Wann kommt das neue Normal? - Die Gewerkschaft - VPOD
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Dezember 2021 Das VPOD-Magazin erscheint 10-mal pro Jahr Die Gewerkschaft Schweizerischer Verband des Personals öffentlicher Dienste Wann kommt das neue Normal? Der Betrieb als sozialer Ort: Wie wir nach der Pandemie arbeiten wollen Heidnische Gedanken beim Anzünden der Kerzen am Christbaum
Die Direktion und das Team i Grappoli FROHE WEIHNACHTEN wünschen frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr! Hotel Ristorante i Grappoli • 6997 Sessa • Tel. 091 608 11 87 • info@grappoli.ch • www.grappoli.ch Der VPOD-Taschenkalender bleibt rot. Jetzt für 2022 bestellen. mit Termin-, Monatsplaner und Adressverzeichnis mit Unfallversicherung (auf Wunsch) mit Versicherung (gültig bis zum vollendeten 70. Altersjahr) Fr. 18.40 inkl. MwSt ohne Versicherung Fr. 8.70 inkl. MwSt Bestellung unter Angabe der gewünschten Version (mit/ohne Versicherung) und der Mitgliedsnummer an VPOD-Zentralsekretariat, Postfach, 8036 Zürich oder per Mail an patrizia.loggia@vpod-ssp.ch.
Editorial und Inhalt | VPOD Themen des Monats 5 Der Sklaverei entgegentreten «Aktionswochen gegen Menschenhandel»: Was können Gewerkschaften tun? 6–7 Unter Druck in die Irre? Die Schweiz steht vor wichtigen Weichenstellungen in der ersten und der zweiten Säule Christoph Schlatter 8–9 Volle Kraft voraus ist Redaktor des VPOD-Magazins Der SGB-Frauenkongress auf dem Berner Gurten will eine feministische Gewerkschaftsarbeit 10–11 «3 Nastücher schicke unbedingt» Heidnische Gedanken beim Anzünden Die Universitätsbibliothek Basel erinnert an den Schweizer Kommunisten Fritz Platten (1883–1942) der Kerzen am Christbaum Der Christbaum steht jetzt grade, jedenfalls wenn man vom Sofa aus 13–18 Dossier: Neue Normalität? guckt. Kerzen und Strohsterne in Social Distancing. Für den äussersten «Den Betrieb als sozialen Ort erhalten»: Interview mit Fall steht die gefüllte Gartengiesskanne in Reichweite. Wo sind denn Isabel Rothe, Präsidentin der (deutschen) Bundesanstalt bloss diese praktischen extralangen Zündhölzer vom letzten Jahr? für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) Das Entfachen einer Flamme hat etwas Archaisches. Tatsächlich hat die Wandel durch Corona: Acht Thesen für die Bürotür Menschheit mit der Beherrschung des Feuers einen entscheidenden 19 Orientierungslauf in Geschichte Schritt getan. Es zu entzünden war aber über Jahrtausende eine müh- Nach 70 Jahren Pause ist ein neuer selige Sache, für die man mehrere Utensilien benötigte: eben das Zeug, «Historischer Atlas der Schweiz» erschienen das Feuerzeug. Das erste handliche wurde 1823 erfunden. Zündhölzer waren ab Mitte des 19. Jahrhunderts massentauglich. Die 21 Freude herrscht neue Gefahr wird im Struwwelpeter anschaulich. Pauline zündelt trotz Historischer Erfolg für die Pflege-Initiative – klares Ja zum Warnung und brennt bald lichterloh. «Ein Häuflein Asche bleibt al- Covid-19-Gesetz lein, und beide Schuh’, so hübsch und fein.» Woraus die wohl waren, die Schuhe? Die Tränen schiessen den trauernden Tigerkatzen im Strahl aus den Augen – ist das noch unfreiwillige Komik oder schon absichtliche? Bei Mani Matter ging alles glimpflich aus: Er hat den Schmetterlingseffekt an einem brennenden Zündholz dargestellt. Der Rubriken Dritte Weltkrieg konnte damals gerade noch abgewendet werden. Die Arbeiter der ersten Streichholzfabriken wurden alle krank. Die 4 Gewerkschaftsnachrichten frühen Zündköpfe enthielten Phosphor. Der dampft hochgiftig. Es beginnt mit Zahnschmerzen, Abszesse folgen, dann fallen die Zähne 12 Aus den Regionen und Sektionen aus. Die Knochen brechen leicht; man merkt es kaum, wenn es ge- 20 Sunil Mann: Ich bleibe skeptisch schieht. Manchen wurde der Kiefer amputiert; wahrscheinlich muss- ten sie trotzdem weiter zur Arbeit, gab ja keine Versicherung. Fast 22 Wirtschaftslektion: Steuerpolitik für die Oberen hundert Jahre dauerte es bis zum Phosphorverbot. 23 Wettbewerb: Kinderstar Welche Art Zündhölzer das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern wohl bei sich hatte? Es hätte mit deren Verkauf etwas dazuverdienen 24 VPOD aktuell sollen. Winter ist’s in Andersens Märchen, Silvester, und kalt. Das ar- me Kind läuft barfuss durch die Stadt, frierend, verzweifelt, niemand 25 Hier half der VPOD: Hopp de Bäse! kauft ihm etwas ab. In einem Mauerwinkel kauert es sich hin. Trotz 26 Solidar Suisse: Menschen, nicht Spielbälle des Verbots brennt das Mädchen die Hölzchen jetzt selbst ab. Weniger um der Wärme willen, sondern weil im Flammenschein Visionen ei- 27 Menschen im VPOD: Alessandra Widmer, Co-Geschäfts- ner besseren Welt entstehen. Weihnachtsbaum und Gänsebraten für leiterin Lesbenorganisation Schweiz (LOS), Basel alle statt für wenige. Schon erscheint auch die Grossmutter, «welche die Einzige war, die sie liebgehabt hatte, die jetzt aber tot war». Am an- dern Morgen findet man die Leiche des Kindes mit den abgebrannten Redaktion /Administration: Hölzchen. «Sie hat sich wärmen wollen, sagte man.» Postfach, 8036 Zürich Ist Erfrieren ein schöner Tod? Anfangs sollen die Schmerzen grausam Telefon 044 266 52 52, Telefax 044 266 52 53 Nr. 10, Dezember 2021 sein, dann schalten die Körperfunktionen ab, und man verdämmert. E-Mail: redaktion@vpod-ssp.ch | www.vpod.ch Zündhölzer sind nicht vegan; sie enthalten Tierleim. Erscheint 10-mal pro Jahr Der Baum brennt jetzt. Also die Kerzen. Dezember 2021 3
VPOD | Gewerkschaftsnachrichten Soll planbare Dienstzeiten haben: Lokführer. Soll mehr Lohn bekommen: Schreinerin. Mehr Geld fürs Hobeln, Dübeln, Sägen Nach einem Jahr Stillstand haben die Delegierten von Unia und Sy- na und der Schreinermeisterverband VSSM ihren GAV erneuert. Er gilt bis 2025. Neuerungen unter anderem: Der Mindestlohn für Ge- lernte steigt um 1 Prozent auf 5111 Franken, und für langjährige und ältere Arbeitnehmende wird der Kündigungsschutz verstärkt. Die GAV-Verhandlungen waren Ende 2020 versandet, weil die Arbeitge- berseite die Frührente ablehnt. Jetzt sind die Gewerkschaften einst- weilen auf einen GAV ohne Vorruhestandsmodell eingeschwenkt. | slt/unia (Foto: Extreme Photographer/iStock) Stadt Zürich vorbildlich dual Die Stadt Zürich hat den Nationalen Bildungspreis der Hans-Huber- Stiftung und der Stiftung FH Schweiz erhalten. Er ehrt Unternehmen, die sich für die duale Berufsbildung engagieren. Zum ersten Mal wur- de ein öffentlicher Betrieb ausgezeichnet. Gerühmt wurde die Vielfalt der Berufsbildung in Zürich; 50 EFZ werden angeboten, von Archi- tekturmodellbauerin über «grosse Berufe» wie FaBe, FaGe oder die kaufmännischen bis hin zum Zimmermann (oder zur Zimmerin, wie die weibliche Form heisst). Heute hat die Stadt 1400 Lernende, fast fünfmal so viel wie vor 20 