Problemlösen als Methode und Ziel des Mathematikunterrichts - unipub

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Problemlösen als Methode und Ziel des Mathematikunterrichts - unipub
Problemlösen als Methode und Ziel des
 Mathematikunterrichts
Von der Literaturanalyse hin zu einem Unterrichtskonzept für die
 Sekundarstufe 1

 Diplomarbeit

 Zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der
 Naturwissenschaften

 an der Karl-Franzens-Universität Graz

 vorgelegt von
 Sabina BALDINGER

 Am Institut für Mathematik und wissenschaftliches Rechnen
 Begutachter: Univ.-Prof. Dr. phil. Bernd Thaller

 Graz, 2020
Problemlösen als Methode und Ziel des Mathematikunterrichts - unipub
Inhalt
1 Einleitung ........................................................................................................................... 1

2 Was ist Problemlösen? ....................................................................................................... 3

 2.1 Begriffsbestimmung „Problem“ .................................................................................. 3

 2.2 Typisierung von mathematischen Problemen .............................................................. 4

 2.3 Problemlösen im Mathematikunterricht ...................................................................... 5

 2.4 Abgrenzungen .............................................................................................................. 9

3 Relevanz und Ziele des Problemlösen.............................................................................. 11

 3.1 Problemlösen in den Lehrplänen ............................................................................... 11

 3.2 Problemlösekompetenzen in den Bildungsstandards ................................................ 12

 3.3 (Lern-)Ziele des Problemlösens................................................................................. 16

4 Heuristik ........................................................................................................................... 18

 4.1 Heuristische Hilfsmittel ............................................................................................. 19

 4.2 Heuristische Strategien .............................................................................................. 21

 4.3 Heuristische Prinzipien .............................................................................................. 23

 4.4 Heuristische Regeln ................................................................................................... 24

 4.5 Vermittlung von Heurismen ...................................................................................... 25

5 Selbstregulation ................................................................................................................ 27

 5.1 Prozess des Problemlösens/Problemlösepläne .......................................................... 31

 5.2 Zu Lernstrategien und Problemlöse(strategie)n ........................................................ 33

6 Unterrichtsgestaltung ....................................................................................................... 37

 6.1 Rahmenbedingungen für guten Mathematikunterricht .............................................. 37

 6.2 Zur Auswahl und Gestaltung von Problemaufgaben ................................................. 41

 6.2.1 Authentizität von Aufgaben ............................................................................... 44

 6.2.2 Offenheit von Aufgaben ..................................................................................... 45

 6.2.3 Differenzierungsvermögen von Aufgaben ......................................................... 47

 6.3 Unterrichtsmethoden ................................................................................................. 49

 6.3.1 Neriage ............................................................................................................... 51

 I
6.3.2 Dokumentieren im Lernprotokoll....................................................................... 51

 6.3.3 Lautes Denken .................................................................................................... 52

 6.3.4 Prinzip der minimalen Hilfe ............................................................................... 53

 6.3.5 Cognitive Apprenticeship ................................................................................... 53

 6.4 Mögliche Herausforderungen .................................................................................... 55

7 Diagnose, Rückmeldung und Leistungsbewertung .......................................................... 57

8 Unterrichtskonzepte aus der Literatur .............................................................................. 61

 8.1 Problemlösen als Ziel: Ein Unterrichtskonzept ......................................................... 61

 8.2 Problemlösen mit Strategieschlüssel ......................................................................... 63

 8.3 Problemlösen als Methode und Ziel: Ein Unterrichtskonzept ................................... 64

 8.4 Diskussion der verschiedenen Unterrichtskonzepte .................................................. 66

9 Ein Unterrichtskonzept zum Problemlösen für die Sekundarstufe 1 ............................... 68

 9.1 Problemlöse-Cheatsheet für Lehrende ....................................................................... 68

 9.2 Eine exemplarische Unterrichtsplanung für die 7. Schulstufe................................... 68

10 Diskussion ........................................................................................................................ 72

Literaturverzeichnis .................................................................................................................. 74

Anhang ..................................................................................................................................... 80

 Anhang 1: Problemlöse-Cheatsheet für Lehrende mit Verweisen ....................................... 81

 Anhang 2: Problemlöse-Cheatsheet für Lehrende ............................................................... 83

 Anhang 3: Lebkuchenproblem ............................................................................................. 85

 II
Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Ein magisches Quadrat (Eigene Darstellung). ..................................................... 3
Abbildung 2: Komponenten des Problemlösens nach Schoenfeld (1985). ................................ 6
Abbildung 3: Strategielandkarte: Eine Übersicht über mögliche Problemlösestrategien für
Schülerinnen und Schüler (Holzäpfel et al. 2018: 140). .......................................................... 19
Abbildung 4: Aufgabenstellung "Aufgewickelter Draht" (Bruder & Collet 2011: 84). .......... 23
Abbildung 5: Regulatorische Checkliste (Konrad 2014: 129). ................................................ 30
Abbildung 6: Prozessmodell selbstregulierenden Problemlösens (Collet 2009, zitiert nach
Bruder et al. 2015: 288). ........................................................................................................... 32
Abbildung 7: Systematik offener Aufgaben (Holzäpfel et al. 2018: 56). ................................ 45
Abbildung 8: Gleitender Halbkreis im Koordinatensystem mit Punkt P (Eigene Darstellung).
.................................................................................................................................................. 48
Abbildung 9: Beurteilungsraster nach den vier Aspekten des Problemlösens. Aspekte, die
besonders positiv (helle Markierung) oder mangelhaft (dunkle Markierungen) aufgefallen sind,
wurden mit einer Markierung hervorgehoben (Holzäpfel et al. 2018: 211). ........................... 58
Abbildung 10: Beurteilungsraster mit formulierten Kompetenzstufen (Holzäpfel et al. 2018:
215)........................................................................................................................................... 60
Abbildung 11: Ausschnitt aus dem Problemlöse-Cheatsheet für Lehrende (Eigene Darstellung).
.................................................................................................................................................. 68
Abbildung 12: Eine Abwandlung des Lebkuchenproblems von Bruder et al. (2018: 24). ...... 70

