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print Februar 2016 DAS MAGAZIN DES WDR WIE DIE MUSIK INS RADIO KOMMT Preise: Doping-Aufdecker Hajo Seppelt räumt ab Skandale: Eine »Story« über die Tricks der Reichen Comedy: Der 1LIVE Babo-Bus als Comic im Netz
HELAU Foto: WDR/Sachs Ein herrrrlisches Bild! Der eigentlich seriöse Sven Lorig (mit Hut) und Altstadt-Gastronomin Schrägstrich Ex-Venetia des Prinzenpaars, Barbara Oxenfort (mit Schnabel), werden den Düsseldorfer Karnevalszug moderieren. Simon Beeck (mit Federschmuck) fungiert als Außenreporter, sein berühmtes Miley-Cyrus-Kostüm ist zu luftig für den Auftrag. Der närrische Höhepunkt in Lorigs Vita war bislang „Sitzungspräsident im Pfarrkarneval“, jetzt kommt die Königsdisziplin: 75 Wagen und 70 Fußgruppen mit Expertin Oxenfort kenntnisreich im heiteren Plaudermodus kommentieren. 2
WDR-Welten AUA Foto: picture-alliance/AP Photo Das Haar ist echt. Nur Jimmy Fallon darf Hillary Clinton an den Haaren ziehen. Denn 1. ist er der erfolgreichste Late-Talker der USA und 2. kann man dabei Witze über Donald Trumps Frisur machen. Die Stars geben sich im New Yorker Rockefeller Center die Klinke in die Hand, wenn »The Tonight Show Starring Jimmy Fallon« produziert wird. Ein sympathischer Gastgeber, echter Qualitätshumor und sehr gute Einfälle („The Evolution of Dad Dancing“) machen die Show zu einem Highlight. Einsfestival zeigt montags bis freitags um 23.05 Uhr die jeweils aktuellste Folge im Original mit Untertiteln. 3
WDR-Welten JUCHHU Deutscher Fernsehpreis. Sechs Preise in fünf Kategorien: Nicht übel, WDR. Alle nominierten Beiträge in der Kategorie „Bester Sportjournalismus“ kamen vom Westdeutschen Rundfunk. Ausgezeichnet wurden schließlich die Dokumentationen „Geheimsache Doping – Im Schattenreich der Leichtathletik“ und „Geheimsache Doping – Wie Russland seine Sieger macht“ von Hajo Seppelt. Die Trophäe als „Beste Schauspielerin“ erhielt Ina Weisse unter anderem für ihre Hauptrolle in „Ich will dich“, in der Kategorie „Schnitt“ räumte „Altersglühen – Speed Dating für Senioren“ ab, als bester Fernsehfilm“ gewann 4
Foto: WDR/Sachs die gleich fünf Mal nominierte WDR-Koproduktion „Nackt unter Wölfen“, und „Menschen bei Maischberger“ (Redaktion WDR) wurde zur besten Talk-Sendung gekürt. Von links: Manfred Pelz (Kamera „Geheimsache Doping“), Matthias Wolf (Autor, nominiert für »sport inside«), Reiner Lefeber (Redaktion »sport inside«), Grit Hartmann (Autorin »sport inside«), Hajo Seppelt, Robert Kempe (Autor »sport inside«) WDR-TV-Sportchef Steffen Simon (Redaktionsleitung »sport inside«), Jochen Leufgens (Redaktion »sport inside«), Uli Loke (Redaktion »sport inside«) und Fred Kowasch (Autor »sport inside«). 5
DADA Foto: WDR/Falke Foto: Mauritius Im Bild: Die Eröffnung der „Ersten Internationalen Dada-Messe“ 1920 in Berlin durch Raoul Hausmann, Dr. Otto Burchard, Johannes Baader, Wieland und Margarete Herzfelde. Aber bereits am 5. Februar 1916 erlebt DADA im „Cabaret Voltaire“ in Zürich seine Geburtsstunde. „Zusammen lassen sich die sieben Dada-Begründer jeden Abend bis zum Irrsinn, bis zur Bewusstlosigkeit gehen, um Dada gebären zu können“, beschreibt das Cabaret den Gründungsmythos. Zum 100-jäh- rigen Jubiläum widmet WDR 3 den Punk-Vorläufern das Feature: „Bevor DADA da war, war DADA da“. 6. Februar, 12.05 Uhr. 6
Inhalt Editorial Titel 30 Von Klassik bis Global Pop: Die Musikchefs der WDR-Radioprogramme berichten, wie die Musik ins Radio kommt 36 Christian Gottschalk besuchte Foto: WDR/Fußwinkel »WDR 3 Klassik Klub«-DJ Sebastian Blume in seinem Studio Investigativer Journalismus 8 Hajo Seppelts Filme über systematisches Doping haben die Welt der Leichtathletik aus den Angeln gehoben. Ein Interview anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Deutschen Fernsehpreis 12 Milliarden für Millionäre: Jan Schmitts Liebe Leserinnen und Leser, Wirtschaftskrimi für die »Story im Ersten« 16 Die neue Hörfunkredaktion „Story und einen Tag vor Drucklegung dieser Ausgabe geht Recherche“ konzentriert sich auf exklusive der WDR mit der Meldung an die Öffentlich- Geschichten aus Nordrhein-Westfalen keit, dass die Schweizer Bundesanwaltschaft Foto: WDR/Knabe Fernsehfilm „verdächtige Vorgänge“ mit Blick auf die Fuß- ball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland Warum sich Kebekus 20 Anlässlich des Starts ins WDR-TV-Film- Jahr 2016 ein Interview mit Fernsehfilmchef entdeckt hat. Einmal mehr konnte das WDR- Magazin »sport inside« mit seinen Recherchen die Kugel gibt Gebhard Henke über Netflix, HBO & Co. und das Bashing deutscher Fernsehserien Hintergründe ausleuchten, diesmal der Aufklä- rung des FIFA-Skandals ein weiteres Puzzle- 40 Carolin Kebekus nimmt ein Dokumentation Stück hinzufügen. Vollbad in Mett und gibt sich an- 28 „Der Kuaför aus der Keupstraße“: Warum so viele Sportskandale vom WDR Ein Film über die NSU-Opfer und die Rolle aufgedeckt werden können, das lesen Sie in schließend die Kugel. Die neuen von Staat, Polizei und Medien diesem Heft. ARD-Reporter Hajo Seppelt, der Folgen der Sendung mit dem lan- Comedy gerade mit dem Deutschen Fernsehpreis für gen Namen starten im Februar: »Die 40 »Die unwahrscheinlichen Ereignisse im seine Reportagen „Geheimsache Doping“ aus- unwahrscheinlichen Erlebnisse im Leben von ...«: In den neuen Folgen gezeichnet wurde, berichtet, wie der WDR den nehmen sich Comedians und Entertainer kritischen Sportjournalismus zu einer ARD- Leben von ...« selbst auf die Schippe Domäne machte. 42 Ein Bus, vier Rapper: Die Radio-Comedy 1LIVE Babo-Bus gibt‘s jetzt als Videoserie Ich wünsche Ihnen eine Hörspiel spannende Lektüre! Maja Lendzian 44 Der WDR hat aus den österreichischen Kultkrimis von Rainer Nikowitz über den „erfolgreichen Nichtstuer und Kiffer“ Suchanek Hörspiele gemacht Panorama 46 Das traditionsreiche Kölner Filmhaus wird für die Zukunft gerüstet / WDR informiert Flüchtlinge in vier Sprachen Glosse 47 Hauche zärtlich „Horst“: Christian Christopher Schärf (M.) spricht Suchanek, Branko Samarovski Gottschalk macht sich Gedanken (r.) spielt Stratzner und Valentin Schreyer (l.) spielt die Rolle über die Namensgebung medialer Helden HÖRSPIEL des Poldi Gärtner Foto: WDR/Anneck Berufsbilder Kult aus dem Nachbarland 48 Einer von uns: 1. Kameramann Gregor Gäb Im Gespräch 44 Stilechter geht‘s nicht: Mit einem ausnahmslos österreichischen 50 Auf einen Kaffee mit Radiomoderator Team, allen voran Burgschauspieler Peter Simonischek, hat der WDR Andreas Lange Suchanek-Krimis von Rainer Nikowitz fürs Hörspiel adaptiert. 51 Service / Impressum 7