Jahren. | slt Ärger im Lokführerstand Das SBB-Lokpersonal ärgert sich, dass seine Arbeitseinsätze immer Schwarzer Freitag in Verkauf und Logistik kurzfristiger (um-)disponiert werden. Die erwartete ständige Bereit- Die Unia sieht den «Black Friday» und den «Cyber Monday» als schaft, Änderungen in Kauf zu nehmen, führe zu Erschöpfung. Etwa «schwarze Tage für die Beschäftigten». Verkäuferinnen, Logistiker wenn an eine 10-Stunden-Schicht kurzfristig noch eine halbe Stunde und Kurierinnen litten unter Lohndruck, Stress und unbezahlten drangehängt wird. Die SBB begründen das mit Baustellen und Perso- Stunden – Folgen des künstlich entfachten Konsumrausches. Mittels nalmangel. Der SEV fordert die sofortige Änderung der Vorgehenswei- GAV sollen die ultraflexiblen und prekären Geschäftsmodelle einge- se; eine Resolution ist deponiert. | slt/sev (Foto: SBB CFF FFS) dämmt werden, insbesondere die 6-Tage-Woche und Arbeit auf Abruf. | unia/slt Teilzeitmalen Das Projekt «Teilzeitbau» will dafür sorgen, dass auch im Baugewerbe Bundesrat ignoriert Rentengarantie Teilzeitarbeit möglich und üblich wird. Malen und Gipsen sind schon Mit der Ablehnung der Initiative für eine 13. AHV-Rente ignoriere der heute vergleichsweise weiblich. Ein neu in dieser Branche versandter Bundesrat die Realität der pensionierten Bevölkerung, findet der SGB. «Teilzeitfächer» zeigt Hilfsmittel zur Teilzeitarbeit. Es gibt einen Mus- Die Altersarmut spitzt sich weiter zu. Das vor 50 Jahren abgegebene tervertrag, Merkblätter und Leitfäden zu Themen wie Arbeitsübergabe Leistungsversprechen für die Altersrenten scheint nicht mehr zu gel- oder Kommunikation mit der Kundschaft. Hinter dem Projekt stehen ten. Die SGB-Initiative soll gemäss SGB die Gegenoffensive einläuten: der Schweizerische Maler- und Gipserunternehmer-Verband SMGV, «In der Schweiz hat es genug Geld für anständige Renten – nicht nur die Gewerkschaften Unia und Syna sowie der Verein Pro Teilzeit. | pd für die Top-Verdiener.» | slt/sgb Mindestzins: 1 Prozent ist zu wenig Bau: Gegen Zeit- und Termindruck Die Renditen der Pensionskassen sind seit Jahren hoch, trotzdem Die Bauarbeiter der Unia haben an einer Berufskonferenz ihre For- bleibt die Verzinsung auf historischem Tiefststand. Für die Versi- derungen für die Neuverhandlung des Landesmantelvertrags (LMV) cherten ist es nicht nachvollziehbar, dass der BVG-Mindestzins bei im kommenden Jahr verabschiedet. Sie kämpfen vor allem gegen stei- 1 Prozent bleibt. Aber der SGB ist mit seinem Antrag auf Erhöhung in genden Zeit- und Termindruck, der ein sehr konkretes Risiko für die der Kassenkommission einmal unterlegen. | sgb Gesundheit und die Sicherheit der Beschäftigten darstellt. | slt 4 Dezember 2021
Menschenrechte | VPOD «Aktionswochen gegen Menschenhandel»: Was können Gewerkschaften tun? Der Sklaverei entgegentreten Arbeitsausbeutung in Zusammenhang mit Menschenhandel ist traurige Realität. Eine Veranstaltung der «Aktionswochen gegen Menschenhandel» hat aufgezeigt, welchen Beitrag die Gewerkschaften im Kampf dagegen leisten können. | Text: Micha Amstad, VPOD-Fachsekretär (Foto: linephoto/iStock) Die «Aktionswochen gegen Menschenhan- Menschenhandel ist eine del» nahmen in diesem Jahr den Menschen- Realität, aber oft nicht leicht zu erkennen. handel zwecks Arbeitsausbeutung in den Fokus. Unter diesem Zeichen stand Ende Oktober auch eine Veranstaltung, die von der Schweizer Vertretung der Internationalen Organisation für Migration IOM (eine Uno- Organisation) in Zusammenarbeit mit dem Fedpol organisiert wurde. Zentrale Frage: Welche Rolle kommt den Gewerkschaften zu bei der Bekämpfung des Menschenhandels, besonders dort, wo er zum Zweck der Aus- beutung der Arbeitskraft geschieht? Inputreferate von den Veranstaltenden und von Gewerkschaften legten die Grundlage für eine Podiumsdiskussion. Da waren sich die Teilnehmenden einig: Die Sache ist drin- gend. Unterschiedliche Stellen und Organi- sationen müssen zusammenwirken. Darun- ter, insbesondere wenn die Ausbeutung der Arbeitskraft im Zentrum steht, auch die Ge- kommen, werden die Betroffenen etwa durch Genau hier kommen die Gewerkschaften ins werkschaften. Aber wie? Wer effektiv gegen Androhung von Gewalt zu übermässiger Ar- Spiel. Als Arbeitnehmendenvertretung sind Menschenhandel vorgehen will, muss erst beitsleistung gedrängt – oft bei empörend wir vor Ort in den Betrieben. Dadurch haben einmal wissen, wie sich diese Problematik tiefem oder gar ganz ausbleibendem Lohn. wir die Chance, Fälle von Arbeitsausbeutung äussert. Da Opfer von Menschenhandel meist keinen vor Ort zu erkennen und dagegen vorzuge- Wie Claire Potaux-Vésy von der IOM aus- Bezug zur Schweiz haben und hier über kein hen. Es ist zudem unsere Verantwortung, für führte, definiert sich Menschenhandel durch Netzwerk verfügen, sind sie den Täterinnen alle Arbeitnehmenden in der Schweiz einzu- bestimmte Aktivitäten (beispielsweise An- und Tätern vollständig ausgeliefert. stehen. Alle, die in der Schweiz arbeiten, müs- werbung), durch Mittel (zum Beispiel Täu- sen die gleichen Rechte haben. Nötig ist eine schung) und durch Ausbeutung (also etwa Schweiz als Ziel- und Transitland Sensibilisierung der Gewerkschaftsmitglieder Ausbeutung der Arbeitskraft). Letztere wiede- Die Schweiz ist Ziel- und Transitland für und -profis. Sie müssen die oben beschriebe- rum kann sich äussern durch sklavereiähnli- Menschenhandel. Jährlich werden rund 500 nen Indikatoren kennen und in der Lage sein, che Praktiken wie Schuldknechtschaft, Leib- Betroffene durch Opferhilfestellen betreut, Fälle zu entdecken. Besteht ein Verdacht, eigenschaft und Zwangsarbeit. Laut Myriam was aber nur die Spitze des Eisbergs dar- muss mit einer spezialisierten Fachstelle Kon- Ait Yahia vom Seco sind Ausbeutungsverhält- stellt. Bei den meisten der Betreuten handelt takt aufgenommen werden. nisse im Arbeitsbereich schwer zu erkennen. es sich um Frauen, die als Opfer von Men- In einer Broschüre hält das Seco Indikatoren schenhandel sexuell ausgebeutet werden: zur Eine Kernaufgabe fest: fehlende Dokumente, ein unklarer Auf- Prostitution oder zur Herstellung von Porno- Zudem kommt den Gewerkschaften eine enthaltsstatus, prekäre Arbeitsbedingungen, grafie gezwungen sind. Dieser Bereich über- wichtige Rolle in der Koordination zu. Auch tiefer Lohn, Verschuldung sowie Gewalt, schneidet sich teilweise mit der Arbeitsaus- auf politischer Ebene müssen entsprechende Überwachung und Drohung. beutung – dort, wo Frauen zwar wissen, dass Forderungen gestellt werden. Die Beseiti- sie in der Sexarbeit tätig sein werden, aber gung von Ausnutzungsverhältnissen im Ar- Angelockt und bedroht über die Bedingungen oder die Dauer der Ar- beitsbereich ist unsere Kernaufgabe. Daher (Falsche) Gehaltsversprechungen sind ein beit getäuscht werden. Auch im Baugewerbe, sollten wir auch im Kampf gegen Menschen- Mittel, die potenziellen Opfer anzuwerben in Privathaushalten und in der Gastronomie handel zwecks Arbeitsausbeutung eine tra- und ins Zielland zu locken. Einmal ange- bleiben weiterhin viele Fälle unentdeckt. gende Rolle einnehmen. Dezember 2021 5
