Blick nach Norden Zu Besuch beim neuen Verdi-Chef Frank Werneke Service public, Frauen, Homeoffice: Lehren aus Corona - Vpod
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Juli 2020 Das VPOD-Magazin erscheint 10-mal pro Jahr Die Gewerkschaft Schweizerischer Verband des Personals öffentlicher Dienste Blick nach Norden Zu Besuch beim neuen Verdi-Chef Frank Werneke Service public, Frauen, Homeoffice: Lehren aus Corona
Banking, wo immer Jetzt K o eröffn nto en profiti und du bist. eren! Code: VPOD 20* Zak ist eine einfache und übersichtliche App, mit der du deine Finanzen komplett im Griff hast. Unkompliziert und gratis. Exklusiv für dich: Eröffne ein Zak-Konto und erhalte ein Startguthaben von 25 CHF und einen Gutschein von Microspot im Wert von 50 CHF geschenkt. Mehr dazu unter cler.ch/zak-kooperationen * gültig bis 3.8.2020 Jetzt downloaden. VPOD_Kooperation-zak-188x134-d.indd 1 09.06.2020 07:19:23 Ich will VPOD-Mitglied werden! □ Ich möchte dem VPOD beitreten. □ Ich interessiere mich für die Arbeit des VPOD und möchte mehr Informationen. Vorname/Name: Strasse: PLZ/Ort: Arbeitsort: Telefon: E-Mail: Senden an: VPOD, Zentralsekretariat, Birmensdorferstrasse 67, Postfach, 8036 Zürich, oder mailen an: vpod@vpod-ssp.ch
Editorial und Inhalt | VPOD Themen des Monats 5 Zum Tango gehören zwei Das Bundesgericht klärt, was Mitbestimmung beim Pensionskassenwechsel bedeutet 6–7 Der Wert des Rettungsgeräts Der Service public ist bei der Bewältigung der Corona-Krise zentral Christoph Schlatter 8 Raus aus dem Wilden Westen ist Redaktor des VPOD-Magazins Homeoffice: Die Lehren aus dem Feldversuch 9 Mit geballter Kraft Unmoralisch Bilder von der Frauen und der Antirassismus-Demo «Corona zeigt uns die Brüchigkeit einer globalen Weltordnung.» «Co- rona zeigt uns, wie schön die Normalität ist.» «Corona zeigt uns, dass 11–17 Dossier: Blick nach Norden die Menschheit ihr kollektives Verhalten grundlegend ändern kann.» Das grosse Interview mit dem neuen Verdi-Vorsitzenden «Corona zeigt uns, wie wir unter Angst versagen.» «Corona zeigt uns, Frank Werneke wie gut Entschleunigung tut.» «Corona zeigt uns, dass wir nicht Gott sind.» «Corona zeigt uns die Nachteile unseres Steinzeitgehirns.» 18–19 Das Unbehagen mit dem Kriegsende «Corona zeigt uns, dass die neoliberale Wirtschaft versagt.» «Corona Vor 75 Jahren rutschte die Schweiz aus der Kriegs- zeigt uns, wie wichtig es ist, die Produktion im eigenen Land zu ha- in die Nachkriegszeit ben.» «Corona zeigt uns, wie unsolidarisch unsere Gesellschaft ist.» «Corona zeigt uns, wie kostbar unsere Freiheit ist.» «Corona zeigt 21 Die Wiederkunft des Franz Biberkopf uns, wie wichtig reibungslose Echtzeitkommunikation ist.» Eine filmische Neuinterpretation von Steht alles im Netz. Das Coronavirus zeigt uns also: alles. Sowie: das «Berlin Alexanderplatz» kommt ins Kino Gegenteil davon. Klar, dass jetzt alle ihr Fledermaussüppchen ko- chen und mit der Pandemie Politik machen (oder – ein Geschäft). Die Lektion der Gewerkschaften ist aber doch vergleichsweise ein- leuchtend, gell: Aus dem ganz grossen Schlamassel rettet uns kein Rubriken höh’res Wesen, heben uns weder Nestlé noch Novartis, weder Sergio Ermotti noch Severin Schwan. Es helfen uns dann a) ein vernünftig 4 Gewerkschaftsnachrichten handelnder Staat und b) die Systemrelevanten (die Gestellauffüllerin 10 Aus den Regionen und Sektionen in der Migros, der Betreuer im Heim usw.). An diese Orte, in diese Stellen muss mehr Geld! 20 Sunil Mann: The Name of the Game Model/Influencerin/Spielerfrau Cathy Hummels zieht andere Schlüs- se: Sie sieht Corona als Gegenschlag der Umwelt. «Ich weiss nicht, 22 Wirtschaftslektion: Überbrückung als notwendige Korrektur ob es die Rache der Natur ist, aber ich glaube, es ist die Antwort der Natur», sinniert der Papst/Pontifex/Hl. Vater. Ähnlich Philosoph/ 23 Wettbewerb: Nördliches Wirtschaftswunder Kritiker/Theoretiker Slavoj Žižek: «Wenn die Natur uns mit Viren attackiert, sendet sie gewissermassen unsere Botschaft an sie zurück.» 24 VPOD aktuell Das ist, mit Verlaub, Blödsinn. Wer bitte soll das sein, «die Natur»? 25 Hier half der VPOD: Depression? Nicht IV-relevant! Und das Virus selber kann uns gar nichts zeigen. Es ist dazu viel zu dumm. Vielleicht ist es ja nicht einmal ein Lebewesen. (Die Wissen- 26 Solidar Suisse: Drei Schritte vor, zwei zurück schaft streitet noch.) Kriterien wie Gut und Böse, Schuld und Sühne, Tat und Vergeltung 27 Menschen im VPOD: Hans Rudolf Schelling haben bei Infektionskrankheiten eh noch nie geholfen. Das gilt von wünscht einen guten Abend der Pest des Mittelalters über die Spanische Grippe bis HIV/Aids: Erreger besitzen keinen Plan, die Natur hat keine Moral, Krankheit keine Botschaft (wie schon die kluge Susan Sontag festgestellt hat). Und wenn Menschen solche Dinge hineininterpretieren, entsteht Redaktion /Administration: Postfach, 8036 Zürich höchstens zusätzliches Leid. Telefon 044 266 52 52, Telefax 044 266 52 53 Auch Corona übermittelt keine Nachrichten, die es zu entziffern gälte. Nr. 6, Juli 2020 Das einzige, was man tun kann: sich mit dem neu gewonnenen Wissen E-Mail: redaktion@vpod-ssp.ch | www.vpod.ch für die Krisen der Zukunft wappnen. Siehe oben. (Aber mutmasslich Erscheint 10-mal pro Jahr erwischt uns auch die nächste Katastrophe auf dem falschen Fuss.) Juli 2020 3
VPOD | Gewerkschaftsnachrichten Abschottung? Für die Schweiz der falsche Weg. Präsenz? Für Hochschulen unverzichtbar. Initiative «würde es schwieriger machen, wirtschaftlich aus der Krise herauszukommen; sie würde den Druck auf die Löhne aller erhöhen und die bewährten Kontroll- und Schutzmechanismen aufs Spiel setzen», betonte SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard. Er ortet in der Schwächung der Arbeitnehmerrechte auch das eigent- liche Bestreben der Initiantin. Der SGB wird sich daher mit einer starken Kampagne gegen die Kündigungsinitiative engagieren, um Jobs und das wirksamste Lohnschutzsystem Europas zu bewahren. | slt/sgb (Foto: jikgoe/iStock) Auf Kosten der Kleinen Über zwei Motionen von SP-Nationalrätin Mattea Meyer über die Verlängerung der Unterstützungsmassnahmen für Selbständige bis September stimmt das Parlament erst in der nächsten Session ab – wenn es für viele Soloselbständige zu spät ist. Schuld am Widerruf des bereits gefällten Beschlusses zum Ordnungsantrag der SP waren FDP sowie der nächtliche Gesinnungswandel zweier Grüner. Syndicom ist empört: Ohne Fortführung des Erwerbsersatzes für Selbständigerwer- bende und der Kurzarbeitsentschädigung für Personen in der eigenen GmbH werden viele Existenzen an der Krise zerbrechen. | slt Weight Watchers will sich schlankstrampeln Hochschulen: Präsenz unverzichtbar Die Ankündigung von Weight Watchers Schweiz, rund zwei Drittel Zur Teilöffnung der Hochschulen stellt der VPOD klar, dass Präsenz- der Stellen in der Schweiz zu streichen, hat zu heftigen Auseinan- unterricht auch im Tertiärbereich unverzichtbar bleibt und sich nicht dersetzungen geführt. Der in Nyon ansässige Ableger des multinati- durch Fernunterricht ersetzen lässt. Eine erste Bilanz des VPOD über onalen Unternehmens für Gewichtsreduktion versuchte, ein ordent- die Zeit des