 III
Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Problemlösekompetenzen in den Anforderungsbereichen (KMK 2004b:12). ........ 14
Tabelle 2: Zusammenfassung der Lernziele des Problemlösens nach (1) KMK 2004b, (2)
NCTM 2020, (3) Zech 2002 und (4) Bruder & Collet 2011. Die mit * gekennzeichneten
Lernziele leiten sich aus der Diskussion in Kapitel 6 ab. ......................................................... 16
Tabelle 3: Phasenmodell und zugehörige Leitfragen nach Pólya (1945/1973: xvi). Übersetzt aus
dem Englischen. ....................................................................................................................... 31
Tabelle 4: Merkmale guten Problemlöse-Unterrichts nach Zech (2002), Bruder & Collet (2011),
Holzäpfel et al. (2018) und dem Bifie (2013) (Eigen Zusammenfassung). ............................. 39
Tabelle 5: Techniken zum Entwickeln von offenen Aufgaben bzw. Problemaufgaben von
Hölzäpfel et al. (2018) und Büchter und Leuders (2018). Die Spalten „Technik“ und
„Erklärung“ sind eine Zusammenführung der Begrifflichkeiten und Konzeptionen von
Hölzäpfel et al. und Büchter und Leuders. Die Spalte „Beispiel“ gibt jeweils ein Beispiel für
die jeweilig genannte Technik an, das von der Autorin dieser Diplomarbeit für das Thema
„Flächeninhalt ebener Figuren“ für die 7. Schulstufe erstellt wurde. (Eigene Darstellung) .... 46
Tabelle 6: Methoden für das Problemlösen im Mathematikunterricht (Eigene Darstellung). . 50
Tabelle 7: Beurteilungsmethoden im Überblick (nach Holzäpfel et al. 2018: 206, vereinfachte
Darstellung). ............................................................................................................................. 58
Tabelle 8: Unterrichtsziele des Problemlösens als Methode und als Ziel in den verschiedenen
Unterrichtsphasen (Holzäpfel et al. 2018: 158, vereinfacht).................................................... 64

 IV
1 Einleitung
Probleme begegnen uns in unserem Alltag auf vielfältige Weise. Je nach Art des Problems
haben wir mehr oder minder effiziente Strategien entwickelt, um ein gegebenes Problem zu
lösen. Werden zum Beispiel den Schlüsselbund verlegt, so kann man beispielsweise die eigenen
Schritte zurückverfolgen, um ihn wiederzufinden (Rückwärtsarbeiten).

Viele empfinden jedoch insbesondere mathematische Probleme als große Herausforderung und
sehen sich nicht imstande, solche zu lösen. Mathematische Aufgaben bzw. Probleme nehmen
jedoch einen zentralen Stellenwert im Mathematikunterricht bzw. in der Mathematik ein.
Sollten Schülerinnen und Schüler daher nicht auch Strategien vermittelt bekommen, um diese
zu lösen?

Nach Winter (1996: 35) soll Mathematikunterricht folgende drei Erfahrungen ermöglichen:

 (1) Erscheinungen der Welt um uns (…) wahrzunehmen und zu verstehen,
 (2) mathematische Gegenstände und Sachverhalte (…) kennen zu lernen
 und zu begreifen,
 (3) in der Auseinandersetzung mit Aufgaben Problemlösefähigkeiten, die
 über die Mathematik hinausgehen, (heuristische Fähigkeiten) zu erwerben.

Neben Winter lässt sich in der Literatur eine Vielzahl an weiteren Büchern und Beiträgen zum
Problemlösen (im Mathematikunterricht) finden. Begonnen bei Pólya (1945/1973), der erstmals
didaktische Fragestellungen mit dem Problemlösen in Verbindung gebracht hat, über
Schoenfeld (u.a. 1989), der zu Beginn das Erlernen von Problemlösestrategien als zentral
angesehen hat und später Selbstregulation als weiteren Faktor ergänzt hat, bis hin zu Bruder &
Collet (2011), Herold-Blasius, Rott & Leuders (2017), Holzäpfel, Lacher, Leuders & Rott
(2018), die jeweils unterschiedliche Unterrichtskonzepte liefern, um Problemlösen im
Unterricht zu verankern.

Problemlösen findet sich weiters in den deutschen Bildungsstandards, in den Standards der
NCTM (US-National Council of Teacher of Mathematics) sowie in den PISA-Testungen als
zentrale Kompetenz wieder. Auch im österreichischen Lehrplan ist Problemlösen verankert,
allerdings nicht in den Bildungsstandards für die Sekundarstufe.

Ein Blick in die Praxis zeigt, dass Problemlösen vielfach noch immer keinen großen Stellenwert
im Mathematikunterricht einnimmt (Herold-Blasius, Holzäpfel & Rott 2019: 296). Anwendung
findet es vor allem in der Begabtenförderung (Link 2011: 28f). In zahlreichen fachdidaktischen

 1
Kreisen sowie in gesetzlichen Vorschriften wird jedoch bereits die Implementation von
Problemlösen im regulären Mathematikunterricht gefordert. Unter anderem kristallisierte sich
dieser Sachverhalt auch bei Hauke (2017) heraus, die in ihrer Studie die Problemlöseprozesse
von Begabten und Interessierten mit nichtinteressierten Schülerinnen und Schülern verglich
und bilanzierte, dass Problemlösen nicht nur für die Begabtenförderung sondern für den
gesamten Mathematikunterricht zentral ist. Lehrkräfte stehen daher vor einer Herausforderung:
Während ihrer Ausbildung führten sie selbst kaum Reflexionen auf der Metaebene bezüglich
der eigenen Problemlöseprozesse durch. Nun wird aber von ihnen verlangt, dass sie
Problemlösen ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln (Herold-Blasius et al. 2019: 296).

Um Lehrenden den Einstieg ins Problemlösen zu erleichtern, fehlt es allerdings an einer breiten
Übersicht von bereits vorhandenen - aber in der Praxis wenig genutzten – Konzepten, Methoden
und Überlegungen. An dieser Stelle sehe ich eine Lücke, die ich mit dieser Diplomarbeit
beginnen möchte zu füllen und stelle folgende Forschungsfragen:

 • Welche Voraussetzungen sind für das Problemlösen-Lehren und -Lernen im
 Mathematikunterricht der Sekundarstufe 1 notwendig?
 • Welche Herausforderungen können sich diesbezüglich ergeben?
 • Wie könnten Unterrichtskonzepte aussehen, die Problemlösen im Mathematikunterricht
 nachhaltig integrieren?

Die Beantwortung der Forschungsfragen erfolgt durch eine ausgiebige Literaturrecherche, die
sich vor allem auf die schuldidaktisch-mathematische Literatur für die Sekundarstufe 1
fokussiert, aber auch Literatur aus dem Primarbereich, der Psychologie und der allgemeinen
Didaktik miteinbezieht.