VPOD | Altersvorsorge Die Schweiz steht vor wichtigen Weichenstellungen in der ersten und der zweiten Säule Unter Druck in die Irre? Wie es mit den zwei wichtigen Säulen der Altersvorsorge weitergeht, entscheidet sich in den nächsten Monaten. Das ganze Gefüge ist von verschiedenen Seiten unter Druck, und die Frauen sind nicht bereit, die Sanierungskosten zu schultern. Ganz im Gegenteil. | Text: Julia Maisenbacher (Foto: steve-goacher/iStock) Die Schweiz steht vor wichtigen Weichen- monatlichen Rente rechnen, wenn sie mit 64 Teilzeitarbeitende verbessert, auch wenn der stellungen in der Altersvorsorge. Die AHV pensioniert würde. Kompromiss mit leicht höheren Lohnabgaben ist ein zukunftsfähiges und sozial gerechtes In parlamentarischen Debatten über «AHV einhergegangen wäre. System, aber nicht existenzsichernd. Der 21» wurde Kritik an der Reform oft mit dem Die Vorschläge der zuständigen Kommissi- Grossteil der Schweizer Bevölkerung im Pen- Argument gekontert, dass die Frauen ja in on des Nationalrats gehen nun aber in eine sionsalter bezieht zusätzlich zur AHV eine der zweiten Säule bessergestellt würden und andere Richtung. Noch ist das Reformpaket BVG-Rente. Diese Renten sinken allerdings daher eine Erhöhung des AHV-Alters hinzu- nicht zugeschnürt worden. Doch Stand heu- seit vielen Jahren wegen tiefer Zinsen und nehmen hätten. Die letzten Entwicklungen te wird deutlich, dass die Vorentscheide der wegen der Alterung der Bevölkerung. Mit in Bezug auf die BVG-Reform entlarven diese Nationalratskommission und die vorgesehe- der BVG-Reform und «AHV 21» zielen gleich Versprechungen jedoch als haltlos. nen Ausgleichsmassnahmen mit deutlichen zwei Projekte auf die Reform der Schweizer Rentenverlusten für die Frauen verbunden Altersvorsorge. Besonders brisant sind beide Kompromiss bereits begraben? sein werden. Laut einer Hochrechnung des Vorhaben im Hinblick auf die Altersrente der Die erste Säule ist sozial gerecht und «funk- SGB würde die Reform so, wie sie die Nati- Frauen. Nimmt man AHV und BVG zusam- tioniert» auch für Frauen mit ihren nicht so onalratskommission will, vor allem Besser- men, erhalten Frauen jetzt schon ein Drittel gradlinigen Berufsbiografien. Für die zweite verdienenden nützen. Sie würde demnach weniger Rente als Männer. Säule lässt sich Ähnliches leider nicht sagen. In ihr gibt es eine deutliche Rentenlücke für Auf dem Rücken der Frauen? Frauen. Diesem Umstand wollte der Reform Was die «AHV 21» angeht, hat sich die So- entwurf der Sozialpartner Rechnung tragen, zialkommission des Nationalrats im Diffe- der sogenannte Sozialpartnerkompromiss. renzbereinigungsverfahren dem Ständerats- Die Gewerkschaften machten sich dafür vorschlag angenähert und die vorgesehenen stark, dass das Rentenniveau in der zwei- Kompensationsleistungen der Übergangs- ten Säule langfristig beibehalten wird. generation weiter gekürzt – auch wenn der Trotz tiefer Zinsen, trotz der anstehen- Kreis der Frauen, die in den Genuss von den Reform und trotz der geplanten Ausgleichszahlungen kommen sollen, etwas (und versicherungsmathematisch ausgeweitet wurde. In jedem Fall bedeutet richtigen) Senkung des Umwand- «AHV 21» aber eine Anhebung des Rentenal- lungssatzes. ters für Frauen und damit eine Senkung der Zudem sah der Sozialpartner- Frauenrenten. kompromiss eine leichte Ver- Nehmen wir als Beispiel eine heute 48-jährige besserung der Situation für Pflegefachfrau mit 2 Kindern, die ihr Leben Beschäftigte in Tieflohnbe- lang sowohl im Gesundheitsbereich erwerbs- reichen sowie Arbeitneh- tätig war als auch unbezahlte Sorgearbeit ge- mende in Teilzeit – eben- leistet hat. Tritt «AHV 21» in Kraft, muss sie falls häufig Frauen – vor. gemäss Modell-Rechnungen des SGB entwe- Durch die Halbierung der ein Jahr länger arbeiten, um die gleiche des Koordinationsabzugs Rente wie bisher zu erhalten, oder eine monat- hätte sich der versicher- liche Senkung ihrer AHV-Rente von 89 Fran- te Lohn erhöht, und das ken hinnehmen. Eine heute 23-jährige Fach- hätte die Leistungen person Betreuung müsste bei Inkrafttreten der für Erwerbstätige mit Reform mit einer um 96 Franken geringeren tiefen Einkommen und Noch liegt die Zukunft der Frauenrenten im Nebel. Sobald klare Sicht herrscht, handelt der VPOD. 6 Dezember 2021
Altersvorsorge | VPOD Ungleichheiten verstärken – zum Nachteil grund der Resultate dieser Untersuchung ist gegen eine Verschlechterung der Altersvor- von Beschäftigten in Teilzeitpensen und Tief- klar: Die gewerkschaftliche Antwort auf die sorge für Frauen. Aber nicht nur: Mit der lohnbranchen. Immerhin: Die Differenzbe- Reformvorhaben «AHV 21» und «BVG 21» Initiative für die 13. AHV-Rente und dem reinigung für beide Projekte ist noch nicht muss weiter lauten: Rentenaltererhöhung sozialpartnerschaftlich ausgehandelten BVG- abgeschlossen. und Rentenkürzungen für Frauen verhindern Sanierungsvorschlag haben die Gewerkschaf- und Rentenlücken für Frauen schliessen. ten auch konkrete Verbesserungsvorschläge Wie weiter? Und zwar durch einen Ausbau der AHV und gemacht. Der Kampf gegen Ungerechtigkei- Eine kürzlich vom SGB veröffentlichte Stu- durch eine soziale und geschlechtergerechte ten und für ein würdiges Alter geht 2022 die vergleicht die Kosten unterschiedlicher Reform der zweiten Säule. weiter, im Parlament, an der Urne und auf Vorsorgeformen (siehe Kasten). Auch auf- Das Jahr 2021 stand im Zeichen des Kampfes der Strasse. Profitieren von der AHV: Junge. Warum die Jungen von der AHV besonders profitieren Die AHV schlägt mit ihrem Preis-Leistungs-Verhältnis die private Vorsorge um Längen. Neue umfassende Modellrechnungen des SGB zeigen, warum das so ist. | Text: SGB (Foto: ViewApart/iStock) Die Perspektiven in der Altersvorsorge sind düs- Besonders eindrücklich fallen die Kostenunter- ihrem ganzen Einkommen unbegrenzt in die AHV ter. Die Renten in der zweiten Säule sinken und schiede im Familienszenario aus. Gäbe es die ein – und damit weit mehr, als sie von ihr jemals sinken, und die AHV-Renten reichen bei Weitem AHV nicht und müssten sie sich dieselbe Rente zurückbekommen werden. Weitere Beiträge der nicht zum Leben. Die Rentenlücke wird immer zu den gängigen Konditionen privat ansparen, öffentlichen Hand, die über Steuern und Gebüh- grösser. Dieses zentrale sozialpolitische Prob- würde für Ehepaare mit mittleren Einkommen ren finanziert werden, verstärken den sozialen lem der Arbeitnehmenden muss