Schulblatt2/2021 Corona-Sonderausgabe - Blick ins Ausland

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Schulblatt2/2021 Corona-Sonderausgabe - Blick ins Ausland
Kanton Zürich

Schulblatt
Bildungsdirektion

                                2/2021

                          Corona-­
                    Sonderausgabe
                         Blick ins Ausland
Schulblatt2/2021 Corona-Sonderausgabe - Blick ins Ausland
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                                                                                    Pausen-Hit!
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                                                                                   Pausenapfelaktion teil!
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Schulblatt2/2021 Corona-Sonderausgabe - Blick ins Ausland
Corona-Sonderausgabe                                                                                       43
                                                                                                           Amtliches
                                                                                                           48
5                                                   22                                                     schule & kultur
Vorwort                                             Italien
Bildungsdirektorin                                  Soziale Defizite beschäftigen                          50
Silvia Steiner                                      mehr als Stofflücken                                   Agenda
8                                                   26
Kenia                                               Vereinigte Staaten
Nach achtmonatigem                                  von Amerika
­Lockdown bleiben Plätze                            Eine Bestandesaufnahme
 ­teilweise leer                                    aus fünf Blickwinkeln

14                                                  32
China                                               Im Gespräch
Von der Pandemie ist kaum                           Kathrin Salmon von der
mehr etwas zu spüren                                Unicef über die verheerenden
                                                    Folgen von Schulschliessungen
18
Schweden                                            36
Vorwiegend Fernunterricht,                          Corona-Chronologie
aber keine Schulschliessung                         Massentests und Proteste

                                                    39
                                                    In Kürze
                                                    Informationen
                                                    aus allen Stufen

                                                                                                                                                                  Corona-Sonderausgabe

Wichtige Adressen                                                   Impressum Nr. 2/2021, Corona-Sonderausgabe, 23.4.2021
Bildungsdirektion: www.zh.ch/bi Generalsekretariat: 043 259 23 09    Herausgeberin: Bildungsdirektion Kanton Zürich, Walcheplatz 2, 8090 Zürich Erscheinungs­
Bildungsplanung: 043 259 53 50 Volksschulamt: 043 259 22 51          weise: fünfmal jährlich, 136. Jahrgang, Auflage: 19 000 Ex. Redaktion: jacqueline.olivier@
                  ­ erufsbildungsamt: 043 259 78 51 Amt für Ju-
­ ittelschul- und B                                                  bi.zh.ch, 043 259 23 07; marianne.koller@bi.zh.ch, 043 259 23 94; Sekretariat schulblatt@
                                                                                                                                                                  Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

M
gend und Berufsberatung: 043 259 96 01 Lehrmittel­verlag Zürich:     bi.zh.ch, 043 259 23 09 Abonnement: Lehr­personen einer öffentlichen Schule im Kanton
044 465 85 85 Fachstelle für Schulbeurteilung: 043 259 79 00 Bil-   Zürich können das «­Schulblatt» in ihrem S     ­chulhaus ­gratis beziehen (Bestellwunsch
dungsratsbeschlüsse: www.zh.ch/bi > Bildungsrat Regierungsrats­      an Schulleitung). Bestellung des «Schulblatts» an Privat­    adresse s­owie Abonne­  ment
beschlüsse: www.zh.ch > Organisation > Regierungsrat > Aufgaben      weiterer Interessierter: a
                                                                                              ­ bonnemente@staempfli.com, 031 300 62 52 (Fr. 40.– pro Jahr)
und Beschlüsse                                                       ­ nline: www.zh.ch/schulblatt ­
                                                                     O                               Gestaltung: www.bueroz.ch Druck: www.staempfli.com
                                                                    ­Inserate: ­mediavermarktung@staempfli.com, 031 300 63 87 Re­daktions- und Inserate-
Titelbild: Sarah Fluck, Kenia                                        schluss nächste Aus­gabe: 27.5.2021 Das ­nächste «Schulblatt» erscheint am: 25.6.2021

Weiterbildungsangebote
Unter den nachfolgenden Links finden Sie zahlreiche Schulungs- und Weiterbildungsangebote für Lehrpersonen, Fachlehrpersonen, Schulbehörden und Schul­
leitende: Volksschulamt: www.zh.ch/bi > Volksschulamt > Aus- und Weiterbildungen Pädagogische Hochschule Zürich: www.phzh.ch > Weiterbildung Unter-
strass.edu: www.unterstrass.edu UZH/ETH Zürich: www.webpalette.ch > Sekundarstufe II > Gymnasium > UZH und ETH Zürich, Maturitätsschulen HfH – Inter-
kantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich: www.hfh.ch > Weiterbildung ZAL – Zürcher Arbeits­gemeinschaft für Weiterbildung der Lehrpersonen
des ­Kantons Zürich: www.zal.ch > Kurse EB Zürich, Kantonale Berufsschule für W     ­ eiterbildung: www.eb-zuerich.ch ZHAW Zürcher Hochschule für
­Angewandte Wissenschaften, Soziale Arbeit: www.zhaw.ch/sozialearbeit > Weiterbildung > Weiterbildung nach Thema > Kindheit, Jugend und Familie
                                                                                                                                                                  3
Schulblatt2/2021 Corona-Sonderausgabe - Blick ins Ausland
Neu
                                                               Band 9

                                                                     NaTech 7– 9
                                                                     Das Natur- und
                                                                     Technik-Lehrwerk für
                                                                     die Sekundarstufe I
                                                                     shop.lmvz.ch

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                                                                                          an
                                                                                beim Hof
                                                                                        h e .schub.ch
                                                                                 hofsuc

                                         Schule auf dem Bauernhof (SchuB), das ist:

                         Entdecken       • ein idealer ausserschulischer Lernort
                                         • lehrplangerechtes und nachhaltiges Lernen im Freien
                         Erleben         • vielfältige Themen: Weg des Eis – Weg des Honigs –

                         Lernen
                                           Vom Korn zum Brot – Weg des Bauernhofgartens –
                                           Weg der Milch – Weg des Bodens – Weg zur Biodiversität – usw.

                                          SchuB – der andere ausserschulische Lernort.

                                          Wir freuen uns auf den Besuch mit ihrer Klasse!
                                          www.schub.ch

SchuB_Fruehling21_DE_ZH_178x137.indd 1                                                           23.03.21 15:35
Schulblatt2/2021 Corona-Sonderausgabe - Blick ins Ausland
Vorwort

                                       Offene Schulen sind
                                            ­wichtig für alle

Liebe Lehrerinnen und Lehrer,
liebe Schulleiterinnen und
Schulleiter, liebe Mitarbeitende
der Schulen

Seit mehr als einem Jahr steht unser Leben
unter dem Bann der Corona-Pandemie.
Tag für Tag verfolgen wir die Ausbruchs-
statistik. Wir studieren Inzidenzwerte,
­Positivitätsraten und Impfquoten. Die täg-
 liche Auseinandersetzung mit dem Thema
 ist zum Ritual geworden. Ab und zu ist
 es daher wichtig, über den Tellerrand zu
 schauen. So können wir unsere Situa­tion
 reflektieren und neue Impulse für unser
 Handeln entwickeln.
      Wie es der Name schon sagt, ist von
 der Pandemie die ganze Welt betroffen.
 Bis Ende März waren laut der Johns-Hop-
 kins-Universität weltweit über 125,4 Mil-
 lionen Menschen positiv auf das Virus
 ­getestet worden. Mehr als 2,75 Millionen
  Infizierte sind gestorben, über 71 Millio-    waren gemäss der Unicef-Studie die                gen erst in ein paar Jahren kennen. Dann
  nen genesen.                                  Schulen in Panama – gefolgt von El Salva-         sehen wir das ganze Ausmass: zum Bei-
      Das sind beeindruckende und auch          dor, Bangladesch und Bolivien.                    spiel ob es Bildungslücken gab, die nicht
  bedrückende Zahlen. Sie sagen aber                    Seit ich mit diesen Resultaten kon-       mehr aufgeholt werden konnten. Oder ob
  nichts darüber aus, wie viele Menschen        frontiert wurde, lässt mich ein Gedanke           diese die Übertritte zwischen den einzel-
  indirekt von der Pandemie betroffen sind.     nicht mehr los: Das Recht auf Bildung ist         nen Schulstufen beeinflussen.
  Also über die Familien, die unter den wirt-   nicht einfach gegeben, sondern muss                   Erst dann werden wir auch ein Bild
  schaftlichen Folgen der Corona-Krise lei-     ­verteidigt werden. Daher haben wir seit          davon haben, welche seelischen Spuren
  den. Oder über die Kinder und Jugend­          der Rückkehr aus dem Fernunterricht im           die Einschränkungen bei den Kindern
  lichen, die wegen der Einschränkungen          ­vergangenen Mai alles darangesetzt, die         und Jugendlichen hinterlassen haben. Wir
  des öffentlichen Lebens vermehrt häus­          Schulen offen zu halten. Seither sind wir       werden das sehr genau anschauen und
  licher Gewalt ausgesetzt sind.                  stets auf der Suche nach einer Position,        alle erdenklichen Massnahmen ergreifen,
                                                                                                                                              Corona-Sonderausgabe