Investigativer Journalismus „In der Der ARD-Reporter Hajo Seppelt (52) erregte mit seinen Enthüllungen ARD um systematisches Doping im russischen und kenianischen bremst Spitzensport internationales Aufsehen, der Weltverband der Leichtathletik schloss Russland mich von allen internationalen Wett- bewerben aus. Um die Jahres- niemand“ wende wurde Seppelts Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Für die einen ist Hajo Seppelt ein Held, für die anderen ein Spielverderber. Seine Reportagen „Geheimsache Doping. Im Schat- tenreich der Leichtathletik“ und „Geheimsache Doping – Wie Russland seine Sieger macht“ strahlten zahlreiche Fernsehsender weltweit aus. Der Weltverband der Leichtathletik (IAAF) sah sich schließlich angesichts der darin vorgelegten Beweise gezwungen, Russland auf unbestimmte Zeit von allen internationalen Wett- bewerben auszuschließen. „‚Geheimsache Doping‘ ist bester kritischer Sportjourna- lismus, abseits von Heldenstorys und Jubelberichten“, urteilte das „medium magazin“, nachdem es Seppelt zu Deutschlands „Sportjournalist des Jahres“ gekürt hatte. Der Weltverband der Sportjournalisten zeichnete Seppelt im Dezember in Abu Dhabi mit zwei „Sports Media Pearl Awards“ aus. Und am 13. Januar erhielt er schließlich in Düsseldorf den Deutschen Fernsehpreis für seine herausragende Arbeit. Nominiert waren außerdem die »sport inside«-Redaktion des WDR sowie die WDR/SWR-Doku- Screenshot aus dem Interview, mentation „Der verkaufte Fußball“. das „BBC Newsnight“, das WDR print-Autorin Christine Schilha traf den Berliner Nachrichtenflaggschiff wenige Stunden vor der Preisverleihung auf dem Düsseldorfer des britischen Senders, mit Hajo Seppelt über seine Flughafen. Zwischen telefonischen Interview-Anfragen, Termin- Doping-Recherchen führte absprachen und „toi, toi, toi!“-Wünschen fand sie Gelegenheit zu Foto: BBC einem Gespräch mit dem gefragten Mann. ➔ 9
Herr Seppelt, es scheint, als seien Sie derzeit öfter der Interviewte Perspektiven. Internationale Sportorganisationen halten in ihren als der Interviewer. Wie fühlt sich das an? Sonntagsreden ständig die hehren Ideale des sauberen Sports hoch. Ein bisschen eigenartig ist das schon. So besonders ist das ja Aber Leute, die dazu beitragen, ein korruptes System dieser Trag- nicht, was ich tue. Ich bin nur der Einzige, der sich in diesem Maße und weite aufzudecken, bekommen nicht einmal ein „Dankeschön“! ausschließlich investigativ mit Doping beschäftigt. Ohne Whistle- Das ist aus meiner Sicht schamlos. blower wäre das zudem alles nicht möglich. Außerdem habe ich dem WDR viel zu verdanken. Fritz Pleitgen und Steffen Simon ergriffen Sie haben sich einen Ruf aufgebaut, Whistleblower aus aller Welt 2006 die Initiative und riefen eine Doping-Redaktion mit eigenem vertrauen sich Ihnen an ... Etat ins Leben, die heute von Welf Konieczny und Jochen Leufgens Ja, da zahlt sich aus, dass ich mich schon fast zwanzig Jahre mit betreut wird. Das ist weltweit einzigartig und gibt mir die Möglich- dem Thema Doping beschäftige. Und seit der Russland-Geschichte keit, frei, ergebnisoffen und ohne Druck zu recherchieren. Bei der kommen immer mehr Leute auf mich zu. Es gibt halt nicht nur Gelegenheit möchte ich mich auch mal ausdrücklich bei meinem zwielichtige Funktionäre, sondern auch immer wieder aufrechte langjährigen Weggefährten Uli Loke von »sport inside« bedanken. Menschen, die um den Wert des Kulturguts Sport besorgt sind und Und bei Kameramann Manfred Pelz, der bei allen Dokus seit 2007 glauben, dass sich Dinge über die Herstellung von Öffentlichkeit dabei war, und der gerade in heiklen ändern können. Dafür ist Russland Situationen immer mitdenkt und rich- jetzt der Lackmus-Test: Ich bin sehr tig reagiert. „Eine Doping-Redaktion neugierig, ob der internationale Druck, Russland nicht bei den Olympischen Sie machen sich mit Ihren Enthül- mit eigenem Etat: Spielen antreten zu lassen, gegen den lungen nicht nur Freunde. Brauchen Druck Putins und aller, die mit ihm Sie bald Bodyguards? weltweit einzigartig“ kungeln, ankommt. Das schönste Kompliment für meine Arbeit kam von Zuschauern, die mir schrieben, dass sie Hat Ihr Ruf Ihre Arbeit auch schwieriger gemacht? dafür gerne Rundfunkbeitrag bezahlen. Aber tatsächlich betrach- Ja, inzwischen ist mein Gesicht bekannt. Aber ich muss ja ten manche mich als Feind des Sports – also als den Überbringer nicht alles alleine machen, über die Jahre ist ein Netz von Leuten der schlechten Nachrichten – und nicht etwa die Verursacher. Eine entstanden, mit denen ich sehr vertrauensvoll zusammenarbeite. physische Bedrohung gab es bisher aber noch nicht. Ich habe auch keine Angst. Trotz mancher heikler Recherchen ist mein Betäti- Haben Sie erlebt, dass Sie irgendwo nicht mehr einreisen oder gungsfeld ja der eng begrenzte Bereich des Sports. Der Vergleich mit drehen durften? Watergate, den der ehemalige Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur Nein. Allerdings reise ich momentan nicht nach Russland, Richard Pound anlässlich unserer Russland-Recherchen gezogen weil der Sportminister mir im vergangenen Frühjahr über die rus- hat, ist übertrieben. sischen Medien signalisierte, dass er immer wisse, an welchem Fleck in Russland ich mich wann aufhalte. Ich habe keine Lust, vom Ihre Informanten, das Ehepaar Stepanov, verließen Russland aus Geheimdienst beschattet zu werden. Aber ich habe andere Mittel Angst. Wie geht es ihnen jetzt? und Wege mitzubekommen, was im russischen Sport vor sich geht. Für mich sind die beiden wahre Helden. Sie haben aus eige- nem Antrieb gehandelt und sagen auch heute noch, dass sie nichts Russische Medien und Sportfunktionäre warfen Ihnen Propa- bereuen, außer, dass sie nicht noch mehr enthüllen konnten. Lei- ganda vor. Hat sich daran etwas geändert? der leben sie derzeit sehr isoliert und mit relativ wenig Geld und Es gibt bis heute skurrile Verschwörungstheorien. So hieß es 10