Lockdowns hat zahlreiche weitere Forderungen ans Licht liches Konsultationsverfahren zu hintertreiben. Inzwischen haben gebracht: Der Zusatzaufwand für die Umstellung auf Fernunterricht die Beschäftigten, unterstützt von der Gewerkschaft Unia, ihrerseits muss abgegolten, dessen Durchführung seriös nachbereitet wer- Vorschläge zur Rettung der 110 bedrohten Arbeitsplätze eingereicht. den. Dazu gehören auch klare Regeln fürs Homeoffice. Wer wegen Während die Direktion auf verstärkte Online-Aktivitäten setzt, favori- der Zusatzanforderungen in der eigenen wissenschaftlichen Quali- sieren die Beschäftigten persönliche Workshops. | unia/slt fikation gebremst wurde, soll eine Vertragsverlängerung erhalten. | vpod (Foto: skynesher) Postfinance soll raus aus dem Korsett Dachverband und Branchengewerkschaft sind sich einig: Postfinance Flankierende schärfer vollziehen ist ein unverzichtbares Finanzinstitut, das in einem zu engen Kor- Der Bericht zu den Flankierenden zeigt gemäss SGB: Diese Massnah- sett gefangen ist. Daher wird die Ankündigung des Bundesrats, Post- men sind wichtiger denn je! Wo kontrolliert wird, kommt Illegales finance den Zugang zum Hypothekar- und Kreditmarkt zu öffnen, ans Licht, insbesondere bei Firmen, die Kurzaufenthalterinnen und begrüsst. So könnten auch die negativen Folgen der erodierenden Zin- Kürzestaufenthalter oder Temporärarbeitskräfte beschäftigen. Bei sen teilweise aufgefangen werden. SGB und Syndicom warnen indes mehr als 15 Prozent der rund 166 000 überprüften Löhne wurden vor einer Teilprivatisierung. Daraus resultiere höchstens eine Schwä- Verstösse aufgedeckt, entweder zu tiefe Löhne oder Scheinselbstän- chung des Service-public-Gedankens, bemerken sie. | sgb/syndicom/slt digkeit. In Branchen mit GAV-Mindestlöhnen sind die Verstossquoten höher (über 20 Prozent), weil Dumping dort klarer definiert ist. Die Kampagne gegen Kündigungsinitiative Kontrollaktivität der Kantone ist nach wie vor sehr unterschiedlich; Der SGB hat an einem gemeinsamen Auftritt der Sozialpartner stark ist sie etwa im Tessin und in Genf, schwach allgemein in der mit Bundesrätin Karin Keller-Suter betont, dass die Kündigungs- Deutschschweiz, wo ein Schweizer Unternehmen im Schnitt nur ge- initiative allen Arbeitnehmenden schadet. Die Annahme der SVP- rade alle 50 Jahre einmal kontrolliert wird. | sgb 4 Juli 2020
Vorsorge | VPOD Das Bundesgericht klärt, was Mitbestimmung bei einem Pensionskassenwechsel bedeutet Zum Tango gehören zwei Die zweite Säule ist in der Schweiz paritätisch konzipiert. Beide Parteien, Arbeitgeber und Arbeitnehmende, bestimmen gemeinsam. Dass das auch beim Wechsel der Vorsorgeeinrichtung gilt, hat das Bundesgericht endlich klargestellt. | Text: VPOD (Foto: GoodLifeStudios/iStock) Der VPOD begrüsst, dass das Bundesge- vorab im privatwirtschaftlichen KMU-Bereich richt das gesetzlich verankerte Mitbestim- akut, aber auch der VPOD weiss Geschichten mungsrecht der Arbeitnehmenden beim zu erzählen (siehe Kommentar). Wechsel der Pensionskasse bekräftigt hat Heute werden Hunderttausende Arbeit- (9C_409/2019). Damit ist klar: Echte Mitwir- nehmende an schlechte und teilweise sogar kung bedeutet, dass die Wahl der Vorsorge- dubiose Sammelstiftungen angeschlossen, einrichtung eine gemeinsame Entscheidung ohne dass sie um ihre Meinung gefragt wur- des Arbeitgebers und der Arbeitnehmenden den. Es gibt Fälle, in denen kerngesunde ist. Damit sollen einseitig von Arbeitgeber Kassen schlechtgeredet werden – nur damit interessen geleitete Wechsel, die das Personal das Unternehmen Geld spart, zulasten des schlechter stellen, unterbunden werden. Personals, dessen Konditionen verschlechtert werden. «Das Bundesgerichtsurteil gibt den Echte Zustimmung nötig Arbeitnehmenden nun den höchstrichterli- Das Bundesgericht verlangt nicht einfach eine chen Segen, sich selbstbewusst gegen Wech- kurze Information: «Es reicht nicht, das Per- selgelüste ihrer Arbeitgeber zu wehren», sonal nur zu orientieren und/oder anzuhören. kommentiert das PK-Netz. Nicht nur auf dem Tanzparkett, sondern auch bei der Vielmehr bedarf es dessen Zustimmung zum Ausgestaltung der beruflichen Vorsorge braucht es zwei. Anschlusswechsel.» Die Arbeitnehmenden «Veritable Herausforderung» müssen folglich frühzeitig über die relevanten Franziska Bur Bürgin, Anwältin der unterle- die der Arbeitgeber aus Datenschutzgründen Entscheidungskriterien verfügen. Auch für genen Partei, listet in ihrem Blog auch jene gar nicht haben darf. Auch sie liest aus dem das gewerkschaftliche PK-Netz ist klar: Dieses Punkte auf, die das Bundesgericht offenlässt. Bundesgerichtsentscheid die Aufforderung Urteil hat Signalwirkung, denn es geht hier Namentlich zum konkreten Verfahren gibt es an die Sozialpartner, sich gemeinsam auf den nicht um einen Einzelfall. Die Zahl betriebs- kaum Hinweise, und auch die Frage, welche Weg zu machen, wenn eine Partei einen Kas- eigener Kassen sinkt, die Versicherung in ei- Informationen dem Personal vorliegen müs- senwechsel anstrebt. «In Unternehmen, wel- ner Sammel- oder Gemeinschaftseinrichtung sen, damit es entscheiden kann, ist ungeklärt. che keine gewählte Arbeitnehmervertretung wird häufiger: «Und um diese Versichertenbe- Besonders bei Kassen in Unterdeckung, so haben, dürfte ein solcher Prozess erhebliche stände herrscht ein regelrechter Wettbewerb, mahnt Bur Bürgin, «dürften die konkreten Ressourcen binden und zu einer veritablen bei dem die Interessen der Arbeitnehmenden Konsequenzen für den einzelnen Versicherten Herausforderung werden», mutmasst die oft zu kurz kommen.» Die Problematik ist im Vordergrund stehen» – Informationen, Anwältin. Mitbestimmung gestärkt Dieses Urteil ist deshalb so wichtig, weil die Mitwirkung des Personals sei Arbeitgebern werden sie nachha- Mitwirkungspflicht in der beruflichen Vorsorge unpraktikabel und der fragliche ken müssen, ob das Personal in bisher sehr stiefmütterlich behandelt wurde. Gesetzesartikel (Art. 11 Abs. 3 bis den Prozess einbezogen war und Viele Arbeitgeber setzten sich einfach über das BVG) betreffe sowieso nur das ob es einverstanden ist. Und die Gesetz hinweg. Uns ist ein Fall bekannt, wo der Obligatorium. Er sei somit toter Arbeitgeber sowie die abgeben- Arbeitgeber von seinen Mitarbeitenden zwar die Buchstabe, wenn eine Versiche- de Pensionskasse werden diesen schriftliche Einwilligung für den Wechsel einholte rung zugleich auch überobli- Prozess begleiten und dokumen- – damit verbunden war aber die Kündigungsan- gatorische Leistungen anbietet. tieren müssen! drohung für den Fall, dass man nicht zustimme! Dem ist definitiv nicht so. Das Das wird hoffentlich auch den Diesem Arbeitgeber sollte man jetzt dieses Urteil Bundesgericht hat eine rote Linie Brokern, die Pensionskassen- um die Ohren schlagen . . . gezogen. Die Pensionskassen werden sensibili- wechsel oft aus Eigennutz fördern (Stichwort: In Fachkreisen bis hin zum Bundesamt für So- siert; sie können nicht mehr einfach jeden neuen Courtagen), die Arbeit erschweren. | Jorge Serra, zialversicherungen hörte man bisweilen, die Anschluss durchwinken. Bei den wechselwilligen VPOD-Zentralsekretär (Foto: Mischa Scherrer) Juli 2020 5