      Als Bildungsdirektorin beschäftigt          die sich zwischen vehementen Masken-            um die Langzeitfolgen für die Kinder und
  mich das Schicksal der Kinder und Ju-           gegnern und Corona-Leugnern auf der             Jugendlichen abzufedern. In der Schweiz
  gendlichen besonders. Seit Beginn der           einen Seite bewegt – und den Lockdown-          haben wir die notwendigen Ressourcen
  Pandemie sind weltweit mehr als 168 Mil-        Fanatikern auf der anderen Seite, die           dazu.
  lionen Kinder vom Schulunterricht aus-          ­offene Schulen als eine Gefährdung der             Der Blick über den Tellerrand lehrt
  geschlossen worden. Das sagt eine Studie         Volksgesundheit sehen.                         uns in diesen Tagen Folgendes: In der
  des Kinderhilfswerks der Vereinten Natio­             Die abrupten Schulschliessungen und       Schweiz können wir trotz aller Widrig­
  nen (Unicef).                                    das Umstellen auf Fernunterricht auf           keiten demütig und dankbar sein. Denn
      Kinder ohne Zugang zu Distanzunter-          ­allen Schulstufen waren eine einschnei-       wir haben den Willen und die Mittel, die
                                                                                                                                              Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

richt sind einem erhöhten Risiko ausge-             dende Erfahrung für unsere Schülerinnen       Krise bestmöglich zu bewältigen. Und:
setzt, nie mehr in die Schule zurückzu-             und Schüler. Die Art und Weise, wie alle      Wir müssen hier wie überall in der Welt
kehren. Oder sie werden zu Kinderehen               Be­teiligten im Schulfeld diese erste Phase   alles daransetzen, die Schulen offen zu
oder Kinderarbeit gezwungen. Ihnen fehlt            gemeistert haben, erfüllt mich noch heute     halten. Zum Wohl unserer Kinder und
mit der Schule ein wichtiger Bezugspunkt            mit grossem Respekt. Und doch haben           letztlich von uns allen.
im Alltag, der Halt, Orientierung und sozia­        uns die Erfahrungen aus dieser Zeit ge-
len Austausch bietet.                               lehrt: Der Preis, den die Familien und ins-
      Der überwiegende Teil der Kinder, die         besondere die Kinder und Jugendlichen         Herzliche Grüsse
wegen Corona nicht zur Schule durften               in diesem Ausnahmezustand zahlen, ist         Silvia Steiner, Bildungsdirektorin
oder dürfen, leben in den ärmsten Län-              hoch – sehr hoch sogar.
dern der Welt. Das stimmt mich nach-                    Dabei werden wir die tatsächlichen
denklich. Die meisten Tage geschlossen              Folgen der temporären Schulschliessun-
                                                                                                                                              5
Schulblatt2/2021 Corona-Sonderausgabe - Blick ins Ausland
6   Schulblatt Kanton Zürich 2/2021   Corona-Sonderausgabe
Schulblatt2/2021 Corona-Sonderausgabe - Blick ins Ausland
Ausland
                                                             Blick ins
                                                                    Sonderausgabe

7   Schulblatt Kanton Zürich 2/2021   Corona-Sonderausgabe
Schulblatt2/2021 Corona-Sonderausgabe - Blick ins Ausland
8   Schulblatt Kanton Zürich 2/2021   Corona-Sonderausgabe
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Einzig das Rascheln von Papierseiten und                                                                                          Kenia

                                                                  Wettlauf gegen
vereinzelt das Ruckeln eines Eisenguss-
stuhls sind zu vernehmen in dem engen
Klassenraum. 34 Schüler im Alter von 18

                                                                  Wissenslücken
bis 20 Jahren sitzen Schulter an Schulter
an einzelnen Holzpültchen und schreiben
unentwegt in das daumendicke Prüfungs-
dossier. Die «Form IV»-Prüfungen, die mit
der Matur in der Schweiz vergleichbar
sind, haben begonnen.
                                                    Nach acht Monaten Lockdown versuchen
     Durch die Türritze dringt der rote                   die Schüler der Bungoma D.E.B Boys­
Staub der Hauptstrasse von Bungoma-
Stadt. Die ungeteerte Fahrbahn bildet die               High School in Kenia, Verpasstes nach­
Lebensader dieser Ortschaft im Westen
Kenias, nahe der Grenze zu Uganda. Da
                                                          zuholen. Sie absolvieren zurzeit ihre
reiht sich die Holzhütte des Sargverkäu-             ­Abschlussprüfung, die über ihre Zukunft
fers an den Stand der Melonenhändlerin,
gefolgt von einem Schemel und einem                         entscheiden wird. Doch die Lehrer
knallroten Sonnenschirm des Anbieters
von mobilen Handydaten.
                                                   ­erkennen ihre Schützlinge kaum wieder –
     In den kommenden drei Wochen wird                 derart t­ iefgreifend hat die Zwangspause
diese 4. Sekundarklasse an den nationa-
len Prüfungen ein dickes Dossier nach
                                                                                  diese verändert.
dem anderen bearbeiten. Bekleidet mit
                                                                                                 Text und Fotos: Sarah Fluck, Bungoma-Stadt
schneeweissen Hemden und grasgrünen
Woll-Gilets werden die Schüler geprüft
in Fächern wie Suaheli, Mathematik, Eng-
lisch, aber auch in «C.R.E – Christian Reli-
gious Education», Christlicher Religions-
pädagogik. Es geht um nichts weniger als
um ihre Zukunft: Ob der Traum eines
­Ingenieurstudiums in Nairobi oder jener
 eines Medizinstudiums in Indien Wirk-
 lichkeit wird – alles hängt von dieser Prü-
 fung ab. Falls es bloss für die Aufnahme
 an eine lokale Hochschule reicht, liegt
 nach dem Studium vielleicht noch eine
 Stelle als Lehrer auf dem Land oder als
 Laborant im lokalen Krankenhaus drin.

Namen der Besten im TV                         Als Kenyatta am Sonntag, 15. März 2020,
Zwei Wochen nach dem Ende der Prü­             in einer Fernsehansprache die Schlies­sung    Kenia
fungen werden die Schüler der Bungoma          aller Schulen anordnet, sitzt Munoko mit
D.E.B Boys High School via SMS erfah-          zwei Freunden auf einem der rund hun-         Anzahl Einwohner: 47,564 Millionen
ren, wie sie abgeschnitten haben. Diesen       dert Bambusbetten in einem der Schlaf­        (Stand 2019)
Moment möchte Micah Munoko unbe-               säle der Schule. Wie die Mehrheit seiner      Bevölkerungsdichte: 83 E./km2
dingt mit seiner Mutter und den zwei älte-     Mitschüler lebt Munoko während der Tri-       (Stand 2019)
ren seiner sieben Geschwister teilen. Sie      mester an der Boys High School und ver-       Hauptstadt: Nairobi
                                                                                                                                         Corona-Sonderausgabe

seien es gewesen, die ihn beim Lernen          bringt bloss die vier Wochen ­   Fe­
                                                                                  rien zu    Grösste Stadt: Nairobi,
im vergangenen Jahr am meisten unter-          Hause. «Zusammenpacken, ihr geht nach         4 397 073 Einwohner (Stand 2019)
stützten, erzählt der schlaksige 18-Jährige    Hause!», habe der Chemielehrer an d ­ iesem   Anzahl Schüler der porträtierten
bei einem Spaziergang durch das weit­            Tag den Jungs zugerufen. Eine weitere Er-   Schule: 1386
läufige Schulareal. Vor einer Tafel neben      klärung blieb er ihnen zunächst schuldig.     Anzahl Lehrpersonen der
dem Lehrerzimmer bleibt er stehen. Diese             Innerhalb von zwei Tagen wurden alle    ­porträtierten Schule: 56
zeigt in goldenen Buchstaben auf pech-         1386 Schüler aus Bungoma mit einem             Klassengrösse: rund 35
schwarzem Hintergrund die Namen jener          ­gelben Schulbus nach Hause in die um­         Durchschnittliches Monatsgehalt
Schüler der High School, die an den Prü-        liegenden Dörfer gefahren. «Mein Vater        eines einfachen Arbeiters:
                                                                                                                                         Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

