Privatisierung von Bildung - Freie Schulwahl Kapital und Ideologie - vpod-bildungspolitik
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Nummer 214 / Dezember 2019 Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Wissenschaft Privatisierung von Bildung Freie Schulwahl Kapital und Ideologie Regionalteil Bern vpod BERN lehrberufe Regionalteil beider Basel GE vpod basel lehrberufe Sektion Zürich Lehrberufe
Inhalt Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Wissenschaft vpod bildungspolitik 214 Dezember 2019 Ausgewählte Artikel der aktuellen Nummer der vpod bildungspolitik sind auch auf unserer Homepage zu finden. Jeweils zwei Monate nach Erscheinen sind die vollständigen Hefte als pdf abrufbar: vpod-bildungspolitik.ch Impressum Redaktion / Koordinationsstelle Birmensdorferstr. 67 Postfach 8279, 8036 Zürich Privatisierung Aktuell Tel: 044 266 52 17 Fax: 044 266 52 53 Privatisierung im Bildungssystem 19 Sterndeutung als Symptom Email: redaktion@vpod-bildungspolitik.ch hat viele Gesichter. Gemeinsam ist Was Astrologie mit den laufenden Schulreformen Homepage: www.vpod-bildungspolitik.ch diesen, dass sie die Ungleichheit der zu tun hat. Herausgeberin: Trägerschaft im Rahmen des Lebenschancen erhöhen. Verbands des Personals öffentlicher Dienste VPOD 20 Wie und wem Schule schadet Einzelabonnement: Fr. 40.– pro Jahr (5 Nummern) 04 Für gute öffentliche Bildung! Und wie dies vermieden werden könnte. Einzelheft: Fr. 8.– Der VPOD engagiert sich seit langem für die Kollektivabonnement: Sektion ZH Lehrberufe; Qualität des öffentlichen Bildungssystems. 21 Kinder besser schützen – auch in Lehrberufsgruppen AG, BL, BE (ohne Biel), LU, SG. der Familie Satz: erfasst auf Macintosh 05 Selbstbestimmung? Freie Immer noch gelten Schläge als legitimes Layout: Sarah Maria Lang, Brooklyn Schulwahl? Bildungsvielfalt? Erziehungsmittel – das muss sich ändern! Titelseite Foto: view7 / photocase.de Kritische Gedanken zur Privatisierung in der Druck: Ropress, Zürich Bildung. 22 Schule in Bewegung ISSN: 1664-5960 Spiele für Unterricht und Pausen. Erscheint fünf Mal jährlich 10 Beschädigung der öffentlichen Redaktionsschluss Heft 215: Schule 6. Januar 2020 Welche Folgen hätte die Einführung von Auflage Heft 214: 2800 Exemplare Bildungsgutscheinen? Film und Buch Zahlungen: PC 80 - 69140 - 0, vpod bildungspolitik, Zürich 12 Gute Gründe... 24 FIFO – Abgelaufen Inserate: Gemäss Tarif 2011; die Redaktion kann ...für öffentliche Bildungsinvestitionen und Ein Film über Dilemmata und Entscheidungen. die Aufnahme eines Inserates ablehnen. progressive Steuern stellt Thomas Piketty in seinem neuen Buch «Capital et Idéologie» dar. 26 Konträre Einschätzungen Redaktion Zwei Bücher von Paul Mason, zwei Rezensenten. Verantwortlich im Sinne des Presserechts Johannes Gruber Pflichtlektion Zürich Lehrberufe Bern Redaktionsgruppe 15 – 18 Das Mitgliedermagazin Susanne Beck-Burg, Christine Flitner, Fabio der Sektion Zürich Lehrberufe Höhener, Anna-Lea Imbach, Markus Holenstein, – Abbau und Neuausrichtung der kantonalen 28 Vereint unter einem Dach Ute Klotz, Ruedi Lambert (Zeichnungen), Thomas Erwachsenenbildung Regel- und Sonderschulbildung werden in Bern Ragni, Michela Seggiani, Béatrice Stucki, Ruedi zusammengeführt. Tobler, Peter Wanzenried, Kerstin Wenk – Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Ein Interview mit Yvonne Tremp und Sophie Blaser – Mehr Zeit, mehr Lohn, mehr Respekt! Beteiligt an Heft 214 Ein Bericht vom VPOD-Kongress 2019 in Jacqueline Büchi, Fitzgerald Crain Kaufmann, St. Gallen Basel Lehrberufe Mireille Gugolz, Barbara Heuberger, Hans Joss, Illustration: Ruedi Lambert Chantal Magnin, Samuel Maurer, Marianne – 10ni-Pause Rychner, Linda Stibler, Martin Stohler, Marcel 29 – 31 Regionalteil beider Basel Straub, Rahel Straub, Susann Wach – PH an der FHNW – Im Portrait: Maneva Tafanalo Salaam – Klassengrössen und Kleinklassen – Politik als Unterrichtsfach 2 vpod bildungspolitik 214
Editorial V om 8. bis 9. November 2019 fand in Die offene und solidarische Haltung des VPOD St. Gallen der 48. Kongress unserer mit Migrantinnen und Migranten zeigte sich Gewerkschaft statt. Zwei Tage lang auch in der Annahme weiterer Anträge: 15.07 diskutierten 400 Delegierte und Gäste der Sektion Lehrberufe Zürich bekräftigte das intensiv über Belastungen am Arbeitsplatz und Engagement des VPOD für die Integration Fragen des gewerkschaftlichen Handlungsbedarfs herkunftssprachlichen Unterrichts in die öffentliche und Aufbaus. Mit der Verabschiedung des Schule und forderte EDK wie Kantone auf, Positionspapiers «Lasst uns unsere Arbeit machen!» entsprechende Schritte zu unternehmen. Sowie kritisiert der VPOD branchenübergreifend die der kommissionsübergreifende Antrag 15.08 massive Zunahme des Dokumentationsaufwands «Fortführung der Forderungsbewegung: Recht auf am Arbeitsplatz, dessen Ursache oft die Bildung für Geflüchtete durchsetzen!» Mit letzterem Ausgliederung von öffentlichen Betrieben ist bzw. wird gewährleistet, dass die mit der Tagung die damit verbundenen Finanzierungssysteme. «Geflüchtete – Bildung, Integration, Emanzipation» Ausbaden muss dies insbesondere das Personal (September 2019) begonnene Lobbyarbeit für die im Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich, das Umsetzung des Rechts auf Bildung für Geflüchtete durch die Zunahme bürokratischer Pflichten von weitergeführt und die dafür nötigen Ressourcen seiner Kernarbeit abgehalten wird. bereitgestellt werden. Ein weiteres Positionspapier, das «Thesen Ein Höhepunkt des Kongresses war fraglos der zu Europa» formulierte, respektive aus Auftritt von VertreterInnen der «Klimajugend», die für gewerkschaftlicher Perspektive das Verhältnis den 15. Mai 2020 zu einem landesweiten Klimastreik der Schweiz zur EU und die Bedingungen für ein aufriefen – mit dem Ziel, dass die Behörden den Rahmenabkommen mit der EU umriss, wurde von Klimanotstand erklären, um bis 2030 CO2-Neutralität der Mehrheit der Delegierten abgelehnt. Diese zu erreichen. Zur Unterstützung dieses Klimastreiks wollte unmissverständlich zum Ausdruck bringen, verabschiedete der VPOD eine Resolution, mit der dass der VPOD voll und ganz die «roten Linien» des am 15. Mai zum landesweiten Streik für Klima- und SGB mitträgt, sodass die Delegierten vier Leitlinien soziale Gerechtigkeit aufgerufen wird. verabschiedeten: 1. Der VPOD stellt sich klar gegen die Kündigungsinitiative der SVP, 2. Der VPOD lehnt Jetzt, nach dem Kongress, gilt es, die Beschlüsse das vorliegende Rahmenabkommen ab, 3. Beim umzusetzen. Für unsere Zeitschrift bedeutet dies, Lohnschutz ist der VPOD nicht zu Kompromissen dass die Schwerpunkte der nächsten Nummern bereit, 4. Angriffe auf den Service public wird der «Bildung für Geflüchtete» (215) und «Klimastreik» VPOD nicht hinnehmen. (216) lauten werden. Punkt 1 war sinngemäss bereits am Tag zuvor auf Antrag 15.08 der Migrationskommission hin beschlossen worden, der die SVP-Initiative als «Entrechtungsinitiative» bezeichnete. Die durch das Personenfreizügigkeitsabkommen erreichte Verbesserung der rechtlichen Situation von migrantischen Arbeitnehmenden aus der EU Johannes Gruber hatte Katharina Prelicz-Huber, VPOD-Präsidentin vpod bildungspolitik Foto: Eric Roset und wiedergewählte Nationalrätin, schon in ihrer Eröffnungsrede als Errungenschaft gewürdigt, die es auch auf Arbeitnehmende aus Nicht-EU-Staaten auszuweiten gelte. vpod bildungspolitik 214 3