gelöst werden. die monatliche Mehrbelastung bereits 790 Fran- Aspekt. Ausserdem werden in der AHV Risiken Durch private Vorsorge, wie gewisse Stimmen ken betragen. Über das ganze Erwerbsleben und Kosten gemeinschaftlich abgedeckt, die in beliebt machen wollen? Der SGB hat dazu einen macht das rund 400 000 Franken. Alleinstehende der privaten Vorsorge für jede und jeden einzeln umfassenden Preis-Leistungs-Vergleich erstellt. Frauen mit Medianeinkommen sparen dank der hinzugerechnet werden müssen. Die Studie hat die gesamten Beiträge an die AHV AHV über 270 000 Franken. Für 90 Prozent der Der von Banken und Versicherungskreisen propa- mit jener Summe verglichen, die in einen Fonds Bevölkerung kostet ein Rentenfranken in der AHV gierte Ausbau der dritten Säule wäre sozialpoli- der privaten Vorsorge einbezahlt werden müss- weniger als in der dritten Säule. tisch und volkswirtschaftlich falsch. Er ist für viele te, wenn die gleiche Rentenhöhe resultieren soll. Diese vorteilhaften Leistungen gelingen der AHV, unbezahlbar teuer und bietet im Alter trotzdem Ergebnis: Der allergrösste Teil der Bevölkerung weil sie solidarisch finanziert und unbürokratisch keine Einkommenssicherheit. Die Gewerkschaf- hat dank der AHV viel mehr Geld zum Leben, als einzig ihren Versicherten verpflichtet ist. Denn ten schlagen mit der Initiative für die 13. AHV- ihm bei einer privaten Vorsorge bliebe. einkommensstarke Arbeitnehmende zahlen auf Rente deshalb eine Aufstockung der AHV vor. Dezember 2021 7
VPOD | Frauen 14. SGB-Frauenkongress auf dem Berner Gurten will eine feministische Gewerkschaftsarbeit Volle Kraft voraus Die Dynamik des letzten SGB-Frauenkongresses 2018 mündete in den Frauenstreik. Jetzt haben die Gewerkschafterinnen wieder getagt. Sie haben eine Charta verabschiedet und einen neuen Frauenstreik in Aussicht gestellt. | Text: Julia Maisenbacher und SGB (Fotos: Emanuel Ammon [Foto Charta: SGB]) Auf dem Berner Hausberg Gurten haben der Care-Arbeit zählen zu den wichtigen Schub im Kampf um Gleichstellung und In- schon viele Dinge ihren Anfang genommen. Forderungen, ebenso ein echter Schutz vor klusion geben. Dafür wollen die Gewerkschaf- Im November haben sich dort rund 220 Ge- Diskriminierung und vor jeder Form von terinnen weiterhin die Zusammenarbeit mit werkschafterinnen und Gäste über Wege hin sexistischer Gewalt, eine Verkürzung der Er- feministischen Aktivistinnen pflegen und mit zu mehr Gleichstellung und weniger Diskri- werbsarbeitszeit und eine Kinderbetreuung diesen zusammen neue Formen der Mobilisie- minierung in Gesellschaft und Erwerbsleben als Service public. rung und des gewerkschaftlichen Aktivismus ausgetauscht. Während zwei Tagen wurden Die Delegierten blicken auf eine bewegte entwickeln. Die Kernthemen des VPOD nah- die Prioritäten und Ziele der Gleichstellungs- Kongressperiode zurück: die Idee des Frau- men in den Debatten des Frauenkongresses politik für die nächsten vier Jahre definiert enstreiks 2019 ging aus dem 13. Frauenkon- eine zentrale Rolle ein. Beispielsweise wurde und eine Charta für feministische Gewerk- gress 2018 hervor und setzte eine Dynamik die Resolution für eine Kinderbetreuung als schaftsarbeit zuhanden des SGB-Kongresses in Gang, die seither nicht mehr nachgelassen Service public – ein Anliegen, für das sich der verabschiedet. Ziel ist es, den Schwung der hat. Die feministische Bewegung hat ein his- VPOD seit vielen Jahren einsetzt – mit Beifall Frauenbewegung in die Gewerkschaften zu torisches Ausmass erreicht und gezeigt, dass und Standing Ovations angenommen. tragen und für Mobilisierungen zu nutzen. Frauen und LGBTIQ+-Personen eine Kraft sind, mit der jetzt gerechnet werden muss. Der grosse Rückblick Unterbewertet, unterbezahlt Nach dem Frauenstreik hat die Corona-Pande- Der 14. SGB-Frauenkongress mit seinem Für die Delegierten ist klar: Es muss in der mie ein Schlaglicht darauf geworfen, dass die dichten und anregenden Programm konnte Arbeitswelt punkto Gleichstellung endlich Arbeit von Frauen zwar unentbehrlich, aber auf hochkarätige Referentinnen zählen. Dore vorwärtsgehen. Es braucht bessere Löhne eben auch unterbewertet und unterbezahlt ist. Heim, einst SJU-Gewerkschafterin, dann Lei- und Arbeitsbedingungen und höhere Renten. Diese Erfahrungen sollen in der nächsten terin der Stadtzürcher Gleichstellungsstelle, Auch die Aufwertung der Berufe mit hohem Kongressperiode in die Gewerkschaftsarbeit schliesslich bis zur Pensionierung SGB-Zen- Frauenanteil und eine gerechtere Verteilung einfliessen und ihr einen feministischen tralsekretärin, würdigte in einem Rückblick 8 Dezember 2021
Frauen | VPOD rinnen aus dem Gesundheitssektor berichteten über erfolgreiche Kämpfe der letzten Jahre. Die Themen «Streik und Mobilisierung», «system- relevante Frauenarbeit», «Machtverteilung und internationale Solidarität» sowie «Digitalisie- rung und Uberisierung» wurden in Workshops am Freitagnachmittag vertieft. Ein Höhepunkt des Frauenkongresses war die Verabschiedung einer Charta; sie fasst die or- ganisatorischen und politischen Leitplanken für eine feministische Gewerkschaftsbewe- gung und die Arbeit der nächsten vier Jahre zusammen. SGB-Präsident Pierre-Yves Mail- Mit Charta und Haftnotizen wollen die Gewerkschafterinnen die Gleichstellung voranbringen. lard holte das Dokument gleich persönlich ab. 2022 wird der Kampf gegen «AHV 21» und Errungenschaften, Kämpfe und herausragen- zu bitten. Unia-Chefin Vania Alleva, VPOD- für bessere Renten im Mittelpunkt stehen. de Gewerkschafterinnen in der Geschichte Präsidentin Katharina Prelicz-Huber und Nora Die Delegierten machten ausserdem ihre feste der Schweizer Frauenbewegung. Dabei ka- Back, Präsidentin des Luxemburger Gewerk- Entschlossenheit deutlich, einen neuen gros- men Taktikerinnen ebenso vor wie jene, die schaftsbundes, diskutierten über die Kraft sen feministischen Streik für das Jahr 2023 Türen lieber eintraten als um deren Öffnung weiblicher Mobilisierungen. Gewerkschafte- vorzubereiten. Neue Bücher Gut gebüschelt sowie jene, bei denen lediglich Drei Frauengenerationen – Jahrgänge 1940 Noch bevor das Frauenstimm- ein partielles Stimmrecht zur Werner seitz bis 1989 – jagen quer durch alle Textsorten. rechtsjubiläumsjahr zu Ende ist, Debatte stand (etwa in Schul-, Elisabeth Joris würdigt Vorkämpferinnen wie gilt es, diesbezügliche Neuer- Kirchen- und Armensachen). Der der kampf um die Emilie Gourd oder Emilie Lieberherr. Regula politische gleichstellung scheinungen zu würdigen. Bei- zweite Hauptteil von Seitz’ Buch der frauen in der schweiz seit 1900 Bührer Frecker erinnert an die Journalistin spielsweise die Arbeit von Wer- auf die Wartebank spielt nach 1971 und untersucht, und PR-Frau Doris Gisler Truog, die 1971 ner Seitz: «Auf die Wartebank