fungen in den vergangenen Jahren die            ist erschrocken, als ich während des Se-      CHF 312.57 (niedrigster Durch-
Bestnoten erreicht haben. «Da möchte ich        mesters plötzlich auf der Türschwelle         schnittswert), CHF 1187.95
gerne meinen Namen lesen», sagt Munoko.         stand», sagt Munoko. Ausser der Schul­        (mittlerer Durchschnittswert)
Sein Ziel: 85 von 100 Punkten und einen         uniform zum Waschen befanden sich in          (Stand 2020)
Platz an der medizinischen ­   Fakultät an      seinem Rucksack einzig das Mathema­           Preis für 1 Kilo Brot: CHF 0.86
der Universität in Nairobi. ­Gehört er zu       tikbuch und die Unterlagen aus den            Corona-Infizierte: 120 910
den Besten des Landes, liest Präsident          ­naturwissenschaftlichen Fächern. Wie die     (Stand per 22. März 2021)
Uhuru Kenyatta seinen Namen in einer             meisten seiner Mitschüler war Munoko         Verstorbene: 2011
landesweiten Fernsehsendung vor. «Mei-           überzeugt, dass er nach ein paar Ferien­     (Stand per 22. März 2021)
ne Mama wäre so stolz, sie würde von mir         tagen wieder an die Schule zurückkehren      Geimpfte: 28 000
ein Bild im Wohnzimmer auf­hängen», sagt         werde. Doch aus Tagen wurden Wochen          (Stand per 22. März 2021)
Munoko.                                          und Monate.                                                                       
                                                                                                                                        9
Schulblatt2/2021 Corona-Sonderausgabe - Blick ins Ausland
Lehrerin Polly Mbae, 37, unterrichtet
                                                                                                                            nicht nur an der Bungoma Boys High
                                                                                                                            School, sondern auch noch zu H ­ ause
                                                                                                                            ihre Töchter Angela Rehema, 12 (vorne),
                                                                                                                            und Grace Victory, 9 (hinten).

                                                                                                                                  Gathii*, 18, beim Lesen einer Short Story,
                                                                                                                                                   möchte anonym bleiben.

                                  Joseph Matifari, 49, Englisch-
                                  lehrer und akademischer
                                  ­Verantwortlicher der Bungoma
                                   High School.
                                                                            Micah Munoko, 18,
                                                                              strebt einen Platz
                                                                          an der medizinischen
                                                                                    ­Fakultät an.

                                  Anfang Juli schaffte eine Weisung des Bil-   Anzeichen von Malaria folgt die Zeich-        den finanzkräftigen Familien. Derweil
                                  dungsministers Gewissheit: Trotz erster      nung eines gleichschenkligen Dreiecks.        erreichte sie noch gut die Hälfte ihrer
                                                                                                                             ­
                                  Corona-Lockerungen mussten die rund          Die meisten Lektionen behandeln den           Schützlinge via WhatsApp.
                                  18 Millionen Schülerinnen und Studenten      Stoff der «Babys», so nennt er die Primar-        Vom Rest der Klasse hört sie zwi-
                                  des ostafrikanischen Landes weiterhin zu     schüler, erklärt Munoko, der mittlerweile     schen März und Oktober 2020 nichts.
Corona-Sonderausgabe

                                  Hause bleiben. «Nach dieser Meldung          von Schulkollegen umringt wird.               «Ich habe mich oft gefragt, wie es ihnen
                                  konnte ich einige Nächte kaum schlafen                                                     wohl geht», sagt Mbae. Die täglichen
                                  aus Angst, die Prüfungen zu vermasseln»,     Schüler tauchen ab                            Zoomlektionen seien technisch eine He­
                                  sagt Munoko.                                 Tropfen auf dem Blechdach künden eines        rausforderung gewesen. «Wir kämpfen
                                      Zwar erfährt Munoko von einem            der ersten Gewitter der soeben ange­          regelmässig mit Stromausfall und auch
                                  Freund, dass seine Lehrer Wiederholungs­     brochenen Regenzeit an. Physiklehrerin        die Netzverbindung ist nicht stabil», so
                                  lektionen via Zoom anbieten und über         Polly Mbae schlägt vor, den Platzregen in     die 37-Jährige. Dann waren da noch ihre
                                  eine WhatsApp-Gruppe Arbeitsblätter zur      ihrer kleinen Wohnung auf dem Schul-          drei Töchter, die ebenfalls Unterricht ein-
                                  Verfügung stellen. Doch Munokos Eltern,      campus abzuwarten. «Es ist schön, einen       forderten. «Mama war eine gute Lehre-
Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

                                  beide Kaffeebauern, können sich weder        kurzen Arbeitsweg zu haben, doch ich          rin», wirft die 12-jährige Angela Rehema
                                  Smartphones noch kostspielige Daten­         würde wohl weniger arbeiten, wenn mein        plötzlich ein, die unser Gespräch im kah-
                                  pakete für mobiles Internet leisten. Hilfe   Zuhause ausserhalb der Schule wäre»,          len Wohnzimmer bis jetzt kritisch von der
                                  bieten eine lokale Radiostation und TV-      sagt Mbae und sitzt dabei mit gestrecktem     Türschwelle aus beobachtet hat. Einzig
                                  Kanäle. Formate wie «Know Zone» und          Rücken auf dem cremefarbenen Sofa,            Mamas Mathelektionen seien zu schwierig
                                  «Edu TV» verbreiten verschiedene Un­         dessen abgewetzte Flächen mit gestickten      gewesen: «Ihre Erklärungen verursachten
                                  terrichtsinhalte. «Fernsehschule» nennt      Tüchern überdeckt sind. «Es war eine          mir Kopfschmerzen», sagt Angela Rehe-
                                  Munoko seine Zeit vor dem TV rückbli-        kräfteraubende Zeit», sagt Mbae mit Blick     ma, während die Mama sich vor Lachen
                                  ckend und holt ein kleines Heft aus dem      auf den achtmonatigen Lockdown. Aus           an einem Schluck Chai verschluckt.
                                  Pult – seine Notizen, die er sich damals     ­ihrer Klasse mit 50 Schülern hätten ge­          Als die Regierung im Oktober 2020
                                  gemacht hat. Auf den mit einem feinen         rade einmal zehn an den Lektionen teil-      in einem ersten Schritt die Rückkehr für
10

                                  Bleistift geschriebenen Eintrag zu den        genommen. Es waren vor allem jene aus        die Abschlussklassen bewilligt – es sind
dies die vierte Sekundarklasse sowie die       Die Schüler, die schliesslich den Weg zu-      Kaudroge Khat abhängig geworden. «Kin-
vierte und die achte Primarklasse –, tau-      rück an die Schule finden, erkennt das         der so zu sehen, die ich jahrelang betreut
chen drei von Mbaes Schülern nicht mehr        Lehrerteam in Bungoma-Stadt beinahe            habe, brach mir das Herz», sagt Matifari,
auf. An der gesamten Boys High School          nicht wieder. «Ich hatte teilweise das Ge-     der neben seiner Führungsaufgabe noch
sind es deren zwanzig, landesweit gemäss       fühl, dass sie noch weniger wussten als bei    englische Literatur unterrichtet.
                                                                                                                                            Corona-Sonderausgabe

Schätzungen des nationalen Erziehungs-         ihrem Schuleintritt», sagt der akademi-            Einer seiner Schüler ist der 18-jährige
ministeriums zwei Millionen. «Viele Fa­        sche Verantwortliche der Bungoma High          Gathii*. Einst sei er sein bester Schüler
milien verloren während des Lockdowns          School, Joseph Matifari. Zusätzlich stand      gewesen, berichtet Matifari. Er habe gar
ihr Einkommen», erklärt Vize-Rektor            sein Lehrerteam vor unzähligen diszip­         in der Freizeit noch amerikanische Short
­Wycliffe Wambuchi. «Sie können sich die       linarischen Herausforderungen.                 Stories gelesen. Doch nun könne er sich
 Schulgebühren nicht mehr leisten oder                                                        kaum noch dreissig Minuten konzentrie-
 drängen ihre Söhne zur Arbeit.» Wer ein-      Drogenentzug im Schlafsaal                     ren. «Der Gathii, den ich kennengelernt
 mal gearbeitet hat, und sei es nur als        Matifari zählt an seinen Fingern die Ver-      habe, ist nie mehr an die Schule zurück­
 ­Fahrer eines Motorradtaxis, der erkenne      gehen seiner Zöglinge auf: Die Jungs hat-      gekehrt», sagt Matifari.
                                                                                                                                            Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

  Sinn und Wert der Schule nicht mehr,         ten Mühe, ruhig in den Bänken zu sitzen;           Gathii selbst möchte nicht in einem
  sagt Wambuchi. Er sitzt in seinem Büro       die Hemden der Uniformen hingen aus            Interview über die vergangenen Monate
  an einem bambusfarbenen Schreibtisch.        den Hosen, die Haare wild zerzaust statt       sprechen. Stattdessen schlägt er vor, seine
  Seine wuchtige Statur wirkt klein vor        millimeterkurz geschnitten. Auch igno-         Erlebnisse niederzuschreiben. Er setzt
  den hinter ihm in die Höhe wachsenden        rierte ein Teil der Knaben vermehrt            sich unter eine Palme im Innenhof und
  Papierbergen. In einem Fall sei ein Schü-    Hausauf­ gaben und gab Lehrpersonen            beginnt das Papier auf seinen Knien zu
  ler während des Lockdowns gar Vater          freche Antworten. «Mit einer Handvoll
                                               ­                                              beschreiben. Den dreiseitigen englischen
  ­geworden. «Er tut nun das Richtige und      mussten wir kurz nach ihrer Ankunft im         Brief überreicht er in der Mittagspause 
   kommt für seine Familie auf», sagt Wam-     Schlafsaal gar drei Tage lang einen kalten
   buchi mit der Bestimmtheit eines Mannes,    Drogenentzug durchziehen», sagt M ­ atifari.
   der schon mit vielen Disziplinarfällen zu   Sie hätten während des Lockdowns mit
                                                                                                                                            11

   tun hatte.                                  He­roin experimentiert oder seien von der      * Vollständiger Name der Redaktion bekannt
Wycliffe Wambuchi, 51, Vize-Direktor
                                                                                                                                            der Bungoma Boys High School,
                                                                                                                                           blickt trotz aller Schwierigkeiten
                                                                                                                                                hoffnungsvoll in die Zukunft.

