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Februar 2016

      DAS MAGAZIN DES WDR

                                             WIE DIE
                                           MUSIK INS
                                             RADIO
                                            KOMMT

                            Preise: Doping-Aufdecker Hajo Seppelt räumt ab
                            Skandale: Eine »Story« über die Tricks der Reichen
                            Comedy: Der 1LIVE Babo-Bus als Comic im Netz
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HELAU
                                                                                                                            Foto: WDR/Sachs

    Ein herrrrlisches Bild! Der eigentlich seriöse Sven Lorig (mit Hut) und Altstadt-Gastronomin Schrägstrich Ex-Venetia
    des Prinzenpaars, Barbara Oxenfort (mit Schnabel), werden den Düsseldorfer Karnevalszug moderieren. Simon Beeck
    (mit Federschmuck) fungiert als Außenreporter, sein berühmtes Miley-Cyrus-Kostüm ist zu luftig für den Auftrag. Der
    närrische Höhepunkt in Lorigs Vita war bislang „Sitzungspräsident im Pfarrkarneval“, jetzt kommt die Königsdisziplin:
    75 Wagen und 70 Fußgruppen mit Expertin Oxenfort kenntnisreich im heiteren Plaudermodus kommentieren.

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WDR-Welten

                                                                                                                                         AUA
Foto: picture-alliance/AP Photo

                                  Das Haar ist echt. Nur Jimmy Fallon darf Hillary Clinton an den Haaren ziehen. Denn 1. ist er der erfolgreichste Late-Talker
                                  der USA und 2. kann man dabei Witze über Donald Trumps Frisur machen. Die Stars geben sich im New Yorker Rockefeller
                                  Center die Klinke in die Hand, wenn »The Tonight Show Starring Jimmy Fallon« produziert wird. Ein sympathischer
                                  Gastgeber, echter Qualitätshumor und sehr gute Einfälle („The Evolution of Dad Dancing“) machen die Show zu einem
                                  Highlight. Einsfestival zeigt montags bis freitags um 23.05 Uhr die jeweils aktuellste Folge im Original mit Untertiteln.

                                                                                                                                                                 3
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WDR-Welten

JUCHHU
    Deutscher Fernsehpreis. Sechs Preise in fünf Kategorien: Nicht übel, WDR. Alle nominierten Beiträge in der Kategorie
    „Bester Sportjournalismus“ kamen vom Westdeutschen Rundfunk. Ausgezeichnet wurden schließlich die Dokumentationen
    „Geheimsache Doping – Im Schattenreich der Leichtathletik“ und „Geheimsache Doping – Wie Russland seine Sieger macht“
    von Hajo Seppelt. Die Trophäe als „Beste Schauspielerin“ erhielt Ina Weisse unter anderem für ihre Hauptrolle in „Ich will
    dich“, in der Kategorie „Schnitt“ räumte „Altersglühen – Speed Dating für Senioren“ ab, als bester Fernsehfilm“ gewann

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Foto: WDR/Sachs

die gleich fünf Mal nominierte WDR-Koproduktion „Nackt unter Wölfen“, und „Menschen bei Maischberger“ (Redaktion
WDR) wurde zur besten Talk-Sendung gekürt. Von links: Manfred Pelz (Kamera „Geheimsache Doping“), Matthias Wolf
(Autor, nominiert für »sport inside«), Reiner Lefeber (Redaktion »sport inside«), Grit Hartmann (Autorin »sport inside«),
Hajo Seppelt, Robert Kempe (Autor »sport inside«) WDR-TV-Sportchef Steffen Simon (Redaktionsleitung »sport inside«),
Jochen Leufgens (Redaktion »sport inside«), Uli Loke (Redaktion »sport inside«) und Fred Kowasch (Autor »sport inside«).

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DADA
                                                                                                                             Foto: WDR/Falke
                                                                                                                            Foto: Mauritius

    Im Bild: Die Eröffnung der „Ersten Internationalen Dada-Messe“ 1920 in Berlin durch Raoul Hausmann, Dr. Otto
    Burchard, Johannes Baader, Wieland und Margarete Herzfelde. Aber bereits am 5. Februar 1916 erlebt DADA im „Cabaret
    Voltaire“ in Zürich seine Geburtsstunde. „Zusammen lassen sich die sieben Dada-Begründer jeden Abend bis zum Irrsinn,
    bis zur Bewusstlosigkeit gehen, um Dada gebären zu können“, beschreibt das Cabaret den Gründungsmythos. Zum 100-jäh-
    rigen Jubiläum widmet WDR 3 den Punk-Vorläufern das Feature: „Bevor DADA da war, war DADA da“. 6. Februar, 12.05 Uhr.

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Inhalt

Editorial
                                                                                                                                  Titel
                                                                                                                             30   Von Klassik bis Global Pop: Die Musikchefs
                                                                                                                                  der WDR-Radioprogramme berichten, wie
                                                                                                                                  die Musik ins Radio kommt
                                                                                                                             36   Christian Gottschalk besuchte

                                   Foto: WDR/Fußwinkel
                                                                                                                                  »WDR 3 Klassik Klub«-DJ Sebastian Blume
                                                                                                                                  in seinem Studio
                                                                                                                                  Investigativer Journalismus
                                                                                                                             8    Hajo Seppelts Filme über systematisches
                                                                                                                                  Doping haben die Welt der Leichtathletik
                                                                                                                                  aus den Angeln gehoben. Ein Interview
                                                                                                                                  anlässlich seiner Auszeichnung mit dem
                                                                                                                                  Deutschen Fernsehpreis
                                                                                                                             12   Milliarden für Millionäre: Jan Schmitts
Liebe Leserinnen und Leser,                                                                                                       Wirtschaftskrimi für die »Story im Ersten«
                                                                                                                             16   Die neue Hörfunkredaktion „Story und
einen Tag vor Drucklegung dieser Ausgabe geht                                                                                     Recherche“ konzentriert sich auf exklusive
der WDR mit der Meldung an die Öffentlich-                                                                                        Geschichten aus Nordrhein-Westfalen
keit, dass die Schweizer Bundesanwaltschaft                                                               Foto: WDR/Knabe
                                                                                                                                  Fernsehfilm
„verdächtige Vorgänge“ mit Blick auf die Fuß-
ball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland                             Warum sich Kebekus                                    20   Anlässlich des Starts ins WDR-TV-Film-
                                                                                                                                  Jahr 2016 ein Interview mit Fernsehfilmchef
entdeckt hat. Einmal mehr konnte das WDR-
Magazin »sport inside« mit seinen Recherchen                           die Kugel gibt                                             Gebhard Henke über Netflix, HBO & Co.
                                                                                                                                  und das Bashing deutscher Fernsehserien
Hintergründe ausleuchten, diesmal der Aufklä-
rung des FIFA-Skandals ein weiteres Puzzle-                            40 Carolin Kebekus nimmt ein                               Dokumentation
Stück hinzufügen.
                                                                       Vollbad in Mett und gibt sich an-                     28   „Der Kuaför aus der Keupstraße“:
Warum so viele Sportskandale vom WDR                                                                                              Ein Film über die NSU-Opfer und die Rolle
aufgedeckt werden können, das lesen Sie in                             schließend die Kugel. Die neuen                            von Staat, Polizei und Medien
diesem Heft. ARD-Reporter Hajo Seppelt, der                            Folgen der Sendung mit dem lan-                            Comedy
gerade mit dem Deutschen Fernsehpreis für                              gen Namen starten im Februar: »Die                    40   »Die unwahrscheinlichen Ereignisse im
seine Reportagen „Geheimsache Doping“ aus-
                                                                       unwahrscheinlichen Erlebnisse im                           Leben von ...«: In den neuen Folgen
gezeichnet wurde, berichtet, wie der WDR den                                                                                      nehmen sich Comedians und Entertainer
kritischen Sportjournalismus zu einer ARD-                             Leben von ...«                                             selbst auf die Schippe
Domäne machte.                                                                                                               42   Ein Bus, vier Rapper: Die Radio-Comedy
                                                                                                                                  1LIVE Babo-Bus gibt‘s jetzt als Videoserie
Ich wünsche Ihnen eine
                                                                                                                                  Hörspiel
spannende Lektüre!
Maja Lendzian                                                                                                                44   Der WDR hat aus den österreichischen
                                                                                                                                  Kultkrimis von Rainer Nikowitz über den
                                                                                                                                  „erfolgreichen Nichtstuer und Kiffer“
                                                                                                                                  Suchanek Hörspiele gemacht
                                                                                                                                  Panorama
                                                                                                                             46   Das traditionsreiche Kölner Filmhaus wird
                                                                                                                                  für die Zukunft gerüstet / WDR informiert
                                                                                                                                  Flüchtlinge in vier Sprachen
                                                                                                                                  Glosse
                                                                                                                             47   Hauche zärtlich „Horst“: Christian
                                                         Christopher Schärf (M.) spricht Suchanek, Branko Samarovski              Gottschalk macht sich Gedanken
                                                         (r.) spielt Stratzner und Valentin Schreyer (l.) spielt die Rolle        über die Namensgebung medialer Helden
HÖRSPIEL                                                 des Poldi Gärtner                               Foto: WDR/Anneck
                                                                                                                                  Berufsbilder