Privatisierung von Bildung S eit 1983 gab es in benachteiligten Familien an den verschiedenen Kantonen öffentlichen Schulen verbleiben. Für immer wieder Volksinitiativen deren Förderung ständen dann weniger zur Einführung einer «freien finanzielle Ressourcen zur Verfügung. Schulwahl». Zuletzt wurde Die Volksschule als Restschule würde 2012 in Zürich ein entsprechender jedoch darüber hinaus immense Vorstoss von den StimmbürgerInnen mit gesellschaftliche Kosten erzeugen: einer Mehrheit von circa achtzig Prozent Studien zeigen, dass Wahlfreiheiten abgelehnt. nochmals die für Bildungssysteme Doch die «Elternlobby Schweiz» chronische Reproduktion sozialer lässt sich davon nicht beirren: In elf Ungleichheit verstärken. Bildungsnahe Kantonen sammelte sie im letzten Jahr Eltern hätten aufgrund ihrer Werte und Unterschriften für Petitionen mit dem ihres Wissensvorsprungs noch mehr Titel «Bildungswahl für alle statt für Möglichkeiten, ihren Kindern privilegierte wenige». Diese sollen Ende November Bildungswege zu ermöglichen. den Behörden übergeben werden (nach «Freie Schulwahl» ist kein Menschenrecht, Redaktionsschluss). Die Petitionen wie es die «Elternlobby Schweiz» propagieren ein Konzept, das unsere suggerieren möchte, sondern ein Mittel öffentlichen Schulen schwächen zur Verfestigung einer «Parentokratie», würde. Sie fordern, dass Steuermittel in der die soziale Herkunft immer stärker an Privatschulen fliessen sollen, in über die Bildungswege von Kindern Form von «Schülerpauschalen» – also und Jugendlichen entscheidet. Der Subjektfinanzierung. Diese finanziellen VPOD wird sich auch zukünftig dafür Mittel würden dann unseren öffentlichen engagieren, dass derartige Modelle Schulen fehlen. nicht mehrheitsfähig werden und sich Doch damit nicht genug des Schadens: stattdessen für eine gute Qualität der Durch die als Folge von Wahlfreiheit öffentlichen Schule als einer Schule für entstehende Segregation wiederum alle einsetzen! würden gerade die Kinder von sozial Foto: nikolarakic / Adobe Stock 4 vpod bildungspolitik 214
Privatisierung Selbstbestimmung? Freie Schulwahl? Bildungsvielfalt? Kritische Gedanken zur Privatisierung in der Bildung. Von Fitzgerald Crain Kaufmann1 E ltern sollen, so fordert z.B. die «Eltern- lobby» in einer Petition2, die für ihr Kind geeignete Schule wählen können, Schulen führe zu besserer Bildungsquali- tät. Was ist von der Forderung nach freier Schulwahl und Wettbewerb zwischen den zu Klienten. Bildung wird tendenziell zur Ware. Sie wird verdinglicht und verliert ihren emanzipatorischen Charakter. Wir lehnen sei es eine öffentliche, sei es eine private. Schulen zu halten? flächendeckend angewandte standardisierte Wählen sie eine private Schule, erhalten sie Die Initiantinnen und Initianten argu- Leistungstests nach dem Muster von PISA vom Staat pro Kind den gleichen Betrag, den mentieren mit der Forderung nach Frei- ab, auch wenn sie mit der individuellen För- Foto: clafouti / photocase.de der Staat für ein Kind in der öffentlichen heit, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit. derung des Kindes begründet werden. Geför- Schule ausgeben würde. Das sei eine Sache Damit üben sie Kritik an der öffentlichen dert werden jedoch eher Konkurrenzdenken, der sozialen Gerechtigkeit. Zudem sind die Schule. Aber ist Kritik an der öffentlichen «Teaching to the Test» bzw. «Learning to Initiantinnen und Initianten überzeugt, dass Schule nicht berechtigt? Aus einer linken the Test.» Gefördert wird die Reduktion von man der «staatlichen Einheitsschule» eine Perspektive kritisieren wir, dass Schulen zu- umfassender Bildung auf das, was nützlich vielfältigere Schullandschaft entgegenstellen nehmend zu Unternehmen werden, Schüle- ist. Gefördert wird ein normiertes Denken.3 müsse. Mehr Wettbewerb zwischen den rinnen, Schüler und ihre Angehörigen damit Kritisch beurteilen wir auch die Digitalisie- vpod bildungspolitik 214 5
Privatisierung rung im Unterricht, wenn sich Lehrerinnen lernen sie zu kooperieren. In der öffentlichen von den Eltern einfordern, was nach markt- und Lehrer aus dem Beziehungsgeschehen Schule lernen sie eine Balance zu finden zwi- wirtschaftlicher Logik das wirksamste Mittel herausnehmen und zu blossen Coaches und schen den eigenen Bedürfnissen und dem darstellt, um eine übergrosse Nachfrage zu Lernbegleitern werden. Solche Entwicklun- Wohl der anderen – der Klasse, der Schule, dämpfen? Wer kommt finanziell für Neu- gen widersprechen dem Ziel der Bildung, der Menschen in der ausserschulischen bauten, Umbauten, Renovationen auf? Wie Kinder in ihrem emanzipatorischen Poten- Welt. Die öffentliche Schule verkörpert somit steht es mit der Planungssicherheit? Die Ein- zial zu stärken. Eigenständiges Denken, im Idealfall ein Stück gelebte Demokratie. führung von Bildungsgutscheinen würde zu Autonomie, soziale und kreative Fähigkeiten Sie ist demokratisch legitimiert und sie kann bürokratischen Endlosdiskussionen führen. werden gerade nicht gefördert. Trotz dieser durch die Gesamtgesellschaft mitgestaltet kritischen Sicht bejahen wir das öffentliche und verantwortet werden. Schulsystem. Wir stehen der Privatisierung, 2. Das Ziel einer Schule muss es sein, eine damit auch der Idee der Bildungsgutscheine gute Schule zu werden, im Interesse der und des Wettbewerbs unter den Schulen kritisch gegenüber. Dies soll im Folgenden Schülerinnen und Schüler, der Lehrerinnen, Lehrer und Fachpersonen, der Angehörigen, Vier Aspekte dessen, begründet werden. der Gesellschaft. Das Ziel der einzelnen was wir unter In einem ersten Teil befassen wir uns mit Schulen und ihrer Schulentwicklung kann Privatisierung verstehen der Idee der freien Schulwahl, die auf dem es nicht sein, besser als andere zu werden. Konzept der Bildungsgutscheine beruht, wie Bildung als sowohl emanzipatorischer als es von Milton Friedman bereits in den 1950er auch solidarisch-kooperativer Prozess kann 1. Private Schulen nehmen Jahren propagiert wurde. Was spricht