                                  Godfrey B. Owori, 56,
                                  Rektor der Bungoma Boys High School.

                                  feinsäuberlich zusammengefaltet. Beson-
                                  ders enttäuscht habe ihn, dass alle Rugby-
                                  und Fussball-Turniere abgesagt wurden.
                                  So habe er nicht mehr trainieren kön-
                                  nen, seine Lieblingsbeschäftigung an der
                                  Schule. Xherdan Shaqiri ist sein Vorbild.
                                         Er will selbst einmal als Stürmer bei
                                  dessen Klub Liverpool oder seinem Lieb-
                                  lingsverein Arsenal kicken. Besonders
                                  unverständlich findet er, dass die Schule
                                  von seinen Eltern weiterhin die rund
                                  40 000 kenianischen Schillinge (324 Schwei­      ­ enommen, ihnen Mut gemacht, dass sie
                                                                                   g                                           Auch wenn er und sein Team stark für
                                  ­zer Franken) Schulgeld forderte, obwohl         Wissenslücken aufholen könnten. «Ob-        Disziplin sorgten, müsse man den Schü-
                                   kein Unterricht mehr stattfand. «Diese          wohl es anstrengend war, so viel zu ler-    lern ab und zu Verschnaufpausen gönnen.
                                   Situation hat mich mit der Zeit auch
                                   ­                                               nen, war ich wieder zuversichtlich, dass    Deshalb erlaubte er dem Klassenzug
                                   ­psychisch belastet», schreibt Gathii. Sein     ich die Prüfung gut schaffen könnte.» Im    ­wenig später, für vier Tage zur Erholung
                                    ­Vater forderte ihn immerzu auf, bei der       Januar, als schliesslich die anderen drei    nach Hause zu reisen. Die vier Brand­
                                     Schule Geld zurückzufordern. Die Kau-         Klassenzüge aus dem Lockdown zurück-         stifter hingegen wurden für mehrere Wo-
                                     droge spricht Gathii nur kurz an: Sein        kehrten, habe die Motivation aber abge-      chen suspendiert. «Wer Reue zeigt, darf
                                     älterer Bruder habe ihn dazu gebracht.
                                     ­                                             nommen. «Wir waren übermüdet vom             jedoch an den Prüfungen antreten», sagt
                                     Doch inzwischen habe er damit wieder          vielen Arbeiten und traurig, dass wir an     Wambuchi.
                                     aufgehört: «Ich glaube, meine Lehrer ha-      Weihnachten nicht wie versprochen nach            An Herausforderungen werde es der
                                     ben vielleicht schon recht, dass ich ohne     Hause durften», sagt Munoko. Auch war        Schule auch in den kommenden Monaten
Corona-Sonderausgabe

                                     Khat besser wäre in der Mathematik und        es plötzlich eng auf dem Schulgelände.       nicht mangeln, fügt Wambuchi an: Es fehlt
                                     in Suaheli.»                                                                               an zusätzlichen Schulzimmern und erst
                                         Matifari und das Lehrerteam beschlies­    Brandstiftung im Speisesaal                  recht an Lehrpersonen, um Social Dis­
                                     sen kurz nach der Ankunft der Abschluss-      Ende Januar machten vier Knaben der          tancing durch Klassenteilungen zu er-
                                     klasse drastische Massnahmen. Sie füh-        Abschlussklasse ihrer Verzweiflung Luft.     möglichen. Geld für Masken ist in vielen
                                     ren Frühstunden und Abendunterricht           Sie schlichen sich in der Nacht aus dem      Familien nicht vorhanden. Neben diesen
                                     ein, verkürzen die Mittagspause auf eine      Schlafsaal, schütteten im Speisesaal Pet-    praktischen Herausforderungen bereiten
                                     halbe Stunde, streichen das Wochenende        roleum aus und versuchten, die Schule in     ihm auch jene Schüler Sorgen, die nächs-
                                     und die Weihnachtsferien. Einzig der          Brand zu setzen. Dass das Feuer nicht        tes Jahr die Abschlussprüfungen ablegen
Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

                                     Sonntagsgottesdienst wird im neu sieben-      ausbrach, ist einem Mitschüler zu ver­       werden. Aufgrund von Kürzungen wer-
                                     tägigen Stundenplan als ein Ort der Er­       danken, der rechtzeitig den Nachtwäch-       den sie noch weniger Zeit für die Vorbe-
                                     holung aufgeführt. «Jede Sekunde, in der      ter informierte. Zwei andere Schulen in      reitung auf die Abschlussprüfung haben
                                     die Knaben beschäftigt sind, stellen sie      der Gegend wurden hingegen niederge-         als der derzeitige Abschlusslehrgang.
                                     keinen Blödsinn an», erklärt Matifari.        brannt.                                           Doch Wambuchi will das Gespräch
                                         Angesprochen auf die neuen Mass-              Was hat die Schüler zu einem solch       nicht mit negativen Gedanken ausklingen
                                     nahmen zieht Munoko, der 18-Jährige           drastischen Schritt bewogen? Die Ereig­      lassen und fügt an: «Wir haben das letzte
                                     Schüler der Abschlussklasse, hörbar die       nisse seien mit den enormen Ermüdungs-       Jahr gemeistert, wir werden mit Gottes
                                     Luft ein. Bis zum Jahresende 2020 sei es      erscheinungen zu erklären, die Anfang        Hilfe auch dieses Jahr meistern.» Das
                                     auf dem Campus noch angenehm ruhig            Jahr auszumachen waren, sagt Vize-Direk­     Motto für die Bungoma D.E.B Boys High
                                     gewesen, erklärt er. Die Lehrer hätten sich   tor Wambuchi. «Rückblickend glaube ich,      School bleibe schliesslich dasselbe: «Be
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                                     viel Zeit für die einzelnen Bedürfnisse       wir haben den Jungs zu viel zugemutet.»      the light» – «Sei das Licht». 
13   Schulblatt Kanton Zürich 2/2021   Corona-Sonderausgabe
Morgens versammeln sich die Schülerinnen und
      Schüler der «experimentellen Grund­schule» in ­Peking
      zum Joggen – ohne Masken und Abstand.

      Geschafft: Die Schüler der Chaoyang-Mittelschule
      ­haben gerade ihre Jahresabschlussprüfung
       ­geschrieben und werden von ihren Eltern und
        ­Grosseltern voller Spannung erwartet.
Corona-Sonderausgabe
Schulblatt Kanton Zürich 2/2021
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Morgens um acht vor der «experimentel-                                                                                            China

                                                                      Unterricht
len Grundschule» im Pekinger Chaoyang-
Bezirk: Über zweihundert Schülerinnen
und Schüler versammeln sich auf der

                                                                fast wie vor der
­Tartanbahn ihres Sportfelds. Hinter den
 Mauern auf der angrenzenden Strasse ha-
 ben sich bereits einige schaulustige Senio­