Foto: picture-alliance im Staatsfernsehen, dass die ARD mit den Berichten über Doping in kein Mensch, der sich für Sport stundenlang vor den Fernseher Russland vom schwachen Olympia-Abschneiden deutscher Athle- setzt. Aber ich bin Journalist mit Leib und Seele, und es fasziniert ten 2014 in Sotschi ablenken wollte. Manche sagten gar, dass unsere mich, hinter die Erfolge zu schauen. Ich will Transparenz herstellen, Whistleblower westliche Agenten gewesen seien. Vor kurzem sollte damit das Publikum das ganze Bild hat. ich Gerichtskosten an ein Moskauer Gericht bezahlen. Das hatte entschieden, dass unsere Anschuldigungen nicht beweisbar seien. Aber Sie könnten ja auch sagen: Sollen die doch alle dopen, wenn Das Beweismaterial hatten sie aber gar nicht geprüft, denn es lag sie sich kaputt machen wollen. allein der Welt-Anti-Doping-Agentur vor. Ich als Angeklagter erfuhr Ich glaube nicht, dass Sportler sich kaputt machen wollen. außerdem erst nach zwei Verhandlungstagen von dem Prozess. Das Viele glauben nur allzu oft, es ginge nicht ohne Hilfsmittel. Dabei ist alles sehr befremdlich. bleiben immer Menschen auf der Strecke, ob durch Betrug oder Gesundheitsgefährdung. Mich ärgern Verantwortungslosigkeit, Hat man denn schon mal versucht, Sie zu bestechen? Ungerechtigkeit und Heuchelei im Sportbusiness. Noch nie. Mir ist allerdings schon von Medien teilweise sehr viel Geld für meine Informationen geboten worden. Aber Infor- Und warum müssen Sie den Job der Anti-Doping-Agenturen mationen, die ich bei meiner Arbeit machen? als WDR-Reporter zutage gefördert Die Selbstreinigungskräfte des habe, gehören natürlich dem WDR. Manche betrachten Hajo Sports haben versagt. Der investiga- tive Journalismus hat tatsächlich in Wie sind Sie eigentlich zum Ex- Seppelt, den Überbringer den letzten Jahren einen wichtigen perten für Doping geworden? Beitrag geleistet. Die Öffentlich- 1997 habe ich mit Karin Helm- der schlechten Nachrichten, Rechtlichen hierzulande haben staedt für den SFB einen Film über zudem auch eine gesellschaftliche Doping in der DDR gemacht, der sehr als Feind des Sports. Verpflichtung. In der ARD bremst viel Aufsehen erregte. Es gab damals mich – trotz der Übertragungsrechte in der ARD niemanden sonst, der sich mit dem Thema intensiver für die Bundesliga und Olympia – niemand. befasste, und so wurde ich in einer Radiosendung über die Rad- sportskandale als „der ARD-Doping-Experte“ anmoderiert. So fing Warum wird trotz aller Skandale immer weiter gedopt? das an. Immer öfter wurde ich im Laufe der Jahre als Experte in Doping wird es immer geben. Der einzige Weg, das Ausmaß Sachen Doping herangezogen. Die Sportberichterstattung war indes zu reduzieren, ist die Kontrolle von außen. Bei einer Firma machen noch bis vor zehn Jahren eine vollkommen andere und stand wegen die Steuerprüfung ja auch nicht die Unternehmensberater, sondern zu viel Nähe zu Sportlern und Sponsoren in der Kritik. Ich wurde das Finanzamt. Solange der Sport sich selbst kontrolliert und Ver- zunächst ein wenig vorgeschoben, um zu zeigen: Wir können auch bände ihre Autonomie missbrauchen, um Geschäfte im Dunkeln anders. Mit der Doping-Redaktion im WDR wurde der kritische zu treiben, wird sich nichts ändern. Sportjournalismus dann zu einer ARD-Institution. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig? Die preisgekrönten Reportagen in der ARD-Mediathek: Ich war früher selbst Schwimmer und habe dann als Sport- reporter Wettkämpfe kommentiert. Irgendwann habe ich gemerkt, wdr.de/k/doping-schattenreich dass das nicht meine Leidenschaft ist. Ich bin kein Sport-Fan, also wdr.de/k/doping-sieger 11
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MILLIARDEN FÜR MILLIONÄRE – Der unverfilmbare Film Hat der Staat jahrelang unser Steuergeld an Millionäre ausgezahlt? Jan Schmitt ist mit der »Story im Ersten« einem Wirtschaftskrimi auf der Spur. In seinem WDR print- Bericht lässt er uns an dem schwierigen Prozess teilhaben, fast ohne Protagonisten einen Film zu machen. Denn kaum jemand wollte vor die Kamera. 13
Investigativer Journalismus Von Jan Schmitt sen hatten, ist bis heute nicht klar, was Hanno Berger ist Finanzberater. Einer davon illegal war und was nicht. So einfach der besten Deutschlands sagen die einen, ein Ende 2012 recherchierte ich eine »Story war die Sache mit der Schuld nicht. gerissener Hund die anderen. Hanno Berger im Ersten« über die hemmungslose Steuer- war mal Steuerfahnder. Dann wechselte er vermeidung großer Konzerne. Da stieß ich, Die Rolle des Hanno Berger die Seiten und machte sein Knowhow zu ganz nebenbei, auf Berichte über Geschäfte, Geld, beriet Banken und Millionäre, wie sie bei denen Banken offenbar Superreichen Jeder ging auf jeden los. Der Staat ver- Steuerschlupflöcher nutzen können. Bei den geholfen haben, Milliarden von Steuergel- folgte die Banker und Berater. Die konterten Cum-Ex-Geschäften fiel immer wieder sein dern nicht nur zu sparen, sondern sogar mit ihren Anwälten. Reiche Investoren ver- Name. Manche sagen, er sei ihr Spiritus Rec- zu kassieren. Und das unter den Augen der klagten wiederum die Banken, Professoren tor. Seit drei Jahren hatte er sich, verfolgt von Politik. Konnte das stimmen? Zu unglaub- stritten sich und beschuldigten sich gegen- deutschen Staatsanwälten, in die Schweiz lich kam mir das vor. Die Artikel landeten seitig, sich in den Dienst des Staates oder der zurückgezogen. Die Öffentlichkeit scheut er. unter dicken Stößen Papier, andere Themen Profiteure eingespannt zu haben. Zahlreiche Über eine Meldungsanzeige fand ich seine drängten sich vor. Verfahren liefen und keiner wollte es gewesen Telefonnummer. Meine Redakteurin, Petra Nagel, blieb sein. Zwölf Milliarden Steuergeld weg, aber Wochenlang hatte ich mich vor dem am Thema dran. In der weiteren Bericht- kein Schuldiger? Oder, wie bei Agatha Chris- Anruf gedrückt. Als ich mich schließlich erstattung tauchten illustre Namen im ties „Mord im Orientexpress“, alle schuldig überwand, antwortete, völlig unerwartet, Zusammenhang mit den sogenannten und damit am Ende keiner verantwortlich? eine Stimme: „Berger?“ Über eine Stunde Cum-Ex-Geschäften auf: Carsten lang erklärte ich ihm unser Film- Maschmeyer, Veronica Ferres, Drogerieketten-Müller, haufen- Zwölf Milliarden Steuergeld projekt. Am Ende sicherte er mir zu, sich durch den Kopf gehen zu weise Milliardäre. Geschichten von Seilschaften, Freund- und weg, aber kein Schuldiger? lassen, ob er mitmachen würde. Damit hatte ich nicht gerechnet. Fei nd sc h a f ten , erbit ter ten Kämpfen, dem Totalversagen Oder wie bei Agatha Christies Denn schließlich stand Berger ja im Fadenkreuz deutscher der Politik. Sie war überzeugt, dass das ein Filmstoff „Mord im Orientexpress“, alle Ermittler. In den Wochen danach rief war und beriet sich mit ihrem Kollegen Mar- schuldig und er mich an, als ich im Urlaub durch Belgrad lief, während tin Suckow. Über die Leiterin des Investiga- damit am Ende Dreharbeiten in München, beim Essen mit Freunden verließ ich tiven Ressorts, Monika Wa gener, k a m der keiner verant- den Raum, beim Einkaufen ließ ich alles stehen und rannte aus Kontakt zu Klaus Ott von der Süddeutschen wortlich? dem Supermarkt, um besseren Empfang zu haben. Immer ant- Zeitung zustande: eine „Die Kunst des Filmemachers ist die wortete ich, wenn ich die Num- besondere Hilfe. Ohne Kunst der Reduktion.