Kult aus dem Nachbarland                                                                                                     48   Einer von uns: 1. Kameramann Gregor Gäb
                                                                                                                                  Im Gespräch
                44 Stilechter geht‘s nicht: Mit einem ausnahmslos österreichischen                                           50   Auf einen Kaffee mit Radiomoderator
                Team, allen voran Burgschauspieler Peter Simonischek, hat der WDR                                                 Andreas Lange
                Suchanek-Krimis von Rainer Nikowitz fürs Hörspiel adaptiert.                                                 51   Service / Impressum

                                                                                                                                                                           7
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Investigativer Journalismus

   „In der                             Der ARD-Reporter Hajo Seppelt (52)
                                       erregte mit seinen Enthüllungen

     ARD                               um systematisches Doping im
                                       russischen und kenianischen

   bremst
                                       Spitzensport internationales
                                       Aufsehen, der Weltverband der
                                       Leichtathletik schloss Russland

     mich                              von allen internationalen Wett-
                                       bewerben aus. Um die Jahres-

niemand“                               wende wurde Seppelts Arbeit
                                       mehrfach ausgezeichnet.
                                            Für die einen ist Hajo Seppelt ein Held, für die anderen ein
                                       Spielverderber. Seine Reportagen „Geheimsache Doping. Im Schat-
                                       tenreich der Leichtathletik“ und „Geheimsache Doping – Wie
                                       Russland seine Sieger macht“ strahlten zahlreiche Fernsehsender
                                       weltweit aus. Der Weltverband der Leichtathletik (IAAF) sah sich
                                       schließlich angesichts der darin vorgelegten Beweise gezwungen,
                                       Russland auf unbestimmte Zeit von allen internationalen Wett-
                                       bewerben auszuschließen.
                                            „‚Geheimsache Doping‘ ist bester kritischer Sportjourna-
                                       lismus, abseits von Heldenstorys und Jubelberichten“, urteilte
                                       das „medium magazin“, nachdem es Seppelt zu Deutschlands
                                       „Sportjournalist des Jahres“ gekürt hatte. Der Weltverband der
                                       Sportjournalisten zeichnete Seppelt im Dezember in Abu Dhabi
                                       mit zwei „Sports Media Pearl Awards“ aus. Und am 13. Januar
                                       erhielt er schließlich in Düsseldorf den Deutschen Fernsehpreis
                                       für seine herausragende Arbeit. Nominiert waren außerdem die
                                       »sport inside«-Redaktion des WDR sowie die WDR/SWR-Doku-
     Screenshot aus dem Interview,     mentation „Der verkaufte Fußball“.
         das „BBC Newsnight“, das           WDR print-Autorin Christine Schilha traf den Berliner
            Nachrichtenflaggschiff     wenige Stunden vor der Preisverleihung auf dem Düsseldorfer
        des britischen Senders, mit
           Hajo Seppelt über seine     Flughafen. Zwischen telefonischen Interview-Anfragen, Termin-
         Doping-Recherchen führte      absprachen und „toi, toi, toi!“-Wünschen fand sie Gelegenheit zu
                           Foto: BBC   einem Gespräch mit dem gefragten Mann.                        ➔

                                                                                                      9
Herr Seppelt, es scheint, als seien Sie derzeit öfter der Interviewte      Perspektiven. Internationale Sportorganisationen halten in ihren
als der Interviewer. Wie fühlt sich das an?                                Sonntagsreden ständig die hehren Ideale des sauberen Sports hoch.
      Ein bisschen eigenartig ist das schon. So besonders ist das ja       Aber Leute, die dazu beitragen, ein korruptes System dieser Trag-
nicht, was ich tue. Ich bin nur der Einzige, der sich in diesem Maße und   weite aufzudecken, bekommen nicht einmal ein „Dankeschön“!
ausschließlich investigativ mit Doping beschäftigt. Ohne Whistle-          Das ist aus meiner Sicht schamlos.
blower wäre das zudem alles nicht möglich. Außerdem habe ich dem
WDR viel zu verdanken. Fritz Pleitgen und Steffen Simon ergriffen          Sie haben sich einen Ruf aufgebaut, Whistleblower aus aller Welt
2006 die Initiative und riefen eine Doping-Redaktion mit eigenem           vertrauen sich Ihnen an ...
Etat ins Leben, die heute von Welf Konieczny und Jochen Leufgens                Ja, da zahlt sich aus, dass ich mich schon fast zwanzig Jahre mit
betreut wird. Das ist weltweit einzigartig und gibt mir die Möglich-       dem Thema Doping beschäftige. Und seit der Russland-Geschichte
keit, frei, ergebnisoffen und ohne Druck zu recherchieren. Bei der         kommen immer mehr Leute auf mich zu. Es gibt halt nicht nur
Gelegenheit möchte ich mich auch mal ausdrücklich bei meinem               zwielichtige Funktionäre, sondern auch immer wieder aufrechte
langjährigen Weggefährten Uli Loke von »sport inside« bedanken.            Menschen, die um den Wert des Kulturguts Sport besorgt sind und
Und bei Kameramann Manfred Pelz, der bei allen Dokus seit 2007             glauben, dass sich Dinge über die Herstellung von Öffentlichkeit
dabei war, und der gerade in heiklen                                                                      ändern können. Dafür ist Russland
Situationen immer mitdenkt und rich-                                                                      jetzt der Lackmus-Test: Ich bin sehr
tig reagiert.                             „Eine Doping-Redaktion                                          neugierig, ob der internationale Druck,
                                                                                                          Russland nicht bei den Olympischen
Sie machen sich mit Ihren Enthül-         mit eigenem Etat:                                               Spielen antreten zu lassen, gegen den
lungen nicht nur Freunde. Brauchen                                                                        Druck Putins und aller, die mit ihm
Sie bald Bodyguards?                      weltweit einzigartig“                                           kungeln, ankommt.
      Das schönste Kompliment für
meine Arbeit kam von Zuschauern, die mir schrieben, dass sie               Hat Ihr Ruf Ihre Arbeit auch schwieriger gemacht?
dafür gerne Rundfunkbeitrag bezahlen. Aber tatsächlich betrach-                 Ja, inzwischen ist mein Gesicht bekannt. Aber ich muss ja
ten manche mich als Feind des Sports – also als den Überbringer            nicht alles alleine machen, über die Jahre ist ein Netz von Leuten
der schlechten Nachrichten – und nicht etwa die Verursacher. Eine          entstanden, mit denen ich sehr vertrauensvoll zusammenarbeite.
physische Bedrohung gab es bisher aber noch nicht. Ich habe auch
keine Angst. Trotz mancher heikler Recherchen ist mein Betäti-             Haben Sie erlebt, dass Sie irgendwo nicht mehr einreisen oder
gungsfeld ja der eng begrenzte Bereich des Sports. Der Vergleich mit       drehen durften?
Watergate, den der ehemalige Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur                  Nein. Allerdings reise ich momentan nicht nach Russland,
Richard Pound anlässlich unserer Russland-Recherchen gezogen               weil der Sportminister mir im vergangenen Frühjahr über die rus-
hat, ist übertrieben.                                                      sischen Medien signalisierte, dass er immer wisse, an welchem
                                                                           Fleck in Russland ich mich wann aufhalte. Ich habe keine Lust, vom
Ihre Informanten, das Ehepaar Stepanov, verließen Russland aus             Geheimdienst beschattet zu werden. Aber ich habe andere Mittel
Angst. Wie geht es ihnen jetzt?                                            und Wege mitzubekommen, was im russischen Sport vor sich geht.
     Für mich sind die beiden wahre Helden. Sie haben aus eige-
nem Antrieb gehandelt und sagen auch heute noch, dass sie nichts           Russische Medien und Sportfunktionäre warfen Ihnen Propa-
bereuen, außer, dass sie nicht noch mehr enthüllen konnten. Lei-           ganda vor. Hat sich daran etwas geändert?
der leben sie derzeit sehr isoliert und mit relativ wenig Geld und             Es gibt bis heute skurrile Verschwörungstheorien. So hieß es