VPOD | Coronavirus SGB betont: Der Service public ist bei der Bewältigung der Corona-Krise zentral Der Wert des Rettungsgeräts Der Service public hält in dieser ausserordentlichen Zeit das Land zusammen. Das sieht der gesamte SGB so: Die Stärkung öffentlicher Dienstleistungen ist Voraussetzung nicht nur für den Aufschwung, sondern auch für die Bewältigung einer nächsten Krise. | Text: Christoph Schlatter (Foto: Helgi/photocase.de) «Ohne Service public wäre die Lage in den ten können.» Dies das Fazit des SGB, der an für die Bewältigung der vorliegenden und letzten Monaten viel schlimmer gewesen. einer Medienkonferenz – der letzten «virtuel- künftiger Krisen präsentierte. Unter Corona Ohne Service public hätte die Schweiz der len», wie man hofft – den Service public als habe sich gezeigt: Gerade dort, wo die Gegne- Pandemie nicht auf diese Weise entgegentre- stabilisierenden Faktor und als unabdingbar rinnen und Gegner Schwächen zu erkennen glauben, war und ist der Service public stark. «Institutionen, bei denen die Koordination Der Service public trug im Vordergrund steht und nicht der Wettbe- Wesentliches zum Überstehen werb, waren in der Krise fähig, im öffentli- der Corona-Krise bei. chen Interesse zu agieren», so der SGB. Sta- bile Ressourcen sind für solche Kontinuität aber die Voraussetzung. Vertrauen als Grundlage Im öffentlichen Verkehr und in der Logistik war es die Kombination aus guter Zusam- menarbeit aller beteiligten Akteure einerseits und klaren Vorgaben für die Grundversor- gung andererseits, die die Aufrechterhaltung eines geschrumpften Angebots während des Lockdowns und die rasche Wiederher- stellung des Normalzustands in der Phase danach ermöglichten. Dies betonte Giorgio Tuti, Präsident des SEV. Er hob hervor, wie vergleichsweise reibungslos SBB und Co. die Herkulesaufgabe der tiefgreifendsten Fahrplananpassung der Geschichte erfüllt haben. Auch die Post bewältigte Spitzen, die jene von Weihnachten und Black Friday noch übertrafen. «Vertrauen» ist dabei ein zentrales Stichwort: Dank funktionierender Logistik hielten sich Hamsterkäufe in Grenzen; auch der Glaube Kultur ist systemrelevant an den Sinn des Notrechtsregimes hänge von Beat Santschi, Zentralpräsident des Schweize- den, zumal für die Freien, eine prekäre Sache. solchen Elementen wesentlich ab, betonte Tu- rischen Musikerverbands, nutzte die SGB-Pres- Jetzt sind die Aussichten noch trüber, und klar ti. «Vertrauen» ist auch eine zentrale Ressour- sekonferenz für einen Appell zur Rettung der ist einzig, dass die Auswirkungen der Pandemie ce der Medien. Stephanie Vonarburg, Leiterin kulturellen Vielfalt. Er betonte, dass die Erlaub- im Kulturbereich noch über Jahre zu spüren sein des Sektors Medien bei der Gewerkschaft nis für Kleinveranstaltungen, wie sie seit Anfang werden. Viele Veranstalter werden nicht überle- Syndicom, machte darauf aufmerksam: «Es Juni gilt, für die meisten Etablissements und Or- ben, zahlreiche Künstlerinnen werden, der Not ist wieder in unser aller Bewusstsein gerückt, ganisatoren keineswegs den erhofften Befrei- gehorchend, umsatteln. Der Musikerverband dass die Medien mit ihrer Berichterstattung ungsschlag darstellt. Denn damit wird in erster verlangt darum dringend die Fortsetzung des und Einordnung eine unabdingbare Leistung Linie die Verantwortung auf die Veranstalter Erwerbsersatzes für Selbständige, der Kurzar- für die Menschen, die Gesellschaft und die abgeschoben: Sie dürfen zwar öffnen, kommen beit für Kulturunternehmen und der Nothilfe Demokratie erbringen.» aber mit dem spärlich zugelassenen Publikum für Kulturschaffende, auch längerfristig. Sonst Allerdings stimmt hier die Finanzierung nicht auf einen grünen Zweig. Schon vor Corona drohe «eine nachhaltige Schädigung des kultu- nicht. Schon im März fehlten den Schweizer war Kultur für die allermeisten Kulturschaffen- rellen Service public». | slt Medien im Vergleich zum Vorjahresmonat 6 Juli 2020
Coronavirus | VPOD 80 bis 90 Millionen Franken an Werbeein- einen anderen Weg gegangen). Allerdings nen, die von demokratisch legitimierten Be- nahmen; im April verschärfte sich die Lage habe man die finanziellen Konsequenzen hörden den gesellschaftlichen Bedürfnissen weiter. Dabei akzentuiert die Coronakrise dieser Entscheidung zu spät erkannt: Wenn angepasst werden». lediglich einen ohnehin bestehenden Trend: eine Service-public-Branche grossmehrheit- Werbegeld fliesst zunehmend ins Internet lich durch individuelle Beiträge finanziert Noch widerstandsfähiger werden und dort in nichtpublizistische Plattformen. ist, bedeutet geringere Auslastung rasch Der SGB verlangt daher, dass wieder über Die vom Parlament angeschobene Nothilfe einmal den Kampf ums Überleben. In der den Wert – und nicht nur den Preis – des für die Medien wird zwar begrüsst, eben- Tat ist die Existenz vieler Einrichtungen in Service public gesprochen wird. Es braucht so wie das Massnahmenpaket für die neue Gefahr. mehr davon – und weniger Liberalisierung. Medienförderung. Hier gibt es aus Sicht der «Die finanzielle Basis stärken, den Anbietern «Die krisenbedingten Zusatzausgaben oder Syndicom allerdings Nachbesserungsbedarf. und den Angestellten den raschen Ausstieg Einnahmeausfälle dürfen weder zu Leis- Es muss verhindert werden, dass Fördergel- aus dem Krisenmodus ermöglichen und die tungs- noch zu Lohnkürzungen führen», der in private Verlegertaschen abfliessen. Stellung der Angestellten, die sich seit Jahren verlangt Pierre-Yves Maillard. Vielmehr sei Deshalb soll für die Subvention der Verzicht an vorderster Front bewähren, verbessern»: ein rascher und vollständiger Ausgleich der auf Gewinnausschüttung und Entlassungen Das sind denn auch die Ziele des gesamten Verluste notwendig, auch im Hinblick auf Voraussetzung sein. Auch die Koppelung an SGB. Auf dem Prüfstand stehen für den SGB- den wirtschaftlichen Wiederaufschwung. In GAV ist für Syndicom logisch. Präsidenten Pierre-Yves Maillard im Service den subventionierten oder anderweitig durch public jene «Finanzierungssysteme, die nur die öffentliche Hand unterstützten Betrieben Einrichtungen im Existenzkampf das direkte Verhältnis zwischen zahlenden müsse jede Entlassung verhindert werden. Ei- An Unterfinanzierung leidet auch der eben- Kunden und Dienstleistern sehen». In diese ne Besserstellung der Beschäftigten und die so systemrelevante Bereich der Kinderbe- Rubrik gehören auch die meisten Einrich- bessere Anerkennung ihrer Kompetenzen treuung. Katharina Prelicz-Huber lobte den tungen eines auf Subjektfinanzierung umge- gehen damit Hand in Hand. So will Pierre- Bund für seinen Entscheid, diese Branche bauten Sozialbereichs, während Maillard die Yves Maillard «den Service public noch wi- als Grundversorgung auch in der Krise of- Zukunft in einer Rückkehr zum vorherigen derstandsfähiger machen – zum Beispiel mit fenzuhalten (Deutschland beispielsweise ist System sieht – «mit öffentlichen Subventio- Blick auf eine nächste Krise». VPOD: Wende zurück zum Gemeinwohl Hervorzuheben, dass der Service public in der nals kämpften wochenlang mit langen Arbeitsta- bei Schönwetter funktionieren. Deshalb möchte Krise wichtig, lebensrettend, systemrelevant gen und vielen