                                                                      Pandemie
 ren versammelt, um dem Spektakel beizu-
 wohnen. «Eins, zwei, drei, vier!», ruft eine
 Sportlehrerin mit ihrem Megafon über
 den Platz, bevor die Kinder im Gleich-
 schritt zu joggen beginnen. Niemand von                        Chinas 195 Millionen Schülerinnen
 ihnen trägt Maske, Abstandsregeln wer-
 den nicht beachtet. Während sich die                              und Schüler lernen längst wieder
 meisten Länder weltweit von einem Lock-
 down zum nächsten hangeln, erinnert
                                                                  im Klassenzimmer. Auch die einst
 hier fast nichts mehr an die Pandemie.                       strengen Regeln wurden mittlerweile
     Der damals 17-jährige Maximilian
 Santner hat den Ausbruch der Pandemie                                       weitgehend gelockert.
 in China mit­erlebt. Der junge Mann kommt
                                                                                                   Text und Fotos: Fabian Kretschmer, Peking
 aus dem österreichischen Leoben, einer
 Kleinstadt in der Steiermark, die für die
 «Gösser»-Bierbrauerei und eine Montan-
 universität bekannt ist. Nachdem er sich
 bereits als Kind für Kung-Fu-Filme inte­
 ressiert h­ atte und als Jugendlicher Chi­
 nesisch-Kurse be­    legte, wollte er sein
 Austauschprogramm unbedingt in der
 ­
 Volksrepublik absolvieren.
     Im Südwesten Pekings besuchte er
 eine Oberschule als einziger Ausländer
 unter 1200 Chinesen. Der Unterricht in
 seinem Gastland, erzählt er, war für ihn
 zunächst ein Kulturschock: Der Tag be-
 gann bereits um 7.20 Uhr in der Früh
 und reichte bis in die späten Nachmit-
 tagsstunden. Dann folgte meist noch das
 verpflichtende Selbst­studium im Klassen-
 zimmer, ehe spätabends die Hausaufgaben
 zu Hause erledigt werden mussten. «Zu-
 dem gibt es fast ausschliesslich Frontal-
 unterricht», erzählt Santner. «Diskussio-      und Bücher gelesen. ­Frische Luft konnten
 nen, wie wir sie in Europa kennen, sind        wir nur über das Fenster einatmen.»           China
 nicht vorgesehen.»                                 Dass das öffentliche Leben in der
                                                20-Millionen-Metropole Peking stillstand,     Anzahl Einwohner:
Frische Luft nur übers Fenster                  konnte man nicht nur an dem fehlenden         rund 1,4 Milliarden
Ende Januar schliesslich erfuhr Maxi­           Verkehr und den geschlossenen Restau-         Bevölkerungsdichte: 148 E./km2
milian Santner, der mittlerweile fliessend      rants festmachen. Sofort fiel auf, dass die   Hauptstadt: Peking
                                                                                                                                          Corona-Sonderausgabe

Chinesisch spricht, beim Zeitunglesen vom       Schulkinder in ihren farbigen Trainings-      Grösste Stadt: Schanghai,
neuartigen Virus, das im 1000 Kilometer         uniformen aus dem Stadtbild verschwun-        knapp 27 Millionen Einwohner
entfernten Wuhan entdeckt worden war.           den waren: Normalerweise wer­den sie je-      (gemäss aktuellen Schätzungen)
«Mein erster Gedanke: Wuhan ist sehr            den Morgen, meist von ihren Gross­eltern,     Klassengrössen in den Schulen:
weit weg, das Ganze wird mich niemals           bis zum Schultor kutschiert und am Nach-      durchschnittlich 38
treffen», erinnert er sich. Zwei Wochen         mittag wieder abgeholt.                       Studierende: ca. 40 Prozent
später jedoch traten die e ­ rsten Infektio-        Während des Lockdowns fand die            der 18- bis 22-Jährigen
nen auch in Peking auf – und seine chine-       Schule in Form von Online-Unterricht          Durchschnittliches Monatsgehalt
sischen Gasteltern trafen eine radikale         statt. Zumindest in Peking und in anderen     eines einfachen Arbeiters:
                                                                                                                                          Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

Entscheidung, die lautete: Zu Hause blei-       Metropolen. Doch während die meisten          rund CHF 1000
ben. «Wir sind zwei Monate durchgängig          Lehrerinnen und Lehrer in den modernen        Preis für 1 Kilo Reis:
drinnen geblieben – nicht einmal für ei-        Grossstädten über relativ wenige Probleme     ca. CHF 1.13
nen Spaziergang raus», erinnert sich der        mit dem Fernunterricht klagten, war das       Corona-Infizierte: 90 217
damalige Gastschüler, der sich ein Zimmer       digitale Lernen in den ländlichen Regionen    (Stand per 6. April 2021,
mit Hochbett und zwei Schreibtischen mit        keine langfristige Option. Viele Familien     hohe Dunkelziffer wahrscheinlich)
dem 16-jährigen Sohn der Familie geteilt        in ärmeren Provinzen besitzen keine Lap-      Verstorbene: 4636
hatte. Nur die Eltern haben für notwen­         tops oder Computer, die Schüler mussten       (Stand per 6. April 2021,
dige Einkäufe die Wohnung verlassen.            meist auf kleine Smartphone-Displays          hohe Dunkelziffer wahrscheinlich)
Eine harte Zeit, die irgend­wie gefüllt wer-    ausweichen. Ausserdem sind insbesonde-        Geimpfte: 100 Millionen
den musste: «Wir haben Liegestützen ge-         re in abgelegenen Dörfern die Internet-       (Stand per 28. März 2021)
                                                                                                                                         15

macht, Karten gespielt, Videos geschaut         verbindungen oft nicht sehr stabil.                                                
der in eine Pekinger Schule gehen. Die
                                                                                                                               strengsten Regeln galten jedoch für Uni-
                                                                                                                               versitäten, die oftmals von ihren Studen-
                                                                                                                               ten verlangten, mehrere Monate den
                                                                                                                               Campus nicht zu verlassen.
                                                                                                                                    In den letzten Monaten jedoch hat
                                                                                                                               sich die Situation deutlich entspannt, wie
                                                                                                                               die Lehrerin Chang Li aus der bergigen
                                                                                                                               Provinz Shandong im Osten des Landes
                                                                                                                               berichtet. «Meine Schüler müssen nicht
                                                                                                                               mehr täglich eine Maske tragen, nur wenn
                                                                                                                               sie sich krank fühlen», sagt die Mittdreis­
                                                                                                                               sigerin. In ihrer Provinz sind die Schulen
                                                                                                                               seit Mitte April letzten Jahres durchgängig
                                                                                                                               ­offen, Online-Unterricht gab es also wäh-
                                                                                                                                rend weniger als drei Monaten. Die Wärme­
                                                                                                                                bildkameras sind weitgehend abgebaut.
                                                                                                                                Nicht nur in Shandong: Die strengen
                                                                                                                                Massnahmen der Regierung haben es
      Der österreichische Mittelschüler Maximilian Santner                                                                      ermöglicht, dass die rund 195 Millionen
                                                                                                                                ­
      verbrachte 2020 ein Austauschsemester in Peking und
      erlebte den Ausbruch der Pandemie mit.                                                                                    Schüler des Landes wieder ganz normal
                                                                                                                                den Unterricht besuchen können.

                                                                                                                               Ideologisierung der Bildung
                                                                                                                               Sich von einem solchen Unterricht ein Bild
                                  Im konfuzianisch geprägten China spielt       Doch die drastischen epidemiologischen         zu machen, gestaltet sich für Korrespon-
                                  Bildung traditionell eine besonders wich-     Massnahmen der chinesischen Regierung          denten im Land allerdings schwierig. So
                                  tige Rolle. Das hat auch mit dem hohen        zeigten schon bald Wirkung. China gelang       war es nicht möglich, für diesen Bericht
                                  Konkurrenzdruck zu tun: Nur die besten        es als einem von wenigen Ländern, die          einen offiziellen Schulbesuch vorzuneh-
                                  Schülerinnen und Schüler eines Jahr-          Ausbreitung des Virus vollständig zu           men. Die Regierung schottet sich zuneh-
                                  gangs können auf einen Studienplatz an        drosseln. Die Infektionszahlen sollten         mend gegen unabhängige Berichterstat-
                                  einer renommierten Universität hoffen,        nicht nur reduziert, sondern auf null ge-      tung ab, im letzten Jahr wies sie so viele
                                  was wiederum entscheidend ist für ein         senkt werden. Seit Sommer 2020 gibt es         westliche Journalisten aus dem Land aus
                                  ­erfolgreiches Berufsleben. Von daher ist     laut den offiziellen Zahlen nur mehr ver-      wie zuletzt vor über 30 Jahren. Selbst
                                   es in China ganz normal, dass Durch-         einzelte Virusausbrüche, die jedoch durch      scheinbar unpolitische Themen wie der
                                   schnittsfamilien einen Grossteil ihrer Er-   strenge lokale Lockdowns bislang stets         Schulunterricht sind in der Volksrepublik
                                   sparnisse in den Nachhilfeunterricht ih-     eingegrenzt werden konnten.                    heikel: Denn unter Staatschef Xi Jinping,
                                   rer Kinder stecken, um ihren Zöglingen                                                      der seit 2013 im Amt ist, vollzieht sich eine
                                   bessere Chancen zu eröffnen. Es ist nicht    Wärmebildkameras am Eingang                    kommunistische Re-Ideologisierung der
                                   unüblich, dass Kinder nach dem regulä-       Nach vier Monaten Online-Unterricht            Bildung, die immer deutlicher zutage tritt.
                                   ren Unterricht noch bis nach 22 Uhr in       ­öffnete die Stadtregierung von Peking am          Mithilfe von neuen, staatlichen Lehr­
                                   Nachhilfeinstituten weiter lernen. Die        1. Juni 2020 die Schulen wieder – zunächst    mitteln werden die Grundschüler im Ge-
                                   starke Fokussierung auf gute Noten ist        jedoch unter strengen Regeln: Vor den         schichtsunterricht auf die «sozialistischen»
                                   umso erstaunlicher, als in China erst vor     Eingängen hatten die Schulen Wärmebild­       Werte eingeschworen, die dunklen Ka­
                                   35 Jahren überhaupt eine neunjährige          kameras installiert, um die Körpertempe-      pitel in der jüngeren Historie des Landes
                                   Schulpflicht eingeführt wurde.                raturen von Besuchern zu messen. Vor          werden verschwiegen. Chinesische Schü-
                                                                                 Unterrichtsbeginn wurde jeder Schüler         ler lernen beispielsweise nichts über die
                                  Ein Drama für die Eltern                       nochmals persönlich auf Fieber geprüft,       blutige Niederschlagung der Studenten-
Corona-Sonderausgabe