geschoben wie – in welchen Etappen, Wel- den berühmten Blumenstrauss aufs berühm- geschoben.» Seitz war lange Jah- len und Zusatzschleifen – sich te Plakat («Den Frauen zuliebe ein männli- re beim Bundesamt für Statistik die politische Partizipation der ches Ja») gehievt hat. Susan Boos hat sich tätig. Dieser Erfahrung verdankt Frauen in der Schweiz entwickel- den Nebelspalter vorgeknöpft und findet Eh- er wohl die Fähigkeit, Zahlen und te. An die Paukenschläge (Nicht- renwertes neben peinlichen Witzen. Niemals Daten so zu büschelen, dass nicht nur unmit- wahl Uchtenhagen, Wahl Kopp, Rücktritt fehlen darf die Satire, die alles umdreht: Irena telbar verständliche Tabellen herauskommen, Kopp, Nichtwahl Brunner, Abwahl Metzler) Brežná ist für ein Nein – zum Männerstimm- sondern Muster und Gesetzmässigkeiten erinnert sich frau vielleicht noch. Aber auch recht! Am meisten berührt hat mich die sichtbar werden. Kurz sind die Ausführungen daran, dass die Kantonsregierungen noch bis 5-Seiten-Kurzgeschichte von Angelika Wal- über die geistes- und organisationsgeschichtli- 1983 frauenfreie Zone waren? | slt dis: «Späth-Sommer 1969»: «Wenn sie durch chen Grundlagen; auch die finale Diskussion die grosse Stadt schlendert, stellt sie sich vor, Werner Seitz: Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um der Gründe für die Schweizer Verspätung fällt die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit sie müsse sich beeilen, sonst komme sie zu eher knapp aus. Seinen Hauptfokus richtet 1900, Zürich (Chronos) 2020. 294 Seiten, 38 CHF. spät ins Büro und der Chef schimpfe sie aus Seitz auf die politische Entwicklung, speziell und sie verliere ihre Stelle und sie auf die zahlreichen Frauenstimmrechtsurnen- Bunter Teller könne ihre Zweizimmerwohnung gänge auf allen Staatsebenen. Es ist ein Segen, «Gruss aus der Küche – Texte nicht mehr bezahlen. Sie hat kei- dass man das jetzt mal säuberlich zusammen- zum Frauenstimmrecht» ist am ne Zweizimmerwohnung, keine gestellt bekommt und sich nie mehr durch anderen, am feinstofflichen Ende Stelle, keinen Chef. Sie hat einen unvollständige Wikipedia-Einträge hangeln der Skala angesiedelt. Die Heraus- Ehemann. Herrn Späth.» | slt muss. Wie viele kantonale Volksentscheide geberinnen hat interessiert, «wie Rita Jost und Heidi Kronenberg (Hrsg.): über das Frauenstimmrecht gab es zwischen Frauen heute über Geschlechter- Gruss aus der Küche. Texte zum Frauen- 1919 und 1990? Es waren 95, wenn man auch ordnungen, das Patriarchat und stimmrecht, Zürich (Rotpunktverlag) 2020. 219 Seiten (9 Ill. von Nora Ryser), 26 CHF. jene über die fakultative Einführung des Frau- alte weisse Männer nachdenken, enstimmrechts auf Gemeindeebene mitzählt nachrechnen oder fantasieren». Dezember 2021 9
VPOD | Geschichte Die Universitätsbibliothek Basel erinnert an den Schweizer Kommunisten Fritz Platten (1883–1942) «3 Nastücher schicke unbedingt» Der im Gulag ermordete Fritz Platten ist eine der interessantesten und umstrittensten Figuren der Schweizer Arbeiterbewegung. War er Täter oder Opfer des Stalinismus? Die Basler Ausstellung hilft den Nebel lichten: Er war beides! | Text: Christoph Schlatter (Fotos: Schweizerisches Sozialarchiv) 1910 mit seinem ersten Sohn Georg. 1925 (vorn sitzend) in der Kolonie an der Wolga. 1936 – eine der letzten bekannten Aufnahmen. Fritz Platten ist es zu verdanken, dass Lenin Der Wagen fuhr, an ordentliche Züge ange- kommen; er selbst habe, um der «Weiterfahrt und Konsorten 1917 aus dem Schweizer Exil hängt, über Singen (erste Übernachtung) nach nicht hindernd im Wege zu stehen», darauf recht problemlos nach Russland zurückkeh- Karlsruhe. In Mannheim, so ist’s überliefert, verzichtet. So stellt es Platten zumindest in ren konnten, um dort Revolution zu machen. unterband Platten das Singen französischer einer Publikation dar, die 1924 unter dem Ti- Wir befinden uns mitten im Weltkrieg; Platten Revolutionslieder. In Frankfurt am Main hielt tel «Die Reise Lenins durch Deutschland im verhandelt mit den Deutschen die Umstände der Zug für die zweite Nacht; Platten stieg aus, plombierten Wagen» erschien und die seltsa- der Eisenbahnreise. Das Deutsche Reich ist um Proviant für die im Wagen Verbleibenden me Eisenbahnfahrt zum Mythos erheben half. interessiert daran, den Gegner im Osten von zu besorgen und weil er «mit einer Freundin innen zu schwächen. Und so fährt am Nach- daselbst ein Wiedersehen vereinbart hatte», Den Terror nicht überlebt mittag des 9. April 1917 eine 32-köpfige Gruppe wie er es ausdrückt. (Ein Kind von Traurigkeit Dieses Büchlein war unter Stalin dann verbo- «in echt russischer Reiseaufmachung» im fahr- war er weissgott nicht.) In Berlin folgte die ten. Dessen Terror überlebten viele aus der planmässigen Zug von Zürich nach Deutsch- dritte Übernachtung, in Stralsund die Über- Reisegruppe von 1917 nicht. Grigori Sinowjew land. Jenseits der Grenze kann man nach kur- fahrt mit dem Trajekt auf die Insel Rügen. beispielsweise assistierte Stalin noch bei der zer Internierung im Wartesaal III. Klasse den Von Sassnitz, Endstation des Wagens, brachte Ausschaltung Trotzkis, nur um 1926 selbst legendären «plombierten» Wagen besteigen. ein Salonschiff die Reisenden über die beweg- aus der Partei gemobbt zu werden. Ein Jahr- te Ostsee ins schwedische Trelleborg. Fast al- zehnt später war er eines der ersten Opfer der Rauchen und Singen verboten! len ausser Lenin wurde es schlecht. Schauprozesse. Auch Grigori Sokolnikow wur- Plombiert? Von 4 Wagentüren waren nur 3 Platten dürfte es gewurmt haben, dass er bei de 1936 verurteilt, wenn auch «nur» zu langer zugesperrt; eine Kreidelinie trennte den ex der triumphalen Ankunft am 19. April 1917 Haft. 1939 wurde er von einem als Mithäftling territorialen Sektor vom deutschen Hoheits- in Petrograd (später: Leningrad, heute: Sankt getarnten Geheimpolizisten erschlagen. Im gebiet. Fritz Platten hatte demnach die Toi- Petersburg) nicht dabei sein konnte. An der selben Jahr kam Karl Radek auf ähnliche Weise lette in seinem Bereich für sich allein; die Grenze Schwedens zu Finnland – damals eine ums Leben. Georgi Safarow wurde 1942 hin- übrigen Reisenden teilten sich in diejenige teilautonome russische Provinz – wurde ihm gerichtet. Moissei Charitonow starb 1948 nach am anderen Wagenende. Auch auf der Stre- die Einreise verweigert. Grund: Platten hatte vielen Gulag-Jahren. Sinowjews erste Ehefrau, cke? Zweifel sind erlaubt, zumal der Russen- wegen Teilnahme an der ersten russischen die ebenfalls im Zug sass, verbrachte Jahrzehn- Lokus zugleich als Fumoir diente: Lenin hatte Revolution in Riga im Gefängnis gesessen. te in Haft, überlebte aber Stalin und ihre Frei- das Rauchen im Abteil untersagt. Angeblich beharrte Lenin auf seinem Mit- lassung schwerkrank um wenige Jahre. 10 Dezember 2021