Überstunden um das Leben der der VPOD nicht einfach zurück zur «Normalität» war und ist – das hiesse wahrlich, Wasser in den an Covid-19 Erkrankten und riskierten dabei die der Vor-Corona-Verhältnisse. In einer vom Lan- Rhein zu tragen. Katharina Prelicz-Huber ging eigene Gesundheit, weil es zu Beginn an Schutz- desvorstand verabschiedeten Stellungnahme an der Medienkonferenz spezifisch auf das Ge- material mangelte. Zum Dank hob der Bundesrat wird festgehalten, «dass die Prioritäten unserer sundheitspersonal ein, wo sich deutlich die Un- per Notverordnung den Gesundheitsschutz für Gesellschaft in wichtigen Grundfragen falsch ge- terbewertung der pflegenden und betreuenden das Gesundheitspersonal auf.» setzt sind» und dass es daher eine Wende zurück Berufe gezeigt hat: «Teile des Gesundheitsperso- Für die massive Belastung der letzten Wochen zum Gemeinwohl braucht. verlangt der VPOD eine spezielle Entschädigung, Auch der VPOD sieht die Verhinderung von Ent- Katharina Prelicz-Huber: «Klatschen reicht nicht.» denn: «Klatschen genügt nicht.» Katharina Pre- lassungen, die Überlebenshilfe an Institutio- licz-Huber sieht viele der nun sichtbar geworde- nen und die Stärkung der Grundversorgung als nen Probleme als eine Folge der forcierten Ein- vorrangig an, zum einen zwecks Milderung der führung von Wettbewerb: So war selbst in der anstehenden Rezession, aber auch im Hinblick Krise ein Teil des Spitalpersonals zeitweilig ohne auf eine allfällige zweite Welle und auf weite- Arbeit, und die Finanzierung geriet in Schieflage. re Krisenszenarien. Denn: «Die nächste Bedro- Die Abgeltung im Gesundheitswesen muss daher hung könnte auch aus einer ganz anderen Ecke grundsätzlich neu aufgestellt werden: Eingriffe kommen. Umweltkatastrophe? Komplettabsturz sollen so entschädigt werden, dass öffentliche digitaler Infrastruktur (wovon die Swisscom- Spitäler ihre Grundversorgungsleistungen nicht Pannen einen Vorgeschmack gaben)? Zerfall Eu- mit hochspezialisierter Medizin – Knie-Arthros- ropas? Weitere Rechtsextreme an Schalthebeln kopie u. dgl. – quersubventionieren müssen. der Macht? Handelskrieg? Krieg? Ein starker, Auch im Sozialbereich gehört die Subjektfinan- umverteilender und ausgleichender Sozialstaat zierung auf den Prüfstand. Überhaupt ist in den mit soliden Institutionen, gelebten sozialpart- letzten Monaten überdeutlich geworden, dass nerschaftlichen und tripartiten Beziehungen und die marktkonforme Regelung und die Profitori- einem gutdotierten Service public ist zumindest entierung in Bereichen wie Pflege, Betreuung, einer der Schilde, die auch gegen künftige Kata- ja in der ganzen Grundversorgung bestenfalls strophen wappnen.» | slt (Foto: Alexander Egger) Juli 2020 7
VPOD | Coronakrise Homeoffice: Die Lehren aus dem unvorbereiteten, gross angelegten Feldversuch Raus aus dem Wilden Westen Viele haben es sich als Wundermittel vorgestellt. In den Monaten des Lockdowns haben sich jetzt auch die Schattenseiten des Homeoffices gezeigt. Zwar gibt es Regeln – aber sie müssten auch angewandt werden. | Text: Luca Cirigliano, SGB-Zentralsekretär (Foto: jessicahyde/iStock) Man arbeitet zuhause, nebenbei kocht und wegen verpflichtet, für eine ergonomische putzt man und spielt mit den Kindern, der Ausrüstung und Einrichtung sowie für die Arbeitsweg entfällt, und aus dem Pyjama Einhaltung des Schutzes gegen Burnout und muss man höchstens raus, wenn eine der Überarbeitung zu sorgen. lästigen Videokonferenzen ins Haus steht . . . Auch wenn viele Betroffene in der Corona- Nicht als Sparübung Krise das Homeoffice vorübergehend gut Im Unterschied zum Kostenersatz für Ar- angenommen und viel Improvisationsgeist beitsgeräte und Material ist der sogenannte gezeigt haben – ganz so einfach ist es nicht. Auslagenersatz (auch Spesenersatz genannt) Nicht erst seit der medizinisch verordneten nach Art. 327a OR zwingend vom Arbeitgeber Verschanzung weiter Teile der Arbeitneh- geschuldet und kann nicht vertraglich wegbe- menden im Homeoffice sind dessen Risiken dungen werden. Arbeitnehmende haben also und Nebenwirkungen bekannt. Anspruch darauf, dass der Arbeitgeber ihnen Sie reichen von logistischen und techni- alle für die berufliche Tätigkeit notwendigen schen Schwierigkeiten (fehlender Platz, Kosten ersetzt. Dazu zählen Strom, Internet, unbequemes Mobiliar, leistungsschwacher Papier, Reparaturen usw. Ohne strikte Kos- Computer mit zu kleinem Bildschirm, zu tenbeteiligung könnte der Arbeitgeber Miete, langsames Internet) hin zu sozialen Proble- Mobiliar und Infrastruktur auf dem Buckel men (schreiende Kinder, Vermischung von der Angestellten einsparen. Arbeit und Freizeit, soziale Vereinsamung). Homeoffice als Dauerzustand braucht klare Homeoffice kann eine Belastung sein, ins- Regeln. Und solche gibt es: Das Arbeitsge- besondere wenn es zum Dauerzustand wird. setz, das OR und das Datenschutzgesetz sind Das liegt auch daran, dass Arbeitgeber häu- alle auch auf das Homeoffice anwendbar. Die fig ihre gesetzlichen Pflichten nicht wahr- Gerichte haben dazu eine Praxis entwickelt, nehmen. Das Arbeitsgesetz (ArG) gilt auch was – zumindest theoretisch – für einen gu- im Homeoffice vollumfänglich – ob ange- ten Schutz sorgt, vom ergonomischen Büro- Im Home- oder Gardenoffice braucht es ordnet oder auf Wunsch des Arbeitnehmers. stuhl bis zum Recht auf Nichterreichbarkeit. moderne Geräte. Wer bezahlt? Das heisst: Der Arbeitgeber ist von Gesetzes Leider bleiben diese Regeln und die Recht- sprechung der Gerichte häufig toter Buchsta- be. Denn Arbeitnehmende, die sich einzeln wehren, riskieren wegen dem notorisch un- Licht und Schatten am Küchentisch genügenden Kündigungsschutz schlicht den Auch eine Umfrage im Auftrag der Syndicom voll zu nutzen, sei es privat (78 Prozent) oder be- Rausschmiss. Und die Arbeitsinspektorate zeigt Schattenseiten im Homeoffice. Es überwiegt ruflich (68 Prozent). 61 Prozent sehen die Verein- sind häufig personell und finanziell unter- aber die positive Bewertung: Die Arbeitszufrie- barkeit von Privat- und Berufsleben gesteigert. dotiert. denheit ist grösser, die Vereinbarkeit erleichtert, Die Frage der Kinderbetreuung erfordert gemäss Umso wichtiger ist die kollektive Logik: Das dem Klimaschutz Rechnung getragen. Syndicom allerdings weitere Untersuchung. Homeoffice muss aus dem Wilden Westen Rund 90 Prozent der vom Forschungsinstitut Auf der Negativseite beklagen 71 Prozent die feh- in geregelte Bahnen gelenkt werden. Das GfS Bern Befragten sind der Meinung, dass lenden informellen Kontakte und 49 Prozent die ist aber nicht der Job der einzelnen Arbeit- Homeoffice als Ergänzung zur Arbeit im Betrieb mangelhafte Ergonomie am Küchen- oder Stu- nehmenden. Vielmehr kommt hier die Rolle zugelassen werden sollte. Ebenso viele finden – bentisch. Vollumfängliches Homeoffice dürfte der Gewerkschaften als kollektive Fürspre- wenig überraschend –, dass Homeoffice einen also weder im Interesse der Unternehmen noch cherinnen der Arbeitnehmerinteressen zum wesentlichen Beitrag zum Umweltschutz leistet in jenem der Beschäftigten sein, wohl aber «ein Tragen: Mittels GAV muss sichergestellt wer- und namentlich die Überlastung der Verkehrsinf- gesunder Mix, dessen Rahmenbedingungen den, dass alle gesetzlichen Bestimmungen rastruktur vermeiden hilft. Einer Mehrheit gelingt sozialpartnerschaftlich vereinbart werden müs- im Homeoffice auch wirklich eingehalten es auch, die beim Arbeitsweg gesparte Zeit sinn- sen». | syndicom/slt werden. 8 Juli 2020