“ Autor Jan Schmitt mer mit Schweizer Vorwahl ihn wäre der Film nicht und Cutterin Kirsten Becker Foto: WDR/Brill sah. In einem Punkt stimmten möglich gewesen. Er lud wir überein: Es war ein riesiges mich nach München ein und gewährte mir Die unangenehme Folge: Kaum einer Versagen der Politik. Wir verabredeten ein Einblick in seine Akten, meterweise Akten. wollte vor die Kamera. Keiner der Millio- Treffen in Zürich. Ende 2014 machte ich mich, gemein- näre, nicht die Banken, nicht die verant- sam mit Frank Konopatzki, an die Recher- wortlichen Minister Eichel, Steinmeier Treffen im Züricher Luxushotel che. Wir kontaktierten Anwälte, Staatsan- oder Schäuble. Wie aber einen Film machen waltschaften, Politiker. Wir sammelten. Es ohne Protagonisten? Und dann noch über Ich wartete in der Halle eines Luxus- gab Bankunterlagen, Mails, Zeugenaussa- eine Art von Geschäften, die kaum einer hotels, bestellte eine Tasse Kaffee mit Keks gen und sogar eine belegte Erpressungs- versteht? Komplizierter Börsenhandel, zwi- für zehn Franken. Berger kam, schwer geschichte. Und dann? Dann merkte ich schengeschaltete Broker, Banken, Berater, atmend, an seiner Hand baumelte ein riesi- zum ersten Mal, warum dieser Film kaum Finanzfirmen. Ein Geflecht, erdacht um ger Aktenkoffer. Ein mittelgroßer schwerer zu machen sein würde. Zwar reichte die zu verschleiern. Und immer die Frage: Wie Mann, der beim Gehen nach links und rechts Geschichte über zehn Jahre zurück, zehn werde ich das bloß den Zuschauern erklären schaukelte. Er guckte mich misstrauisch an. Jahre hatten sich gierige Millionäre und können? Nur die Akten gab es. Wie würde „Jeder hat mir von dem hier abgeraten“, sagte Banker offenbar ungeniert an Geld bedient, man diese Dokumente zum Sprechen brin- er. Schon bald holte er stapelweise Akten das eigentlich für Straßen, Schulen, Kin- gen? Ich dachte daran aufzugeben. Aber aus dem Koffer. Und dann erzählte und dergärten da sein sollte. Aber weil deutsche dann passierte etwas, das für den Film ein erzählte er. Und ich schrieb. 14 Seiten samt Politiker die Gesetzeslücke nicht geschlos- ungeheurer Glücksfall war. dreier Schaubilder zur Art und Weise der 14
Investigativer Journalismus Geld von Veronica Ferres und ihrem Mann Carsten Maschmeyer (l.) sowie von Erwin Müller, Inhaber der Drogeriekette Müller (u. l.) floss in Cum-Ex- Geschäfte – wie alle sagen, ohne ihr Wissen. Fotos: WDR/dpa/Boris Roessler; WDR/ddp Eric Sarasin hat 200 000 Euro für die Ein- stellung eines Steuerver- fahrens gegen ihn bezahlt. Foto: WDR/picture-alliance Geschäfte. Ich nickte viele Male. Er forschte zelnen uneingeschränkt ausbauen zu kön- kumenten sowie nachgestellten Szenen, die in meinem Gesicht, ob ich zu wenig, genug nen und der Staat nur als überflüssiges Übel Alejandro Cardenas-Amelio genial umsetzte, oder vielleicht zu viel verstand. Es war ein erscheint, dem man nur so viel vom Kuchen und Archivmaterial, das Nadia Ouled-Ali Spiel. Ich versuchte zu verstehen und mir abgeben sollte, wie unbedingt nötig. „Wirkli- mühsam ausgewertet hatte. Wie die für mich so wenig wie möglich davon anmerken zu che Steuergestaltung geht in Deutschland gar beste Cutterin Kirsten Becker die Bestand- lassen. Nach vier Stunden, drei Kaffees mit nicht mehr“, sagte er, „Deutschland ist, was teile des Puzzles am Ende zusammenfügte, Keksen, ein paar weiteren Skizzen und einem das angeht, längst verloren.“ Wie tröstlich das ist für mich immer noch ein Rätsel. Der Film gewachsenen Stapel aus Fachartikeln auf für mich klang, würde er wahrscheinlich nie entstand. Und dann ist es wie immer: Die meinem Schoß sagte er für den Film zu. verstehen können. Kunst des Filmemachens ist die Kunst der Später, als ich mich dann mit Berger Reduktion. im abgelegenen Engadin traf, zum längsten Das zentrale Interview Jan Schmitt (46) arbeitet vor allem für die Redaktion Interview, das ich je geführt habe – sieben »Monitor« und ist Autor zahlreicher Dokumenta- Stunden an zwei Tagen, und noch viele Stun- Für den Film war das Interview zentral. tionen und Reportagen, allen voran die »Die Story den Gespräche, als die Kamera nicht lief – Trotzdem blieb die Recherche die wohl im Ersten«, »die story« und »Menschen hautnah«. später also wurde mir klar, wie weit entfernt schwerste, die ich je hatte, bis zum Schluss. Der Journalist wurde 2013 für den Deutschen seine Welt von meiner war. Eine Welt, die Wir fanden viel heraus, viel mehr, als man Fernsehpreis nominiert und erhielt 2014 den Otto Brenner Preis für die Dokumentation „Steuerfrei – sich ums große Geld dreht, in der Freiheit erzählen kann. Geschichten aus Schriftstüc- wie Konzerne Europas Kassen plündern“. vor allem bedeutet, den Wohlstand des Ein- ken, Interviewsequenzen und Originaldo- 15
„Story und Recherche“ Die neue Hörfunkredaktion „Story und Recherche“ hat die Feuertaufe mit ihren Beiträgen über Nit- rat im Grundwasser bestanden. Das nächste Thema: der desolate Zustand unserer Schulen. 16
DAS NEUE TEAM Redaktionskonferenz (v. l.:) Philipp Ruhmhardt (Redakteur/Reporter), Olaf Biernat (freier Mitarbeiter), Helga Schmidt (Redaktionsleiterin), Denise Friese (freie Mitarbeiterin), Jürgen Döschner (Redakteur/ Reporter), Stephanie Feil (Sachbearbeiterin) und Andreas Braun (Redakteur/Reporter). Fotos: WDR/Dahmen 17
Investigativer Journalismus „Was nicht in den Tagesvorschauen der zur Düngung eingesetzt werden und das Münster und Düsseldorf, die den Ursachen in Nachrichtenagenturen steht, das kommt zu Grundwasser mit Nitrat belasten. Schmidt: der intensiven Landwirtschaft auf den Grund selten ins Programm“, sagt Helga Schmidt, „Ich hatte gehört, dass am Niederrhein Fami- gingen und die Folgen für die Menschen in der „wir wollen exklusive Geschichten recher- lien Post vom Kreisgesundheitsamt erhal- Region an konkreten Beispielen schilderten. chieren.“ Die stellvertretende Chefredakteu- ten, in der ihnen mitgeteilt wird, dass sie das rin des Hörfunks kann mit dem ersten Coup Wasser in ihren Brunnen besser nicht mehr Nächstes Thema: „Marode Schulen“ der neu gegründeten Redaktion „Story und Kindern und Säuglingen geben sollen. Wir Recherche“ zufrieden sein. Die Geschichte haben nachgeforscht und festgestellt, dass Für Februar lautet der Arbeitstitel über Nitrat im Grundwasser kam nicht nur es landesweit keine Liste, keine Aufstellung „Marode Schulen“. Philipp Ruhmhardt hat bei allen WDR-Wellen gut an. Das Thema über die Qualität des Trinkwassers gibt. Oder recherchiert, was der WDR schon dazu wurde auch häufig von anderen Medien wenn es eine gibt, ist sie nicht öffentlich.