Geschichte | VPOD Und Fritz Platten? Offenkun- 1936 mit zwei Briefen in die dig erhoffte er sich aufgrund Schweiz das dortige Unbeha- seiner Verdienste – wozu auch gen an Sowjetrussland zu zer- die Rettung von Lenins Leben streuen suchte? Zu einer Zeit, 1918 anlässlich eines Atten- als es rund um ihn längst der tats gehört – eine führende Normalfall war, dass erpresste Stellung im jungen Sowjet- Geständnisse in Lagerhaft und russland. Zwar gehörte er dem Hinrichtungen mündeten? Präsidium des Komintern- Nach Stalins Tod, als dessen Gründungskongresses an, aber Terror in der UdSSR eine das war’s auch schon. Zurück erste, unvollkommene Auf- in der Schweiz scheint er als arbeitung erfuhr, wurde auch Nationalrat (bis 1922, zuletzt Platten rehabilitiert. Strassen für die KP) kaum wirksam ge- wurden nach ihm benannt, wesen zu sein. 1923 übersiedel- Gedenktafeln angebracht, die te er mit Berta Zimmermann, berühmte Zugreise wurde wie- seiner dritten Ehefrau, definitiv der gewürdigt. Plattens Ende nach Sowjetrussland. Es war blieb tabu. Auch die Schweizer die Zeit nach der grossen Hun- PdA tat sich schwer mit ihrem gersnot; landwirtschaftliche einstigen Revolutionshelden, Kolonien an der Wolga sollten der in Stalins Terrormaschine die Versorgung verbessern und geraten war. Auswanderungswillige aus der In den Briefen Plattens aus Schweiz anlocken. Landleben, dem Gulag findet sich die Hoff- Feldarbeit und Einöde sagten nung, dass sein Fall bald aufge- Platten aber wohl nicht sehr klärt und er freigelassen werde. zu; ab 1926 finden wir ihn in Inwieweit diese Zeugnisse aus Moskau, wo er unter anderem Helfer Lenins, Opfer Stalins: Fritz Platten. der Lagerhaft seine tatsächli- als Lehrer an einem Fremd- che Befindlichkeit spiegeln, spracheninstitut tätig war. ist schwer zu beurteilen. Oft 1938 wurde er im Kontext der stalinistischen gung wiederzubeleben, der im Spätsommer geht es um sehr konkrete Erleichterungen, Säuberungen verhaftet und zu 4 Jahren Straf- 1914 von den sozialdemokratischen Parteien die er von einer Freundin erbittet: «Schwei- lager verurteilt, offiziell wegen unerlaubten aller Länder zugunsten einer nationalisti- neschmalz und Bienenhonig», «9 Postkarten Waffenbesitzes. In diesem Lager ist er 1942 schen Politik preisgegeben worden war. Dass und 9 Kuwerts mit 30-Kop.-Marken», «10 Ho- zu Tode gekommen. Ob er erschossen oder das Völkermorden ein Ende haben müsse, senknöpfe», «1 kleinen Krungel Schnur». «Et- erschlagen wurde, erfroren oder verhungert darüber war man sich an der Geheimtagung was Speck und Zucker» nur sofern erhältlich, ist? Nicht bekannt. Auch sein jüngerer Sohn einig. Umstritten war aber, ob sich daraus aber «3 Nastücher schicke unbedingt». Fritz Nicolaus Platten (1918 – 2004), aus des- unmittelbar die Revolution in den einzelnen sen Nachlass die Basler Ausstellung zu guten Ländern ergebe. Diese Meinung vertrat eine Ohne Retuschen Teilen bestückt ist, wusste es nicht. Er war kleine Minderheit, darunter Lenin – und Plat- War Fritz Platten Täter oder Opfer? Ohne bei einer Pflegefamilie so stalintreu erzogen ten. Lenin, so berichtet Platten, habe «oft gera- Zweifel beides: blind für das Unrecht, solan- worden, dass er 1938 seinen Vater erschossen dezu verletzend brüsk» jede Konzession abge- ge es nicht ihn selbst betraf – und womöglich haben wollte, falls der «Trotzkist» sei. Später lehnt und in stundenlangen Separatsitzungen darüber hinaus. Darin liegt die Tragik seines ging er auf Distanz, zum Kommunismus wie die Resolution der Unterlegenen gezimmert. Lebens. Wie die Schweizer Linke mit Plat- zum Erzeuger: Er hatte erfahren, wie der Va- tens Schicksal herumeierte, ist ein Lehrstück ter 1918 auf die Nachricht vom Suizid seiner Speck, Knöpfe, Briefumschläge im negativen Sinn. Es war und bleibt absurd, (Fritz Nicolaus’) Mutter, Plattens zweiter Frau, Die Ausstellung erzählt auch, wie Plattens Fragen nach Plattens Ende aus Angst vor der reagierte: Einfach weitergejasst habe er. Schicksal in der Schweiz wahr- und aufge- Diskreditierung «linker Ideen» zu unterdrü- nommen wurde. Noch 1951 behauptete der cken. Solche Tabus reihen sich ein in eine «Ge- Die Zimmerwalder Minderheit PdA-Kommunist Konrad Farner, Platten ge- schichtsschreibung», die Bücher verbietet und Wie haben sich Lenin und Fritz Platten ei- he es gut, er verbüsse bloss eine Haftstrafe Menschen aus Fotos verschwinden lässt. Es ist gentlich kennengelernt? Die erste Begegnung wegen «Chalbereien». Schon am 1. Mai 1948 verdienstvoll, dass die Ausstellung auch diese war 1907 oder 1908 in Zürich. Zu Kampfge- hatte die sozialdemokratische Jugend die Fra- Auseinandersetzung sichtbar macht. fährten wurden sie erst an der Zimmerwalder ge aufs Tapet gebracht. Ihr Transparent «Be- Konferenz. 1915, mitten im Krieg, wurde dort freit Platten aus den Kerkern Stalins!» wurde «Auf der Suche nach Fritz Platten. Die Schweiz und der Kommunismus im 20. Jahrhundert». Ausstellung der Profes- auf Initiative von Robert Grimm versucht, den indes von PdA-Anhängern niedergerissen. sur für Osteuropäische Geschichte in der Universitätsbiblio- internationalen Gedanken der Arbeiterbewe- War es nicht Platten selbst gewesen, der noch thek Basel, Schönbeinstrasse 18–20, bis 14. Januar. Dezember 2021 11
VPOD | Aus den Regionen und Sektionen Betreuungsbedürftig: Berner Bébés. Unterstützungsbedürftig: Schulen gegen Corona. Gegen Ausbeutung in Waadtländer Spitex Häusliche Pflege ist eine zentrale Säule der Altersstrategie im Kan- ton Waadt. Aktuell boomen die privaten Spitex-Unternehmen, aber einigen von ihnen musste der Kanton bereits die Lizenz entziehen, weil die Versorgung der Klientinnen und Klienten gefährdet war. Die grösste Anbieterin, ein Unternehmen namens «La Solution», bietet besonders schlechte Arbeitsbedingungen, die der VPOD jetzt öffent- lich angeprangert hat. Er fordert insbesondere die Einhaltung von Ruhe- und die Bezahlung sämtlicher Wegzeiten. Als Reaktion auf eine gewerkschaftliche Aktion ist die Direktion inzwischen bereit, mit dem VPOD zu sprechen. | slt Tessin: Gute Altersversorgung kostet Der VPOD Tessin hat das Referendum gegen einen Finanzbeschluss des Grossen Rates ergriffen: Die bürgerliche Mehrheit verhindert dort mit Massnahmen zur Ausgabenbegrenzung, dass die Altersplanung des Kantons umgesetzt werden kann. Vorgesehen ist ein massiver Ausbau der Spitex, zudem sollen 1180 neue Betten in Altersheimen geschaffen werden. Wie soll das finanziert werden, wenn gleichzeitig Berner Bébés besser betreuen Steuererhöhungen ausgeschlossen und die Ausgaben für Personal, Ge- Der Berner Grosse Rat hat (nach Redaktionsschluss) über eine Motion sundheit, Wohlfahrt und Bildung eingedämmt werden? | slt beraten, die eine «kindgerechte