Demos | VPOD Mit geballter Kraft Coronabedingt manifestierte sich der 1. (bzw. der 29.) Jahrestag des Frauenstreiks zurück- haltend. Es gab dennoch beachtliche De- monstrationen, zum Beispiel in Genf (Bild). Und das mit Grund. Denn der Unterschied zwischen Männer- und Frauenlöhnen hält sich hartnäckig, ebenso wie die schlechtere Bewertung jener Tätigkeiten, die vorwiegend von Frauen ausgeübt werden. Dabei hat sich gerade in der Krise erwiesen, wie wichtig diese Arbeit ist. Die Gewerkschaften bleiben dran: für faire Frauenlöhne, für höhere Altersrenten und für die solidarische Finanzierung der Be- treuungsarbeit als Service public. Auch die durch Polizeigewalt neu angefach- te «Black lives matter»-Bewegung sorgte für grosse Kundgebungen etwa in Zürich und in Genf (Bild). Auch mit diesem Protest steht die Gewerkschaftsbewegung Seite an Sei- te. Es geht dabei nicht nur um Vorgänge in Amerika und in den einstigen Kolonialmäch- ten, sondern auch um hiesige Ausgrenzung – vorzugsweise um die bösartigen Trennlinien zwischen «Eidgenossen», «Schweizern» und «Ausländern». | vpod (Fotos: Eric Roset) Juli 2020 9
VPOD | Aus den Regionen und Sektionen Langsame Rückkehr: Bundesverwaltung Guisanplatz. Langsames Wiedererwachen: Flughafen Zürich. schönte wissenschaftliche Publikationen und setzte nicht zugelassene Implantate ein, an denen er zugleich verdiente. Und der Direktor der Kieferchirurgie fingierte die Weiterbildung von Assistenzärztinnen und überwies sich Patienten in die eigene Praxis. Für den VPOD ist klar, dass die Strukturen des USZ auf den Prüfstand gehören. Die Skandale bei den Spitzenverdienern erschweren dem weniger fürst- lich entlohnten Personal die Arbeit zusätzlich. | vpod Bern: «Kita ist kein Kinderspiel» Der VPOD Bern fordert unter dem Motto «Kita ist kein Kinderspiel» eine bessere Finanzierung der familienergänzenden Kinderbetreuung durch den Kanton sowie gute, durch GAV geregelte Arbeitsbedingun- gen. Zu letzteren gehören aus VPOD-Sicht: genügend Zeit für Vor- und Nachbereitung, Eltern- und Teamarbeit sowie Dokumentation und ein besserer Betreuungsschlüssel samt Personalausstattung. Der Grosse Rat hat es in der Hand, der Branche im Gesetz über die so- zialen Leistungsangebote entsprechende Vorgaben zu machen. | slt Bundespersonal: Rückkehr aus dem Homeoffice Klärungsbedarf in Zürichs Pflegezentren 22 000 Bundesangestellte, die im Homeoffice arbeiten, sollen bis Ende Das Personal in der Langzeitpflege war in den letzten Monaten durch August wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Dafür sollen mit die Corona-Pandemie besonders gefordert. In der Stadt Zürich sind der Umstellung von Möbeln und dem Einbau von Plexiglasscheiben dabei Missstände zu Tage getreten. Dem VPOD gemeldet wurden die Voraussetzungen geschaffen werden. Der Bundesrat hat aber be- etwa: unklare oder unverständliche Instruktionen, fehlender Schutz, griffen, dass es nicht weitergeht wie vor Corona: Aufgrund der Erfah- Druck auf Erkrankte sowie Versuche, Kosten für Tests auf die einzel- rungen der Corona-Zeit soll ein Homeoffice-Konzept erarbeitet und ne Mitarbeiterin abzuwälzen. Diese Dinge müssen aufgearbeitet wer- im September mit den Personalverbänden diskutiert werden. Offe- den. Die VPOD-Forderungen: Schutzkonzept, Übernahme der Kosten ne Fragen etwa: Soll es einen Anspruch auf Homeoffice geben? Soll für Corona-Tests, spezielle Entschädigung für die ausserordentliche Homeoffice vom Arbeitgeber angeordnet werden können? Wie und Leistung während der Pandemie. | vpod bis zu welchem Grad sollen Miet- und Infrastrukturkosten entschädigt werden? Sollen zwecks Entlastung des öffentlichen Verkehrs Präsenz- Bern: Umstrukturierung in der Heilpädagogik zeiten verschoben werden? | vpod (Foto: Anthony Anex/Keystone) Im Kanton Bern ist eine Umstrukturierung im Bereich der Sonder- schulen im Gang: Für fünf Einrichtungen (u. a. das Schulheim Erlach, Am Flughafen drohen Massenentlassungen das Zentrum für Hören und Sprache Münchenbuchsee) heisst das: Zu den am härtesten von Corona betroffenen Branchen gehört der Verselbständigung und künftige Finanzierung mit Leistungsauftrag. Luftverkehr. Auch wenn die Swiss-Flugzeuge allmählich ihr Ruhe- Der VPOD hat das Personal im Juni zu einem ersten Treffen geladen. quartier in Dübendorf verlassen, ist mit einer raschen Entspannung Der Zeitplan, wonach die neue Rechtsform ab 2022 gelten soll, ist an den Flughäfen von Basel, Genf und Zürich nicht zu rechnen. Selbst zumindest ambitiös. Problematisch ist auch, dass die Institutionen optimistische Szenarien gehen davon aus, dass auch im Frühling 2021 alle in historischen Gebäuden tätig sind – wer übernimmt in welchem höchstens 80 Prozent des bisherigen Volumens erreicht sind, wie die Umfang die Verantwortung dafür? | vpod Sonntagszeitung schreibt. Wenn die Kurzarbeit dann ausläuft, drohen Massenentlassungen etwa bei Swissport und Gategroup. Derzeit lau- USZ: Skandale sind Mehrbelastung fen bei diesen Firmen Verhandlungen über einen Sozialplan bzw. die Das Universitätsspital Zürich USZ kommt nicht zur Ruhe. Gleich Erneuerung desselben. Auch bei SR Technics, dem dritten grossen drei Chefärzte sorgen für Schlagzeilen: Der Direktor der Gynäkologie der Swissair-Nachfolgebetriebe, stehen die Zeichen auf Abbau. Ent- liess sich für Operationen an Privatpatientinnen eintragen und be- spannung brächte die Verlängerung der Maximaldauer für Kurzarbeit zahlen, obwohl er nicht vor Ort war. Der Direktor der Herzchirurgie von heute 12 auf 18 Monate. | slt (Foto: GordonBellPhotography/iStock) 10 Juli 2020
Dossier: Blick nach Norden Das grosse Interview mit dem neuen Verdi-Vorsitzenden Frank Werneke «Teilhabe der Arbeitenden durchsetzen» Nach 18 Jahren ist die Ära Frank Bsirske bei der Gewerkschaft Verdi, der grossen deutschen Schwester des VPOD, 2019 zu Ende gegangen. Frank Werneke hat übernommen. Das VPOD-Magazin hat mit ihm in Berlin nach Parallelen zwischen Verdi und VPOD gefahndet. | Interview: Christoph Schlatter (Fotos: Stephan Pramme und Kay Herschelmann/Verdi) Frank Werneke, WER BIST DU? Chef der Vereinigten Dienstleistungs- VPOD-Magazin: Frank Werneke, du bist am gewerkschaft Verdi letzten Verdi-Bundeskongress als Nachfolger von Frank Bsirske zum Chef unserer «grossen Schwester» gewählt worden. Wo kommst du her, was führt dich in dieses Amt? Frank Werneke: Meine Ursprungsgewerkschaft ist die Industriegewerkschaft Medien, Druck und Papier, Publizistik und Kunst, eine der 5 Gründungsgewerkschaften von Verdi. Beruf- liche und betriebliche Erfahrungen stammen zunächst aus der Verpackungsmittelindustrie. Gross geworden bin ich in der Nähe von Bie- lefeld im schönen Ostwestfalen-Lippe. Das Gerücht, dass es die Stadt Bielefeld gar nicht gibt▼, ist übrigens erst aufgekommen, als ich schon nicht mehr dort gelebt habe. Schwein gehabt . . . Dass sämtliche Chefs von Verdi bisher mit Vornamen Frank hiessen