gegen dem Konkurrenzprinzip nicht unterworfen quantitativ auf Kosten der die freie Schulwahl? Was spricht gegen den werden, ohne dass sie in ihrer Substanz öffentlichen Schule zu Wettbewerb zwischen den Schulen? gefährdet wird. Die Zunahme der privaten Schulen im Wir verstehen «Privatisierung» in einem 3. Der Wettbewerb hat zur Folge, dass die Vergleich zur öffentlichen Schule lässt sich umfassenden Sinn. Sprechen wir von Pri- Schulen um ihre Klientel werben müssen. am Beispiel der US-amerikanischen Ent- vatisierung, so meinen wir die quantitative Die Schule wird zu einem Dienstleistungs- wicklung beobachten. Bis in die 1980er Jahre Zunahme von privaten Bildungsinstituti- unternehmen. Die Schülerinnen und Schü- hinein war das öffentliche Bildungswesen onen im Verhältnis zu öffentlichen. Wir ler und ihre Angehörigen werden zu Kunden, allgemein anerkannt, wobei private Schulen verstehen darunter aber auch den Zugriff deren Ansprüche von den Lehrerinnen und und Hochschulen allerdings immer schon von privaten, oft global agierenden Unter- Lehrern erfüllt werden müssen. Die Schulen eine grosse Bedeutung hatten. Unter Reagan nehmen auf das Bildungssystem. Drittens werden damit von den Kundenwünschen wurde die neoliberal ausgerichtete Reform- meinen wir, wenn wir von Privatisierung allzu sehr abhängig. Das wirkt sich tenden- bewegung erfolgreicher. Seither nehmen die sprechen, die zunehmende Bedeutung einer ziell auch auf die Beurteilungen schulischer privaten und halbprivaten Schulen (Charter privaten Bildungsindustrie im Bereich der Leistungen aus, da Lehrerinnen und Lehrer Schools) an Bedeutung zu, während Anzahl, Testentwicklung, des Nachhilfeunterrichts, unter Umständen aus Sorge um den «Markt- Niveau und Anerkennung der öffentlichen der Prüfungsvorbereitung usw. Viertens ver- wert» der Schule davor zurückschrecken, Bildungsinstitutionen sinkt.6 Die Zahl der stehen wir unter Privatisierung den Einfluss Leistungen einzufordern und kritische privaten Schulen nimmt aber nicht nur privater Stiftungen auf die bildungspoliti- Rückmeldungen zu geben.4 in den USA, sondern weltweit zu. Es sind sche Entwicklung. 4. Wenn Schulen miteinander im Wett- verschiedene Faktoren, welche die Zunahme Von diesem umfassenden Verständnis bewerb stehen und Eltern die Wahlmög- an privaten Schulen verantworten. ausgehend diskutieren wir im dritten Teil des lichkeit haben, aufgrund welcher Kriterien • Private Bildungsangebote nehmen zu, weil Beitrags die Privatisierung im Kontext einer entscheiden sich die Familien für welche sie grosse Profite versprechen. Zunehmend von neoliberalen Bestrebungen geprägten Schule? Ausschlaggebend wird tendenziell bewegen sich profitorientierte Bildungskon- Bildungspolitik, die darauf ausgerichtet ist, die äusserliche Form, in der sich eine Schu- zerne im Bildungsmarkt. Die NZZ berichtete das Bildungssystem im ökonomistischen le darstellt, wie sie ihr Angebot definiert, 2014 unter dem Titel «Privatschulen für Sinn umzubauen. wie sie sich verkauft. Mitentscheidend ist, Arme» von einem profitorientierten südafri- welche zeitlichen und finanziellen Mittel kanischen Bildungskonzern mit 30‘000 Kin- einer Schule für ihre Selbstdarstellung im dern in 32 Schulen. In Schweden expandiert Bildungsmarkt zur Verfügung stehen. der Bildungskonzern Kunskapsskolan auch 6. Auch in einem Land wie Schweden, das nach Indien, Holland oder Saudi-Arabien Was spricht gegen die Idee der Bildungsgutscheine umgesetzt und entsprechende Sicherungen eingebaut und die AcadeMedia-Gruppe unterrichtet fast 66‘000 Schülerinnen und Schüler sowie die freie Schulwahl hat, verstärkt sich die Segregation zwischen Erwachsene in 36 Schulen und Weiterbil- und den Wettbewerb guten und weniger guten Schulen bzw. dungszentren.7 Ein aktuelles Beispiel ist zwischen den Schulen? zwischen materiell besser und materiell schlechter gestellten Familien.5 Liberia, wo das vollständige Schulsystem an einen US-amerikanischen Investor verkauft 7. Nicht zuletzt: Der Staat trägt gemäss wurde.8 1. Dazu muss zuerst die Frage beantwortet Verfassung die Gesamtverantwortung für • Hinter der Idee der Privatisierung steht werden: Was spricht für die öffentliche Bil- schulische Bildungsinhalte und schulische eine staatskritische neoliberale Philosophie, dung? In der öffentlichen Schule begegnen Qualität. Das gilt auch für die privaten Betrei- wie sie z.B. in der Bildungspolitik des in sich im idealen Fall Kinder und Jugendliche ber. Sie werden eine grosse Zahl von Regeln Zürich beheimateten Liberalen Instituts mit unterschiedlicher Herkunft und unter- einzuhalten haben, viele Fragen bleiben vertreten wird.9 schiedlichen kognitiven, sozialen oder kör- offen: Sind private Schulen verpflichtet, alle • Private Bildungsinstitutionen sind auf das perlichen Voraussetzungen. In der öffentli- Schülerinnen und Schüler aufzunehmen, Versagen vieler Staaten zurückzuführen, ein chen Schule lernen Kinder gemeinsam, hier die einen Bildungsgutschein vorweisen? gutes öffentliches Bildungssystem aufzubau- tauschen sie sich miteinander aus und hier Können sie darüber hinaus Kostenbeiträge en bzw. zu erhalten. Private profitorientierte 6 vpod bildungspolitik 214
Privatisierung Schulen treten an die Stelle einer qualitativ geht bei der Wahl der Schule tendenziell um es in Basel-Stadt circa zehn Prozent, in Genf ungenügenden öffentlichen Schule, kirchli- Status, Statussicherung und Statusweiterga- circa 16 und in reichen Gemeinden wie che Schulangebote mit einer fürsorglichen, be an die eigenen Kinder. Zumikon oder Erlenbach bis zu 25 Prozent.10 tendenziell missionarischen Motivation • Private Schulen entstehen als Reaktion auf In diesen Zahlen wird jedoch zwischen ersetzen ein kaum existentes staatliches Entwicklungen innerhalb der Staatsschule, profit- und nicht-profitorientierten Schulen Bildungssystem. denen Eltern und Lehrpersonen kritisch nicht unterschieden. Was motiviert Angehörige, Schülerinnen gegenüberstehen (Leistungs- und Anpas- und Schüler, eine private Schule zu wählen? sungsdruck, Hauptgewicht auf kognitiver 2. Zugriff globaler Unternehmen • Private Schulen werden gewählt, weil man Entwicklung). auf das Bildungssystem sich sozial abgrenzen bzw. den Kindern ei- • Religiöse (jüdische, muslimische, christ- Mit Privatisierung meinen wir zweitens den nen Vorsprung in der Berufskarriere ermög- liche) Schulen werden gewählt, weil die direkten sowie indirekten Zugriff auf die Bil- lichen will. Die Qualität einer Schule wird Familien ihre religiöse Tradition und Zuge- dung durch grosse Unternehmen, die nicht heute für Eltern vielfach daran gemessen, wie hörigkeit beibehalten wollen. primär Bildungsunternehmen sind. Direkt gut sie dem eigenen Kind einen Vorteil in der Die Zahl der privaten Schulen in der ist der Zugriff, indem die Unternehmen von Ungleichheit bestimmten Leistungsge- Schweiz ist relativ gering. Dabei unterschei- selbst Schulen gründen und führen, indirekt sellschaft verschafft. Eltern können sich für den sich Kantone und Gemeinden teilweise indem sie (Apple, Google z.B.) den Schulen eine bestimmte Schule entscheiden, weil sie stark voneinander. Während die Zahl der – auch den öffentlichen Schulen – Computer sich mittels Bildung – bzw. der Bildung ihrer Kinder in Privatschulen in mehreren Kan- und Software zur Verfügung stellen und Kinder – von anderen abgrenzen wollen. Es tonen weniger als ein Prozent betrifft, sind dadurch auch inhaltlich Einfluss nehmen.11 Foto: birdys / photocase.de vpod bildungspolitik 214 7