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Foto: picture-alliance
im Staatsfernsehen, dass die ARD mit den Berichten über Doping in     kein Mensch, der sich für Sport stundenlang vor den Fernseher
Russland vom schwachen Olympia-Abschneiden deutscher Athle-           setzt. Aber ich bin Journalist mit Leib und Seele, und es fasziniert
ten 2014 in Sotschi ablenken wollte. Manche sagten gar, dass unsere   mich, hinter die Erfolge zu schauen. Ich will Transparenz herstellen,
Whistleblower westliche Agenten gewesen seien. Vor kurzem sollte      damit das Publikum das ganze Bild hat.
ich Gerichtskosten an ein Moskauer Gericht bezahlen. Das hatte
entschieden, dass unsere Anschuldigungen nicht beweisbar seien.       Aber Sie könnten ja auch sagen: Sollen die doch alle dopen, wenn
Das Beweismaterial hatten sie aber gar nicht geprüft, denn es lag     sie sich kaputt machen wollen.
allein der Welt-Anti-Doping-Agentur vor. Ich als Angeklagter erfuhr         Ich glaube nicht, dass Sportler sich kaputt machen wollen.
außerdem erst nach zwei Verhandlungstagen von dem Prozess. Das        Viele glauben nur allzu oft, es ginge nicht ohne Hilfsmittel. Dabei
ist alles sehr befremdlich.                                           bleiben immer Menschen auf der Strecke, ob durch Betrug oder
                                                                      Gesundheitsgefährdung. Mich ärgern Verantwortungslosigkeit,
Hat man denn schon mal versucht, Sie zu bestechen?                    Ungerechtigkeit und Heuchelei im Sportbusiness.
     Noch nie. Mir ist allerdings schon von Medien teilweise sehr
viel Geld für meine Informationen geboten worden. Aber Infor-         Und warum müssen Sie den Job der Anti-Doping-Agenturen
mationen, die ich bei meiner Arbeit                                                               machen?
als WDR-Reporter zutage gefördert                                                                       Die Selbstreinigungskräfte des
habe, gehören natürlich dem WDR.       Manche betrachten Hajo                                     Sports haben versagt. Der investiga-
                                                                                                  tive Journalismus hat tatsächlich in
Wie sind Sie eigentlich zum Ex-        Seppelt, den Überbringer                                   den letzten Jahren einen wichtigen
perten für Doping geworden?                                                                       Beitrag geleistet. Die Öffentlich-
      1997 habe ich mit Karin Helm-    der schlechten Nachrichten,                                Rechtlichen hierzulande haben
staedt für den SFB einen Film über                                                                zudem auch eine gesellschaftliche
Doping in der DDR gemacht, der sehr    als Feind des Sports.                                      Verpflichtung. In der ARD bremst
viel Aufsehen erregte. Es gab damals                                                              mich – trotz der Übertragungsrechte
in der ARD niemanden sonst, der sich mit dem Thema intensiver         für die Bundesliga und Olympia – niemand.
befasste, und so wurde ich in einer Radiosendung über die Rad-
sportskandale als „der ARD-Doping-Experte“ anmoderiert. So fing       Warum wird trotz aller Skandale immer weiter gedopt?
das an. Immer öfter wurde ich im Laufe der Jahre als Experte in            Doping wird es immer geben. Der einzige Weg, das Ausmaß
Sachen Doping herangezogen. Die Sportberichterstattung war indes      zu reduzieren, ist die Kontrolle von außen. Bei einer Firma machen
noch bis vor zehn Jahren eine vollkommen andere und stand wegen       die Steuerprüfung ja auch nicht die Unternehmensberater, sondern
zu viel Nähe zu Sportlern und Sponsoren in der Kritik. Ich wurde      das Finanzamt. Solange der Sport sich selbst kontrolliert und Ver-
zunächst ein wenig vorgeschoben, um zu zeigen: Wir können auch        bände ihre Autonomie missbrauchen, um Geschäfte im Dunkeln
anders. Mit der Doping-Redaktion im WDR wurde der kritische           zu treiben, wird sich nichts ändern.
Sportjournalismus dann zu einer ARD-Institution.

Warum ist Ihnen das Thema so wichtig?
                                                                      Die preisgekrönten Reportagen in der ARD-Mediathek:
     Ich war früher selbst Schwimmer und habe dann als Sport-
reporter Wettkämpfe kommentiert. Irgendwann habe ich gemerkt,         wdr.de/k/doping-schattenreich
dass das nicht meine Leidenschaft ist. Ich bin kein Sport-Fan, also   wdr.de/k/doping-sieger

                                                                                                                                         11
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MILLIARDEN
FÜR MILLIONÄRE –
 Der unverfilmbare Film
     Hat der Staat jahrelang unser
     Steuergeld an Millionäre ausgezahlt?
     Jan Schmitt ist mit der »Story im
     Ersten« einem Wirtschaftskrimi
     auf der Spur. In seinem WDR print-
     Bericht lässt er uns an dem
     schwierigen Prozess teilhaben,
     fast ohne Protagonisten einen
     Film zu machen. Denn kaum
     jemand wollte vor die Kamera.
                                            13
Investigativer Journalismus

Von Jan Schmitt                                sen hatten, ist bis heute nicht klar, was                    Hanno Berger ist Finanzberater. Einer
                                               davon illegal war und was nicht. So einfach           der besten Deutschlands sagen die einen, ein
     Ende 2012 recherchierte ich eine »Story   war die Sache mit der Schuld nicht.                   gerissener Hund die anderen. Hanno Berger
im Ersten« über die hemmungslose Steuer-                                                             war mal Steuerfahnder. Dann wechselte er
vermeidung großer Konzerne. Da stieß ich,      Die Rolle des Hanno Berger                            die Seiten und machte sein Knowhow zu
ganz nebenbei, auf Berichte über Geschäfte,                                                          Geld, beriet Banken und Millionäre, wie sie
bei denen Banken offenbar Superreichen               Jeder ging auf jeden los. Der Staat ver- Steuerschlupflöcher nutzen können. Bei den
geholfen haben, Milliarden von Steuergel-      folgte die Banker und Berater. Die konterten Cum-Ex-Geschäften fiel immer wieder sein
dern nicht nur zu sparen, sondern sogar        mit ihren Anwälten. Reiche Investoren ver- Name. Manche sagen, er sei ihr Spiritus Rec-
zu kassieren. Und das unter den Augen der      klagten wiederum die Banken, Professoren tor. Seit drei Jahren hatte er sich, verfolgt von
Politik. Konnte das stimmen? Zu unglaub-       stritten sich und beschuldigten sich gegen- deutschen Staatsanwälten, in die Schweiz
lich kam mir das vor. Die Artikel landeten     seitig, sich in den Dienst des Staates oder der zurückgezogen. Die Öffentlichkeit scheut er.
unter dicken Stößen Papier, andere Themen      Profiteure eingespannt zu haben. Zahlreiche Über eine Meldungsanzeige fand ich seine
drängten sich vor.                             Verfahren liefen und keiner wollte es gewesen Telefonnummer.
     Meine Redakteurin, Petra Nagel, blieb     sein. Zwölf Milliarden Steuergeld weg, aber                  Wochenlang hatte ich mich vor dem
am Thema dran. In der weiteren Bericht-        kein Schuldiger? Oder, wie bei Agatha Chris- Anruf gedrückt. Als ich mich schließlich
erstattung tauchten illustre Namen im          ties „Mord im Orientexpress“, alle schuldig überwand, antwortete, völlig unerwartet,
Zusammenhang mit den sogenannten               und damit am Ende keiner verantwortlich?              eine Stimme: „Berger?“ Über eine Stunde
Cum-Ex-Geschäften auf: Carsten                                                                                    lang erklärte ich ihm unser Film-
Maschmeyer, Veronica Ferres,
Drogerieketten-Müller, haufen-
                                    Zwölf Milliarden Steuergeld                                                   projekt. Am Ende sicherte er mir
                                                                                                                  zu, sich durch den Kopf gehen zu
weise Milliardäre. Geschichten
von Seilschaften, Freund- und
                                    weg, aber kein Schuldiger?                                                    lassen, ob er mitmachen würde.
                                                                                                                  Damit hatte ich nicht gerechnet.
Fei nd sc h a f ten , erbit ter ten
Kämpfen, dem Totalversagen
                                    Oder wie bei Agatha Christies                                                 Denn schließlich stand Berger
                                                                                                                  ja im Fadenkreuz deutscher
der Politik. Sie war überzeugt,
dass das ein Filmstoff
                                    „Mord im Orientexpress“, alle                                                 Ermittler.
                                                                                                                        In den Wochen danach rief
war und beriet sich mit
ihrem Kollegen Mar-
                                                  schuldig und                                                    er mich an, als ich im Urlaub
                                                                                                                  durch Belgrad lief, während
tin Suckow. Über die
Leiterin des Investiga-
                                                  damit am Ende                                                   Dreharbeiten in München, beim
                                                                                                                  Essen mit Freunden verließ ich
tiven Ressorts, Monika
Wa gener, k a m der
                                                  keiner verant-                                                  den Raum, beim Einkaufen ließ
                                                                                                                  ich alles stehen und rannte aus
Kontakt zu Klaus Ott
von der Süddeutschen
                                                  wortlich?                                                       dem Supermarkt, um besseren
                                                                                                                  Empfang zu haben. Immer ant-
Zeitung zustande: eine                                                „Die Kunst des Filmemachers ist die         wortete ich, wenn ich die Num-
besondere Hilfe. Ohne                                                 Kunst der Reduktion.“ Autor Jan Schmitt     mer mit Schweizer Vorwahl
ihn wäre der Film nicht                                               und Cutterin Kirsten Becker Foto: WDR/Brill sah. In einem Punkt stimmten
möglich gewesen. Er lud                                                                                           wir überein: Es war ein riesiges
mich nach München ein und gewährte mir               Die unangenehme Folge: Kaum einer Versagen der Politik. Wir verabredeten ein
Einblick in seine Akten, meterweise Akten.     wollte vor die Kamera. Keiner der Millio- Treffen in Zürich.
     Ende 2014 machte ich mich, gemein-        näre, nicht die Banken, nicht die verant-
sam mit Frank Konopatzki, an die Recher-       wortlichen Minister Eichel, Steinmeier Treffen im Züricher Luxushotel
che. Wir kontaktierten Anwälte, Staatsan-      oder Schäuble. Wie aber einen Film machen
waltschaften, Politiker. Wir sammelten. Es     ohne Protagonisten? Und dann noch über                       Ich wartete in der Halle eines Luxus-
gab Bankunterlagen, Mails, Zeugenaussa-        eine Art von Geschäften, die kaum einer hotels, bestellte eine Tasse Kaffee mit Keks
gen und sogar eine belegte Erpressungs-        versteht? Komplizierter Börsenhandel, zwi- für zehn Franken. Berger kam, schwer
geschichte. Und dann? Dann merkte ich          schengeschaltete Broker, Banken, Berater, atmend, an seiner Hand baumelte ein riesi-
zum ersten Mal, warum dieser Film kaum         Finanzfirmen. Ein Geflecht, erdacht um ger Aktenkoffer. Ein mittelgroßer schwerer
zu machen sein würde. Zwar reichte die         zu verschleiern. Und immer die Frage: Wie Mann, der beim Gehen nach links und rechts
Geschichte über zehn Jahre zurück, zehn        werde ich das bloß den Zuschauern erklären schaukelte. Er guckte mich misstrauisch an.
Jahre hatten sich gierige Millionäre und       können? Nur die Akten gab es. Wie würde „Jeder hat mir von dem hier abgeraten“, sagte
Banker offenbar ungeniert an Geld bedient,     man diese Dokumente zum Sprechen brin- er. Schon bald holte er stapelweise Akten
das eigentlich für Straßen, Schulen, Kin-      gen? Ich dachte daran aufzugeben. Aber aus dem Koffer. Und dann erzählte und
dergärten da sein sollte. Aber weil deutsche   dann passierte etwas, das für den Film ein erzählte er. Und ich schrieb. 14 Seiten samt
Politiker die Gesetzeslücke nicht geschlos-    ungeheurer Glücksfall war.                            dreier Schaubilder zur Art und Weise der