In den Kapiteln 2-8 erfolgt eine theoretische Durchdringung des Themas durch Analyse und
Synthese, bei dieser Problemlösen sowohl als Methode als auch als Ziel des
Mathematikunterrichts betrachtet wird. Kapitel 9 fasst diese Erkenntnisse in einem Cheatsheet
zusammen, welches einen groben und schnellen Überblick für Lehrende zur Thematik bieten
soll. Abschließend wurde eine Stundenplanung zum Thema „Flächeninhalte ebener
Figuren“ für die 7. Schulstufe erstellt.

Diese Diplomarbeit gibt somit einen mathematisch-didaktischen Abriss zur derzeitigen
Forschung über Problemlösen im Mathematikunterricht. Dabei liegt der Fokus vor allem auf
der Fragestellung, wie Problemlösen im Mathematikunterricht in der Sekundarstufe 1 in
Österreich nachhaltig integriert werden kann.

 2
2 Was ist Problemlösen?
In der Einleitung wurde die Definition des Problemlösens der subjektiven Interpretation
dem/der Lesenden überlassen. Dieses Kapitel befasst sich mit den Begriffen „(mathematischen)
Problem“ und „Problemlösen“ im Kontext des Mathematikunterrichts, definiert diese Begriffe
und führt Charakteristika des Problemlösens auf. Weiters werden unterschiedliche
Typisierungen von Problemen und divergierende Abgrenzungen zum Problemlösen im
Mathematikunterricht dargelegt.

2.1 Begriffsbestimmung „Problem“
Im pädagogisch-psychologischen Bereich wird unter einem Problem eine als subjektiv
schwierig erlebte Anforderungssituation verstanden (Heinrich, Bruder & Bauer 2015: 279).

BEISPIEL 1

 Abbildung 1: Ein magisches Quadrat (Eigene Darstellung).

In Abbildung 1 ist ein leeres 3x3-Quadrat abgebildet. In dieses sollen die Zahlen von 1 bis 9
eingesetzt werden, sodass in jeder Zeile, Spalte und in den Diagonalen die gleiche Summe
entsteht. Wie kann das Beispiel gelöst werden? (nach Schoenfeld 1989: 89f)

Das Problem soll dabei von einem unzufriedenstellenden Zustand (Ausgangs- oder Ist-Zustand)
in einen gewünschten Zustand (Ziel- oder Soll-Zustand) überführt werden. In der Literatur wird
dabei immer wieder die Barriere als Metapher zwischen Ausgangs- und Zielzustand gesehen,
die nicht unmittelbar überwunden werden kann, weil man nicht über die benötigten Werkzeuge
verfügt, um sie zu überwinden (vgl. Klix 1971, Dörner 1976, Joerger 1976, zitiert nach Kipman
2018: 8). Zur Überwindung dieser wird laut Duncker (1935/1974: 1) „das Denken auf den Plan
gerufen“ und nach Newell und Simon eine „neuartige Wissensvermittlung notwendig“ (Newell

 3
& Simon 1972, zitiert nach Kipman 2018: 8). Dörner nennt dies „produktives
Denken“ (1972:10, zitiert nach Kipman 2018: 8).

In der Literatur wird dabei häufig zwischen Routine- und Problemaufgaben unterschieden
(vgl. Newell & Simon 1972, Dörner 1976, Schoenfeld 1989, zitiert nach Kipman 2018: 8). So
auch im Themenheft „Problemlösen“ für die Volksschule: Routineaufgaben haben meist
bekannte Aufgabenstrukturen und können „rezeptartig“ gelöst werden, dabei ist kein tieferes
Verständnis erforderlich und es werden meist keine neuen Denkanstöße ausgelöst. Die Barriere
kann also leicht überwunden werden und stellt somit kein wirkliches Hindernis dar.
Problemaufgaben besitzen dagegen eine Barriere, die Verständnis und eine Neuanordnung des
Wissens nötig macht (Bifie - Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und
Entwicklung des Bildungswesens 2013: 8).

Wie bei Schoenfeld wird auch hier im Themenheft betont, dass die Barriere zwischen Ist-
Zustand und Soll-Zustand in ihrer Schwierigkeit individuell ist (Schoenfeld 1989: 88, Bifie
2013: 5). Diese Definition ist speziell im Schulkontext sinnvoll (Bruder & Collet 2011: 12).
Denn eine vermeintlich geglaubte Routineaufgabe kann für Lernende bereits zur
Problemaufgabe werden, wenn die benötigten Werkzeuge zum Überwinden der Barriere nicht
vorhanden sind (Bruder 2008: 20).

BEISPIEL 1 kann somit ein Problem darstellen: Ein leeres 3x3 Quadrat (Ist-Zustand) soll mit
den Zahlen von eins bis neun gefüllt werden, sodass die Bedingungen erfüllt sind und ein
sogenanntes magisches Quadrat (Soll-Zustand) entsteht. Ist das Prinzip von magischen
Quadraten bekannt oder hat man sich schon passende Werkzeuge bei der Bearbeitung anderer
Probleme angeeignet (individuelle Schwierigkeit), so handelt es sich um eine Routineaufgabe.
Kann der Soll-Zustand jedoch nicht ohne weiteres erreicht werden (Barriere), handelt es sich
um ein Problem, welches „das Denken auf den Plan ruft“.

2.2 Typisierung von mathematischen Problemen
Mathematische Probleme bzw. Problemaufgaben können verschieden kategorisiert werden: So
kann z.B. nach gelösten und ungelösten Problemen unterschieden werden (vgl. Heinrich et al.
2015: 280). Die wohl bekanntesten ungelösten mathematischen Probleme stellen die
Millennium-Probleme dar, auf deren Lösung jeweils eine Million Dollar Preisgeld geboten wird.
Ein gute/r Problemlöser/in zu sein könnte sich also dementsprechend auszahlen! Ungelöste
Probleme finden – abgesehen auf einen Hinweis darauf – wohl kaum Einzug ins Klassenzimmer.

 4
Eine Typisierung von Problemen für den Schulkontext liefern hier z.B. Heinrich et al. (2015:
284): Sie charakterisieren Probleme nach ihrem

 (1) sachlich-formalen Aspekt (dazu gehörig sind beispielsweise die Einteilung in inner-
 /außermathematisch Probleme, mathematische oder psychologische Problemtypen),
 (2) personenbezogenen Aspekt (in schüler- oder lehrerseitig),
 (3) Zielaspekt und funktionaler Aspekt, sowie
 (4) nach dem Schwierigkeitsaspekt.

