der Türkei. „Bei uns herrscht Künstler Hakan Vreskala beim Sender zu hören.“ Für sie machen die Journalistinnen keine Zensur. Wir sagen, was gesagt wer- Gast war, postete er das auf seiner Website. und Journalisten von »Radio Colonia« ein den muss“, macht Erkan Arikan deutlich, So wurden auch dort Türken auf »Köln Magazin, das einen besonderen Blickwin- der Teamleiter der türkischen Redaktion. Radyosu« aufmerksam. kel einnimmt: „Wir versuchen daher jedes Der türkischen Sendung kommt dabei eine Thema unter dieser italienisch-deutschen besondere Rolle zu. Denn: „Wir sind ein Der emotionale Faktor Musik Lupe zu betrachten.“ Wenn etwa der itali- unabhängiges Medium, das auf Türkisch enische Premier Gentiloni seine Minister Informationen aus der Türkei liefert.“ Die Neben Informationen aus Deutsch- vorstellt, holt »Radio Colonia« Stellungnah- Reaktionen der Hörer sind unterschiedlich land sowie den jeweiligen Heimatländern men von den italienischen Abgeordneten – von kritisch bis dankbar (siehe auch das sind den muttersprachlichen Magazinen ein, die von wahlberechtigten Italienern im Interview mit Erkan Arikan auf Seite 20). auch soziale Themen und Serviceangebote Ausland gewählt worden sind. Dank der jahrelangen Arbeit von für ihre Hörerschaft ein Anliegen – etwa Seit der Programmreform im Juli 2016 Redaktion und Mitarbeitern hat »Köln in Berichten über Seniorenheime und die laufen die muttersprachlichen Sendungen Radyosu« einen hohen Bekanntheitsgrad in Frage, ob es Gebetsräume für gläubige Mus- um 18.00 Uhr live im Internet und ab 20.00 der türkischen Community, der auch durch lime gibt, oder über Rentengesetzänderun- 24
Radio „Makedonija nakon izbora ...“ Die bosnische Moderatorin Suada Herak (links) begrüßt ihr Publikum. Tuba Tuncak (Mitte) moderiert »Köln Radyoso«. An ihrer Seite Erkan Arikan, der Senderedakteur des heutigen Tages. In wenigen Sekunden geht Paola Fabbri (rechts) auf Sendung. zu ihrem Berichtsgebiet. COSMO „Da ist immer etwas los!“, Köln Radyosu sagt sie schmunzelnd. MO-FR / 20:00 »Radio Forum« spricht alle Sprachen und richtet Radio Forum sich an alle, die serbisch, MO-Fr / 20:30 kroatisch, bosnisch oder Radio Colonia montenegrinisch spre- MO-FR /21:00 chen oder verstehen. Radio po russki, das russische Magazin Moderatoren oder Kor- MO-FR / 21:30 respondenten sprechen stets ihre Muttersprache. Radio po polsku, das polnische Magazin „So haben unsere Hörer MO-FR / 22:00 immer das Gefühl, dass Al-Saut Al-Arabi, das arabische Magazin ›Radio Forum‹ ihre Sen- Die Leiter der italienischen, südosteuropäischen und türkischen MO-FR / 22:30 Redaktionen tauschen sich regelmäßig aus (v. l.): Tommaso Pedicini, dung in ihrer Sprache ist“, Nada Pester und Erkan Arikan sagt Nada Pester. Bernama Kurdî, das kurdische Magazin SO / 20:00 - 21:00 gen, die mögliche Rückkehrer betreffen. „Unersetzlich“ Elliniko Randevou, das griechische Nach ihrer Moderation spielt Paola Magazin Fabbri bei »Radio Colonia« von ihrem Ein Treffen zwischen Angela Merkel SO / 21:00 -22:00 Sendepult aus den Titel „Made in Italy“ und dem konservativen Ministerpräsidenten des italienischen Rockmusikers Ligabue Kroatiens Plenković sowie die Champions Estación sur, das spanische Magazin