“ gesendet hat: „Es ist in aller Munde, aber aufgegriffen, lokalen und überregionalen. Eine WDR-Umfrage unter allen Kreisge- selten im Programm. Es gibt gelegentlich „WDR-Recherche: Versorger warnen wegen sundheitsämtern sorgte für Klarheit. Das einzelne Geschichten, aber kein Gesamt- Nitrat vor steigenden Wasserpreisen“, hieß Ergebnis: In einigen Kreisen liegt die Was- bild“, sagt der Wirtschaftsredakteur. Wieder es zum Beispiel im „Focus“. Selbst Fachma- serqualität in mehr als einem Fünftel der beginnt die Investigation mit der Erhebung gazine wie „Agrar heute“ bezogen sich von Daten, einer Umfrage bei Schuldi- auf die Beiträge des WDR. Redakti- onsleiterin Helga Schmidt freut sich: Häufig sind die Informa- rektoren. Döschner: „Bei der Frage, wie wir die Umfrage realisieren können, „Wir waren total überrascht, wie aus- führlich wir von den Zeitungen aufge- tionen gar nicht geheim, sind wir darauf gestoßen, dass wir die fähigen Kollegen hier im Haus haben. griffen und zitiert wurden, das hat es lang nicht gegeben.“ Und Redakteur sondern in dicken Akten Die Mediagroup, die solche Sachen mit Bezug auf die Hörerforschung macht, Jürgen Döschner ergänzt: „Bei reinen Radiogeschichten gibt es selten so viel versteckt. erledigt für uns die Erhebung und hat den Fragebogen mit ausgearbeitet. Reaktionen.“ Das hat uns wahnsinnig viel Arbeit Die neue Redaktion ist auf Umwegen Hausbrunnen deutlich über den Grenzwer- erspart.“ Den Verteiler allerdings mussten aus dem 2012 gegründeten bimedialen ten. Jürgen Döschner hat dann herausgefun- sich die Reporter mühsam zusammensu- „Investigativen Ressort“ hervorgegangen. den, dass die EU-Kommission ein Vertrags- chen, da die E-Mail-Adressen von Schulen „Wir mussten dem investigativen Journa- verletzungsverfahren plant, weil die Politik nicht einfach über deren Websites zugäng- lismus eine Heimat beim Hörfunk geben“, in Deutschland seit Jahren die Umsetzung lich sind. Investigativer Journalismus erfor- sagt Jürgen Döschner, „das Fernsehen hat der EU-Vorgaben verschleppt. Und Dösch- dert immer auch viel Fleiß. »Monitor« und »die Story«, aber sowas hat- ner fand auch heraus, dass die Wasserver- Aus den recherchierten Fakten zum ten wir hier beim Radio nicht.“ Döschner ist sorger mit Preiserhöhungen rechnen, weil Thema Nitrat generierte die fünfköpfige ARD-Energieexperte und hat viel Erfahrung die Aufbereitung des Grundwassers immer Redaktion vier bis fünf Nachrichten. mit investigativen Recherchen. Häufig sagt aufwändiger wird. Diese Tatsachen erhöhten „Nachrichten sind die Lokomotive für er, sind die Informationen gar nicht geheim, den Nachrichtenwert der Geschichte enorm. den Zug: Ohne Nachrichten kommen wir sondern nur unter „einem Haufen Müll ver- nicht in die Programme“, erklärt Helga borgen.“ Um beispielsweise herauszufinden, Wichtige Partner: Die NRW-Studios Schmidt. Die Bilanz kann sich sehen las- wieviel Geld für Atomkraftwerke ausgege- sen. Die Redaktion belieferte die Wellen ben wurde, die nie Strom geliefert haben, Die Redaktion schaut nicht so sehr mit insgesamt 20 Beiträgen, Interviews, fraß er sich durch enorme Aktenberge. auf Ereignisse, sondern eher auf Struktu- Kommentaren und Live-Gesprächen, dazu „Story und Recherche“ tauscht sich ren und will Themen aufgreifen, die die kamen Reportagen aus den NRW-Studios. ständig aus mit dem Rechercheverbund Hörerinnen und Hörer in der Nachbar- Schmidt: „Wir bereiten die Themen ziel- von WDR, NDR und Süddeutscher Zei- schaft besprechen: Lebensmittel, Umwelt, gruppengerecht so auf, wie die Wellen das tung. Die Verbindung hält vor allem Andreas Bildung, problematische Entwicklungen wünschen“. Auch die »Aktuelle Stunde« Braun, der in beiden Gruppen mitarbei- in der Gesellschaft. „Die Zeitungen haben im WDR Fernsehen griff das Thema auf. tet. Allerdings legt die Radioredaktion aufgrund des Wettbewerbsdrucks immer Und WDR.de übernahm die Online-Auf- ihren Schwerpunkt auf für NRW rele- weniger Möglichkeiten, in die Tiefe zu bereitung. Besonders erfolgreich bei den vante Themen. „Da müssen nicht immer gehen, Lokalredaktionen im Land werden Klickzahlen: eine interaktive Karte von Köpfe rollen, da muss nicht immer jemand geschlossen“, sagt Helga Schmidt, „umso NRW, die zu jedem Landkreis Daten liefert. zurücktreten“, sagt Schmidt, „wir wollen mehr müssen wir als Öffentlich-Rechtli- Die Geschichten über „Marode Schu- versuchen, Missstände aus dem ganz nor- che darauf achten, dass wir diesen Teil der len“ sollen wahrscheinlich nach Karneval malen Alltag ins Programm zu bringen.“ Wirklichkeit ins Programm bringen.“ auf die Sender gehen. So exakt ist das nicht Nitrat im Grundwasser beispielsweise: Dreh-und Angelpunkt ist dabei die enge planbar. Zum Redaktionsschluss von WDR Durch die Fleischmassenproduktion in Zusammenarbeit mit den NRW-Studios. Beim print waren die Recherchen noch nicht NRW entstehen große Mengen Gülle, die Thema Nitrat waren es Reporter aus Kleve, abgeschlossen. Christian Gottschalk 18
Investigativer Journalismus Eine Schule in Köln: Klassen in Kellerräumen, Decken ohne Verkleidung. Seit Jahrzehnten wird auch hier Flickschusterei betrieben. Ein Anstrich kann diese Der Spiegel in der Fensterrahmen wohl nicht Umkleide offenbart das mehr retten, und der Elend: Der Putz bröckelt Eingang wirkt alles andere überall, Wasserschäden als einladend. an der Decke. Reporter Philipp Ruhmhardt im Gespräch mit einer Schulleite- rin. Der WDR hat eine Umfrage bei Schulen in NRW über ihren Zustand in Auftrag gegeben. 19
Die WDR-Produktionen (v. l.) „Aufbruch“, Fortsetzung des rheinischen Romans von Ulla Hahn, „Junges Licht“ von Adolf Winkelmann und die regionale Komödie „Der letzte Cowboy“ Fotos: WDR/Kost/Weber NETFLIX? – TUT 20
UNS NIX! 21
Fernsehfilm Deutsche Fernsehserien sind schlecht, die ameri- kanischen sind die tollsten? WDR-Fernsehfilmchef Gebhard Henke entzaubert im Gespräch mit Maja Lendzian den im deutschen Feuilleton verklärten US- Serienmarkt, goutiert aber auch die positiven Aus- wirkungen der Debatte: „Wir haben uns wieder auf unsere große Tradition des epischen Fernseherzählens besonnen.“ WDR-Fernsehfilmchef Gebhard Henke ist u.a. ARD-Tatort-Koordinator und Mitglied der Gemein- schaftsredaktion ARD- Hauptabendserie. 2001 wurde er zum nebenbe- ruflichen Professor an der Kölner Kunsthochschule für Medien (KHM) berufen. Foto: WDR/Sachs 22