oder heissen, könnte ebenfalls Grundlage zu einer Verschwörungstheorie sein . . . Die Wahrscheinlichkeit, dass mein Nachfol- ger Frank heisst, ist eher gering. populär. Seit 1993 bin ich hauptamtlicher 2001, bei der Verdi-Gründung, wurde ich in Womöglich wird es eine Nachfolgerin. Gewerkschafter. Die Zentrale der IG Medien den Bundesvorstand gewählt, ein Jahr spä- Ausserdem war der Vorname Frank in war in Stuttgart. Deshalb kenne ich auch den ter zum stellvertretenden Vorsitzenden. Zu- Deutschland nur eine beschränkte Zeit lang Südwesten gut und war öfter in der Schweiz. ständig war ich für den Bereich Medien und Kunst. Und ich war Schatzmeister. Finanzchef, würde man in der Schweiz sagen. In deiner Antrittsrede hast du auf frühe ▼ Die Bielefeld-Verschwörung persönliche Erfahrungen hingewiesen, die dir Die Behauptung, dass es die Stadt Bielefeld es nicht» bei der Entstehung dieser satiri- gezeigt hätten, wie Solidarität die Arroganz der (Nordrhein-Westfalen) gar nicht gibt, ent- schen Verschwörung eine Rolle gespielt, die Mächtigen zu überwinden vermag. Erzähl! stand in den 1990er Jahren. Möglicherweise postuliert, die Existenz der Stadt werde nur Meinen ersten Streik habe ich noch als Aus- hat Peter Bichsels Geschichte «Amerika gibt vorgetäuscht, um etwas ganz anderes zu ver- zubildender erlebt; es ging damals um die bergen. Fotos aus Bielefeld seien in anderen Durchsetzung der 35-Stunden-Woche in der Städten aufgenommen, Autos mit Kennzei- Branche, was in mehreren Anläufen schliess- chen BI seien nur zur Tarnung unterwegs. lich gelang. Ich habe auch mehrere Streiks in Wikipedia ordnet das Phänomen der Inter- den 1990er Jahren in Ostdeutschland erlebt. net-Folklore zu. Es ist zugleich eine Parodie Nach der Wende haben westdeutsche Verlags- auf «echte» Verschwörungstheorien – also konzerne die dortigen Zeitungen übernom- solche, die von denen, die sie verbreiten, men und sofort Tarifflucht begangen. Diese ernst genommen werden (die Mondlandung Auseinandersetzungen waren für mich als habe nicht stattgefunden u. dgl.). | slt (Foto: damals noch junger Mann absolut prägend. SPBer/Wikimedia CC) Magst du ein Wort zu deinem Privatleben sagen? Gibt es überhaupt ein Privatleben? Juli 2020 11
Dossier: Blick nach Norden Corona: «Viele Arbeitgeber bleiben sperrig» VPOD-Magazin: Wir haben das Interview noch Applaus von den Balkonen ist schön. Gelingt die Bundesregierung Staatshilfen zur Rettung vor der Corona-Krise in Berlin geführt. Es ist es uns auch, etwas von der grossen des Konzerns beschlossen. Nun wird es darum dann vorerst liegen geblieben, weil wir alle Sympathie für die «Systemrelevanten» – gehen, die Interessen der Beschäftigten am mit der Pandemie beschäftigt waren. auch das P ersonal im Einzelhandel fällt ja Erhalt sicherer und nachhaltiger Arbeitsplätze Die aktuelle Krise erfordert einen Nachtrag. in euer Gebiet – in die Ära nach dauerhaft durchzusetzen. Dieser Prozess, wie Wie stützt ihr die Beschäftigten an der Corona hinüberzuretten? Wie? auch das gesamte Hochfahren der Tourismus- Corona-Front, namentlich das Pflegepersonal? Aus Dankbarkeit passiert nichts. Wir werden Industrie, hat gerade erst begonnen. Zurzeit Frank Werneke: Wir haben grundsätzlich alle jetzt natürlich die Gelegenheit nutzen, beispiels- lässt sich noch nicht absehen, wie die weitere Beschäftigten in den Blick genommen. Zum ei- weise die Arbeitsbedingungen in der Altenpfle- Entwicklung verlaufen wird. Die Politik muss in nen ist der Beratungsbedarf immens gestiegen, ge zu skandalisieren und darauf zu drängen, jedem Fall die Branchen im Blick behalten und etwa weil Arbeitgeber Kurzarbeit beantragt ha- den entsprechenden Tarifvertrag für allgemein- gegebenenfalls nachsteuern. ben oder weil unklar war, wie Gesetzesänderun- verbindlich zu erklären. Auch die Nachteile der Soll man eigentlich Wirtschaftshilfen zur gen und Verordnungen auszulegen oder welche Krankenhausfinanzierung wurden durch die Kri- Krisenüberwindung mit ökologischen Arbeitgeberanordnungen überhaupt statthaft se offengelegt. Die Bereitschaft, das zu ändern, Bedingungen verbinden? Kann Corona sind. Dafür haben wir eigens eine zusätzliche scheint in der Politik zu wachsen – das wollen so die Welt etwas nachhaltiger machen? Beratungs-Hotline eingerichtet. Auf der anderen wir nutzen. Allerdings sind viele Arbeitgeber Oder sind das zweierlei Paar Schuhe? Seite ist es uns gelungen, eine ganze Reihe von sperrig wie eh und je. Die Bereitschaft, auf die In Deutschland ist Anfang Juni ein Konjunktur- Tarifverträgen zur Aufstockung des gesetzlichen Beschäftigten und die Gewerkschaften zuzuge- programm auf den Weg gebracht worden, das Kurzarbeitergeldes durchzusetzen, teilweise bis hen, bleibt in vielen Fällen denkbar gering. Da zumindest in einigen Aspekten diesen Gedan- zu 100 Prozent. Im Bereich der Altenpflege ha- werden wir – wie immer – kämpfen müssen. ken aufnimmt. Wir als Verdi haben selbst ein ben wir um eine Prämie gekämpft – in diesem An anderen Orten gibt es nicht zu Konjunkturprogramm formuliert, das stärkere Jahr werden die Beschäftigten einen Bonus von viel, sondern gar keine Arbeit mehr. Akzente für einen sozial-ökologischen Umbau 1500 Euro erhalten. Die politische Einflussnah- Beispiel Luftverkehr. Was tun? im Zuge der Krisenbewältigung vorsieht. Bei- me der Gewerkschaften hat gut funktioniert. In Verkehr, Luftverkehr und Tourismus sind traditi- spielsweise machen wir uns für eine Mobilitäts- anderen Branchen haben sich die Arbeitgeber onelle Verdi-Branchen. Die Lufthansa gehört zu prämie stark, die insbesondere öffentliche Ver- vehement gesperrt. Da gibt es Nachholbedarf. unserem Organisationsgebiet. Gerade erst hat kehrsträger in den Blick nimmt. Dahinter steht unser Wunsch nach einer dauerhaften Stärkung des öffentlichen Personennahverkehrs mit den Botschaft von Verdi am Berliner Schiffbauerdamm. entsprechenden positiven Folgen für den Klima- schutz. Dazu kooperieren wir auch mit Bündnis- partnern wie Fridays for Future. Krisenbewälti- gung und sozial-ökologischer Umbau sollten aus unserer Sicht zusammen gedacht und abgewo- gen, nicht aber dogmatisch verordnet werden. Es gilt, Chancen wahrzunehmen. Unsere Neue Zürcher Zeitung – von einigen als «neues Westfernsehen bezeichnet» – warnt schon vor «Seuchen- Sozialismus». Weil die Steuereinnahmen einbrechen werden, droht die Rechte Sozialabbau an. Was entgegnest du? Dieses Szenario der NZZ beschreibt wohl einen anderen Planeten und ist nur als Vorwärtsver- teidigung privilegierter Schichten zu verstehen. Leider. Tatsächlich sind vor allem die abhängig Beschäftigten und Soloselbständigen die Leid- tragenden dieser Krise – wie immer: Sie bezie- hen beispielsweise Kurzarbeitsgeld, verlieren sogar ihren Arbeitsplatz oder erhalten keine Aufträge mehr, sie müssen mehr arbeiten und haben weniger Pausen, weil sie «systemrele- vante» Tätigkeiten verrichten. Das, was jetzt an Unterstützung gewährt wird, ist das Mindest- mass in einem Sozialstaat. | slt (Foto: slt) 12 Juli 2020