Betreuung und Abgeltung für Babys und Kleinkinder in Kitas und bei Tageseltern» will. Dem erhöhten Umkleidestreit am Spital Bülach beigelegt Betreuungsbedarf der Kleinsten müsse mit dem Faktor 1,5 im Betreu- Im schon länger andauernden Streit um die Umkleidezeit (VPOD- ungsschlüssel Rechnung getragen werden – und zwar bis zum Al- Parole: «Umkleiden ist Arbeitszeit») hat man sich am Spital Bülach ter von 18 (statt 12) Monaten. Der VPOD unterstützt die Anpassung. geeinigt. Demnach gibt es ab 1. März 2022 je Vollzeitpensum eine | vpod (Foto: paulprescott72/iStock) monatliche Pauschale von 75 bzw. eine jährliche von 900 Franken, mit welcher die Umkleidezeit als abgegolten gilt. Bezüglich Kaffee- Schulen schützen und stützen (über Bern hinaus) pausen kehrt man zur alten Regelung zurück, die vor 2020 galt. Wer Weil an den Schulen die Verunsicherung angesichts steigender Co- der entsprechenden Ergänzung des Arbeitsvertrags zustimmt, erhält vid-Zahlen zunimmt, hat sich zunächst der VPOD Bern, dann auch die Pauschale rückwirkend ab 1. Juli 2021. Aus VPOD-Sicht ist das der VPOD Schweiz mit einem Appell an die Öffentlichkeit gewandt. eine pragmatische Lösung, die zumal die Situation bei den tieferen Die Lehrpersonen wollen ihren Bildungsauftrag wahrnehmen und Einkommen verbessert. | vpod sehen Fernunterricht nur als allerletztes Mittel. Daher brauchen die Schulen Unterstützung bei obligatorischen repetitiven Tests und ein St. Gallen: Mangel als Programm? funktionierendes Contact Tracing. Impfbereite – auch Eltern – sollen Mit den von der Regierung vorgeschlagenen Sparmassnahmen läuft einfachen Zugang zum Boostern erhalten. Ein Flickenteppich mit ab- der Kanton St. Gallen Gefahr, bald keine qualifizierten Lehrpersonen weichenden Regeln ist zu vermeiden. | slt (Foto: Inna Polekhina/iStock) für Gymnasien und Berufsfachschulen mehr zu finden. Auf diese Perspektive weist die Personalverbändekonferenz hin, der auch der Beim Bund ein halbes Prozent – immerhin VPOD angehört. Vor allem die Aussetzung des Stufenanstiegs bewirkt 0,5 Prozent Teuerungsausgleich haben die Personalverbände, darunter grosse Lohneinbussen, womit St. Gallen im Vergleich mit den umlie- der VPOD, beim Arbeitgeber Bund herausgeholt. Für den VPOD ist genden Kantonen nicht mehr konkurrenzfähig wäre: Die Einstiegs- die Anpassung mehr als verdient, denn die Mitarbeitenden haben dazu löhne in St. Gallen sind tief, erst nach rund 10 Jahren im Beruf rücken beigetragen, dass die Schweiz die Corona-Krise bisher einigermassen St. Galler Lehrpersonen ins schweizerische Mittelfeld auf. Ohne der- bewältigt hat. Falls die Teuerung weiter anzieht, wird die Differenz zu artige Lohnperspektive droht eine Abwanderung der Leistungsträger den 0,5 Prozent in der Lohnrunde 2022 berücksichtigt. | vpod und bald schon Lehrerinnenmangel. | slt 12 Dezember 2021
Dossier: Neue Normalität? Interview mit Isabel Rothe, Präsidentin der (deutschen) Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) «Den Betrieb als sozialen Ort erhalten» Isabel Rothe, Referentin an einer Movendo-Tagung (siehe Seiten 17/18), zieht Lehren aus dem Arbeitsschutz während der Pandemie. Homeoffice? Ja, aber anders. Und vor allem: Der Betrieb als sozialer Ort muss erhalten bleiben! | Interview: Christoph Schlatter (Fotos: Sylwia Wisbar) «Auf die Leistungen der in Präsenz Arbeitenden waren wir ja dringend VPOD-Magazin: angewiesen.» Frau Rothe, Ihre Umfrage zum betrieblichen Arbeitsschutz hat ergeben, dass in Deutschland nur 25 Prozent der befragten Unternehmen in der Pandemie Telearbeit oder Homeoffice eingeführt haben. Echt? Nur? Von den Beschäftigten ist das aber ein grösserer Anteil, oder? Isabel Rothe: Lassen Sie mich zunächst die Zahl kommentieren: 25 Prozent der Unternehmen ha- ben wegen Corona über das bisherige Ausmass hinaus Telearbeit bzw. Homeoffice eingeführt. Aber Sie haben recht: Weil bei den Grossbetrieben Homeoffice verbrei- teter ist als in Klein- und Kleinstbetrieben, ist der Anteil der Beschäftigten, die neu oder zusätzlich von zuhause aus arbeiten, grösser. Trotzdem möchte ich gleich auf mein – vielleicht auch Ihr? – Kernanliegen kommen: Wir reden heute, wenn es um die Pandemie und die Massnahmen in der Arbeitswelt geht, vorwiegend über Homeoffice. Da- bei darf jedoch nicht vergessen gehen, dass viele, viele Betriebe viele, viele Massnahmen sehr konsequent umgesetzt haben, um auch Präsenzar- beit zu ermöglichen. Denn die war ja weiterhin nötig. «Die Wissen- schaft hat das Virus nicht gleich ‹durch- schaut› und anfänglich Widersprüchliches empfohlen.» Dezember 2021 13
Dossier: Neue Normalität? «Hat Corona die Frauen wieder stärker an dann bleib heute die Sorgearbeit gebunden? ruflich heraus- und morgen mal Ich wage noch kein gefordert waren «An vielen zuhause, wenn Urteil.» wie nie zuvor. Ich Arbeitsstätten wurden du dich nicht persönlich erhof- Abläufe entflochten, wohl fühlst. In vielen fe mir, dass wir daraus damit es vor Ort Unternehmen haben auch lernen und künftig nachhaltiger die Betriebsärztinnen und Betriebsärzte und vorausschauender handeln. Natürlich ‹nicht so voll› ist.» einen Beitrag geleistet. Und nicht zuletzt wünscht sich niemand neue Erkrankungs- war von hoher Wirkung, dass konsequent wellen eines solchen Ausmasses. Aber es ist Masken getragen und Abstände eingehalten vielleicht trotzdem keine schlechte Idee, dass Klar, gerade im Organisationsgebiet wurden. Ich finde es beeindruckend, wie die auch in «normalen» Zeiten in Pflegeeinrich- unserer Gewerkschaft mit den Beschäftigten dabei mitgemacht haben. tungen und anderen sozialen Institutionen Lehrkräften, den Pflegenden, den sozialen ausreichend hochwertiges Schutzmaterial Dienstleistungen konnte man ja nicht An vielen Orten, wo unverzichtbare verfügbar ist. Wir haben in Deutschland – einfach «von zuhause aus arbeiten». Dienstleistungen für Menschen erbracht vielleicht sind sie in der Schweiz da besser Der Pflegebereich steht sicher ganz oben auf werden, habe ich – wenigstens am Anfang dran – gesehen, dass es in manchen Schulen der Pandemie – aber oft eher ein gewisses der Liste jener, die sehr unmittelbar von not- Klassenzimmer gibt, die man nicht lüften wendigen Schutzmassnahmen betroffen und Durchwurschteln wahrgenommen. In kann, da die Fenster sich aus Gründen des zugleich in ihrer Arbeitsleistung besonders der Kita, im Behindertenheim geht halt Unfallschutzes nicht öffnen liessen. Ich hof- umfangreich gefordert waren. Und es noch nicht alles auf Distanz, und Masken gab fe sehr, dass wir auch bezüglich Ausstattung es in den ersten Corona-Wochen nur sind. Sie alle, auch die Beschäftigten im Ver- und Raumhygiene aus dieser Krise unsere kauf, im Handel, in der Logistik haben ihre spärlich. Aber die Anbefohlenen im Stich Lehren