14
Investigativer Journalismus

                                                                                                                                 Geld von Veronica
                                                                                                                                 Ferres und ihrem
                                                                                                                                 Mann Carsten
                                                                                                                                 Maschmeyer (l.)
                                                                                                                                 sowie von Erwin
                                                                                                                                 Müller, Inhaber der
                                                                                                                                 Drogeriekette Müller
                                                                                                                                 (u. l.) floss in Cum-Ex-
                                                                                                                                 Geschäfte – wie alle
                                                                                                                                 sagen, ohne ihr Wissen.
                                                                                                                                 Fotos: WDR/dpa/Boris Roessler;
                                                                                                                                 WDR/ddp

                                                                                                  Eric Sarasin hat
                                                                                                  200 000 Euro für die Ein-
                                                                                                  stellung eines Steuerver-
                                                                                                  fahrens gegen ihn bezahlt.
                                                                                                  Foto: WDR/picture-alliance

Geschäfte. Ich nickte viele Male. Er forschte   zelnen uneingeschränkt ausbauen zu kön-           kumenten sowie nachgestellten Szenen, die
in meinem Gesicht, ob ich zu wenig, genug       nen und der Staat nur als überflüssiges Übel      Alejandro Cardenas-Amelio genial umsetzte,
oder vielleicht zu viel verstand. Es war ein    erscheint, dem man nur so viel vom Kuchen         und Archivmaterial, das Nadia Ouled-Ali
Spiel. Ich versuchte zu verstehen und mir       abgeben sollte, wie unbedingt nötig. „Wirkli-     mühsam ausgewertet hatte. Wie die für mich
so wenig wie möglich davon anmerken zu          che Steuergestaltung geht in Deutschland gar      beste Cutterin Kirsten Becker die Bestand-
lassen. Nach vier Stunden, drei Kaffees mit     nicht mehr“, sagte er, „Deutschland ist, was      teile des Puzzles am Ende zusammenfügte,
Keksen, ein paar weiteren Skizzen und einem     das angeht, längst verloren.“ Wie tröstlich das   ist für mich immer noch ein Rätsel. Der Film
gewachsenen Stapel aus Fachartikeln auf         für mich klang, würde er wahrscheinlich nie       entstand. Und dann ist es wie immer: Die
meinem Schoß sagte er für den Film zu.          verstehen können.                                 Kunst des Filmemachens ist die Kunst der
     Später, als ich mich dann mit Berger                                                         Reduktion.
im abgelegenen Engadin traf, zum längsten       Das zentrale Interview
                                                                                                   Jan Schmitt (46) arbeitet vor allem für die Redaktion
Interview, das ich je geführt habe – sieben                                                        »Monitor« und ist Autor zahlreicher Dokumenta-
Stunden an zwei Tagen, und noch viele Stun-          Für den Film war das Interview zentral.       tionen und Reportagen, allen voran die »Die Story
den Gespräche, als die Kamera nicht lief –      Trotzdem blieb die Recherche die wohl              im Ersten«, »die story« und »Menschen hautnah«.
später also wurde mir klar, wie weit entfernt   schwerste, die ich je hatte, bis zum Schluss.      Der Journalist wurde 2013 für den Deutschen
seine Welt von meiner war. Eine Welt, die       Wir fanden viel heraus, viel mehr, als man         Fernsehpreis nominiert und erhielt 2014 den Otto
                                                                                                   Brenner Preis für die Dokumentation „Steuerfrei –
sich ums große Geld dreht, in der Freiheit      erzählen kann. Geschichten aus Schriftstüc-        wie Konzerne Europas Kassen plündern“.
vor allem bedeutet, den Wohlstand des Ein-      ken, Interviewsequenzen und Originaldo-

                                                                                                                                                            15
„Story und Recherche“
Die neue Hörfunkredaktion „Story
und Recherche“ hat die Feuertaufe
mit ihren Beiträgen über Nit-
rat im Grundwasser bestanden.
Das nächste Thema: der desolate
Zustand unserer Schulen.

16
DAS NEUE TEAM

        Redaktionskonferenz (v. l.:) Philipp Ruhmhardt
        (Redakteur/Reporter), Olaf Biernat (freier Mitarbeiter),
        Helga Schmidt (Redaktionsleiterin), Denise Friese
        (freie Mitarbeiterin), Jürgen Döschner (Redakteur/
        Reporter), Stephanie Feil (Sachbearbeiterin) und
        Andreas Braun (Redakteur/Reporter). Fotos: WDR/Dahmen