Dossier: Blick nach Norden Frank I. und Frank II.: Der lang jährige Verdi-Chef Bsirske übergibt an seinen Nachfolger Werneke. Natürlich gibt es ein Privatleben. Ansonsten sere Eintritte stetig gestiegen. 2018 und Konzept einer auf Dauer angelegten Bindung könnte der Mensch ja nicht sinnvoll existie- 2019 haben wir jährlich jeweils mehr als an eine Organisation wenig verwurzelt. Da- ren. Der Verdi-Vorsitz ist selbstverständlich 120 000 neue Kolleginnen und Kollegen bei mit diejenigen, die zu uns kommen, auch sehr arbeitsintensiv. Aber mein vorheriges uns begrüsst. Für eine positive Entwicklung bei uns bleiben, stellen wir vielfältige Betei- Amt als stellvertretender Verdi-Vorsitzender reicht das noch nicht ganz aus, weil gleich- ligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten für war ja auch sehr zeitintensiv. Ich habe ge- zeitig starke Jahrgänge in Rente gehen. Sehr alle bereit. Und wir müssen immer wieder lernt, mich so zu organisieren, dass Freiräu- viele sind durch die grossen Kämpfe und argumentieren, warum eine Mitgliedschaft me bleiben. Mobilisierungen in Westdeutschland in den notwendig und sinnvoll ist, auch dann, wenn Dass du mit einem Mann zusammenlebst, 1970er und den frühen 1980er Jahren in die ein Arbeitskampf vorüber – und im besten war nie ein Problem in deiner Gewerkschaft gekommen; diese Generation Fall gewonnen – ist. Was bietet mir die Ge- gewerkschaftlichen Laufbahn? steht jetzt vielfach am Ende ihres Erwerbs- werkschaft denn jetzt noch? Was passiert mit Nein. Nie. lebens. Mit unterschiedlichen Konzepten meinem Beitrag? Auf diese Fragen müssen versuchen wir unter anderem, die Mitglieder wir Antworten haben, aufzeigen, was wir auch beim Übergang in den Ruhestand und tun, woran wir arbeiten, wo es vorwärts geht WIE STEHT VERDI DA? danach bei uns zu halten. und wo und warum es auch einmal hakt. Ohne die Jungen ist Gewerkschaft Wichtig ist, dass wir bei dieser Ansprache Verdi ist als grösste deutsche Gewerkschaft aber nicht zu machen! jene Mitglieder nicht vergessen, die nicht in von der IG Metall abgelöst worden. Die Klar! Das gesellschaftliche Klima ist uns Ge- grosse Strukturen eingebunden sind, son- Mitgliederentwicklung ist negativ. Was habt werkschaften wieder deutlich zugewandter dern in kleineren Betrieben «die einzigen ih- ihr für Strategien, den Trend umzudrehen? als noch vor 15, 20 Jahren. Die Resonanz- rer Art» sind. Unsere Kommunikation muss Auch wir beim VPOD stellen uns ja Fragen und Imagewerte für Verdi sind sehr gut. Die auch zur Verkäuferin im kleinen Laden auf wie: Wie bringen wir Leute in die Herausforderung besteht darin, die Men- dem Lande dringen. Auch sie muss sich zu- Gewerkschaft? Und wie bringen wir sie schen dahin zu bringen, dass sie uns nicht gehörig fühlen. dazu, hier auch zu bleiben? nur gut finden, sondern auch bereit sind, Hat die verstärkte Volatilität, die wir in der Um mal mit einer positiven Feststellung Beitrag zu zahlen und Mitglied zu werden. Schweiz ebenso erleben, nicht auch mit anzufangen: In den letzten Jahren sind un- Insbesondere bei jüngeren Leuten ist das den weniger konstanten Berufsbiografien Juli 2020 13
Dossier: Blick nach Norden zeichnen und Tarifverträge abschliessen. Das beitsbedingungen. So ist es im Tarifvertrag ist aber keine neue Erfahrung; schon unsere für den öffentlichen Dienst ein grosses Är- Gründungsgewerkschaften waren mit die- gernis, dass auch 30 Jahre nach dem Mau- ser Konstellation konfrontiert. Und auch sie erfall in den östlichen Bundesländern eine wussten bereits, wie sich unterschiedliche Stunde mehr gearbeitet werden muss als im Branchen und unterschiedliche berufliche Westen. In anderen Branchen beträgt der Identitäten in einer Gewerkschaft zusam- Unterschied bis zu 3 Stunden. ◆ Diese Un- menführen lassen. Das geht nur, wenn man gerechtigkeit wollen wir in der diesjährigen Vielfalt als Chance und nicht als Bedrohung Tarifrunde endgültig abschaffen. Im Osten ansieht. unterliegen 49 Prozent, in der Privatwirt- Es ist aber doch denkbar, dass sich der schaft nur etwa 20 Prozent der Arbeitsplätze gewöhnliche Feuerwehrmann nicht überhaupt einer Tarifbindung. Solche Un- ◆ West-Ost-Gefälle zwingend für die feinsten Verästelungen terschiede bilden ohne Zweifel einen Nähr- Auch im 30. Jahr des wiedervereinigten der Debatte über gendergerechte boden für Unzufriedenheit. Deutschland ist, Deutschlands gibt es zwischen Ost und Sprache interessiert. wie die Schweiz, ein föderalistischer Staat. West Unterschiede in Löhnen, Arbeitszei- Trotzdem gibt es ein gemeinsames politi- Das spiegelt sich auch in seinen Gewerk- ten und Renten. In den neuen Bundeslän- sches Ziel. Das unterscheidet uns fundamen- schaften. dern wird länger gearbeitet und weniger tal von den Berufsverbänden, die im Kern Liegt nicht eine der grossen Ost-West- verdient. Die Zahl der durchschnittlichen unpolitisch sind. Das heisst nicht, dass wir Differenzen bei den weiblichen Jahresarbeitsstunden betrug 2018 in zu berufsfachlichen Fragen nichts zu sagen Berufslauf bahnen? Indem die «Ostfrau» Westdeutschland 1295, in Ostdeutschland haben. Ganz im Gegenteil. Unsere Matrix- als solche immer noch zu einer (mit Berlin) 1351. Am längsten gearbeitet struktur verschafft auch dem Branchenaspekt Vollzeiterwerbstätigkeit tendiert, wird in Sachsen-Anhalt und Thüringen, Bedeutung. Aber uns eint die tarifpolitische wie sie in der DDR üblich war? Während am kürzesten im Saarland und Rheinland- Klammer. Und für jene Hälfte der Mitglied- die «Westfrau» mit kleineren Kindern Pfalz. Auch die durchschnittlichen Brutto- schaft, die im öffentlichen Sektor tätig ist, ein 40-, 50- oder 60-Prozent-Pensum löhne klaffen weit auseinander, zwischen sind auch der Arbeitgeber Staat und die Zu- absolviert? 41 7 85 in Hamburg und 28 520 Euro in gehörigkeit zur öffentlichen Daseinsvorsorge Das kann man so pauschal nicht formulieren. Mecklenburg-Vorpommern. Aber auch wichtige Gemeinsamkeiten. Beim Anteil von selbstgewählter Teilzeit etwa Tarifverträge weisen unterschiedliche Während wir im VPOD manchmal mit im Pflegebereich gibt es kaum mehr Unter- Arbeitszeiten nach Tarifgebiet auf; selbst unterschiedlichen Mentalitäten je nach schiede zwischen Ost und West. Bei anderen innerhalb Berlins. So gilt im Detailhandel Sprachregion kämpfen, dürfte für euch stark teilzeitgeprägten Branchen, etwa im Ostberlins die 38-, in jenem Westberlins die auch in Wahlen (wieder) sehr sichtbare Einzelhandel, sind es die Arbeitgeber, ob in die 37-Stunden-Woche. | slt (Foto: Roland Kluft zwischen Ost und West eine West oder in Ost, die Teilzeitjobs favorisieren. Arhelger/ Wikimedia CC) Herausforderung sein. Bricht Deutschland Fakt ist aber, dass die Abdeckung mit Kitas gerade vor unseren Augen auseinander? noch nicht flächendeckend ist. Es gibt immer Ich sehe keine Spaltung des Landes. Aber noch ländliche Regionen, in denen deshalb es gibt Unterschiede zwischen Ost und die Vereinbarkeit mit einem Vollzeitjob kaum zu tun? Man ist ja heute nicht mehr West, immer noch. Leider auch bei den Ar- zu realisieren ist. 45 Jahre im gleichen Beruf beim gleichen Arbeitgeber. Und frau noch viel weniger. Ich sehe das eher branchenabhängig. Eine sehr starke Fluktuation gibt es zum Beispiel ▶ Knochenjobs am Flughafen bei den Bodendiensten an den Flughäfen. Da Harte, schlecht bezahlte Jobs mit hoher haben wir einen durchaus