Fernsehfilm Der Sechsteiler „Die Stadt und die Macht“ tung in ihrer begeisterten Rezension von gibt natürlich viele US-Serien, die weder hat kürzlich in den Feuilletons für einigen „Die Stadt und die Macht“ die Koordinaten herausragend noch erfolgreich sind. Die Gesprächsstoff gesorgt: wegen der Koope- gerade rückte und deutsche Serien, noch bekommen wir aber gar nicht zu sehen. ration mit Netflix, wegen der Machart. Sie dazu ARD-Produktionen wie „Weißensee“ Die Verklärung der Sahnehäubchen zur haben die Serie nicht als Fernsehfilmchef und „Heimat“ anführte. Wie erklären Sie Normalität gibt ein verzerrtes Bild wider. des WDR betreut, sondern in Ihrer Eigen- das Phänomen? Die Debatte hat aber auch ein Gutes: schaft als einer der vier Executive-Pro- Mich freut vor allen Dingen, dass wir Wir haben uns wieder auf unsere große ducer der ARD-Gemeinschaftsredaktion uns nicht rechtfertigen, weil wir dann Tradition des epischen Fernseherzäh- Hauptabendserien. Warum sind Sie mit immer als beleidigte Leberwürste gelten, lens besonnen. Wir tun das nicht mit der der Produktionsfirma Studio Hamburg ins sondern dass es die Autorin Evelyn Roll Absicht, angelsächsische Serien zu kopie- Geschäft gekommen? in der Süddeutschen schreibt. Wenn man ren. Das kann man sowieso nicht machen, Mich hat die Geschichte sofort elek- jede Woche einen Artikel mit dem Tenor und das wäre auch deprimierend. Wir müs- trisiert. Die fiktive Umsetzung politischer liest: „Die deutschen Serien sind schlecht, sen mit unseren erzählerischen Traditionen Stoffe in Deutschland ist ja gepflastert mit die amerikanischen sind die tollsten“, dann und Möglichkeiten seriell erzählen. Das Niederlagen – man denke nur an „Das frisst sich das offenbar bei den Leuten fest Verrückte ist ja, dass uns Feuilletonisten Kanzleramt“ vom ZDF. Es ist nahezu eine und es wird vor allem so getan, als würde vorhalten, wir könnten nicht horizontal an die Existenz gehende Frage, warum erzählen, also eine Geschichte über meh- das in Deutschland nicht funktioniert im rere Folgen hinweg. Die haben vergessen, Gegensatz zu anderen Ländern, denken Sie dass wir gerade in den 1970er- und 80er- an das viel zitierte „Borgen“ in Dänemark Jahren horizontal erzählte Serien gemacht oder „House of Cards“. Diese Herausfor- haben, auf die auch Frau Roll anspielt: zwei derung, eine Serie zu machen, die im Hier Staffeln „Rote Erde“, „Das Boot“, „Berlin und Jetzt spielt über eine Frau, die in die Alexanderplatz“. Wir im WDR haben eine Situation gerät, als Regierende Bürger- große Tradition, und es waren doch gerade meisterin für Berlin zu kandidieren, hat die Amerikaner, die zu den deutschen Kol- mich gereizt. Außerdem war von Anfang legen kamen und sagten: „Ihr seid plem- an klar, dass Friedemann Fromm, mit dem plem, wer erzählt denn horizontale Serien, wir „Weissensee“ und viele andere Filme die guckt doch keiner auf Strecke, ihr müsst gemacht haben, Regie führen würde. Leider episodisch erzählen, damit die Leute, die ist das große Publikum hier ferngeblieben. nur mal eine Folge sehen wollen, auch dran- bleiben können.“ So ist es durch US-Einfluss Was sind Ihre Gründe, mit einem über- überhaupt entstanden, dass wir mittler- mächtig erscheinenden Konkurrenten weile im deutschen Fernsehen überwiegend gemeinsame Sache zu machen? Bei Net- episodisch erzählen. flix, der weltweit agierenden Produktions- firma und kostenpflichtigen Abspielstation, Oder gibt es so wenige gute Serien, weil sich ist „Die Stadt und die Macht“ jetzt nach der die deutschen Topregisseure lieber aufs TV-Ausstrahlung in der ARD zu sehen. Kino gestürzt haben und erst nach Produk- Der Produzent hat selbst Geld in die tionen wie „Homeland“ wieder Interesse an „Reizvoller Stoff“: „Die Stadt und die Macht“ mit Serie investiert und dafür Rechte bekom- Anna Loos Foto: ARD/ Batier/Montage TV-Mehrteilern entdeckten? men. Über den Deal mit Netflix kann er So erfolgreich ist das deutsche Kino sich refinanzieren. Ich halte das im Prinzip leider nicht gerade. Es muss doch mal nicht für schädlich, dass man die Serie im ganz Deutschland diese Serien sehen. Das gesagt werden, dass die kulturelle Wert- Nachhinein auf Netflix sehen kann. Viele ist schon schräg. Meine Studenten glauben schätzung des Kinos im Gegensatz zum unserer öffentlich-rechtlichen Programme zum Beispiel auch, dass ganz Deutschland Fernsehfilm eine ideologisch belastete sind mittlerweile auf Netflix zu sehen, auch diese Serien auf Englisch sieht. Ihnen ist Wahrnehmung ist. Das möchten einige so, bei der Serie „Babylon Berlin“ wird die ARD nicht klar, dass es gar nicht so viele Deut- das ist aber eine pure Behauptung. „Kino ist durch eine Zusammenarbeit mit Sky neue sche gibt, die so gut Englisch können, um das Größte, Fernsehen ist ugly“ – bei den Wege beschreiten. das auch zu genießen. Jüngeren ist diese Sichtweise dagegen über- haupt nicht mehr so ausgeprägt. Deshalb Netflix & Co: Wenn man die Zeitungen Selbst in den USA sind diese hochgelobten bin ich auch dankbar, dass die Wertschät- liest, gewinnt man den Eindruck, dass nur Serien kein Massenprogramm. zung dieses Fernseherzählens durch die noch aus den USA gute Stoffe wie „House Ja, einige unterstellen, ganz Ame- HBO- und britischen Serien dazu geführt of Cards“, „Homeland“ und „Breaking Bad“ rika würde HBO-Serien sehen. Das ist ein hat, dass die Feuilletonisten, die gebore- kommen. Da ist es schon verblüffend, dass Kabelsender, den eine gebildete Minder- nen Fernseh-Hasser, Serie auf einmal total eine Journalistin in der Süddeutschen Zei- heit abonniert. Das ARTE der USA. Und es klasse finden. ➔ 23
Fernsehfilm Anna Stieblich und Hilmi Sözer in „Der Hodscha und die Piepen- kötter“, am 17. Februar um 20.15 Uhr im Ersten Foto: WDR/Menke Es hat aber auch dazu geführt dass, eine investieren. Wie hoch ist dagegen der Fern- bestimmte Klientel, und dazu zähle ich auch sehfilm-Etat des WDR? meine Studenten, TV auf einmal sexy fin- Wenn wir auf das Fernseh-Kernge- det, wenn Tom Tykwer jetzt Fernsehserien schäft schauen, sind das rund 20 Millionen wie „Babylon Berlin“ mit uns macht. Oder Euro. Damit produzieren wir sieben Tatorte nehmen Sie „Deutschland 83“, oder „Club und etwa sieben Fernsehfilme pro Jahr. der roten Bänder“. So schnell 1,4 Millionen Euro für einen Tatort mit fast tritt eine andere Wertschätzung 14 Millionen Zuschauern, das glaubt Ihnen „In den USA gibt es aufgrund der Autorisierung ja kein Amerikaner, wenn er diese beiden durch bestimmte Künstler auf. Zahlen hört. Und die Amerikaner haben kein anspruchsvolles Übrigens war das in Amerika großen Respekt! Es gibt in den USA kein immer anders. Dort gibt es kein Programm, das so viele Menschen sehen, Fernsehspiel oder anspruchsvolles Fernsehspiel oder der Markt dort ist viel diversifizierter. TV-Movie. Dort floss und fließt die Netflix würde sicherlich erfolgreich TV-Movie.“ künstlerische Energie in den Kino- sein, wenn sie genuin für den deutschen film und in die Fernsehserie. Markt produzierten. Solange sie das nicht Wir fragen uns natürlich: tun, und das werden sie nicht, weil sie sich Wie sollen wir den neuen Serien-Boom auf dem kleinen deutschen Markt nicht bei gleichbleibendem Beitragsaufkommen werden refinanzieren können, kann ich sie finanzieren? Wir sind schon froh, wenn als Konkurrenz nur begrenzt wahrnehmen. wir ein- bis zweimal im Jahr eine Event- Serie wie „Die Stadt und die Macht“ oder Kommen wir zum WDR. Wie muss sich der „Weißensee“ mit Mitteln der ARD und der Zuschauer das vorstellen? Komponieren Degeto stemmen können. Sie ein TV-Jahr regelrecht: Wir haben jetzt vier Spritzer Krimi, uns fehlt noch was fürs Wie zu lesen war, will Netflix dieses Jahr Herz, ein Problemstoff, was aktuell Gesell- sechs Milliarden Dollar in Serien und Filme schaftskritisches, was Experimentelles, 24