                                                              17
Investigativer Journalismus

      „Was nicht in den Tagesvorschauen der    zur Düngung eingesetzt werden und das             Münster und Düsseldorf, die den Ursachen in
Nachrichtenagenturen steht, das kommt zu       Grundwasser mit Nitrat belasten. Schmidt:         der intensiven Landwirtschaft auf den Grund
selten ins Programm“, sagt Helga Schmidt,      „Ich hatte gehört, dass am Niederrhein Fami-      gingen und die Folgen für die Menschen in der
„wir wollen exklusive Geschichten recher-      lien Post vom Kreisgesundheitsamt erhal-          Region an konkreten Beispielen schilderten.
chieren.“ Die stellvertretende Chefredakteu-   ten, in der ihnen mitgeteilt wird, dass sie das
rin des Hörfunks kann mit dem ersten Coup      Wasser in ihren Brunnen besser nicht mehr         Nächstes Thema: „Marode Schulen“
der neu gegründeten Redaktion „Story und       Kindern und Säuglingen geben sollen. Wir
Recherche“ zufrieden sein. Die Geschichte      haben nachgeforscht und festgestellt, dass              Für Februar lautet der Arbeitstitel
über Nitrat im Grundwasser kam nicht nur       es landesweit keine Liste, keine Aufstellung      „Marode Schulen“. Philipp Ruhmhardt hat
bei allen WDR-Wellen gut an. Das Thema         über die Qualität des Trinkwassers gibt. Oder     recherchiert, was der WDR schon dazu
wurde auch häufig von anderen Medien           wenn es eine gibt, ist sie nicht öffentlich.“     gesendet hat: „Es ist in aller Munde, aber
aufgegriffen, lokalen und überregionalen.      Eine WDR-Umfrage unter allen Kreisge-             selten im Programm. Es gibt gelegentlich
„WDR-Recherche: Versorger warnen wegen         sundheitsämtern sorgte für Klarheit. Das          einzelne Geschichten, aber kein Gesamt-
Nitrat vor steigenden Wasserpreisen“, hieß     Ergebnis: In einigen Kreisen liegt die Was-       bild“, sagt der Wirtschaftsredakteur. Wieder
es zum Beispiel im „Focus“. Selbst Fachma-     serqualität in mehr als einem Fünftel der         beginnt die Investigation mit der Erhebung
gazine wie „Agrar heute“ bezogen sich                                                                  von Daten, einer Umfrage bei Schuldi-
auf die Beiträge des WDR. Redakti-
onsleiterin Helga Schmidt freut sich:
                                        Häufig sind die Informa-                                       rektoren. Döschner: „Bei der Frage, wie
                                                                                                       wir die Umfrage realisieren können,
„Wir waren total überrascht, wie aus-
führlich wir von den Zeitungen aufge-
                                        tionen gar nicht geheim,                                       sind wir darauf gestoßen, dass wir die
                                                                                                       fähigen Kollegen hier im Haus haben.
griffen und zitiert wurden, das hat es
lang nicht gegeben.“ Und Redakteur
                                        sondern in dicken Akten                                        Die Mediagroup, die solche Sachen mit
                                                                                                       Bezug auf die Hörerforschung macht,
Jürgen Döschner ergänzt: „Bei reinen
Radiogeschichten gibt es selten so viel
                                        versteckt.                                                     erledigt für uns die Erhebung und hat
                                                                                                       den Fragebogen mit ausgearbeitet.
Reaktionen.“                                                                                           Das hat uns wahnsinnig viel Arbeit
      Die neue Redaktion ist auf Umwegen       Hausbrunnen deutlich über den Grenzwer-           erspart.“ Den Verteiler allerdings mussten
aus dem 2012 gegründeten bimedialen            ten. Jürgen Döschner hat dann herausgefun-        sich die Reporter mühsam zusammensu-
„Investigativen Ressort“ hervorgegangen.       den, dass die EU-Kommission ein Vertrags-         chen, da die E-Mail-Adressen von Schulen
„Wir mussten dem investigativen Journa-        verletzungsverfahren plant, weil die Politik      nicht einfach über deren Websites zugäng-
lismus eine Heimat beim Hörfunk geben“,        in Deutschland seit Jahren die Umsetzung          lich sind. Investigativer Journalismus erfor-
sagt Jürgen Döschner, „das Fernsehen hat       der EU-Vorgaben verschleppt. Und Dösch-           dert immer auch viel Fleiß.
»Monitor« und »die Story«, aber sowas hat-     ner fand auch heraus, dass die Wasserver-               Aus den recherchierten Fakten zum
ten wir hier beim Radio nicht.“ Döschner ist   sorger mit Preiserhöhungen rechnen, weil          Thema Nitrat generierte die fünfköpfige
ARD-Energieexperte und hat viel Erfahrung      die Aufbereitung des Grundwassers immer           Redaktion vier bis fünf Nachrichten.
mit investigativen Recherchen. Häufig sagt     aufwändiger wird. Diese Tatsachen erhöhten        „Nachrichten sind die Lokomotive für
er, sind die Informationen gar nicht geheim,   den Nachrichtenwert der Geschichte enorm.         den Zug: Ohne Nachrichten kommen wir
sondern nur unter „einem Haufen Müll ver-                                                        nicht in die Programme“, erklärt Helga
borgen.“ Um beispielsweise herauszufinden,     Wichtige Partner: Die NRW-Studios                 Schmidt. Die Bilanz kann sich sehen las-
wieviel Geld für Atomkraftwerke ausgege-                                                         sen. Die Redaktion belieferte die Wellen
ben wurde, die nie Strom geliefert haben,           Die Redaktion schaut nicht so sehr           mit insgesamt 20 Beiträgen, Interviews,
fraß er sich durch enorme Aktenberge.          auf Ereignisse, sondern eher auf Struktu-         Kommentaren und Live-Gesprächen, dazu
      „Story und Recherche“ tauscht sich       ren und will Themen aufgreifen, die die           kamen Reportagen aus den NRW-Studios.
ständig aus mit dem Rechercheverbund           Hörerinnen und Hörer in der Nachbar-              Schmidt: „Wir bereiten die Themen ziel-
von WDR, NDR und Süddeutscher Zei-             schaft besprechen: Lebensmittel, Umwelt,          gruppengerecht so auf, wie die Wellen das
tung. Die Verbindung hält vor allem Andreas    Bildung, problematische Entwicklungen             wünschen“. Auch die »Aktuelle Stunde«
Braun, der in beiden Gruppen mitarbei-         in der Gesellschaft. „Die Zeitungen haben         im WDR Fernsehen griff das Thema auf.
tet. Allerdings legt die Radioredaktion        aufgrund des Wettbewerbsdrucks immer              Und WDR.de übernahm die Online-Auf-
ihren Schwerpunkt auf für NRW rele-            weniger Möglichkeiten, in die Tiefe zu            bereitung. Besonders erfolgreich bei den
vante Themen. „Da müssen nicht immer           gehen, Lokalredaktionen im Land werden            Klickzahlen: eine interaktive Karte von
Köpfe rollen, da muss nicht immer jemand       geschlossen“, sagt Helga Schmidt, „umso           NRW, die zu jedem Landkreis Daten liefert.
zurücktreten“, sagt Schmidt, „wir wollen       mehr müssen wir als Öffentlich-Rechtli-                 Die Geschichten über „Marode Schu-
versuchen, Missstände aus dem ganz nor-        che darauf achten, dass wir diesen Teil der       len“ sollen wahrscheinlich nach Karneval
malen Alltag ins Programm zu bringen.“         Wirklichkeit ins Programm bringen.“               auf die Sender gehen. So exakt ist das nicht
      Nitrat im Grundwasser beispielsweise:         Dreh-und Angelpunkt ist dabei die enge       planbar. Zum Redaktionsschluss von WDR
Durch die Fleischmassenproduktion in           Zusammenarbeit mit den NRW-Studios. Beim          print waren die Recherchen noch nicht
NRW entstehen große Mengen Gülle, die          Thema Nitrat waren es Reporter aus Kleve,         abgeschlossen.         Christian Gottschalk

18
Investigativer Journalismus

                                                        Eine Schule in
                                                        Köln: Klassen in
                                                        Kellerräumen,
                                                        Decken ohne
                                                        Verkleidung.
                                                        Seit Jahrzehnten
                                                        wird auch hier
                                                        Flickschusterei
                                                        betrieben.

                                               Ein Anstrich kann diese
              Der Spiegel in der               Fensterrahmen wohl nicht
              Umkleide offenbart das           mehr retten, und der
              Elend: Der Putz bröckelt         Eingang wirkt alles andere
              überall, Wasserschäden           als einladend.
              an der Decke.

              Reporter Philipp Ruhmhardt im
              Gespräch mit einer Schulleite-
              rin. Der WDR hat eine Umfrage
              bei Schulen in NRW über ihren
              Zustand in Auftrag gegeben.

                                                                       19
Die WDR-Produktionen (v. l.)
„Aufbruch“, Fortsetzung des
rheinischen Romans von Ulla Hahn,
„Junges Licht“ von Adolf Winkelmann
und die regionale Komödie
„Der letzte Cowboy“
Fotos: WDR/Kost/Weber

NETFLIX? – TUT
20
UNS NIX!
           21
Fernsehfilm

     Deutsche Fernsehserien
     sind schlecht, die ameri-
     kanischen sind die tollsten?
     WDR-Fernsehfilmchef
     Gebhard Henke entzaubert
     im Gespräch mit Maja
     Lendzian den im deutschen
     Feuilleton verklärten US-
     Serienmarkt, goutiert aber
     auch die positiven Aus-
     wirkungen der Debatte:
     „Wir haben uns wieder auf
     unsere große Tradition des
     epischen Fernseherzählens
     besonnen.“

                                                  WDR-Fernsehfilmchef
                                                  Gebhard Henke ist u.a.
                                                  ARD-Tatort-Koordinator
                                                  und Mitglied der Gemein-
                                                  schaftsredaktion ARD-
                                                  Hauptabendserie. 2001
                                                  wurde er zum nebenbe-
                                                  ruflichen Professor an der
                                                  Kölner Kunsthochschule
                                                  für Medien (KHM)
                                                  berufen. Foto: WDR/Sachs