Privatisierung 3. Die Bedeutung der para- sitzt, auch wenn dies von vielen, welche die fortschrittliches und nicht-profitorientiertes schulischen Bildungsindustrie Reform verantworten negiert wird.15 Wir se- Projekt im Interesse der schwierigsten und nimmt zu hen die Privatisierung dabei als ein Element anspruchsvollsten Kinder. Erst im Nach- Mit Privatisierung meinen wir drittens eine des Bestrebens, nicht nur die private Bildung hinein wurden die Auswirkungen dieser immer bedeutsamer werdende private Bil- zu fördern, sondern Zugriff auch auf die Reformen deutlich: dungsindustrie im Bereich der Testentwick- öffentliche Schule zu bekommen. Die Folge • Das öffentliche Bildungswesen kam im- lung, der Testdurchführung, der Beratung, ist eine «Verbetriebswirtschaftlichung»16 der mer stärker unter Druck, die Leistungen in des Nachhilfeunterrichts und der Vorberei- öffentlichen Schule. Auch die öffentliche der öffentlichen Schule wurden schlechter, tung auf Prüfungen. PISA beispielsweise Schule wird zum Unternehmen, Schülerin- der «Achievement Gap» grösser und Bildung ist ein grosses Geschäft12 für verschiedene nen und Schüler werden zu Klientinnen und wurde immer mehr unter dem Aspekt des internationale Konzerne, die an der Test- Klienten. Evaluationen, externe Beratung, unmittelbaren Nutzens im Sinne von beruf- Entwicklung und der Auswertung beteiligt Qualitätsmanagement, die Notwendigkeit licher Anpassung und Karriere gesehen. sind. Auch in der Schweiz sind Angebote in der Effizienzsteigerung dringen in den Alltag • Private Schulen und halb-private Charter privater Nachhilfe, Testvorbereitung, Prü- der Schule ein. Das Verhältnis der Lehren- Schools wurden und werden gefördert. Sie fungstraining von zunehmender Bedeutung. den und Lernenden verändert sich in ihrer nehmen weiter zu, die öffentliche Schule In den Jahren 2011/2012 besuchten über 34 inneren Struktur. Eingegriffen wird damit in wird immer stärker zu einer Restschule, in Prozent der Schweizer Jugendlichen in der die zwischenmenschlichen Verhältnisse, in der sich verhaltensauffällige Kinder, Kinder 8./9. Klasse bezahlten Nachhilfeunterricht die Verhältnisse der Einzelnen zu sich selbst aus armen Familien, leistungsschwache Kin- und der Trend hält unvermindert an13. und zur Gesellschaft. Nicht zuletzt durch den der und auch Kinder mit einer Behinderung Einsatz des Computers im Unterricht oder konzentrieren. Denn sowohl private als auch 4. Private Stiftungen nehmen das Zur-Verfügung-Stellen von Software halbprivate Schulen sind grundsätzlich frei, Einfluss auf die Bildungspolitik durch Technologiekonzerne dringt die öko- jene Kinder auszuwählen, die passen. Sie Mit Privatisierung meinen wir viertens den nomistische Ideologie in den Schulalltag ein. sind auch grundsätzlich frei, Kinder auszu- Einfluss grosser privater Stiftungen im schliessen, die aus irgendeinem Grund nicht Bildungswesen (Melinda und Bill Gates- Mit «Choice» begann es auch in oder nicht mehr passen. Stiftung oder Rockefeller Foundation in den den USA • Die Segregation zwischen den sozialen USA, Bertelsmann-Stiftung in Deutschland, Die Philosophie der «Elternlobby» deckt Gruppen in der Gesellschaft nimmt weiter die in Zürich beheimatete Jakobs Foun- sich weitgehend mit den in den 1970er und zu.17 dation und viele andere). Der ehemalige 1980er Jahren aufkommenden US-amerika- Die Entwicklung in den USA hat gezeigt, Zürcher Erziehungsdirektor Ernst Buschor nischen Reformbestrebungen. Im Zentrum dass sich die Reform, die sich «Choice» und beispielsweise setzt sich als Mitglied der standen damals «Choice» (Wahlfreiheit) und «Privatization» auf die Fahne geschrieben Jakobs-Stiftung und beeinflusst von den «Privatization». Die Idee der Privatisierung hatte, von der neoliberalen, von Politik, US-amerikanischen Reformen für die in- in Verbindung mit Wahlfreiheit überzeugte Geschäftswelt und grossen Stiftungen geför- nere Umgestaltung des schweizerischen auch Diane Ravitch, die diese Reform be- derten Reform vereinnahmen lässt. Bildungssystems ein. Dazu gehört die För- fürwortete und eine hohe Position in der derung so genannter Bildungslandschaften staatlichen Bildungsverwaltung einnahm. in öffentlichen Schulen oder die Einrichtung Später kamen als weitere Reformelemente Digitalisierter Versuchsklassen wie in Am- das «Testing» (schulische Leistungen müs- riswil, in denen die Individualisierung unter dem Titel des selbstorganisierten Lernens sen vergleichend gemessen und in Rankings ausgewiesen werden) sowie «Accountability» Schlussgedanken praktiziert wird.14 hinzu, wobei Letzteres heisst, dass Schulen und – seit Obamas Programm «Race to the Gleichheit und Ungleichheit Top» von 2009 – auch die Lehrerinnen und Beides ist in uns Menschen als Möglichkeit Lehrer für die Leistungen der Schülerinnen angelegt: das Streben nach Gleichheit und und Schüler haften. Von 2007 an wurde das Streben nach Ungleichheit. Es gibt Privatisierung gesehen Ravitch zur vehementen Kritikerin der Reformbewegung, da sie feststellte, dass das Streben nach Differenzierung und im Besonderen das Streben nach hierarchischer im Kontext eines insbesondere die Idee der Privatisierung Differenzierung. Menschen möchten mehr radikalen Umbaus ein Einfallstor für einen radikalen neoliberal wert sein, mehr ökonomisches, soziales, des Bildungswesens ausgerichteten Umbau des Bildungswesens darstellt. kulturelles Kapital besitzen als andere. Sie möchten als Mutter oder Vater, dass ihr Kind Propagiert wurden die Reformen mit besser ist als andere, mehr Lebenschancen Von diesem umfassenderen Privatisierungs- sozialreformerischen Versprechen. Die Dif- bekommt, später mehr Erfolg hat als andere. verständnis ausgehend formulieren wir die ferenzen zwischen leistungsschwachen und Also wählen sie sich die Schule entsprechend folgende These: Man kann eine «Bildungs- leistungsstarken Kindern (der «Achievement aus, sofern sie materiell dazu in der Lage offensive», die (Wahl-)freiheit, Selbstbestim- Gap») sollten reduziert, die Gesellschaft sind – eine leistungsstarke Privatschule mung und Gerechtigkeit auf ihre Fahnen insgesamt sollte klüger, gebildeter und z.B. Auf der anderen Seite steht das Stre- geschrieben hat, nicht aus einer umfassen- nicht zuletzt gerechter werden, weshalb ben nach Gleichheit. Das Stichwort ist die den bildungspolitischen Reformbewegung zum Beispiel auch die meisten Demokraten Chancengleichheit. Hier sind eine linke und herauslösen, die bereits in den 1960er Jahren entsprechende Gesetze unterschrieben oder eine liberale Idee der Chancengleichheit zu von der OECD angestossen wurde und deren weshalb – an einem ganz anderen Ort – die unterscheiden. Die Vertreter der liberalen globaler Einfluss seit den 1980er Jahren Idee der Bildungsgutscheine von den schwe- Variante von Chancengleichheit gehen immer mehr gewachsen ist. Privatisierung dischen Sozialdemokraten nicht nur unter- davon aus, dass alle Kinder die gleichen ist Teil eines Reformprogramms, das den stützt, sondern sogar initiiert wurde. Auch Ausgangsvoraussetzungen haben. Was sie Charakter eines Paradigmenwechsels be- die Charter Schools waren ein ursprünglich aus ihren Chancen in der Schule machen, 8 vpod bildungspolitik 214
Privatisierung liegt in ihrer Verantwortung. Am Schluss Quintessenz statisches Konzept. Was spricht dagegen, der Schule treten sie mit unterschiedlichen Bei allem Verständnis für einzelne Anliegen dass es innerhalb der Staatsschule vielfäl- Möglichkeiten und Fähigkeiten in die der «Elternlobby» (Wahlmöglichkeit, Gedan- tige Angebote gibt? Eine grössere Vielfalt weiterführende Laufbahn in einer folglich ke der sozialen Gerechtigkeit) betrachten hätte unter Umständen den Nachteil, dass ungleichen Gesellschaft ein. Es ist ein me- wie ihre «Bildungsoffensive» als Einfallstor Schulwechsel nachteilig sein können, wenn ritokratischer Gleichheitsanspruch: gleiche für eine viel weitergehende Veränderung der Lehrplan allzu unterschiedlich ist. Die Voraussetzungen im Bereich der Schule der Schule. Wir sehen die Privatisierung öffentliche Schule müsste sich deshalb an zu haben setzt eine für alle weitgehend als ein Instrument der Differenzierung im einem allgemeinen Lehrplan orientieren, der gleiche Grundschule voraus. Der linke An- Sinne der Herstellung von Ungleichheit der zugleich einen grossen Gestaltungsraum für satz definiert Chancengleichheit im Sinne Lebenschancen, auch wenn der von Ver- Lehrerinnen und Lehrer ermöglicht. gleicher Lebenschancen für alle. Das heisst tretern der Bildungspolitik, von Stiftungen Die von uns kritisierte ökonomistisch alle Menschen besitzen die Möglichkeit, und Unternehmen vorangetriebene Umbau geprägte Entwicklung mag in der Schweiz ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu des Bildungswesens mit dem Versprechen langsam voranschreiten. Aber es besteht die führen, ein Gefühl der Selbstwirksamkeit antritt, dass es um ein Mehr an individu- Gefahr einer schleichenden Veränderung zu entwickeln, anerkannt zu werden, ein eller Förderung, um sozialen Ausgleich, mit der Folge, dass der äusseren Ökonomi- Leben in Würde und Sicherheit zu leben. Förderung und Integration von Kindern aus sierung der Schule immer mehr eine innere Das Ziel der Schule ist wie beim liberalen bildungsfernen Familien und nicht zuletzt Ökonomisierung entspricht.18 Es ist wichtig, Ansatz die individuelle Freiheit, wobei die um ein Mehr an individueller Freiheit und dass diese Entwicklung kritisch analysiert Freiheit der einen Menschen auch die Frei- persönlicher Autonomie geht. Diese Deu- und dass ihr das Konzept einer emanzipa- heit der anderen mitbedingt. Mehr als beim tung des Reformprozesses verschleiert eine torischen und demokratischen öffentlichen liberalen Konzept spielt die Solidarität der ganz andere Wirklichkeit. Schule – und einer Gesellschaft, die auf Kinder sowie der Lehrerinnen und Lehrer Es geht uns nicht darum, dass Privatschu- den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und untereinander eine grosse Rolle. len existieren. Wir anerkennen den pädago- Mitmenschlichkeit basiert19 – entgegenge- Die öffentliche Schule in der Schweiz gischen Beitrag, den Privatschulen leisten stellt wird. legt das Hauptgewicht auf den Gleich- und geleistet haben. Unsere Kritik richtet Im vom Gedanken einer öffentlichen, de- heitsgedanken. In der Idee sowie in der sich gegen eine umfassende und globale mokratisch gestalteten und verantworteten Praxis der integrativen Schule wird der linke Reformbewegung, von der die Privatisierung Schule für alle haben auch private Schulen Gleichheitsgedanke betont. In der heute ein zentrales Element ist. Wir verstehen wie die Waldorf- oder die Montessorischule ausgeprägten Leistungsorientierung und in das Verlangen der «Elternlobby», dass sich ihren Platz. Sie werden jedoch nicht mit der selektiven Struktur folgt die öffentliche Angehörige und Kinder auch für eine solche staatlichen Geldern unterstützt. Die Bildung Schule aber dem meritokratisch liberalen Schullösung entscheiden dürfen, ohne dass im demokratischen Staatswesen darf nicht Gleichheitsgedanken. Das ist die vorder- dies von ihren materiellen Voraussetzungen aus der staatlichen bzw. gesellschaftlichen gründige Sichtweise. Durch die neoliberal abhängt. Wir unterstellen der «Elternlobby» Verantwortung entlassen werden. Privati- beeinflusste Bildungsentwicklung bestimmt nicht, dass sie sich als neoliberale Reform- sierung ist sonst unweigerlich mit einem das Streben nach grundsätzlicher Un- gruppe versteht. Wir sehen es jedoch als pro- Demokratieverlust verbunden. gleichheit zunehmend auch die öffentliche blematisch an, wenn private Schulen nicht Schule und eröffnet dadurch ein gefährliches mehr Nischenplätze besetzen, sondern mit Spannungsfeld zwischen den demokratisch- der öffentlichen Schule – mit Steuergeldern Fitzgerald Crain ist emeritierter Professor der gemeinschaftlichen Bildungszielen und dem unterstützt – in Konkurrenz treten. Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Ziel der individuellen Vorteilsnahme einer Wenn wir die öffentliche Schule ver- Nordwestschweiz. privilegierten Bildungsschicht. teidigen, so plädieren wir nicht für ein 1 Georg Geiger, Margrit Goop, Franz 12 Barben 2018, 101f. Krautz ebd. Literatur Gruber, J. (2018). Diversifizierung, König, Kaspar Lüthi, Stephan Lüthi, Wibke 13 Siehe Crain und Daellenbach (2019) Privatisierung und Hierarchisierung. In: Oppermann, Linda Stibler, Marianne Barben, J. (2018). Kinder im Netz Denknetz Jahrbuch 2018, «Bildung und Wildberger von der Gruppe «Bildung» im 14 Ernst Buschor ist auch Geschäftsführer globaler Konzerne: Der Lehrplan 21 als Emanzipation», S. 27 – 33. «Denknetz» sowie Manuel Crain, Soshya des Vereins Schweizerischer Schulpreis. Manipulationsinstrument. Baden: Eikos Jährlich werden 120‘000.