                                  Apropos Noten: In China werden die schu­       gegen Mittag und Abend erneut. Zudem          bewegung am Pekinger Platz des Himmli-
                                  lischen Leistungen mithilfe eines Punkte-      galten zunächst strenge Abstandsregeln:       schen Friedens von 1989, als junge Chine-
                                  systems bewertet, es reicht von 0 bis ma-      Jeder Schüler in Peking bekam einen           sinnen und Chinesen für mehr politische
                                  ximal 100 Punkte – wobei Tests erst ab         eigenen Tisch zugewiesen. Und abseits
                                                                                 ­                                             Teilnahme demonstrierten. Auch dass
                                  mindestens 60 Punkten als bestanden gel-       des Mittagessens galt die Maskenpflicht       Maos Wirtschaftspolitik zu Hungersnöten
                                  ten. Viele Schulen in China forcieren den      ausnahmslos den ganzen Tag über. Der          mit unzähligen Millionen Toten führte,
                                  Wettbewerb unter ihren Schülern, etwa          Turnunterricht fand nur eingeschränkt         wird in den Lehrbüchern nicht erwähnt.
                                  indem sie Prüfungsergebnisse öffentlich        auf Bodenmarkierungen statt. Abseits des          In einem Kommentar der «Volkszei-
                                  am Schwarzen Brett aufhängen.                  Unterrichts wurden Schüler aufgefordert,      tung» heisst es, man müsse Chinas Jugend
Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

                                      Die mehrmonatige Pause des Präsenz­        keine öffentlichen Busse zu nehmen und        «von Anfang an nach unseren Werten
                                  unterrichts aufgrund des Virusausbruchs        möglichst zu Hause zu bleiben. Der 13-jäh­    erziehen und ihre roten Gene stärken».
                                                                                                                               ­
                                  war dementsprechend für viele Eltern           rige Jun, der eine Pekinger Mittelschule      Auch die Universitäten Pekings, an denen
                                  ein grosses Drama, weil sie befürchteten,      besucht, sagte: «Der neue Schulalltag ist     Studierende und Wissenschafter eine Zeit
                                  dass ihre Kinder in der Vorbereitung für       eigentlich okay, ich habe mich mittlerweile   lang gewisse intellektuelle Freiheiten ge-
                                  die Universitätseingangsprüfungen einen        schon sehr ans Maskentragen gewöhnt.»         nossen, bekommen diesen Trend immer
                                  Wettbewerbsnachteil erleiden würden. Oft­           Dabei forderten die neuen Regeln         mehr zu spüren. Und seit der Corona-
                                  mals setzen die Mütter und Väter gezielt       auch den Eltern einiges ab: «Wir mussten      Pandemie sind sie verschlossener denn
                                  ihre Erwartungen in ihr einziges Kind –        regelmässig angeben, wo wir uns auf­          je – auch im wortwörtlichen Sinn: Wer als
                                  eine Folge der strengen Einkindpolitik,        gehalten haben. Und sobald die Kinder         Besucher einen Campus betreten will,
                                  die erst vor weniger als zehn Jahren ge­       leicht kränkelten, mussten sie zu Hause       wird vor den Toren von Sicherheitskräften
16

                                  lockert wurde.                                 bleiben», sagt Brandon, dessen zwei Kin-      abgewiesen. 
Rafael Siebs
                                     Absolvent CAS Brennpunkt
                                     Kindesschutz

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           28.4.2021                                           Kindeswohlgefährdung erkennen, ein-
                                                               schätzen und entsprechend handeln.

                                                               ost.ch/cas-kindesschutz

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                                                                                                   Klass    ark
                         School of                                                             Eine enpreis:
                                                                                                     Sh
                                                                                                 Profe ow von
                         Engineering                                                           Bum ssor
                                                                                                    mbas
                                                                                                          tic
                         Schülerwettbewerb «Beweg was!
                         – Baue deinen eigenen Antrieb für ein Tetrapak»
                         Hast du dir schon einmal überlegt, was ein Velo, ein Auto oder einen Zug vorantreibt?
                         Ob Muskelkraft oder Motoren – die Antriebe von Fahrzeugen haben sich über viele Jahre
                         entwickelt. Züge wurden früher beispielsweise von Pferden gezogen. Heute fahren sie
                         fast alle elektrisch. Man kann ein Fahrzeug auch mit einem Gummizug oder einer Feder
                         von A nach B bewegen. Ja, sogar mit Luft!
                         Wie sieht dein Antrieb aus? Lass deiner Kreativität freien Lauf und überrasche uns mit
                         deiner Erfindung! Die Vorgaben: Dein Fahrzeug muss ein 1-Liter-Tetrapak (Getränkekarton)
                         sein und mithilfe deines Antriebs eine Strecke von mindestens zwei Metern zurücklegen.
                                                                                                                    Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

                         Also bastle, was das Zeug hält, und schick uns ein Video von deinem Fahrzeug!

Zürcher Fachhochschule   www.zhaw.ch /engineering/schuelerwettbewerb
                                                                                                                    17
18   Schulblatt Kanton Zürich 2/2021   Corona-Sonderausgabe
Schon im Stadt-Bus zur ersten Gesprächs-                                                                               Schweden

                                                               Sehr viel Eigen-
partnerin wird deutlich, was Schweden
bei Corona anders macht: kaum jemand
trägt einen Mundschutz, obwohl dies von

                                                                verantwortung
den Behörden vor allem in den Stoss­
zeiten empfohlen wird. Immerhin wird der
Chauffeur des blau-weissen Busses mit
der Liniennummer 5 geschützt, denn die
vorderste Eingangstür bleibt geschlossen
und auch die vordersten Sitzreihen sind
                                                          Das grösste nordische Land hat von
abgesperrt.                                           Beginn an einen eigenen Weg durch die
    Mit ihren gut 155 000 Einwohnerinnen
und Einwohnern ist Västerås die sechst-                   Corona-Pandemie gewählt. Statt auf
grösste Stadt Schwedens und einer der
wichtigsten Industriestandorte des Landes:
                                                     Zwangsmassnahmen setzt Schweden auf
Es ist die Heimat des ASEA-Konzerns, der                langfristige Empfehlungen, die an die
seit der Fusion mit dem früheren schwei-
zerischen Konkurrenten Brown Boveri                         ­Eigenverantwortung appellieren.
im Jahre 1988 ABB heisst. Mit Ausnahme
eines kleinen historischen Stadtkerns mit
                                                     Ein Augenschein in einer auf technische
dem mächtigen Dom – Västerås ist schon                 Fächer s­ pezialisierten Mittelschule der
seit über 900 Jahren Bischofssitz – macht
die gut hundert Kilometer westlich von
                                                                        Industriestadt Västerås.
Stockholm gelegene Stadt einen amerika-
                                                                                                  Text und Fotos: Bruno Kaufmann, Stockholm
nischen Eindruck.
    Ein Netz von Stadtautobahnen durch-
schneidet den nach dem Zweiten Welt-
krieg wegen der boomenden Maschinen-
industrie schnell gewachsenen Siedlungs-
raum an vielen Stellen. Zwischen den
breiten Strassen, an denen Schnellim­
bissketten und Tankstellen das Bild prä-
gen, liegen Siedlungen unterschiedlichen
Zuschnittes: Reihenhausquartiere, mehr­
stöckige Betonkästen, hier und dort ein
typisch schwedisches Holzhaus aus einer
Zeit, als Västerås erst wenige Tausend
Einwohner hatte.