ein. Bei »Radio Forum« läuft „Volim je League-Auslosung für das Achtelfinale sind SO / 22:00 - 23:00 ludo“ des kroatischen Starsängers Oliver weitere Themen der heutigen Sendung. Zu cosmoradio.de Dragojević, und im türkischen Programm den Hörern gehören neben den ehemaligen sind sehnsüchtige Klänge zu hören: „Fark Gastarbeitern und ihren Kindern sowie den Die Sprachensendungen etmeden“ von Şenay Lambaoğlu. Es läuft Menschen, die in den 1990er Jahren nach MO-FR / 18:00 - 18:30 Musik von Pop bis Volksmusik, immer Deutschland flüchteten, auch Auswanderer SO / 18:00 - 19:00 in den jeweiligen Landessprachen. „Das der jüngeren Vergangenheit. Was bedeutet ist ein emotionaler Faktor, der uns sehr »Radio Forum« seinen Hörern? Nada Pester: wichtig ist“, sagt Nada Pester, die das „Für unsere Hörer sind wir unersetzlich im Team der Südosteuropa-Redaktion leitet. Vergleich zu dem, was sie etwa über das Inter- Die sieben Staaten, die aus dem ehemali- net aus ihren Herkunftsländern erfahren.“ gen Jugoslawien entstanden sind, gehören Katrin Pokahr 25
ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT Ein Reportageteam vom Pla- neten Sirius reist auf die Erde. Seine Mission: die Suche nach dem legendären „Studio für Elektronische Musik“. Das Hörspiel „Sirius FM – Expedi- tion an den Bandtellerrand“ würdigt als Science-Fiction- Mocumentary die wegweisen- de Arbeit des weltberühmten WDR-Soundlabors. Der pensionierte Ton- ingenieur Volker Müller hat den Schatz – das „Studio für Elektronische Musik“ – 30 Jahre lang gehütet. In der Radioreportage spielt er den „Wildhüter der aussterbenden Klang- maschinen“. Foto: WDR/Jansen 26
Radio Karlheinz Stockhausen, hier ein Bild aus dem Jahr 1962, betrieb im weltweit ersten Herbert Eimert erfand als erster Leiter des legendären WDR-Studios den „Studio für Elektronische Musik“ seine Klangforschungen. Begriff „Elektronische Musik“. Ein Foto aus dem Jahr 1955. Fotos: WDR Ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Musikinstrumente begnügen und begab sich im Kölner Funkhaus Musikgeschichte in das „chaotische Reich ungeahnter, unbe- geschrieben: Avantgardisten wie Karlheinz kannter Klangmöglichkeiten“, wie Eimert Stockhausen und Mauricio Kagel betrieben es ausdrückte. Sie knüpften damit an künst- im weltweit ersten „Studio für Elektroni- lerische Strömungen an, die schon vor 1933 sche Musik“ ihre Klangforschungen. 2001 existierten und von den Nazis unterdrückt schloss der WDR das Studio. Die histori- worden waren. Mit seinem ethnologischen schen Geräte lagern heute in einem Keller Blick from outer space versucht „Sirius FM in Köln-Ossendorf. Der pensionierte Tonin- – Expedition an den Bandtellerrand“ nicht genieur Volker Müller, der 30 Jahre in dem nur zu ergründen, wie die Erdbewohner ein Studio gearbeitet hat, kümmerte sich bis zu neues Klanguniversum schufen – das Hör- seiner Pensionierung um den Schatz. Die spiel stellt auch die Frage: warum? analogen Maschinen werden noch benö- „Das Mathematische, das Herausrech- tigt, um Tonbänder aus den Pioniertagen nen von Emotionen aus der Musik entstand zu digitalisieren. Manchmal führt der weiß- unter anderem, weil sich diese Künstler bärtige Zeitzeuge auch Besucher durch den Zum Teil