- Fr. an sechs Verlag. Hellgermann, A. (2018). kompetent. Kaufmann Crain, Willi Schneider und Hans flexibel. angepasst: Zur Kritik neoliberaler Wäber haben den Schreibprozess kritisch Schulen für innovativen Unterricht vergeben. Bessard, P und Hoffmann, Chr. (2017). Die Frage ist, nach welchen Kriterien die Bildung. Münster: Edition ITP-Kompass. begleitet. Markt für Bildung: Die Vorteile von Vielfalt Qualität der Schulen beurteilt wird. Siehe und Wettbewerb. Zürich: Edition Liberales Honneth, A. (2015). Die Idee des 2 Siehe die Sendung in «Telebasel» vom 26. dazu Barben, 112ff. Sozialismus: Versuch einer Aktualisierung. September 2018: «Report: Comeback für Institut. 15 Der Umbau des Bildungssystems betrifft Berlin: Suhrkamp. die freie Schulwahl». Crain, F. (2015). Anpassung und alle Stufen der Bildungsinstitutionen: Wettbewerb: Leistungsvergleiche als Krautz, J. (2009). Ware Bildung: Schule und 3 Siehe dazu z.B. Crain, 2015 die Kitas, in denen kleine Kinder Universität unter dem Diktat der Ökonomie. Kontrollmittel. In: vpod bildungspolitik, 194/ 4 Siehe dazu den Artikel in «Le Monde betreut werden; den Kindergarten, der Dezember 2015. S.12 – 15. München: Diederichs. diplomatique» vom September 2018: weitgehend seine Eigenständigkeit Münch, R. (2018). Der bildungsindustrielle «Schlechte Noten für den Primus», die verloren hat, indem er ins Schulsystem Crain, F. (2016). Wie sich der Ökonomismus auf die Bildung auswirkt. Das Beispiel USA. Komplex: Schule und Unterricht im PISA-Resultate in Schweden betreffend. integriert wurde; die Volksschule und Wettbewerbsstaat. Weinheim Basel: Beltz das Gymnasium; die Hochschulen und Denknetz Jahrbuch 2016. 5 «Le Monde diplomatique», ebd. Juventa. Universitäten; die Berufsbildung sowie Crain, F. (2017). Wie könnte eine linke 6 Ravitch, 2010, 2013; Crain, 2016; Münch, die Erwachsenenbildung, die heute Bildungspolitik aussehen? In: Das Denknetz, Ravitch, D. (2010). The Death and Life 2018 Weiterbildung heisst. Nr. 001, Mai 2017. S. 38 – 46. of the Great American School System: 7 Für Südafrika siehe NZZ vom 31. März How Testing and Choice Are Undermining 16 Hellgermann, 2018 Crain, F. (2018). Die innere und äussere Education. New York: Basic Books. 2014; für Schweden siehe «Le Monde Ökonomisierung in der Bildung. In: diplomatique» vom September 2018 17 Siehe dazu den Artikel in «Die Zeit» Nr. 3 Ravitch, D. (2013). Reign of Error: The vom 10. Januar 2019 (Ressort «Chancen»: Denknetz Jahrbuch 2018, «Bildung und («Schwedens umstrittene Schulreform»); Emanzipation», S. 9 – 16. Hoax of the Privatization Movement and the umfassend siehe Krautz, 2009, 155ff. «Geteilte Stadt»): Die Segregation zwischen Danger to America’s Public Schools. New «weissen» (inkl. «asiatischen») und Crain, F. und Daellenbach, R. (2019). Was York: Vintage Books. 8 Hellgermann, 2018. «schwarzen» Kindern in der demokratisch für eine Bildung braucht die Demokratie? 9 Bessard, Hoffmann, Hrsg., 2017 regierten Stadt New York beispielsweise ist In: Daellenbach, Ringger, Zwicky (Hrsg.). extrem ausgeprägt. Reclaim Democracy: Die Demokratie 10 Gruber, 2018, S. 31. stärken und weiterentwickeln. S: 66 – 72. 18 Crain, 2018 11 Zur Kommerzialisierung der Bildung Zürich: edition 8. siehe Krautz, 2009, z.B. 163ff. 19 Siehe dazu Honneth, 2015 vpod bildungspolitik 214 9
thema Beschädigung der öffentlichen Schule Es wird wieder über Bildungsgutscheine und Modelle einer freien Schulwahl diskutiert. Welche Folgen hätte deren Einführung? Von Linda Stibler J eder Mensch und vor allem jedes Kind hat ein Anrecht auf Bildung, insbesondere Grundbildung – denn ohne fundamentale gewünschte Schule gehen können. Durch einen solchen Wettbewerb wird die Bildung qualitativ besser und viel billiger. Lehrerinnen und Lehrer, die in der Lage sind, die verschiedensten Kinder zu fördern und zu fordern und vor allem genügend Kenntnisse und Fertigkeiten kann ein Zeit haben, um Kindern mit unterschiedli- Mensch in der heutigen Zeit nicht auskom- Mangelnde Bildungsqualität an chen Voraussetzungen die unverzichtbaren men. Das gilt in allen Bereichen des Lebens. der kompetitiven Schule Kulturtechniken zu erschliessen. Das ist ein Selbstverständlich. Konsequenterweise gilt Bei Lichte betrachtet setzen diese Verspre- hoher Anspruch an Professionalität und er der Konsens, dass die Gesellschaft als Gan- chen einen Wunderglauben voraus. Wie ist gilt für alle Stufen gleichermassen. zes für die Bildung der Heranwachsenden es trotzdem möglich, dass sich viele Betei- Mehr Qualität ist ein weiteres Verspre- verantwortlich ist und zumindest für die ligte und Betroffene an diese klammern? chen, das mit dem Wettbewerbsprinzip Grundbildung aufkommen muss. In einer Weil der Schulalltag zwar auch früher selten angeblich erfüllt werden soll – analog zur Demokratie eine Selbstverständlichkeit – nur beglückend war, aber dieser in jüngster heutigen Wirtschaft. Das begann zwar ganz könnte man meinen. Zeit doch vielen Eltern und ihren Kindern harmlos mit sogenannten Qualitätsstan- Nun darf man sich fragen, weshalb derar- mehr und mehr zu schaffen macht. Das ist dards, mündete aber bald in einen regel- tige Binsenweisheiten speziell zu betonen die Folge von immer neuen Reformen. Wie rechten Kontrollwahn. Mit immer früheren sind? Sie werden neuerdings mit den bereits zum Beispiel von Harmos, das anfänglich Tests und Checks und Zeugnissen werden bekannten Verheissungen und Verlockun- bloss eine Harmonisierung der kantonalen die Qualität von Schulen, ihrem Lehrkörper gen des Neoliberalismus in Frage gestellt. Bildungssysteme versprach, in der Ausge- und nicht zuletzt deren Schülerinnen und Flugs werden Lernende zu Konsumenten staltung aber genau das erwähnte Wettbe- Schüler – bereits im Kindergartenalter – und die Eltern sollen frei wählen können, werbsprinzip zwischen einzelnen Schulen unterzogen. Man beklagt die Bürokratie, welche Schule für ihre Sprösslinge die rich- oder zwischen den SchülerInnen verfolgt: die daraus entstand, die Kräfte bindet und tige ist. Das können sie zwar heute bereits, Mehr Konkurrenz, mehr Leistungsdruck, Kosten verursacht. Das Versprechen von wenn sie über das nötige Kleingeld verfügen, mehr Stress. Einsparungen ist dahin, und es fehlt das aber die grosse Mehrheit der Kinder und Das alles läuft unter dem irreführenden Geld an den entscheidenden Orten für die Jugendlichen geht heute in eine öffentliche Titel Chancengleichheit. Keiner fragt, für