hohen Mitglieder- Fluktuation: Diese Feststellung gilt für stand, aber alle paar Jahre wechselt sich die die Bodendienste in der Schweiz genauso Belegschaft einmal komplett aus. ▶ Das wie für diejenigen in Deutschland. Sowohl ist im öffentlichen Dienst natürlich anders. Verdi als auch VPOD haben in dieser Domä- Aber auch im Gesundheits- oder im Erzie- ne einen recht hohen Organisationsgrad, hungsbereich zum Beispiel ist der Wechsel der aber schwer zu halten ist. Wegen der beträchtlich. Konkurrenz mehrerer Anbieter an einem Wie der VPOD seid ihr eine Ort und fehlender übergreifender Rege- Mehrbranchengewerkschaft mit Matrix- lung kommen Menschen in diesen Jobs nur struktur, steht im Wettbewerb mit fachlich schwer aus der Prekaritätsfalle heraus. engagierten Berufsverbänden . . . Auch die Arbeitgeberseite ist zerstritten, schwert. Verdi strebt aber weiterhin einen Richtig. Zumindest im öffentlichen Sektor das Tarifgefüge zerklüftet, was die Ver- flächendeckenden Vertrag an. | slt (Foto: gibt es Einsparten-Berufsverbände, die sich tretung der Arbeitnehmerinteressen er- kontrast-fotodesign/iStock) zumindest selbst als Gewerkschaften be- 14 Juli 2020
Dossier: Blick nach Norden WAS LÄUFT IN DEN BRANCHEN? ✦ Jena als Vorbild für Entlastung Das Wort mag etwas sperrig sein: Entlas- lionenhöhe notwendig, die einzuschiessen Was ihr Tarifvertrag nennt, heisst bei uns tungstarifvertrag. Verdi hat einen solchen das Land bereit sei. Tiefensee nennt das Gesamtarbeitsvertrag – und ist weniger mit dem Universitätsklinikum Jena (UKJ) UKJ «einen der besten Arbeitgeber im Ge- verbreitet als in Deutschland. Ihr beklagt zwar abgeschlossen mit dem Ziel, Belastungssi- sundheitsbereich». | slt (Foto: Anna Schroll/ ebenfalls den Rückgang der Tarifbindung, geht tuationen für die Beschäftigten zu identifi- Wikimedia CC) aber noch von einem zusammenhängenden zieren, zu vermeiden oder – falls das nicht Teppich mit allfälligen Löchern aus. möglich ist – wenigstens abzugelten. (Für Über die gesamte deutsche Wirtschaft ge- die Ärzteschaft und für wissenschaftliche sehen, geht die Tarifbindung tatsächlich Mitarbeitende gilt der Vertrag nicht.) Der zurück. Im Organisationsbereich von Verdi Kern: feste Personalschlüssel für jede Sta- sind unterschiedliche Entwicklungen zu be- tion sowie ein Belastungsausgleich, «wenn obachten. Wir haben im öffentlichen Sektor es mal nicht so läuft wie geplant». So wird noch immer eine stabile Situation, eine na- etwa auch das berüchtigte «Einspringen hezu flächendeckende Abdeckung mit nur aus dem Frei» belohnt. Insgesamt ist dafür geringfügigen Ausnahmen. Ein riesiges Pro- gemäss Aussage des Thüringischen Wis- blem gibt es dagegen in der Altenpflege. Dort senschaftsministers Wolfgang Tiefensee versuchen wir daher, einen allgemeinverbind- (SPD) zusätzliches Geld in zweistelliger Mil- lichen Tarifvertrag durchzusetzen. Ich frage mich ja immer, wie man im Bereich der Betagtenbetreuung überhaupt Profit erwirtschaften kann. Ich sehe nur Hauptproblem im Gesundheitswesen ist al- GENDER, KLIMA, zwei Möglichkeiten: Entweder zockt lerdings der Personalmangel . . . DIGITALISIERUNG man alte Reiche ab. Oder man legt . . . an dem wir – also die Schweiz – eine Leitung ans System öffentlicher nicht ganz unschuldig sind, «Me Too», Gender Pay Gap, der grosse Geldflüsse, um dort etwas abzuzweigen. weil wir die ausgebildeten deutschen Frauenstreik in der Schweiz – trotzdem ist bei In Deutschland kommt für Altenpflege die Fachkräfte in unser Land locken. Verdi wieder ein Mann an der Spitze – Pflegeversicherung auf, in die vorher Arbeit- Das ist ein Element. Ein weiteres: Die Belas- an der Spitze einer mehrheitlich weiblichen geber- und Arbeitnehmerseite paritätisch ein- tung für die Beschäftigten ist, gerade in der Gewerkschaft. Hat deine Wahl nicht zu bezahlt haben. Ein stationärer Aufenthalt in Pflege, aber auch in vielen weiteren Versor- Kritik aus feministischer Warte geführt? einer Einrichtung ist damit allerdings nicht gungsbereichen, sehr hoch. Individuell wäh- Es hat logischerweise Diskussionen auch abgedeckt. Reicht ergänzend auch das eige- len dann viele den Ausweg des reduzierten über diesen Aspekt gegeben. Aus meinem ne Einkommen nicht, deckt das Sozialamt Arbeitsverhältnisses, was den Personalman- Wahlergebnis von 92,7 Prozent kann ich die Differenz. Für die Anbieter aber, egal ob gel wiederum vergrössert. Verdi führt daher jedoch ableiten, dass beim Bundeskongress staatlich, kirchlich oder privat, gibt es erst derzeit zahlreiche Arbeitskämpfe für eine auch die eine oder andere Frau für mich einmal einen Mittelzufluss. Und wenn die bessere Personalausstattung, gerade auch an gestimmt hat. Ausserdem sind von den Arbeitsbedingungen und Löhne unterdurch- den Universitätskliniken. In Jena haben wir 9 Mitgliedern des Verdi-Bundesvorstandes 6 schnittlich sind, bleibt Geld übrig, das die pri- jüngst damit Erfolg gehabt: Wir haben einen weiblich, darunter meine beiden Stellvertre- vaten Konzerne in ihre Tasche stecken. Die- Entlastungstarifvertrag abgeschlossen, dem- terinnen. ses Modell rentiert sich. Es gibt inzwischen zufolge zwingend mehr Personal eingestellt Das war beim Schweizer SGB-Präsidium Pflegekonzerne – auch Arztpraxen übrigens werden muss. ✦ anders. Trotzdem ist es natürlich müssig, mit –, die von Hedgefonds gesteuert werden. Man landet bei solchen Debatten gewählten Männern darüber zu diskutieren, Im Akutgesundheitswesen sind es bei uns die letztlich immer wieder beim Geld. warum sie keine Frauen sind . . . Viel eher Tendenz zu Auslagerung und Privatisierung Zu welchen Ausgaben ist die gälte es, die Inhalte anzuschauen. einerseits, das fallkostenbezogene öffentliche Trägerschaft bereit? Und da haben wir in Deutschland – ähnlich Abrechnungssystem andererseits, die uns Auch in diesem Punkt gibt es schöne Fort- wie in der Schweiz – eine beharrliche Lü- das Leben schwer machen. Beide «Ideen» schritte. In der Koalitionsvereinbarung der cke zwischen Männer- und Frauenlöhnen. haben wir aus Deutschland importiert . . . aktuellen Koalition von Union und SPD ist Und zwar nicht innerhalb der Tarifverträ- Bei den Kliniken sehe ich – toi toi toi – den festgehalten, dass alle Tarifsteigerungen, die ge, sondern dadurch, dass Frauen sehr viel Trend zur Privatisierung einstweilen ge- wir im Bereich der Pflege erkämpfen, refi- häufiger als Männer in prekären Beschäf- stoppt. Es gelingt zunehmend, wie jüngst nanziert werden müssen. Lange herrschte ja tigungsverhältnissen anzutreffen sind. In in Hamburg, Privatisierung per Volksab- die Praxis, dass wir zwar bessere Bedingun- den sogenannten Minijobs – Stellen mit ge- stimmung zu verhindern. Wir sind dort und gen durchgesetzt haben, was aber, weil die ringer Stundenzahl und mit nur minimaler an anderen Orten wieder auf dem Weg zu öffentliche Hand ihre Finanzierung nicht an- Sozialversicherungspflicht – sind Frauen bei mehr Gemeinwohl und zu einer Verstärkung hob, einfach zu Personalabbau führte. Dieses Weitem in der Überzahl. Auch erzwungene der öffentlichen Trägerschaft. Das aktuelle Übel haben wir politisch durchbrochen. Teilzeit wird überwiegend von Frauen geleis- Juli 2020 15
Sie können auch lesen