22
Fernsehfilm

Der Sechsteiler „Die Stadt und die Macht“      tung in ihrer begeisterten Rezension von                    gibt natürlich viele US-Serien, die weder
hat kürzlich in den Feuilletons für einigen    „Die Stadt und die Macht“ die Koordinaten                   herausragend noch erfolgreich sind. Die
Gesprächsstoff gesorgt: wegen der Koope-       gerade rückte und deutsche Serien, noch                     bekommen wir aber gar nicht zu sehen.
ration mit Netflix, wegen der Machart. Sie     dazu ARD-Produktionen wie „Weißensee“                       Die Verklärung der Sahnehäubchen zur
haben die Serie nicht als Fernsehfilmchef      und „Heimat“ anführte. Wie erklären Sie                     Normalität gibt ein verzerrtes Bild wider.
des WDR betreut, sondern in Ihrer Eigen-       das Phänomen?                                                    Die Debatte hat aber auch ein Gutes:
schaft als einer der vier Executive-Pro-             Mich freut vor allen Dingen, dass wir                 Wir haben uns wieder auf unsere große
ducer der ARD-Gemeinschaftsredaktion           uns nicht rechtfertigen, weil wir dann                      Tradition des epischen Fernseherzäh-
Hauptabendserien. Warum sind Sie mit           immer als beleidigte Leberwürste gelten,                    lens besonnen. Wir tun das nicht mit der
der Produktionsfirma Studio Hamburg ins        sondern dass es die Autorin Evelyn Roll                     Absicht, angelsächsische Serien zu kopie-
Geschäft gekommen?                             in der Süddeutschen schreibt. Wenn man                      ren. Das kann man sowieso nicht machen,
      Mich hat die Geschichte sofort elek-     jede Woche einen Artikel mit dem Tenor                      und das wäre auch deprimierend. Wir müs-
trisiert. Die fiktive Umsetzung politischer    liest: „Die deutschen Serien sind schlecht,                 sen mit unseren erzählerischen Traditionen
Stoffe in Deutschland ist ja gepflastert mit   die amerikanischen sind die tollsten“, dann                 und Möglichkeiten seriell erzählen. Das
Niederlagen – man denke nur an „Das            frisst sich das offenbar bei den Leuten fest                Verrückte ist ja, dass uns Feuilletonisten
Kanzleramt“ vom ZDF. Es ist nahezu eine        und es wird vor allem so getan, als würde                   vorhalten, wir könnten nicht horizontal
an die Existenz gehende Frage, warum                                                                       erzählen, also eine Geschichte über meh-
das in Deutschland nicht funktioniert im                                                                   rere Folgen hinweg. Die haben vergessen,
Gegensatz zu anderen Ländern, denken Sie                                                                   dass wir gerade in den 1970er- und 80er-
an das viel zitierte „Borgen“ in Dänemark                                                                  Jahren horizontal erzählte Serien gemacht
oder „House of Cards“. Diese Herausfor-                                                                    haben, auf die auch Frau Roll anspielt: zwei
derung, eine Serie zu machen, die im Hier                                                                  Staffeln „Rote Erde“, „Das Boot“, „Berlin
und Jetzt spielt über eine Frau, die in die                                                                Alexanderplatz“. Wir im WDR haben eine
Situation gerät, als Regierende Bürger-                                                                    große Tradition, und es waren doch gerade
meisterin für Berlin zu kandidieren, hat                                                                   die Amerikaner, die zu den deutschen Kol-
mich gereizt. Außerdem war von Anfang                                                                      legen kamen und sagten: „Ihr seid plem-
an klar, dass Friedemann Fromm, mit dem                                                                    plem, wer erzählt denn horizontale Serien,
wir „Weissensee“ und viele andere Filme                                                                    die guckt doch keiner auf Strecke, ihr müsst
gemacht haben, Regie führen würde. Leider                                                                  episodisch erzählen, damit die Leute, die
ist das große Publikum hier ferngeblieben.                                                                 nur mal eine Folge sehen wollen, auch dran-
                                                                                                           bleiben können.“ So ist es durch US-Einfluss
Was sind Ihre Gründe, mit einem über-                                                                      überhaupt entstanden, dass wir mittler-
mächtig erscheinenden Konkurrenten                                                                         weile im deutschen Fernsehen überwiegend
gemeinsame Sache zu machen? Bei Net-                                                                       episodisch erzählen.
flix, der weltweit agierenden Produktions-
firma und kostenpflichtigen Abspielstation,                                                                Oder gibt es so wenige gute Serien, weil sich
ist „Die Stadt und die Macht“ jetzt nach der                                                               die deutschen Topregisseure lieber aufs
TV-Ausstrahlung in der ARD zu sehen.                                                                       Kino gestürzt haben und erst nach Produk-
      Der Produzent hat selbst Geld in die                                                                 tionen wie „Homeland“ wieder Interesse an
                                               „Reizvoller Stoff“: „Die Stadt und die Macht“ mit
Serie investiert und dafür Rechte bekom-       Anna Loos	                     Foto: ARD/ Batier/Montage
                                                                                                           TV-Mehrteilern entdeckten?
men. Über den Deal mit Netflix kann er                                                                          So erfolgreich ist das deutsche Kino
sich refinanzieren. Ich halte das im Prinzip                                                               leider nicht gerade. Es muss doch mal
nicht für schädlich, dass man die Serie im     ganz Deutschland diese Serien sehen. Das                    gesagt werden, dass die kulturelle Wert-
Nachhinein auf Netflix sehen kann. Viele       ist schon schräg. Meine Studenten glauben                   schätzung des Kinos im Gegensatz zum
unserer öffentlich-rechtlichen Programme       zum Beispiel auch, dass ganz Deutschland                    Fernsehfilm eine ideologisch belastete
sind mittlerweile auf Netflix zu sehen, auch   diese Serien auf Englisch sieht. Ihnen ist                  Wahrnehmung ist. Das möchten einige so,
bei der Serie „Babylon Berlin“ wird die ARD    nicht klar, dass es gar nicht so viele Deut-                das ist aber eine pure Behauptung. „Kino ist
durch eine Zusammenarbeit mit Sky neue         sche gibt, die so gut Englisch können, um                   das Größte, Fernsehen ist ugly“ – bei den
Wege beschreiten.                              das auch zu genießen.                                       Jüngeren ist diese Sichtweise dagegen über-
                                                                                                           haupt nicht mehr so ausgeprägt. Deshalb
Netflix & Co: Wenn man die Zeitungen           Selbst in den USA sind diese hochgelobten                   bin ich auch dankbar, dass die Wertschät-
liest, gewinnt man den Eindruck, dass nur      Serien kein Massenprogramm.                                 zung dieses Fernseherzählens durch die
noch aus den USA gute Stoffe wie „House              Ja, einige unterstellen, ganz Ame-                    HBO- und britischen Serien dazu geführt
of Cards“, „Homeland“ und „Breaking Bad“       rika würde HBO-Serien sehen. Das ist ein                    hat, dass die Feuilletonisten, die gebore-
kommen. Da ist es schon verblüffend, dass      Kabelsender, den eine gebildete Minder-                     nen Fernseh-Hasser, Serie auf einmal total
eine Journalistin in der Süddeutschen Zei-     heit abonniert. Das ARTE der USA. Und es                    klasse finden.                           ➔

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Fernsehfilm

Anna Stieblich
und Hilmi
Sözer in „Der
Hodscha und
die Piepen-
kötter“, am
17. Februar
um 20.15 Uhr
im Ersten
Foto: WDR/Menke

                               Es hat aber auch dazu geführt dass, eine   investieren. Wie hoch ist dagegen der Fern-
                          bestimmte Klientel, und dazu zähle ich auch     sehfilm-Etat des WDR?
                          meine Studenten, TV auf einmal sexy fin-             Wenn wir auf das Fernseh-Kernge-
                          det, wenn Tom Tykwer jetzt Fernsehserien        schäft schauen, sind das rund 20 Millionen
                          wie „Babylon Berlin“ mit uns macht. Oder        Euro. Damit produzieren wir sieben Tatorte
                          nehmen Sie „Deutschland 83“, oder „Club         und etwa sieben Fernsehfilme pro Jahr.
                                    der roten Bänder“. So schnell         1,4 Millionen Euro für einen Tatort mit fast
                                    tritt eine andere Wertschätzung       14 Millionen Zuschauern, das glaubt Ihnen
         „In den USA gibt es        aufgrund der Autorisierung            ja kein Amerikaner, wenn er diese beiden
                                    durch bestimmte Künstler auf.         Zahlen hört. Und die Amerikaner haben
         kein anspruchsvolles       Übrigens war das in Amerika           großen Respekt! Es gibt in den USA kein
                                    immer anders. Dort gibt es kein       Programm, das so viele Menschen sehen,
         Fernsehspiel oder          anspruchsvolles Fernsehspiel oder     der Markt dort ist viel diversifizierter.
                                    TV-Movie. Dort floss und fließt die        Netflix würde sicherlich erfolgreich
         TV-Movie.“                 künstlerische Energie in den Kino-    sein, wenn sie genuin für den deutschen
                                    film und in die Fernsehserie.         Markt produzierten. Solange sie das nicht
                                          Wir fragen uns natürlich:       tun, und das werden sie nicht, weil sie sich
                          Wie sollen wir den neuen Serien-Boom            auf dem kleinen deutschen Markt nicht
                          bei gleichbleibendem Beitragsaufkommen          werden refinanzieren können, kann ich sie
                          finanzieren? Wir sind schon froh, wenn          als Konkurrenz nur begrenzt wahrnehmen.
                          wir ein- bis zweimal im Jahr eine Event-
                          Serie wie „Die Stadt und die Macht“ oder        Kommen wir zum WDR. Wie muss sich der
                          „Weißensee“ mit Mitteln der ARD und der         Zuschauer das vorstellen? Komponieren
                          Degeto stemmen können.                          Sie ein TV-Jahr regelrecht: Wir haben jetzt
                                                                          vier Spritzer Krimi, uns fehlt noch was fürs
                          Wie zu lesen war, will Netflix dieses Jahr      Herz, ein Problemstoff, was aktuell Gesell-
                          sechs Milliarden Dollar in Serien und Filme     schaftskritisches, was Experimentelles,