Es können in diesem Kontext nicht alle Aspekte ausführlich behandelt werden. Ich möchte
jedoch hier drei Punkte hervorheben, welche für die Erstellung bzw. Auswahl von Problemen
(vgl. Kapitel 6.2) und/oder für die Diagnose und Bewertung des Lernfortschritts (vgl. Kapitel
7) wieder aufgegriffen werden: (1) den mathematischen Problemtyp, den Holzäpfel et al. (2018:
30) in Bestimmungs-, Modellierungs-, Entdeckungs-, Begründungs- und
Begriffsbestimmungsproblemen unterteilt, (2) den psychologischen Problemtyp, der die
Offenheit bzw. Abgeschlossenheit eines Problems betrachtet, und (3) den Schwierigkeitsaspekt,
der in die vier Anforderungsparameter Formalisierungsgrad, Komplexitätsgrad,
Bekanntheitsgrad und Aufführungsaufwand unterteilt wird (Heinrich, Bruder & Bauer 2015:
284).

Eine weitere Typisierung, die in der obigen Auflistung nicht gegeben ist, ergibt sich durch
Betrachtung der verschiedenen Phasen beim mathematischen Modellieren (vgl. Kapitel 2.4).

2.3 Problemlösen im Mathematikunterricht
Der Begriff des Problemlösens ergänzt den Begriff des Problems nun um eine
Handlungskomponente:

 Unter Problemlösen versteht man das Bestreben, einen gegebenen Zustand
 (Ausgangs- oder Ist-Zustand) in einen anderen, gewünschten Zustand (Ziel-
 oder Soll-Zustand) zu überführen, wobei es gilt, eine Barriere zu
 überwinden, die sich zwischen Ausgangs- und Zielzustand befindet (Hussy
 1984: 114, zitiert nach Bruder & Collet 2011: 11).

Problemlösen ist also der Prozess zur Überwindung der als individuell schwierig empfundenen
Barriere, wozu „produktives Denken“ oder auch nach Zech „Problemlöseverhalten“ notwendig
ist (Zech 2002: 308). Mit Problemlösen wird dabei eine gewisse „Denkhaltung“ verbunden
(ebd.).

 5
Schoenfeld (1985) identifiziert dabei vier Komponenten des Problemlösens (vgl. Abb. 2):
Beim Problemlösen sowie bei jedem mathematischen Prozess ist dabei das (mathematische)
Vorwissen (resources) entscheidend. Um vom eigenen Vorwissen auch möglichst effizient und
einfallsreich Gebrauch machen zu können, braucht es Werkzeuge – die Heuristik. Diese beiden
Komponenten allein reichen jedoch nicht aus, um ein Problem erfolgreich zu lösen. Zwei
weitere entscheidende Elemente sind die Selbstregulation 1 (control) über die eigenen
(Lern-)Prozesse sowie Einstellungen (belief systems).

 Vorwissen Heuristik

 Problemlösen

 Selbstregulation Einstellungen
Abbildung 2: Komponenten des Problemlösens nach Schoenfeld (1985).

Unter Vorwissen wird hier sowohl deklaratives als auch prozedurales Wissen verstanden. Es
nimmt entscheidenden Einfluss darauf, wie und ob überhaupt eine Lösung für ein Problem
gefunden werden kann. Ist für BEISPIEL 1 kein Wissen über die Addition vorhanden, so kann
das Problem nicht oder nur mit viel Aufwand gelöst werden. Ist andererseits bereits Vorwissen
über magische Quadrate vorhanden, handelt es sich bei BEISPIEL 1 nicht mehr um ein Problem,
sondern nur noch um eine Routineaufgabe (vgl. Holzäpfel et al. 2018: 88f).

Heurismen, oder vielfach auch Problemlösestrategien genannt, sind Strategien, die vielfältig
eingesetzt werden können, aber nicht unbedingt zu einer Lösung des Problems führen müssen
(Bruder & Collet 2011: 42). Sie helfen, das Problem besser zu verstehen oder im
Problemlöseprozess voranzukommen (Schoenfeld 1985: 23). Ungeübte Problemlöser/innen
beginnen bei BEISPIEL 1 eventuell damit, verschiedene Kombinationen zu probieren (Wildes
Probieren). Geübte Problemlöser/innen wenden womöglich stattdessen – beispielsweise über
das Stellen geeigneter Fragen2 wie „Wie kann die Information, dass die Summe in jeder Spalte
gleich ist, mathematisch ausgedrückt werden?“ – gleich das heuristische Hilfsmittel der

1
 Holzäpfel et al. 2018 verwenden hier den Begriff Steuerung. Der Begriff der Regulation ist hier jedoch
angemessener, da er im Gegensatz zur Steuerung Rückkopplungseffekte beinhaltet, sodass sich Lernprozesse an
gegebene Umstände anpassen können (vgl. Konrad 2008: 18).
2
 Dem Fragenstellen wird ein zentraler Stellenwert beim Problemlösen eingeräumt (u.a. Pólya 1945/1973, Bruder
& Collet 2011).

 6
Gleichung an und würden in weiterer Folge auf folgenden Ansatz stoßen: Jede Zeile bzw. jede
Spalte besitzt die gleiche Summe . Werden die drei Spalten addiert, so entsteht die Gleichung:

 3∗ = 1+2+3+4+5+6+7+8+9

Die Summe beträgt daher 15. Durch anschließendes Verwenden der Heurismen
Symmetrieprinzip und systematischen Probieren kann eine Lösung gefunden werden (vgl.
Schoenfeld 1989: 91f).

Zur Komponente der Selbstregulation werden alle Entscheidungen gezählt, die von dem/der
Problemlöser/in getroffen werden wie das Erstellen, Überwachen und Reflektieren des
Problemlöseprozesses (vgl. Schoenfeld 1985: 27). Im Zusammenhang damit steht der
Problemlöseplan, der den Prozess des Problemlösens in eine (nichtlineare) Abfolge von
Schritten („Verstehen“, „Ausdenken eines Plans“, „Ausführen eines Plans“, „Reflexion“)
einteilt (Pólya 1945/1973: 5f; vgl. Kapitel 5.1). In BEISPIEL 1 ändert der/die Problemlöser/in
gegebenenfalls die erste Strategie, wenn er/sie merkt, dass damit kein Fortschritt erreicht
werden kann (Überwachung). Im Anschluss wirft er/sie vermutlich einen weiteren Blick auf
die Angabe und überprüft, ob er/sie das Problem verstanden hat, oder stellt sich am Ende des
Problemlöseprozesses weiterführende Fragen, wie beispielsweise, ob es auch magische
Quadrate mit 16 Feldern gibt.