Fernsehfilm Die regionale Serie „Phoenix- see“ lässt in Dortmund zwei soziale Milieus aufeinander- treffen. Im Bild das Ehepaar Hansmann, dargestellt von Stephan Kampwirth und Nike Fuhrmann. Foto: WDR/Dicks was für den Massengeschmack, was für das Was verspricht man sich in der ARD davon, Renommee und für die Berlinale? wenn jeder der drei Teile von einer anderen Ja. Wenn meine Stellvertreterin Anstalt produziert wird? Barbara Buhl und ich den Spielplan machen, Das ist eine ganz große Leistung und dann gehen wir genauso vor, wie Sie es Anstrengung verschiedener ARD-Redakti- beschrieben haben. Ein großer Sender muss onen und der Degeto. Drei Sender, drei auto- nach den beschriebenen Kriterien auf eine nome Filme – das hat inhalt- intelligente Mischung achten. Wir sind liche, aber auch finanzielle stolz darauf, dass wir mit unserer Kompo- Gründe. Jeder der Partner „Solange Netflix nicht sition alle Genres bedienen und nicht, wie bringt einen vollen Fern- das ZDF, überwiegend Krimi produzieren. sehfilm-Etat ein, die Degeto genuin für den deutschen gibt noch einmal viel Geld Im Februar läuft „Der Hodscha und die dazu, weil die Produktionen Markt produziert, kann Piepenkötter“. Was hat Sie an diesem Stoff sehr aufwändig sind. Unser überzeugt? Beitrag zeigt die Opfer. Der ich sie als Konkurrenz Das ist eine Provinz-Culture-Clash- SWR hat den Part, in dem es Komödie at its best: deftig mit Lokalkolorit. um die Herkunft, die Sozia- nur begrenzt wahrnehmen.“ Die Kontrahenten: eine Bürgermeisterin lisierung der Täter geht, der und ein Hodscha, die sich beide aber auch dritte Teil vom BR zeigt das mögen und respektieren. Das hat großes Versagen der Polizei, des BKA, des Staates. komisches Potenzial, und die beiden Ein authentisches Detail aus unse- Hauptdarsteller Anna Stieblich und Hilmi rem Film: Der Vater, ein türkischer Blu- Sözer sind großartig. menhändler, ist tot, die Mutter am Boden zerstört, die älteste Tochter hat nun die Die andere Seite der Medaille zeigt der Verantwortung, dann sagt die Polizei: Dreiteiler „Vergesst mich nicht“. Da wird „Übrigens: Das Opfer hatte ein Verhältnis das NSU-Drama fiktional aufgearbeitet. mit einer anderen Frau.“ ➔ 25
Fernsehfilm Die ARD beschäftigt sich in einem Dreiteiler mit den NSU- Morden, der WDR erzählt in dem Film „Vergesst mich nicht“ aus dem Blickwinkel der Opfer. Szene mit Orhan Kilic (Enver) und Uygar Tamer (Adile). Foto: WDR Die Mutter kommt in die Psychatrie, und kussion, die wir bei „Teufelsbraten“ über nach Jahren erzählt ein Polizist der Schwes- das Rheinische, unseren kölschen Sing- ter: Das mit der Geliebten, das sang hatten, wiederholt. stimmte gar nicht, das war eine „Eine Handvoll Leben“ ist ein Film Kommissarin Louise Bonì ermittlungstaktische Maßnahme. über Trisomie 28: Wir erleben den tragi- Die Messlatte für den zweiten Fall von Die Premiere des Films soll im schen Entscheidungsprozess einer Familie, Kommissarin Louise Bonì (Melika Foroutan) März im Kölner Schauspiel laufen, ob ein Kind ausgetragen werden soll, ob ist hoch gehängt: „Der beste Fernsehkrimi das am selben Tag noch einmal solch ein Leben lebenswert ist. Ein bewe- des Jahres“ titelte „Die Welt“, als im Februar „Die Lücke“ aufführt, ein Stück, gender und anrührender Film. 2015 der erste Fall nach dem Roman „Mord im das nach dem Bombenattentat in In diesem Jahr zeigen wir Dominik Zeichen des Zen“ von Oliver Bottini ausge- strahlt wurde. „Spiegel Online“ sah in Melika der Kölner Keupstraße entstand. Grafs ersten Teil der Reihe „Zielfahnder“. Foroutan schlicht „eine kleine Sensation“. In Da werden untergetauchte Verbrecher im ihrem zweiten Fall „Jäger in der Nacht“ geht Welche Höhepunkte prägen das Ausland aufspürt, mit Ronald Zehrfeld und es um die Entführung einer Studentin und Fersehfilmjahr des WDR 2016? Ulrike C. Tscharre. den Mord an einem Teenager, die zu einem Jan Schütte hat nach „Alters- Und dann haben wir nach „Meu- weiteren Verbrechen führen und Ermittlungen im engsten Kollegenkreis nach sich ziehen. glühen“ erneut ein Improvisati- chelbeck“ noch zwei regionale Serien im Drehbuchautorin Hannah Hollinger und onsstück gemacht. „Wellness für Portfolio, die auf dem neuen Montagssen- Regisseurin Brigitte Paare“ kommt im Herbst. Allein deplatz des WDR Fernsehens laufen wer- Maria Bertele erzählen wegen der Besetzung – Anke den: „Der letzte Cowboy“ und „Phoenix- auch den persönlichen Engelke, Bjarne Mädel und viele see“, eine horizontal erzählte Serie, die in Kampf der Kommissarin Foto: WDR/Assmann gegen ihre Dämonen andere tolle Schauspieler mehr – Dortmunds Arbeitermilieu spielt. und den Alkohol weiter. kann man sich darauf freuen. Sendetermin: 18. Februar Dann kommt der „Aufbruch“ Die Filme „Babai“ und „In geschlossenen um 20.15 Uhr im Ersten. von Hermine Huntgeburth, die Räumen“ mit Maria Furtwängler, die in die- EB großartige Fortsetzung des ‚rhei- sem Jahr Kinopremiere feiern, laufen im Feb- nischen Romans‘ von Ulla Hahn. ruar auf der Berlinale. Kommt Berlinale-Chef Ich bin gespannt, ob sich die Dis- Kosslick auf Sie zu und sagt „Lieber Gebhard, 26
Fernsehfilm Annette Frier und Christian Erdmann in dem Drama „Nur eine Handvoll Leben“. Foto: WDR ich habe gehört, ihr arbeitet an …? Könntet im Übrigen auch, wie sich ein Filmfest ihr die bei uns zeigen?“ verändert. Das passiert sogar, wenn er hört, dass wir mit renommierten Regisseuren Die WDR-Kino-Koproduktion „Victoria“ ist interessantes Fernsehen produzieren. nach ihrer Premiere auf der Berlinale 2015 Wir haben wieder einen Dokumentarfilm von Preisen überhäuft worden. Ein gemacht mit Dominik Graf: „Verfluchte gutes Beispiel, dass auch Deutsch- Liebe deutscher Film“, der im Forum lau- land mit innovativen Stilmitteln „Auch für die Berlinale fen wird. Als damals klar war, dass Graf – der Film ist ohne einen Schnitt die Serie „Im Angesicht des Verbrechens“ gedreht – Publikum und Kritik ist die Diskussion dreht, wussten wir auch sehr schnell, dass für seine Produktionen begeis- sie auf der Berlinale laufen sollte, dasselbe tert. Gab es Reaktionen aus dem über Serien so wichtig, gilt für „Dreileben“ von Petzold, Graf und Ausland? Hochhäusler. Auch in Amerika ist „Vic- dass sie ihnen schon toria“ wahrgenommen worden, Sie sind seit Mitte der 1970er regelmäßiger und in Deutschland ist es für 2015 einen Schwerpunkt Gast der Berlinale. Was meinen Sie, welche so einen kleinen und schmut- Themen werden in diesem Jahr die Gesprä- zigen Film außerordentlich gut widmeten.“ che der Fachbranche dominieren? gelaufen. „Victoria“ ist eine große Auch für die Berlinale ist die Dis- Erfolgsgeschichte, tragisch nur, kussion über Serien so wichtig , dass sie dass er nicht als bester ausländischer Film ihnen schon im vergangenen Jahr einen für den Oscar nominiert werden konnte, Schwerpunkt widmeten. „Deutschland weil er einen zu hohen Anteil an englischer 83“ und andere Serien sind 2015 auf der Sprache hatte. Berlinale gezeigt worden, und wir waren vor ein paar Jahren mit „Im Angesicht des Verbrechens“ vertreten. Das zeigt 27