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Fernsehfilm

                                                                                                   Die regionale
                                                                                                   Serie „Phoenix-
                                                                                                   see“ lässt in
                                                                                                   Dortmund zwei
                                                                                                   soziale Milieus
                                                                                                   aufeinander-
                                                                                                   treffen. Im Bild
                                                                                                   das Ehepaar
                                                                                                   Hansmann,
                                                                                                   dargestellt
                                                                                                   von Stephan
                                                                                                   Kampwirth und
                                                                                                   Nike Fuhrmann.
                                                                                                   Foto: WDR/Dicks

was für den Massengeschmack, was für das        Was verspricht man sich in der ARD davon,
Renommee und für die Berlinale?                 wenn jeder der drei Teile von einer anderen
      Ja. Wenn meine Stellvertreterin           Anstalt produziert wird?
Barbara Buhl und ich den Spielplan machen,            Das ist eine ganz große Leistung und
dann gehen wir genauso vor, wie Sie es          Anstrengung verschiedener ARD-Redakti-
beschrieben haben. Ein großer Sender muss       onen und der Degeto. Drei Sender, drei auto-
nach den beschriebenen Kriterien auf eine       nome Filme – das hat inhalt-
intelligente Mischung achten. Wir sind          liche, aber auch finanzielle
stolz darauf, dass wir mit unserer Kompo-       Gründe. Jeder der Partner     „Solange Netflix nicht
sition alle Genres bedienen und nicht, wie      bringt einen vollen Fern-
das ZDF, überwiegend Krimi produzieren.         sehfilm-Etat ein, die Degeto  genuin für den deutschen
                                                gibt noch einmal viel Geld
Im Februar läuft „Der Hodscha und die           dazu, weil die Produktionen   Markt produziert, kann
Piepenkötter“. Was hat Sie an diesem Stoff      sehr aufwändig sind. Unser
überzeugt?                                      Beitrag zeigt die Opfer. Der  ich sie als Konkurrenz
    Das ist eine Provinz-Culture-Clash-         SWR hat den Part, in dem es
Komödie at its best: deftig mit Lokalkolorit.   um die Herkunft, die Sozia-   nur begrenzt wahrnehmen.“
Die Kontrahenten: eine Bürgermeisterin          lisierung der Täter geht, der
und ein Hodscha, die sich beide aber auch       dritte Teil vom BR zeigt das
mögen und respektieren. Das hat großes          Versagen der Polizei, des BKA, des Staates.
komisches Potenzial, und die beiden                   Ein authentisches Detail aus unse-
Hauptdarsteller Anna Stieblich und Hilmi        rem Film: Der Vater, ein türkischer Blu-
Sözer sind großartig.                           menhändler, ist tot, die Mutter am Boden
                                                zerstört, die älteste Tochter hat nun die
Die andere Seite der Medaille zeigt der         Verantwortung, dann sagt die Polizei:
Dreiteiler „Vergesst mich nicht“. Da wird       „Übrigens: Das Opfer hatte ein Verhältnis
das NSU-Drama fiktional aufgearbeitet.          mit einer anderen Frau.“                 ➔

                                                                                                                     25
Fernsehfilm

Die ARD
beschäftigt
sich in einem
Dreiteiler mit
den NSU-
Morden, der
WDR erzählt
in dem Film
„Vergesst mich
nicht“ aus dem
Blickwinkel der
Opfer. Szene
mit Orhan Kilic
(Enver) und
Uygar Tamer
(Adile). Foto: WDR

                                                           Die Mutter kommt in die Psychatrie, und                      kussion, die wir bei „Teufelsbraten“ über
                                                           nach Jahren erzählt ein Polizist der Schwes-                 das Rheinische, unseren kölschen Sing-
                                                                    ter: Das mit der Geliebten, das                     sang hatten, wiederholt.
                                                                    stimmte gar nicht, das war eine                          „Eine Handvoll Leben“ ist ein Film
               Kommissarin Louise Bonì                              ermittlungstaktische Maßnahme.                      über Trisomie 28: Wir erleben den tragi-
               Die Messlatte für den zweiten Fall von               Die Premiere des Films soll im                      schen Entscheidungsprozess einer Familie,
               Kommissarin Louise Bonì (Melika Foroutan)            März im Kölner Schauspiel laufen,                   ob ein Kind ausgetragen werden soll, ob
               ist hoch gehängt: „Der beste Fernsehkrimi            das am selben Tag noch einmal                       solch ein Leben lebenswert ist. Ein bewe-
               des Jahres“ titelte „Die Welt“, als im Februar       „Die Lücke“ aufführt, ein Stück,                    gender und anrührender Film.
               2015 der erste Fall nach dem Roman „Mord im
                                                                    das nach dem Bombenattentat in                           In diesem Jahr zeigen wir Dominik
               Zeichen des Zen“ von Oliver Bottini ausge-
               strahlt wurde. „Spiegel Online“ sah in Melika        der Kölner Keupstraße entstand.                     Grafs ersten Teil der Reihe „Zielfahnder“.
               Foroutan schlicht „eine kleine Sensation“. In                                                            Da werden untergetauchte Verbrecher im
               ihrem zweiten Fall „Jäger in der Nacht“ geht                        Welche Höhepunkte prägen das         Ausland aufspürt, mit Ronald Zehrfeld und
               es um die Entführung einer Studentin und                            Fersehfilmjahr des WDR 2016?         Ulrike C. Tscharre.
               den Mord an einem Teenager, die zu einem
                                                                                        Jan Schütte hat nach „Alters-         Und dann haben wir nach „Meu-
               weiteren Verbrechen führen und Ermittlungen
               im engsten Kollegenkreis nach sich ziehen.                          glühen“ erneut ein Improvisati-      chelbeck“ noch zwei regionale Serien im
               Drehbuchautorin Hannah Hollinger und                                onsstück gemacht. „Wellness für      Portfolio, die auf dem neuen Montagssen-
               Regisseurin Brigitte                                                Paare“ kommt im Herbst. Allein       deplatz des WDR Fernsehens laufen wer-
               Maria Bertele erzählen                                              wegen der Besetzung – Anke           den: „Der letzte Cowboy“ und „Phoenix-
               auch den persönlichen
                                                                                   Engelke, Bjarne Mädel und viele      see“, eine horizontal erzählte Serie, die in
               Kampf der Kommissarin
                                                               Foto: WDR/Assmann

               gegen ihre Dämonen                                                  andere tolle Schauspieler mehr –     Dortmunds Arbeitermilieu spielt.
               und den Alkohol weiter.                                             kann man sich darauf freuen.
               Sendetermin: 18. Februar                                                 Dann kommt der „Aufbruch“       Die Filme „Babai“ und „In geschlossenen
               um 20.15 Uhr im Ersten.                                             von Hermine Huntgeburth, die         Räumen“ mit Maria Furtwängler, die in die-
                                   EB
                                                                                   großartige Fortsetzung des ‚rhei-    sem Jahr Kinopremiere feiern, laufen im Feb-
                                                                                   nischen Romans‘ von Ulla Hahn.       ruar auf der Berlinale. Kommt Berlinale-Chef
                                                                                   Ich bin gespannt, ob sich die Dis-   Kosslick auf Sie zu und sagt „Lieber Gebhard,