Unter Einstellungen wird die Menge der oft nicht immer bewussten Bestimmungsfaktoren über
das individuelle Verhalten verstanden. Darunter fallen Ansichten und Überzeugungen über sich
selbst, über die Umwelt und die Mathematik sowie auch mangelnde Anstrengungsbereitschaft
oder Motivationsfragen (Schoenfeld 1985: 15). Diese werden vielfach in der Literatur zu
Problemlösen ausgeklammert (Heinrich et al. 2015: 280). So wird eine Person, die von ihren
eigenen mathematischen Fähigkeiten nur wenig überzeugt ist, möglicherweise BEISPIEL 1 nur
kurz bearbeiten und nach einigen Fehlversuchen aufgegeben.

Problemlösen im Mathematikunterricht – so wie es in dieser Arbeit verstanden wird – umfasst
einerseits das Überwinden einer als subjektiv schwierig empfundenen Barriere, um von einem
Ist-Zustand in einen Soll-Zustand zu gelangen. Gleichzeitig wird darunter aber auch das
(Anwenden-)Lernen von Heurismen und Fördern der Selbstregulation der Lernenden
verstanden. Problemlösen im Mathematikunterricht zielt also nicht alleinig auf die Lösung
eines Problems, sondern befasst sich insbesondere auch mit dem Lösungsprozess und den
dadurch entstehenden Denkprozessen, die im Lösungsprozess zur Lösungsfindung stattfinden.
Ganz im Sinne von Georg Cantor:

 7
In der Mathematik muss die Kunst, eine Frage zu stellen, höher bewertet
 werden als die Kunst, diese Frage zu lösen (Zitiert nach Beutelspacher
 2010: 166).

Problemlösen ist also sowohl Methode wie auch Ziel des Mathematikunterrichts. Holzäpfel et
al. (2018: 17f) unterscheiden dabei zwischen

 (1) Problemlösen als Lernziel, bei dem Heurismen gelernt und Problemlösekompetenzen
 und darüber hinausführende Kompetenzen erworben werden,
 (2) Problemlösen als Lernprinzip, bei dem mathematische Konzepte aktiv und
 selbstentdeckend gelernt werden, und
 (3) Problemlösen als Lerngegenstand, bei dem aktiv Problemlöseprozesse und Strategien
 reflektiert werden.

Häufig wird auch nur zwischen dem Methodenaspekt (Problemlösen als Lernprinzip) und dem
Zielaspekt, welcher Problemlösen als Lernziel und als Lerngegenstand vereint, unterschieden
(Heinrich et al. 2015: 284).

Es stellen sich nun grundlegende Fragen, wie Problemlösen als Methode und Ziel des
Mathematikunterrichts in der Praxis umgesetzt werden kann. Dazu wird in den folgenden
Kapiteln auf Aspekte des Problemlösen und der Unterrichtsgestaltung genauer eingegangen:

Welche Bedeutung Problemlösen im österreichischen Curriculum einnimmt, welche
Problemlösekompetenzen definiert sind und welche Lernziele sich für einen problemlösenden
Unterricht ergeben, wird in Kapitel 3 erläutert.

Von den vier Komponenten des Problemlösens werden Vorwissen und Einstellungen in
einzelnen Abschnitten immer wieder aufgegriffen, jedoch nicht eigens thematisiert.
Selbstregulation und Heuristik hingegen sind jeweils eigene Kapitel gewidmet. Kapitel 4
handelt von der Heuristik und beschäftigt sich mit Heurismen, die für den Mathematikunterricht
der Sekundarstufe 1 bedeutsam sind und wie diese vermittelt werden können. Kapitel 5
beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie Schülerinnen und Schüler dazu angeleitet werden
können, verstärkt auf Selbstregulierung beim Problemlösen zu setzen.

Wie Gelegenheiten zum Problemlösen im Mathematikunterricht geschaffen werden können,
wird im Kapitel 6 behandelt. Insbesondere wird thematisiert, welche Bedingungen dafür
gegeben sein müssen, welche Unterrichtsmethoden sich dafür besonders gut eignen, wie
Problemaufgaben entwickelt oder gewählt werden sollten und welche Herausforderungen beim
problemlösenden Unterricht entstehen könnten.

 8
Wie Problemlösen diagnostiziert, rückgemeldet und bewertet werden kann, wird im Kapitel 7
besprochen. In Kapitel 8 werden konkrete Unterrichtskonzepte zum Problemlösen aus der
Literatur vorgestellt.

In Kapitel 9 wurde basierend auf der Literaturanalyse ein Problemlöse-Cheatsheet für
Lehrkräfte sowie eine exemplarische Unterrichtsplanung für die 7. Schulstufe entwickelt.
Kapitel 10 widmet sich abschließend der Beantwortung der in der Einleitung aufgeführten
Forschungsfragen.

2.4 Abgrenzungen
In der wissenschaftlichen Literatur lassen sich unterschiedliche Schwerpunkte in Bezug auf
Problemlösen feststellen: Bruder und Collet (2011: 14) definieren z.B. Problemlösen-Lernen
„als das Kennen- und Anwendenlernen von Methoden und Techniken zum Lösen individuell
schwieriger Aufgaben“. Nach der Einteilung nach Holzäpfel et al. (2018) setzen sie dabei den
Fokus auf Problemlösen als Lernziel und Problemlösen als Lerngegenstand.
Problemorientierter Unterricht wird dabei vom Problemlösen abgegrenzt, da Strategielernen
nicht als Teil dieses Konzepts angesehen wird (Bruder & Collet 2011: 15). Wird hingegen – so
wie es auch in dieser Arbeit - Problemlösen als Methode und als Ziel definiert, so kann
problemorientierter Unterricht sowie auch entdeckendes Lernen3 der Dimension Problemlösen
als Lernprinzip zugeordnet werden (u.a. Zendler 2018: 56f, Holzäpfel et al. 2018: 158).

Abgrenzungen zwischen Problemlösen und dem mathematischen Modellieren werden auch
unterschiedlich gesehen: So gibt es Ansätze, die sie nicht unterscheiden oder Modellieren als
außermathematisch und Problemlösen als innermathematisch ansehen (vgl. Link 2011: 22). Für
den Unterricht ist vor allem die Abgrenzung nach Bruder und Collet (2011) interessant: Beim
mathematischen Modellieren, welches meist in einem Modellierungskreislauf als eine (nicht
lineare) Abfolge von Teilschritten dargestellt wird, können in den einzelnen Teilschritten
Probleme auftreten, die als „Mathematisierungsprobleme“, „Probleme mit der ausgewählten
bzw. zu verwendenden Mathematik“ und „Interpretationsprobleme“ kategorisiert werden.
Problemlösen kann so als Teil des Modellierens angesehen werden (2011: 15-17). Dieser
Ansatz eignet sich insbesondere als Diagnoseelement (ebd.: 163; vgl. Kapitel 7). In beiden
Fällen können beim mathematischen Modellieren Problemlösekompetenzen - insbesondere

3
 Beim entdeckenden Lernen stehen Lernanregungen im Vordergrund, die Schülerinnen und Schüler zum „Staunen,
sich Wundern und Zweifeln“ bringen sollen, wodurch neue Theorien entwickelt oder alte verworfen werden
müssen (Zendler 2018: 31f).