Erfüllung des Qualitätsanspruchs. Schule, die kostenlos ist respektive deren was die Chance gut sein soll? Für den sozia- Kosten von der öffentlichen Hand getragen len Aufstieg? Für bessere Berufsaussichten? Probleme: Neoliberales Foto: derGleissberg / photocase.de werden. Zweifelhafte Qualitätsvergleiche Zur Bereitstellung von genügend Humanka- Brainwashing und Xenophobie dienen in erster Linie dem Zweck, dass pri- pital? Können mit Chancengleichheit die Es gehört zum neoliberalen Muster, dass vate Schulen mit den öffentlichen Schulen in Ungleichheit von Begabungen und des die Leistungen des Service Public, die man Konkurrenz treten und so ins Geschäft kom- individuellen Entwicklungstempos oder die dem Markt unterwerfen will, zuerst einmal men. Die Besten sollen obenaus schwingen unterschiedliche Herkunft beseitigt werden? schlecht geredet werden – so lange bis es alle und die unsichtbare Hand des Marktes soll In einer demokratischen Schule braucht es glauben. Dann setzen die Heilsversprechen es richten, dass alle Kinder gratis – respek- keine Chance, denn es geht nicht um ein der Privatisierung ein: Private Unternehmen tive auf Kosten der Allgemeinheit – in die Glücksspiel. Es braucht gut ausgebildete werden es besser machen als der verknöcher- 10 vpod bildungspolitik 214
Privatisierung te Staat. Und kostengünstiger. So geschehen unverfänglichen Selektion nach Leistung von finanzstarken Interessengruppen zählen bei den öffentlichen Transportmitteln, bei und Interesse lässt sich gut sortieren. können. Nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Post und Telekommunikation, zuletzt im Die öffentlichen Schulen sind nach wie oder religiösen Kreisen, die für ihr Geld Gesundheitswesen. Inzwischen ist Ernüch- vor fest in einem Bildungssystem eingebun- ideologischen Einfluss gewinnen wollen. An- terung eingetreten. Die Leistungen sind den, das vom Staat organisiert wird. Dieses derseits gibt es auch jene private Schulen mit wesentlich teurer geworden und die Qualität System muss ausnahmslos allen Kindern einem pädagogischen Ideal, die ihrerseits auf stimmt nicht mehr. Warum sollte das in der Bildung garantieren. Und jene Kinder mit viel Idealismus und Gratisleistungen von Bildung anders sein? sogenanntem «bildungsfernen Elternhaus» Lehrern und Eltern angewiesen sind. Der Vollständigkeit halber muss man oder jene, die darauf angewiesen sind, dass jedoch einen weiteren Umstand erwähnen: Kinder in gut erreichbarer Nähe zur Schule Ganz entscheidend hat schliesslich der gehen, werden auch bei Einführung einer demografische Wandel zur Unzufriedenheit freien Schulwahl nach wie vor in die öffent- mit der öffentlichen Bildung beigetragen. Die ständig wachsende Bevölkerung und liche Schule gehen. Das allein wäre vielleicht zu verkraften, wenn nicht gleichzeitig die «Modelle freier die Zuwanderung fremdsprachiger Familien Konkurrenzmaschinerie nach fragwürdigen Schulwahl und aus anderen Kulturen befeuern die Harmo- Qualitätskriterien – etwa Tests und Noten nie nicht, sondern verursachen zusätzliche für Schülerinnen und Schüler und Durch- Bildungsgutscheine Probleme. Man gibt es nicht offen zu, aber viele Eltern möchten ihre Kinder gerne in schnittsleistungen von Klassen – in Gang gesetzt würde. Die kann eine verheerende schaden der Umset- einem homogenen Klassenverband von Abwärtsspirale auslösen, wie etwa in den USA zu beobachten ist: Die öffentlichen zung des Rechts mehrheitlich einheimischen Schülern se- hen. Da wird die Verheissung Privatschule Schulen werden so zum Sammelbecken von auf Bildung für alle plötzlich attraktiv. Kindern mit Anpassungsschwierigkeiten und sozial schwachen Familien. Es kommt Menschen, indem Abwärtsspirale für die öffentliche Bildung zu den verachteten Restschulen – zu einer Zweiklassen-Bildung in extremem Ausmass. sie gesellschaftliche Nehmen wir die Verheissungen freien Ungleichheiten Wettbewerbs etwas genauer unter die Lupe: Profite auf Kosten von Es wären die unterschiedlichsten Vorlieben, Lehrpersonen und SchülerInnen verstärken.» die Eltern eine Schule auswählen liessen. Das in den Modellen freier Schulwahl Vor allem jene Schulen, die versprechen, die vorgesehene Verfahren für die Verteilung fi- Kinder bis zur Matura zu führen, würden nanzieller Mittel nach prozentualen Anteilen weit oben stehen (ob diese Versprechen dann an SchülerInnen ist also höchst fragwürdig. auch eingehalten werden, steht auf einem Noch schlimmer wäre – wie es in den USA Wider kurzsichtiges anderen Blatt). Mit Sicherheit sind es jene sogar praktiziert wird –, die öffentlichen Nützlichkeitsdenken Schulen, die auf Leistung und Konkurrenz Mittel den Schulen nach einer noch frag- Modelle freier Schulwahl und Bildungsgut- setzen und den Mittelschichtsfamilien würdigeren Qualitätsmessung zuzuweisen. scheine schaden der Umsetzung des Rechts entgegenkommen. In der Minderheit blie- Da würden die öffentlichen Schulen zu kurz auf Bildung für alle Menschen, indem sie ben wohl nach wie vor die viel gerühmten kommen, da sie ja vergleichsweise mehr gesellschaftliche Ungleichheiten verstärken. Reformschulen wie etwa Waldorf- und sozio-ökonomisch unterprivilegierte Kinder Letztlich geht es zumindest in unserer Montessori-Schulen. Gefragt dürften hin- und Jugendliche haben. Gesellschaft bei Bildung immer auch um gegen jene Schulen werden, die eine christ- Die Befürworter von Bildungsgutschei- Geld: Von guten Schulabschlüssen und liche Wertehaltung betonen oder diametral nen behaupten, dass private Unternehmen möglicherweise einem Studium erhoffen entgegengesetzt einen andern religiösen effizienter seien. Selbst wenn sie Gewinn sich viele Eltern, dass ihre Kinder attraktive Hintergrund haben. Das würde längerfristig erwirtschaften, könnten sie dank guter Berufsaussichten haben und als Erwachsene zu einer Fraktionierung der Gesellschaft Auslastung und klugem Wirtschaften Geld bessergestellt sind als andere. Selbstredend nach Religionen, Ethnien und nicht zuletzt sparen. Jedoch: Nach bewährtem Muster hat dies auch mit den – keinesfalls zu recht- nach sozialen Schichten führen. spart man Geld vor allem an den Löhnen des fertigenden – Lohnunterschieden in unserer Da helfen auch Beschwörungen nichts, Personals, denn auch in der Bildung fallen Gesellschaft zu tun. Fähigkeiten und Fertig- dass schliesslich alle Schulen nach denselben die Lohnkosten am stärksten ins Gewicht. keiten, die nicht gewinnbringend verwertbar Bildungszielen unterrichten müssten und Man bezahlt zum Beispiel sogenannte sind, kommen in unserem Bildungssystem dass eine Benachteiligung Andersdenkender Leistungslöhne und entschädigt eigentlich oft zu kurz. verboten ist. Wie sollte das denn kontrolliert nur