ziehen. Aufgaben weiterhin wahrgenommen – wahr- zu lassen, kam für die Berufsleute nicht nehmen müssen, weil wir alle auf ihre Leis- in Frage. Da wurde halt improvisiert. Dann teilen Sie vielleicht auch die tungen dringend angewiesen waren. Und Definitiv. Das war zum Teil erstmal notwen- Einschätzung, dass es hilfreich ist, wenn wahrnehmen können dank sehr intensiven dig. Man muss auch offen zugeben: Es gab man nicht alle vermeintliche Luft, jeglichen Massnahmen einerseits bei der Hygiene, an- nicht nur Ausstattungsprobleme. Spielraum aus den dererseits bei der Arbeitsorganisation. Es war auch so, dass die Systemen presst. Wissenschaft das Vi- Und auch die Sie sprechen von den Masken? rus nicht gleich von «Auch bezüglich Personaldecke Nicht nur. An vielen Arbeitsstätten hat man Anfang an «durch- Ausstattung und Raum sollte sich nicht Abläufe entflochten, neue Arbeitszeitre- schaut» hat. Erst mit hygiene sollten wir aus am Minimum gimes eingeführt mit dem Ziel, dass es vor der Zeit, mit zuneh- dieser Krise lernen.» orientieren, Ort «nicht so voll» ist. Es wurden auch bau- menden Studien, verbes- so wie das unter liche Veränderungen vorgenommen, Ab- serte sich die Kenntnis darü- Spardruck zum Beispiel trennscheiben aufgestellt, Lüftungsanlagen ber, welche Mittel am besten wirken und in den Spitälern passiert ist. eingebaut oder ertüchtigt – möge es auch für was wenig oder nichts bringt. Anfangs waren Ein bisschen Reserve muss schon sein. die Zukunft nützen! Auch den soge- die Empfehlungen teilweise Unbedingt! In den sozialen Dienstleistungen nannten Präsentismus hat widersprüchlich, was kamen und kommen die Beschäftigten an ih- man zurückgedrängt . . . für die Menschen re Grenze und oft genug darüber hinaus. Si- «Ich finde es in den sozialen cher auch deshalb, weil – wie Sie es andeuten . . . also dass man um beeindruckend, wie die Dienstleistun- – die Personalsituation vorher schon knapp jeden Preis zur Arbeit Beschäftigten die Mass gen eine enor- war. Gewiss müssen wir die Arbeitsbedin- geht, auch wenn man nahmen mitgetragen me Belastung gungen gerade auch im Pflegebereich konse- nicht gesund ist . . . war – während quenter anschauen im Hinblick darauf, wie haben.» Da hiess es: Nein, Kollege, sie gleichzeitig be- wir in Zukunft leben und im Fall der Fälle 14 Dezember 2021
Dossier: Neue Normalität? gepflegt werden wollen. Gleichzeitig haben würde nichts schaden, wenn wir uns wir in der Arbeitswelt sehr unterschiedliche da nochmals ein paar perspek- Betroffenheiten beobachten können. An vie- tivische Gedanken machen «In den sozialen len Orten, etwa im Handel, im Gastgewerbe, darüber, wie wir uns das Diensten kamen und im Kulturbereich, machen sich die Menschen vorstellen. Also: mit guter kommen die Leute an die Sorgen um ihre Existenz, weil zeitweise die technischer Ausstattung, mit Grenze und oft genug Geschäftsgrundlagen entfallen sind. klaren Verabredungen bei- spielsweise zu den Aufgaben, darüber hinaus.» Um nochmals etwas konkreter auf das zu zur Arbeitszeit, zur Erreichbarkeit. kommen, was wir Homeoffice nennen (was Und mit angemessener Kommunikation. im angelsächsischen Sprachraum ja gar nicht so heisst; siehe Kasten): Sie haben in Homeoffice reproduziert ja auch soziale Homeoffice hat mit Corona unbestreitbar Ihrem Referat gesagt, dass das Homeoffice Ungleichheit. Wo der Papa ein eigenes einen riesigen Schub bekommen. Wir sind von während der Pandemie nicht das ist, Arbeitszimmer hat und die Mama noch eines, alle sozusagen in ein riesiges Experiment was wir uns für die Zukunft vorstellen. dürfte der Alltag entspannter sein als in der hineingezwungen worden. Mein Eindruck: Vor Warum? Und was müsste anders werden? Zweieinhalbzimmerwohnung, wo sich Eltern der Pandemie wollten die Arbeitnehmenden Homeoffice unter Corona-Bedingungen war und Kinder um den einen Computer streiten. nur zu gern ins Homeoffice, und die rasch aus dem Handgelenk ge- Und wer allein lebt, vermisst schlicht Arbeitgeber zögerten, weil sie befürchteten, schüttelt, in vielerlei Hin- die Leute um sich herum. es würde dort der Schlendrian um sich sicht improvisiert. Genau so ist es. Zu- greifen. Inzwischen haben die Unternehmer Häuf ig fehlten hause arbeiten kann gesehen, dass der Output kommt. «Homeoffice und die technischen komfortabel sein, es Dagegen sind viele Beschäftigte froh, Geräte und Aus- Homeschooling sind kann aber auch, je wieder in den Betrieb zurückzukehren. stattungen, weil nicht miteinander nach Gemengelage, Ich teile diese Beobachtung: Viele Kollegen die Betriebe nicht vereinbar.» eine unglaubliche He- sind erleichtert, wenn sie sich mal wieder ausreichend vorbe- rausforderung darstel- eins zu eins austauschen, ein Problem ge- reitet waren. Und dann len, körperlich wie psychisch. meinsam anpacken können. Und es kann will ich auch ganz deutlich sagen: Wenn Die Soziologie diskutiert derzeit, ob wir mit auch ein schönes Gefühl sein, am späten sie am Küchentisch arbeiten müssen, ist das Corona eine Retraditionalisierung erlebt ha- Nachmittag – oder wann auch immer der womöglich ergonomisch schon suboptimal. ben. Ist die Sorgearbeit zuhause wieder stär- Arbeitstag zu Ende ist – die Bürotür hinter Wenn dann gleichzeitig noch ihre Kinder we- ker an den Frauen hängengeblieben, so dass sich zu schliessen und in ein Zuhause zu gen geschlossener Kita oder Schule um sie deren Engagement für den Beruf gelitten kommen, das vollumfänglich privat ist. Die- herum sind, ist das eine unglaubliche Belas- hätte? Ich wage da noch kein ses Feierabendgefühl haben viele tung. Homeoffice und Homeschooling sind abschliessendes Urteil, vermisst. Sie sind froh, dass eben nicht miteinander vereinbar. sondern möchte der Laptop mit den zunächst ein- «Es kann ein Firmenmails nicht Es kann sein, dass dieser Aspekt in der mal festhalten: mehr im Schlaf- schönes Gefühl sein, Schweiz etwas weniger ausgeprägt war, Alle haben in zimmer steht als nach einem Arbeitstag letzter Abend- und weil bei uns die Schulen eher wieder der Pandemie aufgingen, während sie in manchen ihr Bestes ge- die Bürotür hinter sich erster Morgengruss. deutschen Bundesländern über Monate geben. Und das zu schliessen.» Gewiss: Wir haben hinweg geschlossen blieben. ist beeindruckend. überraschend viel Kom- Aber auch ohne zusätzliche Belastung durch D e n n o c h w o l l e n w i r munikation und Kooperation Betreuungsaufgaben: Konzentriertes Arbei- nicht, dass wir so quasi aus Verse- auch auf digitalem Wege hinbekommen ten unter vernünftigen Bedingungen ist in hen wieder in die traditionelle Arbeitsteilung – aber eben doch nicht in der Qualität, wie vielen Wohnsituationen schwer möglich. Es zurückrutschen. wir’s gewohnt waren. Dezember 2021 15
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