 9
auch Problemlösestrategien - eingesetzt und gefördert werden (Greefrath, Kaiser, Blum &
Borromeo 2013: 20).

 10
3 Relevanz und Ziele des Problemlösen
Der Lehrplan und die darauf basierenden Bildungsstandards des Bifies bilden die rechtliche
Grundlage für die Gestaltung des Unterrichts. Die im Lehrplan gesetzte Gewichtung von
Grundsätzen, Prinzipien und Inhalten sollte sich demnach auch in der Unterrichtsgestaltung
wiederfinden. Folglich wird der Frage nachgegangen, welchen Stellenwert Problemlösen in den
österreichischen Lehrplänen und in den Bildungsstandards einnimmt. Anschließend werden
Lernziele für einen problemlösenden Unterricht formuliert.

3.1 Problemlösen in den Lehrplänen
Laut dem BildungsRahmenPlan, welcher die Grundlage für die elementarpädagogische
Bildung in Österreich darstellt, beginnen Kinder bereits im Kindergartenalter mit dem
Problemlösen, indem sie verschiedenste Strategien erproben und ihre Erkenntnisse auf neue
Situationen anwenden und erweitern (2009: 20). Auch in der mathematischen Früherziehung in
der Vorschule sollen Schülerinnen und Schüler zu eigenständigem Problemlösen angeregt
werden (BMBWF 2020a). In der Volksschule setzt sich diese Entwicklung fort, denn es soll
„[b]esonderes Gewicht (…) auf die Entwicklung des logischen Denkens und des
Problemlöseverhaltens“ gelegt werden (BMBWF 2020a). Der Stellenwert, den das
Problemlösen in der Volksschule einnimmt, zeigt sich vor allem dadurch, dass dem
Problemlösen ein eigener Kompetenzbereich gewidmet ist (vgl. Kapitel 3.2).

Im Lehrplan der allgemein höher bildenden Schulen wird bereits im allgemeinen Teil des
Lehrplans vielfach auf die Rolle des Problemlösens in der Schule hingewiesen. So ist es ein
Aufgabenbereich der Schule, dass sich

 Schülerinnen und Schüler (…) sich in altersadäquater Form mit
 Problemstellungen auseinander setzen, Gegebenheiten kritisch
 hinterfragen, Probleme erkennen und definieren, Lösungswege eigenständig
 suchen und ihr eigenes Handeln kritisch betrachten (BMBWF 2020b)

sollen. Diese Formulierung beinhaltet bereits im Großen und Ganzen die Kernelemente von
Problemlösen (vgl. Kapitel 2.3). Im fachspezifischen Teil des Lehrplans wird nochmals
konkretisiert, dass „Problemlösefähigkeiten erworben werden, die über die Mathematik
hinausgehen“ (ebd.; vgl. Kapitel 3.2). In den Bildungsbereichen, insbesondere im
Bildungsbereich Natur und Technik, wird ein „Verständnis für Phänomene, Fragen und
Problemstellungen“ hervorgehoben, bei dem der Unterricht „grundlegendes Wissen,
Entscheidungsfähigkeit und Handlungskompetenz zu vermitteln“ hat (ebd.). Zur Bildungs- und

 11
Lehraufgabe des Mathematikunterrichts zählt u.a. Reflektieren, kritisches Denken, sowie das
Planen von Lösungswegen und -schritten „durch das Benutzen entsprechender
Arbeitstechniken, Lernstrategien und heuristischer Methoden“ (ebd.). Die „Entwicklung
verschiedener Lösungswege“ sowie das „Nutzen heuristischer Strategien“ wird wiederum als
Beitrag der Mathematik im Bildungsbereich „Kreativität und Gestaltung“ aufgeführt. Auch im
Unterpunkt Aufgabenstellungen wird Problemlösen nochmals explizit angesprochen (ebd.).

Das kritische Hinterfragen und Reflektieren findet sich ebenso im allgemein didaktischen
Grundsatz „Stärken von Selbsttätigkeit und Eigenverantwortung“: „Durch das Schaffen einer
entsprechenden Lernatmosphäre“ soll die „selbsttätige und selbstständige Form des
Lernens“ gefördert und „zu einem kritischen und eigenverantwortlichen Denken und zur
kritischen Reflexion“ geführt werden (ebd.; vgl. Kapitel 5). Motivation in Bezug auf
Mathematik soll dabei durch Problemstellungen geweckt werden, „die den Erfahrungen und
Interessen der Schülerinnen und Schülern“ entsprechen (ebd.). In den (individuellen)
Lernzeiten von Klassen mit Ganztagesbetreuung sollen insbesondere zur
Eigenverantwortlichkeit (u.a. durch Förderung von Selbstregulation und Lerntechniken)
befähigt werden (vgl. Kapitel 5; ebd.).

Problemlösen spielt daher sowohl im allgemeinen Teil als auch im fachspezifischen Teil des
Lehrplans eine bedeutende Rolle: Es soll eine Auseinandersetzung mit Problemstellungen
erfolgen, durch kritische Reflexion, eigenverantwortliches Denken und durch Einsatz von
Heurismen Lösungswege entwickelt und so Problemlösekompetenzen erworben werden. Wie
diese Problemlösekompetenzen konkret aussehen können, wird im folgenden Kapitel behandelt.

3.2 Problemlösekompetenzen in den Bildungsstandards
Bildungsstandards, die Kompetenzen beschreiben, welche nach der 4./8./12. Schulstufe erreicht
werden sollen, sind für Lehrkräfte einerseits eine Orientierungshilfe zur Entwicklung eines
nachhaltigen kompetenz- und zielorientierten Unterrichts. Sie stellen aber andererseits auch
Diagnoseinstrumente dar, durch die Lernprozesse evaluiert, gefördert und überprüft werden
können.

Beim Kompetenzbegriff nach Weinert (2001, zitiert nach Bifie 2020) sind Kompetenzen

 die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven
 Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die
 damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften

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und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variable Situationen
 erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können

Ganz gleich verhält es sich beim Problemlösen: Hier stehen Wissen und Fertigkeiten sowie
Fähigkeiten ebenso in einem engen Verhältnis zueinander (Pólya 1966:12f; Bruder, Leuders &
Büchter 2008: 10). Man könnte sogar behaupten, Kompetenzen sind Problemlösekompetenzen
(Holzäpfel et al. 2018: 94; Heinrich et al. 2015: 280; Mandl & Friedrich 2006: 206).