hochmodernes Equipment inklusive „Noten vom korrumpierenden Pathos der Kunst im Gerätepark und erzählt aus den Zeiten, als blatt“ für Elektronische Musik aus dem Jahr 1956 Dritten Reich scharf abgrenzen wollten“, elektronische Sounds noch nicht per Maus- sagt Müller-Wallraf. Der radikale komposi- klick erzeugt wurden. Gerätschaften Sounds, die die Kids heute auf torische Ansatz von Stockhausen und Co. ihren Tablets und Smartphones ganz einfach gewinnt ihrer Meinung nach heute wieder Seiner Zeit weit voraus abrufen können. an Relevanz. In Zeiten des Populismus und Volker Müller spielt in der Radiore- des Postfaktischen sei es vielleicht nicht „Man tritt in eine ganz andere Welt ein. portage des Senders Sirius FM eine zen- schlecht, sich wieder mit solchen Ansätzen In ein anderes Verständnis von Musik und trale Rolle als „Wildhüter der aussterben- zu beschäftigen. Die Haltung des Hörspiels Radio“, beschreibt Hörspielchefin Martina den Klangmaschinen“. Andere Zeitzeugen zur Historie sei, dem entsprechend, keine Müller-Wallraf die Eindrücke ihres Besuchs in wie Herbert Eimert, den ersten Leiter des nostalgisch romantisierende. „Es ist aber den Überresten des Studios. Die Sound-Tüftler Studios und Erfinder des Begriffs „Elektro- auch keine trockene Schulstunde“, so die Ulrich Bassenge und Philip Stegers (aka Lee nische Musik“, den Philosophen und Musik- Leiterin des Hörspiels. „Sirius FM – Expedi- Buddah) wollen in ihrem Hörspiel „Sirius theoretiker Theodor W. Adorno und viele tion an den Bandtellerrand“ sei im Gegenteil FM – Expedition an den Bandtellerrand“ andere lassen die Autoren aus den Schall- „wahnsinnig witzig und unterhaltsam“. CSh diese Atmosphäre vermitteln: das Staunen archiven des WDR auferstehen. Mit einer angesichts des altertümlichen Equipments, Eigenkomposition verbeugt sich Bassenge Sirius FM – das seiner Zeit doch so weit voraus war. Denn schließlich vor den Urvätern elektronischer Expedition an den Bandtellerrand Synthesizer gab es in den frühen Tagen nicht Klänge und schafft die Verbindung zwi- WDR 3 einfach so zu kaufen – die Pioniere haben sie schen realer und fiktionaler Ebene. MI / 18. Januar / 19:04 – 20:00 selbst gebaut. Im Schweiße ihres Angesichts Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte erzeugten sie mit Schwebungssummern aus sich eine junge Garde von Komponisten Nach der Sendung befristet im WDR Hör- Hochfrequenz-Oszillatoren und anderen nicht mit den Klangfarben traditioneller spielspeicher abrufbar: hoerspiel.wdr.de 27
Radio DAS GROSSE RÄTSELN Moderator Bastian Biet führt durch den Abend. Man spürt seine Kneipenquiz-Erfahrung. Fotos: WDR/Brill Gemütlich auf dem Sofa sitzen und beim Quiz mitraten? Wer es eher ruhig und gesittet mag, ist bei den WDR 5-Quiz-Master-Abenden falsch. Wild und chaotisch geht es zu, aber Lustig und skurril: der Ratespaß ist riesig. Wir waren Moderator Bastian Biet holt spontan einen Zuschauer auf die Bühne, der einen Abend in Bochum dabei. Sätze auf Latein vorlesen soll. Foto: WDR/Brill 28