«Zuerst war ich geschockt»
Stella Moberg-Paganelli lebt im Stadt-
teil Nordanby in einer Siedlung aus den
1970er-Jahren mit einstöckigen Einfami­
lienhäusern. Die 61-Jährige ist italienisch-   standsempfehlungen. Später kamen dann
schwedische Doppelbürgerin und lebt mit        immer striktere Einschränkungen des            Schweden
ihrem schwedischen Mann, einem Musi-           ­öffentlichen Lebens hinzu. Auf generelle
ker, seit über 30 Jahren in Västerås: «Als      Schulschliessungen aber hat Schweden          Anzahl Einwohner: 10,4 Millionen
ich vor einem Jahr nach einem Besuch            im Unterschied zu fast allen anderen          Bevölkerungsdichte: 24 E./km2
                                                                                                                                         Corona-Sonderausgabe

bei meiner alten Mutter in Norditalien,         ­Ländern in Europa bis heute verzichtet.      Hauptstadt: Stockholm
wo wegen der Pandemie alles dichtge-                 «Im Rückblick betrachte ich dieses       Grösste Stadt: Stockholm,
macht hatte, nach Schweden zurück­               Vor­gehen der Behörden nun mit etwas         975 000 Einwohner
kehrte, war ich ehrlich gesagt geschockt»,       anderen Augen», betont Stella Moberg-        Anzahl Schüler und Schülerinnen
erzählt Stella Moberg-Paganelli: «In             Paganelli, die selbst entscheiden kann, ob   der porträtierten Schule: 340
Schweden schien sich damals niemand              sie ihre Schülerinnen und Schüler vor Ort    Anzahl Lehrpersonen der
um die Ausbreitung des Virus zu küm-             in der Schule treffen möchte oder den Un-    ­porträtierten Schule: 23
mern.» Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer,           terricht über das Internet abwickelt: «Wir    Klassengrösse: rund 19
das in den letzten zwölf Monaten immer           alle haben lernen müssen, viel Eigen­         Anzahl Bildungsabschlüsse
                                                                                                                                         Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

wieder in einen Arbeitsplatz umfunktio-          verantwortung zu übernehmen. Und wir          auf Tertiärstufe: 44 Prozent
niert worden ist: Moberg-Paganelli ist           haben in diesen Monaten wirklich ge-          Durchschnittliches Monatsgehalt
Lehrerin an einer der 24 Mittelschulen           lernt, wie wir auch auf Distanz den Lehr-     eines einfachen Arbeiters:
der Stadt. Sie unterrichtet moderne Spra-        betrieb aufrechterhalten können.» Dazu        CHF 3000
chen und ist Stundenplanverantwortliche          gehört, dass alle Schülerinnen und Schü-      Preis für 1 Kilo Brot: CHF 6
der Schule.                                      ler ihre Kamera zumindest zu Beginn der       Corona-Infizierte: 773 690
     Tatsächlich wählte Schweden im letz-        Lektion eingeschaltet haben. «Ich möchte      (Stand per 25. März 2021)
ten Frühjahr, als die Pandemie grosse            doch nicht, das jemand vom Bett aus am        Verstorbene: 13 373
­Teile Europas erreicht hatte, einen ganz        Unterricht teilnimmt», sagt die erfahrene     (Stand per 25. März 2021)
 eigenen Weg: statt Lockdowns oder Shut-         Lehrerin.                                     Geimpfte: 1 845 295
 downs setzten die Gesundheitsbehörden               Wie der Umgang mit der globalen           (Stand per 25. März 2021)
                                                                                                                                        19

 des Landes zunächst auf einfache Ab-            Pandemie, so hat auch das schwedische                                            
Hans Jakobsson,                 Mittelschullehrerin Stella Moberg-
                                                                                                Rektor des Industrie­             Paganelli (oben) war nach einem
                                                                                                gymnasiums, meldet                Besuch bei ihrer Mutter in Nord-
                                                                                                sich auch via Youtube           italien über die lockeren Zustände
                                                                                                zu Wort.                                  in Schweden schockiert.
      Lehrertrio Eva Fors, Tove Fällman, Jonas Westerholm (von links).

                                  Schulsystem grosse Eigenheiten. Es ver-       vor Ort sind die Gemeindeverwaltung         litäten: «Ich treffe meine Klassenkame-
                                  bindet öffentliche und private Elemente       (10 000 Mitarbeitende) und Asea Brown       raden nur sehr selten», sagt die 16 Jahre
                                  in einer Art und Weise, die eine grosse       Boveri (4000 Angestellte).                  alte Erstklässlerin Rebecka Eskilsson, und
Corona-Sonderausgabe

                                  Vielfalt an pädagogischen Methoden und                                                    ihr um ein Jahr älterer Schulkollege Joel
                                  fachlichen Ausrichtungen ermöglicht. Da-      «Mir fehlen die Kameraden sehr»             Wåhlstedt betont: «Normalerweise verfol-
                                  bei werden universelle staatliche Ansätze     Gut zwanzig Minuten Fussweg benötigt        ge ich den Unterricht von zu Hause aus.»
                                  wie die für alle obligatorische zehnjährige   Stella Moberg-Paganelli, um von ihrer       Heute aber sind die beiden ins Schul-
                                  Gesamtschule und das Verbot von Schul-        Einfamilienhaussiedlung ins lokale «Sili-   haus gekommen, weil sie eine Deutsch-
                                  geld mit grossen Freiheiten für private       con Valley» Finnslätten auf der anderen     Prüfung machen müssen. Die Pandemie
                                  Schulanbieter verbunden. Jede Schülerin       Seite der nördlichen Ringautobahn zu        hat ihr erstes Mittelschuljahr stark ge-
                                  und jeder Schüler verfügt bis zum Mittel-     kommen: Hier befinden sich zahlreiche       prägt: «Im Herbst waren wir zunächst
                                  schulabschluss – der Anteil der Maturan-      Forschungs- und Entwicklungslabors, etwa    ­immer hier vor Ort, dann aber kam der
Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

                                  den beträgt in Schweden gut 85 Prozent        des Baukonzerns NCC, des Batterien­          Winter und zahlreiche Lektionen wurden
                                  eines Jahrganges – über einen «Bildungs-      herstellers Northvolt und von ABB. Und       auf Distanz erteilt», sagt Rebecka und fügt
                                  voucher», der an einer Schule nach Wahl       hier befindet sich auch das einst vom        hinzu: «Mir fehlt wirklich der soziale Um-
                                  eingesetzt werden kann. Hinzu kommt,          schwedisch-schweizerischen Technikkon­       gang.» Joel sieht aber auch Vorteile im
                                  dass in Schweden alle Schulen bis zur         zern gegründete «ABB Industrigymna­          häufigen Heimunterricht: «Ich verbringe
                                  Matura auf der lokalen Ebene verwaltet        sium», das später von den Lehrerinnen        viel mehr Zeit mit meiner Familie und
                                  werden: Die entsprechenden Mittel ma-         und Lehrern übernommen wurde und             habe erst noch die Möglichkeit, vor dem
                                  chen in ­vielen Gemeinden mehr als die        heute einem wohlhabenden lokalen Ge-         Schulbeginn einen langen Morgenspazier­
                                  Hälfte des Gesamtbudgets aus. So auch in      schäftsmann aus der Västeråser Maschi-       gang zu machen.» Wie alle Schülerinnen
                                  Västerås mit einem jährlichen Budget von      nenindustrie gehört.                         und Schüler am ABB-Gymnasium sind
                                  um­gerechnet knapp einer Milliarde Fran-          An diesem Märztag ist es ruhig in den    Rebecka und Joel sehr an technischen
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                                  ken. Die beiden wichtigsten Arbeitgeber       grosszügig und modern gestalteten Loka-      Themen interessiert: «Zum Glück kön-
Rebecka und Joel können für praktische Übungen
und Labortests in die Schule kommen.

                                                                                                       Physiklehrerin Eva Fors hat um sich herum
                                                                                                   unterschiedlichste Versuchsmodelle aufgebaut.

                                                                                          Sprachlehrer, der die ABB-Mittelschule
                                                                                          seit neun Jahren leitet. Das bedeutet:
                                                                                          «Wir versuchen immer wieder herauszu-
                                                     Ein Blick ins Lehrerzimmer.          finden, wie wir die gesetzten Lernziele
                                                                                          trotz aller Corona-Schwierigkeiten errei-
                                                                                          chen können. Den Aufbau einer Bildungs-
                                                                                          schuld im Sinne von Verzögerungen im
                                                                                          Kursprogramm können wir uns schlicht
nen wir aber für praktische Übungen und      hetzen.» Ihrem 42 Jahre alten Arbeits­       nicht leisten.»
Labortests in die Schule kommen», be­        kollegen Jonas Westerholm, der am ABB            Neben den weitreichenden Kompe-
tonen sie.                                   Industrigymnasium Gesellschaftskunde         tenzen im Umgang mit der Pandemie
                                                                                                                                             Corona-Sonderausgabe

                                             und Geschichte unterrichtet, fehlt in die-   steht für Hans Jakobsson der Dialog mit
Nachhaltige Veränderungen                    sem schwierigen Jahr die Arbeitsruhe:        seinen Lehrerkollegen, mit den Schüle-
An diesem Tag befindet sich etwa ein         «Die Rahmenbedingungen unserer Arbeit        rinnen und Schülern und mit den Eltern
Viertel der insgesamt 370 Schülerinnen       verändern sich von Woche zu Woche.»          im Zentrum: Neben bilateralen Treffen
und Schüler der Mittelschule vor Ort. In     Eine weitere Kollegin, die 30 Jahre alte     vor Ort, übers Telefon oder via Chat-­
manchen Schulzimmern sitzt zudem eine        Biologie- und Chemielehrerin Tove Fäll-      Kanäle betreibt Rektor Jakobsson auch
einsame Lehrerin oder ein Lehrer und         man, konnte in den vergangenen Mo­           einen Youtube-Kanal, auf dem er fast
unterrichtet die Klassen übers Internet.     naten jedoch davon profitieren, dass ihre    täglich sendet, und er verschickt immer
                                                                                          ­
So etwa Eva Fors, die um sich herum          Fächer aus praktischen Gründen vor-          am Freitag einen Newsletter. Zudem lobt
                                                                                                                                             Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