Problemlösekompetenzen werden von vielen Institutionen explizit formuliert, wie
beispielsweise von der NCTM (US-National Council of Teachers of Mathematics), die problem
solving explizit als Kompetenzbereich auflistet neben weiteren Bereichen wie reasoning and
proof, communication, connections und representation. Jede Schülerin und jeder Schüler soll
dabei

 (1) mathematische Erkenntnisse durch Problemlösen gewinnen,
 (2) mathematische und anderwärtige Probleme lösen,
 (3) geeignete Strategien anwenden oder adaptieren, und
 (4) den Problemlöseprozess beobachten und reflektieren können (NCTM 2020).

Ebenso sieht die vielzitierte PISA-Studie der OECD Problemlösen als eine zentrale Kompetenz
und definierte Problemlösekompetenzen für ihre Studie 2012 folgendermaßen:

 Problem-solving competency is an individual’s capacity to engage in
 cognitive processing to understand and resolve problem situations where a
 method of solution is not immediately obvious. It includes the willingness to
 engage with such situations in order to achieve one’s potential as a
 constructive and reflective citizen (OECD 2013: 122).

Seit 2015 werden in der PISA-Studie Daten zur kollaborativen Problemlösekompetenz erhoben,
die Problemlösen noch um eine soziale Komponente ergänzt (OECD 2017: 134).

Problemlösen als allgemeine mathematische Kompetenz ist auch in den deutschen
Bildungsstandards durchgängig von der Grundschule bis zur allgemeinen Hochschulreife
verankert und steht damit auf gleicher Stufe wie andere mathematische Kompetenzen wie
„Argumentieren“, „Kommunizieren“, „Modellieren“, „Darstellen“ und „Umgang mit
symbolischen, formalen und technischen Elementen der Mathematik“ (vgl. KMK 2004a,b,c,
2015). Zu den Problemlösekompetenzen zählen dabei nach KMK (2004b: 7f) folgende
Tätigkeiten:

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- vorgegebene und selbst formulierte Probleme bearbeiten,
 - geeignete heuristische Hilfsmittel, Strategien und Prinzipien zum
 Problemlösen auswählen und anwenden,
 - die Plausibilität der Ergebnisse überprüfen sowie das Finden von
 Lösungsideen und die Lösungswege reflektieren.

Dies wird in den drei Anforderungsbereichen weiter ausdifferenziert (siehe Tabelle 1):
„Routineaufgaben lösen (‚sich zu helfen wissen‘)“ und „einfache Probleme mit bekannten –
auch experimentellen – Verfahren lösen“ fällt unter den Anforderungsbereich 1, „Probleme
bearbeiten, deren Lösung die Anwendung von heuristischen Hilfsmitteln, Strategien und
Prinzipien erfordert“, „Probleme selbst formulieren“ und „die Plausibilität von Ergebnissen
überprüfen“ zum zweiten und „anspruchsvolle Probleme bearbeiten“ und „das Finden von
Lösungsideen und die Lösungswege reflektieren“ zum dritten (KMK 2004b: 12).

Tabelle 1: Problemlösekompetenzen in den Anforderungsbereichen (KMK 2004b:12).

 Anforderungsbereich und dazu formulierte Kompetenzen
 Reproduzieren • Routineaufgaben lösen („sich zu helfen wissen“)
 • Einfache Probleme mit bekannten – auch experimentellen –
 Verfahren lösen
 Zusammenhänge • Probleme bearbeiten, deren Lösung die Anwendung von
 herstellen heuristischen Hilfsmitteln, Strategien und Prinzipien
 erfordert
 • Probleme selbst formulieren
 • Die Plausibilität von Ergebnissen prüfen
 Verallgemeinern und • Anspruchsvolle Probleme bearbeiten
 Reflektieren • Das Finden von Lösungsideen und die Lösungswege
 reflektieren

In den österreichischen Bildungsstandards der 4. Schulstufe stellt – neben „Modellieren“ (AK1),
„Operieren“ (AK2) und „Kommunizieren“ (AK3) – „Problemlösen“ (AK4) den vierten
allgemeinen mathematischen Kompetenzbereich dar. Schüler/innen sollen zum einen
„mathematisch relevante Fragen stellen“ (AK 4.1) und zum anderen „Lösungsstrategien
(er)finden und nutzen“ können (AK 4.2); darunter fallen Heurismen wie „Vermuten“,
„Probieren“, „informative Figuren“ sowie „systematisches Probieren“ und „Nutzen von
Analogien“ (BMBWF 2020c).

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In den Bildungsstandards für die 8. Schulstufe gibt es keinen eigenen Kompetenzbereich für
das Problemlösen mehr, obwohl Problemlösen keineswegs aus dem Lehrplan verschwunden ist
(vgl. Kapitel 3.1). Ob ein eigener Kompetenzbereich sinnvoll ist bzw. nötig wäre, könnte zur
Diskussion gestellt werden. Ein Argument dafür wäre die Orientierungsfunktion der
Bildungsstandards, durch die eine stärkere Implementierung von Problemlösen in den
Unterricht erfolgen würde. In einer Studie aus dem Jahr 2014 über die Aufgabenkultur in
Klassenarbeiten in Deutschland wurde jedoch festgestellt, dass trotz explizit definierten
Problemlösekompetenzen des KMK nach wie vor kaum Problemlöseaufgaben in
Klassenarbeiten enthalten sind (Drüke-Noe 2014, zitiert nach Holzäpfel et al. 2018: 221).