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Fernsehfilm

                                                                                                      Annette Frier
                                                                                                      und Christian
                                                                                                      Erdmann in
                                                                                                      dem Drama
                                                                                                      „Nur eine
                                                                                                      Handvoll
                                                                                                      Leben“.
                                                                                                      Foto: WDR

ich habe gehört, ihr arbeitet an …? Könntet     im Übrigen auch, wie sich ein Filmfest
ihr die bei uns zeigen?“                        verändert.
      Das passiert sogar, wenn er hört,
dass wir mit renommierten Regisseuren           Die WDR-Kino-Koproduktion „Victoria“ ist
interessantes Fernsehen produzieren.            nach ihrer Premiere auf der Berlinale 2015
Wir haben wieder einen Dokumentarfilm           von Preisen überhäuft worden. Ein
gemacht mit Dominik Graf: „Verfluchte           gutes Beispiel, dass auch Deutsch-
Liebe deutscher Film“, der im Forum lau-        land mit innovativen Stilmitteln    „Auch für die Berlinale
fen wird. Als damals klar war, dass Graf        – der Film ist ohne einen Schnitt
die Serie „Im Angesicht des Verbrechens“        gedreht – Publikum und Kritik       ist die Diskussion
dreht, wussten wir auch sehr schnell, dass      für seine Produktionen begeis-
sie auf der Berlinale laufen sollte, dasselbe   tert. Gab es Reaktionen aus dem     über Serien so wichtig,
gilt für „Dreileben“ von Petzold, Graf und      Ausland?
Hochhäusler.                                         Auch in Amerika ist „Vic-      dass sie ihnen schon
                                                toria“ wahrgenommen worden,
Sie sind seit Mitte der 1970er regelmäßiger     und in Deutschland ist es für       2015 einen Schwerpunkt
Gast der Berlinale. Was meinen Sie, welche      so einen kleinen und schmut-
Themen werden in diesem Jahr die Gesprä-        zigen Film außerordentlich gut      widmeten.“
che der Fachbranche dominieren?                 gelaufen. „Victoria“ ist eine große
     Auch für die Berlinale ist die Dis-        Erfolgsgeschichte, tragisch nur,
kussion über Serien so wichtig , dass sie       dass er nicht als bester ausländischer Film
ihnen schon im vergangenen Jahr einen           für den Oscar nominiert werden konnte,
Schwerpunkt widmeten. „Deutschland              weil er einen zu hohen Anteil an englischer
83“ und andere Serien sind 2015 auf der         Sprache hatte.
Berlinale gezeigt worden, und wir waren
vor ein paar Jahren mit „Im Angesicht
des Verbrechens“ vertreten. Das zeigt

                                                                                                                  27
Die Menschen aus der Kölner
                                         Keupstraße haben 2004 den
                                         NSU-Nagelbombenanschlag
                                         überlebt. Doch dann folgten
                                         sieben Jahre fehlgeleitete Er-
                                         mittlungen durch Polizei und
                                         Medien. Andreas Maus offen-
                                         bart mit seinem Film „Der
                                         Kuaför aus der Keupstraße“

                                         DIE          das Ausmaß
                                                      dieser Tragödie.

                                         ZWEITE
                                         BOMBE

Das Köln-Mülheimer Carlswerk, eine
alte Fabrikhalle: Kioskbetreiber
Mitat Özdemir zeichnet mit Kreide
einen Lageplan des „Kuaför
Yildirim“ und der angrenzenden
Geschäfte in der Keupstraße auf
den Boden. Eine künstliche Welt.
Draußen vor der Tür liegt die
echte Keupstraße. Foto: Karmen Franke

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Dokumentation

       „Es gab zwei Bomben“, sagt Meral Sahin. Die Vorsit-      dann schnell verpufft.“ Schließlich konnten die Filme-
zende der Interessengemeinschaft Keupstraße sitzt in ihrem      macher ihre Protagonisten davon überzeugen, dass sie
Laden inmitten von bunten Deko-Artikeln. Die mit zehn           sie wirklich ihre Geschichte erzählen lassen und nicht
Zentimeter langen Nägeln gespickte Bombe deponierte der         als Lieferanten kurzer O-Töne benutzen.
sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) am                 Hauptdrehzeit war im Frühjahr und Sommer 2014,
9. Juni 2004 vor dem Friseursalon von Özcan und Hasan           als sich wegen des zehnten Jahrestags des Anschlags die
Yildirim. Und die andere, eigentlich größere Bombe, so          mediale Aufmerksamkeit erneut auf die Keupstraße rich-
Sahin, das sei der nicht funktionierende Rechtsstaat gewesen.   tete. In München lief indes der noch immer andauernde
       In der türkisch geprägten Geschäftsstraße war der        NSU-Prozess. Maus wollte eigentlich mit der Kamera die
Rauch der Detonation kaum verflogen, da war für die Polizei     Bewohner der Keupstraße zum Gericht begleiten. Doch die
klar: Ein rechtsextremer Hintergrund ist auszuschließen,        Verhandlung ihres Falls wurde immer wieder verschoben
die Tat ist dem kriminellen Milieu zuzuordnen. Das sagte        und fand schließlich erst 2015 statt, als der Film schon
der Innenminister Otto Schily bereits am Tag nach dem           fertig war. „Irgendwann war uns ohnehin klar geworden,
Anschlag im Fernsehen, und so stand es in allen Zeitungen.      dass wir diesen Exkurs nicht brauchen“, meint Maus. Der
Bis die Wahrheit 2011 ans Licht kam, wurden die Opfer der       Fokus von „Der Kuaför aus der Keupstraße“ sollte ja gerade
Keupstraße wie Täter behandelt. Misstrauen, selbst in der       nicht auf den Tätern liegen.
eigenen Familie, stundenlange Verhöre, Bespitzelungen                 Klaus Steffenhagen, zur Zeit des Anschlags Polizei-
und Verleumdungen gehörten zu ihrem Alltag. Die Brü-            präsident in Köln, weist im Film jegliche Verantwortung
der Yildirim gingen gerne mal in die Kneipe zum Karten          von sich: Ihm seien keine Ermittlungsfehler bekannt. „Von
spielen – Zocker also, die bestimmt Schulden haben. Im          Seiten der Polizei kommen hie und da Äußerungen des
Friseurladen ließen sich angeblich muskulöse
                                                                                                            Zunächst war es
Männer rasieren – klarer Hinweis auf Kontakte                                                               schwierig, das
zur Türsteher-Szene. Jedes Detail ihres Lebens                                                              Vertrauen der
schien ein gegen sie sprechendes Indiz zu sein.                                                             Leute von der
       Andreas Maus recherchierte mit Maik                                                                  Keupstraße
Baumgärtner, Ko-Autor von „Der Kuaför aus                                                                   zu gewinnen:
                                                                                                            Regisseur
der Keupstraße“, zunächst für »Monitor« zum                                                                 Andreas Maus (r.)
Thema NSU. Dabei sammelten sie mehr Mate-                                                                   und Kameramann
rial über die Keupstraße als sie im Beitrag unter-                                                          Hajo Schomerus
bringen konnten. Sie wollten diese unglaubli-                                                               Foto: WDR/Kost

che Geschichte erzählen, „aber anders als das
in einer klassischen Fernsehreportage möglich
ist“, so Maus. „Als er mir seine Idee vorstellte,
fand ich seinen Hintergrund sehr überzeugend“, erinnert         Bedauerns“, sagt Maus, „aber konkrete Aussagen dazu,
sich Jutta Krug, die Leiterin der Dokumentarfilm-Redaktion      warum die Ermittlungen so gelaufen sind, waren nieman-
des WDR. Maus habe zum einen Theatererfahrung, zum              dem zu entlocken.“ Bis heute warten die Opfer vergeblich
anderen auch investigative Kompetenz – beste Vorausset-         auf eine Entschuldigung. Für das Leid, das ihnen zugefügt
zungen für die dokumentarische Mischform des Films.             wurde – zusätzlich zu den körperlichen und seelischen
                                                                Wunden, die die Nagelbombe hinterließ – wird wohl nie-
Reale Welt contra Welt der Unterstellungen                      mand jemals zur Rechenschaft gezogen. „Dafür müsste
                                                                man schon nachweisen können, dass jemand bewusst die
      In einer Fabrikhalle ließ Maus die Keupstraße mit eini-   Ermittlungen manipuliert hat“, meint Maus. Allein für
gen wenigen Requisiten – hier ein Friseurstuhl, dort ein        menschliches Versagen könne niemand belangt werden.
Kaffeehaustisch – als stilisiertes Bühnenbild nachbauen.        Und so müssen die Ermittler von damals auch diese Frage
In dieser Kulisse tragen Schauspieler Texte aus den Verhör-     allein mit ihrem Gewissen ausmachen: Hätten vier weitere
protokollen und Akten des NSU-Untersuchungsausschus-            Morde, die der NSU nach dem Anschlag in der Keupstraße
ses vor. „Es gibt eine dokumentarische Ebene, die tatsäch-      beging, verhindert werden können?       Christine Schilha
lich in der Keupstraße spielt. Dieser realen Welt haben wir
die künstliche Welt der Spekulationen und Unterstellungen       „Der Kuaför aus der Keupstraße“
von damals gegenübergestellt“, erklärt der Regisseur.
                                                                zu sehen beim Dokumentarfilmfest
      Zunächst sei es schwierig gewesen, das Vertrauen
                                                                „Stranger than Fiction“
der Leute von der Keupstraße zu gewinnen. „Nach dem
                                                                DI / 2. Februar / 20:00 / Rio Filmtheater Mülheim
Auffliegen des NSU war das Interesse von Seiten der
                                                                SO / 7. Februar / 12:00 / Metropol Düsseldorf
Medien und Politik groß“, sagt Maus, „die haben sich
                                                                jeweils in Anwesenheit des Regisseurs Andreas Maus
dort die Klinke in die Hand gegeben und Hoffnung auf
Aufklärung und Gerechtigkeit geweckt. Die ist aber              Kinostart: 25. Februar

                                                                                                                             29
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