­unterschiedlichste Versuchsmodelle auf­     nehmlich im Präsenzunterricht durchge-       er die gute Zusammenarbeit mit der für
 gebaut hat. «Ich unterrichte seit über      führt werden konnten.                        die Schule ­  zuständigen Pflegefachfrau,
 30 Jahren und habe noch nie ein solch                                                    die ihrerseits den Kontakt mit den regio-
 anstrengendes Jahr erlebt», betont die
 ­                                           Dialog ist zentral                           nalen Gesundheitsbehörden aufrecht­
 58 Jahre alte Physiklehrerin, die wieder-   Wer wann wo wie unterrichtet wird, dies      erhält: «Uns ist es so gelungen, die In­
 holt auch in der Schweiz – unter anderem    entscheidet an schwedischen Schulen die      fektionszahlen sehr tief zu halten und
 in Oerlikon und Bülach – Lehraufträge       Leiterin beziehungsweise der Leiter der      gleichzeitig für einen funktionierenden
 übernommen hat. In ihrer Wahrnehmung        jeweiligen Schule autonom: Am ABB            Lehrbetrieb zu sorgen.» Auch Rektor
 hat die Pandemie ihren Job nachhaltig       ­Industrigymnasium ist dies Rektor Hans      Hans Jakobsson ist überzeugt, dass er und
 verändert: «Im Distanzunterricht muss        Jakobsson. «Unser schwedisches Credo        seine ganze Schule g  ­ estärkt aus der Pan-
 ich die schwächeren Schüler hetzen,          ist ganz klar die grosse Eigenverantwor-    demie hervorgehen werden: «Wir haben
                                                                                                                                             21

 ­während die starken Schülerinnen mich       tung», betont der 48 Jahre alte ehemalige   alle sehr viel gelernt.» 
Hinter der Plexiglas­
      scheibe im Eingangs­
      bereich der Schule
      sind Desinfektionsmittel
      und Fieberthermometer
      stets griffbereit.
Corona-Sonderausgabe
Schulblatt Kanton Zürich 2/2021
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                                  Blick in die
                                  leere Aula.
Ein volles Jahr ist Federica Arcuro nicht                                                                                          Italien

                                                                                         «Alles wird
zur Schule gegangen. Sie wohnt in Cro­
tone, einer abgelegenen Hafenstadt an der
Stiefelspitze Italiens – einst eine griechi-

                                                                                            ­surreal»
sche Kolonie, vor 2500 Jahren hat Pytha-
goras hier gelehrt. Seit dem Covid-Lock-
down Anfang März 2020 war die 18-jährige
Maturandin nie mehr in der Schule, sie
hat nur noch Fernunterricht am Compu-
ter. Ihr ist das recht so. Sie fühlte sich in
                                                        In Italien sind die Schulen oft monate-
ihrer Klasse nicht besonders wohl.                           lang geschlossen. Ein Augenschein
      An diesem Abend hat Federica Besuch,
fünf Freundinnen und Freunde kommen,                     im apulischen Städtchen Crotone zeigt
man isst Pizza und schwatzt im Flüster-
ton. Man muss leise sein, nicht dass ein
                                                    schwerwiegende Folgen bei den Kindern
Nachbar Anzeige erstattet, denn solche                und Jugendlichen. Für Antonio Santoro,
Versammlungen sind verboten. Manch-
mal treffen sich die jungen Leute auch zu         ­Direktor des staatlichen Istituto Compren-
einem Spaziergang. Die Brennpunkte am
Lungomare meidet Federica, überfüllte
                                                     sivo «Alcmeone» ist die grösste Sorge im
Orte mag sie nicht, nicht erst seit Covid               Moment nämlich nicht der Erwerb von
und dem Gebot des Abstandhaltens. Sie
ist viel allein, sitzt zu Hause in ihrem
                                                    Kompetenzen gemäss Lehrplan, sondern
­Zimmer, verkriecht sich in ihrem Schne-
 ckenhaus. Der Fernunterricht, «didattica a
                                                          das Sozialverhalten der Schüler. Diese
 ­distanza», fördere eine Neigung zur Ver-             ­leiden immer mehr an Realitätsverlust.
  einzelung, sagt sie, zur «introversione».
  Unter anderem hat sie Turnstunden am                                                   Text: Andres Wysling, Rom Fotos: Giancarlo Mangano
  Bildschirm, der Lehrer doziert dann über
  Sport, zum Beispiel über die nächsten
  fussballerischen Herausforderungen. Das
  interessiert die junge Frau überhaupt
  nicht. Nach der Matura will sie Hebamme
  werden.

Lernen vom Bett aus
Ihre Tochter sei sehr diszipliniert und
lerne gut, sagt die Mutter, Giulia Arcuro.
Kritik folgt jedoch auf dem Fuss: Die
­junge Dame verfolge den Fernunterricht
 am liebsten vom Bett aus, sie verbringe
 den Tag vorwiegend im Trainingsanzug,          haus, wegen der Covid-Vorschriften. Ein
 sie werde faul. Zu diesem Thema hat            Schnappschuss durch die Tür der Aula          Italien
 sich, aus völlig anderer Warte, auch ein       wird erlaubt.
 Mailänder Modeunternehmer geäussert:               Erreichen die Schüler die Lernziele       Anzahl Einwohner: 59 Millionen
 Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie          im Fernunterricht am Computer? Santoro:       Bevölkerungsdichte: 196 E./km2
 kauften die Leute im Internet fast nur         «Das werden wir in zwei Jahren sehen.         Hauptstadt: Rom
 noch Trainer, kaum noch richtige Kleider,      Meine grösste Sorge ist derzeit nicht der     Grösste Stadt: Mailand (Metropol-
                                                                                                                                         Corona-Sonderausgabe

 sagte er in einem Fernsehinterview. Die        Erwerb von Kompetenzen gemäss Lehr-           region), 8 Millionen Einwohner
 stilbewussten Italiener liessen sich ge-       plan, sondern das Sozialverhalten der         Anzahl Schülerinnen und Schüler
 hen, sie wollten nichts mehr darstellen.       Schüler. In den letzten Wochen hatten wir     der porträtierten Schule: 1200
 Für den Modemann bedeutet der Trainer          Schlägereien wie nie zuvor. Manche Kin-       Anzahl Lehrpersonen der
 den Untergang der Zivilisation.                der können sich selbst und ihr Handeln        ­porträtierten Schule: 130
      «Dank Fernunterricht waren die Schü­      überhaupt nicht mehr einschätzen. Sie          Klassengrösse: 16–24
 ler immerhin nicht ganz sich selbst über-      leiden unter Realitätsverlust. Alles wird      Anzahl Bildungsabschlüsse
 lassen. Aber er kann den Präsenz­              surreal.» Eine Vermutung: Die Kinder           auf T
                                                                                                   ­ ertiärstufe, Universitäts­
 unterricht nicht ersetzen», sagt Antonio       übertragen die fiktive Gewalt der Compu-       abschlüsse «laurea»: 27,6 Prozent
                                                                                                                                         Schulblatt Kanton Zürich 2/2021

 Santoro, Direktor des staatlichen Istituto     terspiele in den Alltag, als reale Gewalt.     bei den 30- bis 34-Jährigen
 Comprensivo «Alcmeone». Die Schule ist         «Wir haben ein soziales Manko. Die Schule      Durchschnittliches Monatsgehalt
 nach einem bedeutenden griechischen Arzt       kann es nicht ausfüllen, nicht mit Fern­       eines einfachen Arbeiters:
 aus Crotone benannt, sie hat 1200 Schüler      unterricht», sagt Santoro.                     EUR 600–1000 (netto)
 vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe                                                        Preis für 1 Kilo Brot: um EUR 3
 und 130 Lehrpersonen. Schon wieder ist         «Lehrpersonen geben alles»                     Corona-Infizierte: 3,4 Millionen
 sie per Dekret stillgelegt, das Schulhaus      Und die Lehrpersonen? «Sie geben alles»,       (Stand per 22. März 2021)
 ist bis auf wenige Personen leer. Das Ein-     sagt Santoro. Niemand habe sich eine           Verstorbene: 105 000
 gangsritual mit Fiebermessen und Hand-         ­solche Lage vorstellen können, alle ver-      (Stand per 22. März 2021)
 gel wird unter dem wachsamen Auge               suchten, das Beste zu geben. Die didak­       Komplett Geimpfte: 2,5 Millionen
 einer Beauftragten peinlich eingehalten.
 ­                                               tischen Herausforderungen des Fern­           (Stand per 22. März 2021)
                                                                                                                                         23

 Fotografieren geht nicht im leeren Schul-       unterrichts, dazu die organisatorischen                                             
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