jene Lehrpersonen korrekt, bei denen Alle Menschen haben aber einen Anspruch werden? Mit noch mehr Bürokratie? In die Nachfrage das Angebot überwiegt. Mit auf Bildung, auch wenn diese nicht direkt Schweden gibt es eine Pflicht, dass Eltern den dadurch entstehenden Erträgen kann zu Geld gemacht werden kann. Unter Um- nicht noch zusätzlich Schulgeld bezahlen man ein teures Management bezahlen, ständen kann auch die scheinbar nutzlose sollten und alle in der Reihenfolge der An- das mithilfe intensiver Werbung und Pro- Bildung für die Gesellschaft einmal über- meldungen aufgenommen werden müssten. paganda die Nachfrage fördert. Mit guter lebenswichtig werden. Die Fixierung auf Ein Leichtes, solche Vorgaben zu umgehen Bildungsqualität hat beides nichts zu tun. Wettbewerb und Konkurrenz könnte uns und besondere Hürden aufzubauen. Pri- Privatschulen dagegen kommen mitunter dann den Weg in die Zukunft versperren. vate Schulen sind im Gegensatz zu den auch auf andere Weise zu zusätzlichen finan- öffentlichen auch nicht verpflichtet, alle ziellen Mitteln, ohne dass sie beim Personal Kinder aufzunehmen und sie zudem in den sparen müssen. Vor allem jene Schulen, Linda Stibler ist Journalistin und in der Fachgruppe geeigneten Strukturen zu behalten. Das ist die einer speziellen weltanschaulichen Bildung im Denknetz engagiert. Lange war sie in der wohl der zentrale Punkt, denn mit einer Richtung verpflichtet sind und auf Spenden Erwachsenenbildung tätig. vpod bildungspolitik 214 11
Privatisierung Gute Gründe für öffentliche Bildungsinvestitionen und progressive Steuern Thomas Pikettys will mit seiner neuen Studie «Capital et idéologie» empirisch nachweisen, dass mehr Chancengleichheit im diese Grundidee ins Aktivistische gedreht: Bildungssystem und weniger soziale Ungleichheit zur Erhöhung der Jede(r) bekommt genau das als Belohnung, Arbeitsproduktivität und des Wirtschaftswachstums beitragen. Anerkennung, Ruhm, Wohlstand etc., was Von Thomas Ragni sie (er) sich verdient hat (durch Bemühun- gen, Eifer, Beharrlichkeit, Leistung…). Im T homas Piketty zeigt in vielzähligen und vielfältigen empirischen Belegen auf, wie die Ungleichverteilung von Einkommen tarismus»: «Im Kern besagt diese Ideologie, dass der absolute Schutz des Privateigen- tums essentiell für die ‹Stabilisierung› der Rückschluss sind alle erfolglosen «Individu- en» faul, träge, zu wenig ehrgeizig, zu wenig klug etc., und darum leben sie gerechterweise und Vermögen – kurz: die «Ungleichheit» sozialen Ordnung ist (bzw. für die Abwehr in Armut und eventuell sogar im Elend, – sich seit dem Mittelalter nicht nur in von Chaos, Unrecht und Willkürherrschaft). geniessen keine Anerkennung, verdienen Europa, sondern auch in den aussereuropä- Den Proprietarismus gibt es in kapitalistisch kein Ansehen – noch nicht einmal Mitleid. ischen Hochkulturen in einer erstaunlichen geprägten Kultur- und Sprachgemeinschaf- Dadurch geriet die bürgerliche Ideologie der Grundstabilität erhalten hat. In einem über- ten in vielen Varianten: Je nach genauer Meritokratie unausweichlich in ein Span- wältigenden empirischen Detailreichtum Ausprägung der proprietaristischen Kultur nungsverhältnis zu den «vormodernen» zeigt Piketty wie die Ungleichheit seit den erfolgt der Wiederanstieg der Ungleichheit christlichen Geboten der Nächstenliebe und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts weltweit in unterschiedlichem Ausmass (im angel- Barmherzigkeit, wie sie die «fürsorgliche» im Trend deutlich ansteigt [Grafik 0.3, S. 37], sächsischen Kulturraum z.B. deutlich stärker (und gleichzeitig bevormundende, autoritä- nachdem sie zuvor nach dem ersten und – als im kontinentaleuropäischen, der in sich re) katholische Kirche interpretierte – ganz insbesondere – nach dem zweiten Weltkrieg nochmals ausdifferenziert ist in einen nord-, im Gegensatz zur «modernen» (typisch gesunken war (zumindest in den westlichen mittel- und südeuropäischen Kulturraum). bürgerlichen) Auffassung im sozial «kalten» Industriestaaten). Besonders interessiert sich Piketty für die (aber emanzipatorischen, anti-autoritären) Die Ideologie des Eigentums, das heisst die Meritokratie als Rechtfertigungsstrategie. Protestantismus: «Jeder ist unmittelbar zu Rechtfertigung der Ungleichverteilung des Gott.» «Jeder ist seines Glückes Schmied.» (Grund-) Eigentums nennt Piketty «Proprie- Meritokratie als Ideologie «Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.» der Rechtfertigung Der Vorstellung der meritorisch gerecht gesellschaftlicher Ungleichheit funktionierenden kapitalistischen Realität Der gesellschaftlich anerkannte relative würde allerdings unmittelbar widerspre- (Rang-)Erfolg bzw. Misserfolg der einzelnen chen, wenn sich die intergenerationelle Un- «In einem «Individuen» wird in unseren Gesellschaften durchlässigkeit der Reichtums- (und damit überwältigenden den Individuen selber zugerechnet, ohne dass dieser Akt der Zuschreibung bewusst Status-)positionen empirisch nachweisen liesse. Piketty kann sie zwar mangels verfüg- empirischen würde. Die erfolgreichen und erfolglosen barer Datenbasen nicht direkt nachweisen, «Individuen» werden wie selbstverständlich doch für einen indirekten empirischen Nach- Detailreichtum zeigt als «Sieger» und «Verlierer» wahrgenom- weis kommt ihm der Umstand zu Hilfe, dass Piketty, wie die men – aufgrund der kulturellen Hegemonie der individualistischen Ideologien der Me- «Bildung» ein wesentlicher Erfolgsfaktor für den gesellschaftlich anerkannten «individu- Ungleichheit seit ritokratie und spezifisch der Leistungsge- rechtigkeit. Auch die Kriterien des Erfolgs ellen» Erfolg ist, der konkret an erreichten relativen Einkommens- und Vermögens- den 80er-Jahren des scheinen wie natürlich gegeben zu sein. (rang-)positionen gemessen wird. Der Ideo- Die meritokratische Ideologie ist eine logie der Meritokratie und spezifisch der 20. Jahrhunderts kleine, aber entscheidende Abwandlung der Leistungsgerechtigkeit würde im Feld der weltweit im Trend aristotelischen Urformel «Jedem das seine». In vorbürgerlichen oder «vormodernen» «Bildung» unmittelbar widersprechen, wenn sich intergenerationelle Korrelationen zwi- deutlich ansteigt.» Gesellschaften bedeutete es, dass jeder (je- schen den Einkommens- und Vermögens- dem) genau das «zusteht», was ihrer (seiner) positionen in der Elterngeneration und den gesellschaftlichen Position (Stand, Status) Bildungsinvestitionen und den je erreichten entspricht, in die sie (er) hineingeboren wor- Bildungsniveaus in der Kindergeneration den ist. In bürgerlichen Gesellschaften wird empirisch robust nachweisen liesse. 12 vpod bildungspolitik 214
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