Die Menschen aus der Kölner Keupstraße haben 2004 den NSU-Nagelbombenanschlag überlebt. Doch dann folgten sieben Jahre fehlgeleitete Er- mittlungen durch Polizei und Medien. Andreas Maus offen- bart mit seinem Film „Der Kuaför aus der Keupstraße“ DIE das Ausmaß dieser Tragödie. ZWEITE BOMBE Das Köln-Mülheimer Carlswerk, eine alte Fabrikhalle: Kioskbetreiber Mitat Özdemir zeichnet mit Kreide einen Lageplan des „Kuaför Yildirim“ und der angrenzenden Geschäfte in der Keupstraße auf den Boden. Eine künstliche Welt. Draußen vor der Tür liegt die echte Keupstraße. Foto: Karmen Franke 28
Dokumentation „Es gab zwei Bomben“, sagt Meral Sahin. Die Vorsit- dann schnell verpufft.“ Schließlich konnten die Filme- zende der Interessengemeinschaft Keupstraße sitzt in ihrem macher ihre Protagonisten davon überzeugen, dass sie Laden inmitten von bunten Deko-Artikeln. Die mit zehn sie wirklich ihre Geschichte erzählen lassen und nicht Zentimeter langen Nägeln gespickte Bombe deponierte der als Lieferanten kurzer O-Töne benutzen. sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) am Hauptdrehzeit war im Frühjahr und Sommer 2014, 9. Juni 2004 vor dem Friseursalon von Özcan und Hasan als sich wegen des zehnten Jahrestags des Anschlags die Yildirim. Und die andere, eigentlich größere Bombe, so mediale Aufmerksamkeit erneut auf die Keupstraße rich- Sahin, das sei der nicht funktionierende Rechtsstaat gewesen. tete. In München lief indes der noch immer andauernde In der türkisch geprägten Geschäftsstraße war der NSU-Prozess. Maus wollte eigentlich mit der Kamera die Rauch der Detonation kaum verflogen, da war für die Polizei Bewohner der Keupstraße zum Gericht begleiten. Doch die klar: Ein rechtsextremer Hintergrund ist auszuschließen, Verhandlung ihres Falls wurde immer wieder verschoben die Tat ist dem kriminellen Milieu zuzuordnen. Das sagte und fand schließlich erst 2015 statt, als der Film schon der Innenminister Otto Schily bereits am Tag nach dem fertig war. „Irgendwann war uns ohnehin klar geworden, Anschlag im Fernsehen, und so stand es in allen Zeitungen. dass wir diesen Exkurs nicht brauchen“, meint Maus. Der Bis die Wahrheit 2011 ans Licht kam, wurden die Opfer der Fokus von „Der Kuaför aus der Keupstraße“ sollte ja gerade Keupstraße wie Täter behandelt. Misstrauen, selbst in der nicht auf den Tätern liegen. eigenen Familie, stundenlange Verhöre, Bespitzelungen Klaus Steffenhagen, zur Zeit des Anschlags Polizei- und Verleumdungen gehörten zu ihrem Alltag. Die Brü- präsident in Köln, weist im Film jegliche Verantwortung der Yildirim gingen gerne mal in die Kneipe zum Karten von sich: Ihm seien keine Ermittlungsfehler bekannt. „Von spielen – Zocker also, die bestimmt Schulden haben. Im Seiten der Polizei kommen hie und da Äußerungen des Friseurladen ließen sich angeblich muskulöse Zunächst war es Männer rasieren – klarer Hinweis auf Kontakte schwierig, das zur Türsteher-Szene. Jedes Detail ihres Lebens Vertrauen der schien ein gegen sie sprechendes Indiz zu sein. Leute von der Andreas Maus recherchierte mit Maik Keupstraße Baumgärtner, Ko-Autor von „Der Kuaför aus zu gewinnen: Regisseur der Keupstraße“, zunächst für »Monitor« zum Andreas Maus (r.) Thema NSU. Dabei sammelten sie mehr Mate- und Kameramann rial über die Keupstraße als sie im Beitrag unter- Hajo Schomerus bringen konnten. Sie wollten diese unglaubli- Foto: WDR/Kost che Geschichte erzählen, „aber anders als das in einer klassischen Fernsehreportage möglich ist“, so Maus. „Als er mir seine Idee vorstellte, fand ich seinen Hintergrund sehr überzeugend“, erinnert Bedauerns“, sagt Maus, „aber konkrete Aussagen dazu, sich Jutta Krug, die Leiterin der Dokumentarfilm-Redaktion warum die Ermittlungen so gelaufen sind, waren nieman- des WDR. Maus habe zum einen Theatererfahrung, zum dem zu entlocken.“ Bis heute warten die Opfer vergeblich anderen auch investigative Kompetenz – beste Vorausset- auf eine Entschuldigung. Für das Leid, das ihnen zugefügt zungen für die dokumentarische Mischform des Films. wurde – zusätzlich zu den körperlichen und seelischen Wunden, die die Nagelbombe hinterließ – wird wohl nie- Reale Welt contra Welt der Unterstellungen mand jemals zur Rechenschaft gezogen. „Dafür müsste man schon nachweisen können, dass jemand bewusst die In einer Fabrikhalle ließ Maus die Keupstraße mit eini- Ermittlungen manipuliert hat“, meint Maus. Allein für gen wenigen Requisiten – hier ein Friseurstuhl, dort ein menschliches Versagen könne niemand belangt werden. Kaffeehaustisch – als stilisiertes Bühnenbild nachbauen. Und so müssen die Ermittler von damals auch diese Frage In dieser Kulisse tragen Schauspieler Texte aus den Verhör- allein mit ihrem Gewissen ausmachen: Hätten vier weitere protokollen und Akten des NSU-Untersuchungsausschus- Morde, die der NSU nach dem Anschlag in der Keupstraße ses vor. „Es gibt eine dokumentarische Ebene, die tatsäch- beging, verhindert werden können? Christine Schilha lich in der Keupstraße spielt. Dieser realen Welt haben wir die künstliche Welt der Spekulationen und Unterstellungen „Der Kuaför aus der Keupstraße“ von damals gegenübergestellt“, erklärt der Regisseur. zu sehen beim Dokumentarfilmfest Zunächst sei es schwierig gewesen, das Vertrauen „Stranger than Fiction“ der Leute von der Keupstraße zu gewinnen. „Nach dem DI / 2. Februar / 20:00 / Rio Filmtheater Mülheim Auffliegen des NSU war das Interesse von Seiten der SO / 7. Februar / 12:00 / Metropol Düsseldorf Medien und Politik groß“, sagt Maus, „die haben sich jeweils in Anwesenheit des Regisseurs Andreas Maus dort die Klinke in die Hand gegeben und Hoffnung auf Aufklärung und Gerechtigkeit geweckt. Die ist aber Kinostart: 25. Februar 29
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