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Gleich die erste Frage hat es in sich. In einem Ausschnitt aus der Sendung »Domian«, der auf die Leinwand projiziert wird, berichtet eine ältere Dame namens Lydia von einer sexuellen Affäre, die auf dem Friedhof begann. Genau genommen im Wald neben dem Friedhof. Domian fragt auf seine unvergleichliche Art einige Eckdaten der Geschichte ab. Lydias Geständnisse sor- gen für Heiterkeit und Unruhe unter den knapp 100 Quiz-Begeisterten im Kultur- Café des AStA in der Uni Bochum. Doch dann will Moderator Bastian Biet wissen: „Wie alt ist Lydia? Wie lang war sie verhei- ratet? Wann ist ihr Mann gestorben?“ Über- raschung. Um die Frage lösbar zu machen, spielt Theresa Hübner von ihrem Laptop aus die entscheidenden Informationen aus dem Gespräch nochmal ein. „20 Sekunden ab jetzt“, sagt Biet. Auf der Leinwand läuft ein Countdown. Die zehn Quiz-Teams rechnen und tuscheln an ihren Tischen. Die stehen eng an eng, man sollte die Lösung nicht zu laut rausposaunen. Ein anarchischer Kneipenabend WDR 5 veranstaltet in diesem Win- tersemester sechs Quizabende an ver- schiedenen Unistädten in NRW. Alle finden aber off air statt – das Korsett einer Sendung würde dem leicht anarchi- schen Abend vermutlich nicht gut tun. Biet holt spontan einen Zuschauer auf die Bühne, der vier Sätze auf Latein laut vor- lesen soll, was aus dem Auditorium mit begeistertem Gejohle belohnt wird. Zwi- schendurch singt eine junge Frau auf der Bühne „Kyrie Eleison“, weil ja bald Weih- nachten ist. Und die „Hossa“-Runden Ein buntes Programm erwartet die Besucher eines Quiz-Master-Abends. Es wird gelacht, gesungen, gerätselt und lassen den Geräuschpegel anschwellen und sorgen für Chaos. – Hossa-Runden? Die spielt der Quizmaster zwischendurch Aus der Kneipe an die Uni: Der Kon- Linguistik oder Modedesign auch online immer wieder mal zur Auf lockerung. takt läuft über die Campus-Radios, die im Multiple-Choice-Quiz testen. Und wer Dabei dient lautes „Hossa“-Rufen als eine helfen auch bei der Veranstaltungs-Orga- die Geselligkeit schätzt, meldet sich über Art Ersatz-Buzzer. Beispiel: Biet fordert nisation. Obwohl der Abend nicht on air die Homepage für das Uni-Quiz an: Jeder „ein Lied, in dem eine Farbe vorkommt“. stattfindet, fügt er sich ein ins „Leonardo kann mitmachen, ein Studentenausweis Jemand ruft „Hossa“, und wenn dann Quiz-Master-Universum“. Die WDR 5- ist nicht erforderlich. Nach Bastian Biets der ganze Tisch den Refrain von „Blue Wissenschaftssendung »Leonardo« stellt Erfahrung sind „die besten Teams immer (Da Ba Dee)“ singt, gewinnt das Team jede Woche einen anderen Studiengang die, die sich aus WDR 5-Hörern und Stu- Getränke. Das Uni-Quiz orientiert sich vor. Zum jeweiligen Fachgebiet wird live denten zusammensetzen“. Die einen haben eher an der Tradition des Pub-Quiz als im Radio eine Quizfrage gestellt. Wer die den bürgerlichen Bildungskanon drauf, die an Wim Thoelke oder Günther Jauch. am Telefon richtig beantwortet, gewinnt anderen kennen sich mit Pop-Kultur und Kein Wunder: Bastian Biet moderierte eine Wildcard für das Finale und darf dort Universitätswissen aus. mit Theresa Hübner jahrelang ein Knei- eines der Siegerteams unterstützen. Wer In Runde zwei sind die Filmspezia- penquiz in Köln-Ehrenfeld. mag, kann sein Wissen über Forensik, listen gefragt. Nach einem Ausschnitt aus 30
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