Problemlösekompetenzen können aber zumindest teilweise auch in den vorhandenen
Kompetenzbereichen verortet werden: Der Handlungsbereich H1 Darstellen, Modellbilden
beinhaltet u.a. Tätigkeiten wie Entwickeln von Lösungswegen, (mathematisches) Darstellen
und Wechseln zwischen Darstellung(sform)en (BMBWF 2020c). Das Entwickeln von
Lösungswegen stellt auch ein Kernelement im Problemlösen dar und ist u.a. Teil des
Problemlöseplans (vgl. Kapitel 5.1) und des heuristischen Hilfsmittels des Lösungsgraphen.
Durch heuristische Hilfsmittel (z.B. informative Figur, Tabelle, Gleichung) können
Problemstellungen visualisiert und strukturiert werden. Sie zielen also u.a. auf das
(mathematische) Darstellen und den Wechsel zwischen Darstellung(sform)en ab (vgl. Kapitel
4.1). Der Handlungsbereich H2 Rechnen, Operieren ist vor allem für die operative
Durchführung des Lösungsweges entscheidend. Außerdem schließt dieser Handlungsbereich
auch die Tätigkeit „Arbeiten mit bzw. in Tabellen“ ein (ebd. 3). Tabellen sind wiederum
heuristische Hilfsmittel, die auch bei zahlreichen anderen heuristischen Strategien und
Prinzipien Verwendung finden. Der Handlungsbereich H3 Interpretieren beinhaltet Tätigkeiten
wie das Erkennen von Zusammenhängen und die Deutung dieser (ebd. 3). Im Handlungsbereich
H4 Argumentieren, Begründen geht es vor allem darum, Entscheidungen (für bestimmte
Lösungswege oder Darstellung(form)en) begründet zu treffen und dies auch argumentieren zu
können (ebd. 3f). Diese Tätigkeiten sind maßgeblich zur Überwindung der Barriere zwischen
Ist- und Soll-Zustand eines Problems.

Problemlösekompetenzen lassen sich insbesondere in den Komplexitätsbereichen K2 und K3
verorten. Müssen aufgrund einer komplexeren Problemlösung „mehrere Begriffe, Sätze,
Verfahren, Darstellungen bzw. Darstellungsformen (…) oder auch verschiedene
mathematische Tätigkeiten in geeigneter Weise miteinander verbunden werden“, handelt es
sich um den Komplexitätsbereich K2 Herstellen von Verbindungen (BMBWF 2020c). Beim
Problemlösen kommt es genau dazu: Zur Überwindung einer Barriere muss Wissen neu
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angeordnet werden. Der Komplexitätsbereich K3 beinhaltet Tätigkeiten, wie Reflektieren über
Zusammenhänge, über Vorgehensweisen wie Lösungswege, Darstellungsweisen oder auch
Argumentationen und Begründungen. Der Komplexitätsbereich beinhaltet aber auch
Reflexionswissen, welches sich u.a. in Dokumentationen oder getroffenen Entscheidungen
äußern kann (BMBWF 2020c). Die in Komplexitätsbereich 3 beschriebenen Tätigkeiten
umfassen demnach zahlreiche Tätigkeiten, die auch beim Problemlösen von zentraler
Bedeutung sind (vgl. Kapitel 5).

Zusammengefasst kann gesagt werden, dass in der derzeit geltenden Fassung der
österreichischen Bildungsstandards für die 8. Schulstufe gewisse Bereiche des Problemlösens
bereits implizit vorkommen, speziell Formulierungen bezüglich Reflexion als Mittel zur
Selbstregulation sind hier positiv hervorzuheben. Weitere Komponenten des Problemlösens,
wie vor allem Problemlösen als Erkenntnisprozess und Heuristik als solche werden allerdings
– im Gegensatz zu den anderen beschriebenen Bildungsstandards mit konkret definierten
Problemlösekompetenzen – nicht erwähnt. Dies würde also für eine Implementierung von
konkret formulierten Problemlösekompetenzen sprechen.

3.3 (Lern-)Ziele des Problemlösens
Welche Lernziele ergeben sich nun für das Problemlösen? Durch Synthese der (1)
Bildungsstandards des KMK (Deutschland), (2) der NCTM sowie nach den beschriebenen
Lernzielen von (3) Zech (2002) und (4) Bruder & Collet (2011) mit Blick auf die bereits
behandelten Komponenten des Problemlösens Vorwissen, Heurismen, Selbstregulation und
Einstellungen (vgl. Kapitel 2.3), ergeben sich folgende Lernziele:

Tabelle 2: Zusammenfassung der Lernziele des Problemlösens nach (1) KMK 2004b, (2) NCTM 2020, (3) Zech 2002 und (4)
Bruder & Collet 2011. Die mit * gekennzeichneten Lernziele leiten sich aus der Diskussion in Kapitel 6 ab.

 Kategorie Schülerinnen und Schüler Quelle
 Vorwissen lösen Probleme (1)
 formulieren Probleme selbst (2)
 erkennen und formulieren mathematische (4)
 Fragestellungen
 wenden erlernte Problemlösekompetenzen in (3)
 verwandten/neuen Problemen an
 wenden Problemlösekompetenzen (3)
 außermathematisch an
 Heuristik erkennen, verwenden und adaptieren Heurismen (2)

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Selbstregulation prüfen Lösungsschritte und Ergebnisse (2)
 erstellen einen Lösungsplan (3)
 reflektieren über das Finden von Lösungsideen (1)
 Einstellungen entwickeln Anstrengungsbereitschaft (4)
 Problemlösen als Methode erlernen mathematische Inhalte (1), (3)
 weitere entwickeln Kooperationsbereitschaft *
 präsentieren und diskutieren Ergebnisse *

Diese Auflistung gibt nur einen universalen Überblick zu den Lernzielen zum Problemlösen für
die Sekundarstufe 1. Je nach Schulstufe, Niveau der Lernenden oder Schwerpunktsetzung im
Unterricht müssen davon einzelne Lernziele ausgewählt und diese anschließend konkretisiert
werden, sodass diese auch evaluiert werden können (vgl. Kapitel 7). In Kapitel 9.2 werden
Lernziele für eine Unterrichtsplanung für die 7. Schulstufe definiert.

Alle Lernziele können bereits aus den obigen Kapiteln abgeleitet werden mit Ausnahme der
Lernziele, die mit einem Stern (*) gekennzeichnet sind. Diese ergeben sich erst durch die in
Kapitel 6 besprochene Unterrichtsgestaltung. Sie wurden hier aber vollständigkeitshalber
bereits angeführt.

Ein Ziel, welches mit Problemlösen im Unterricht forciert werden (sollte) und in obiger Tabelle
nicht aufgelistet sind, da es per se kein Lernziel ist, ist das Ermöglichen von „Aha-
Erlebnissen“ (oder Heureka-Momente; Bruder & Collet 2011: 34f). Dabei handelt es sich um
Momente der Einsicht, die in der Psychologie einen plötzlichen Einfall zur Lösung des
Problems darstellen (Betsch, Funke & Plessner 2011: 162). Diese stellen besondere
Erfolgserlebnisse dar, sind ein erheblicher Motivationsfaktor und können das Selbstvertrauen
des/der Problemlösers/Problemlöserin erheblich verstärken. Sie können aber auch den
umgekehrten Effekt haben, wenn ein/e Mitschüler/in ein „Aha-Moment“ erlebt und dieser nicht
nachvollzogen werden kann. Um solche „Aha“-Erlebnisse für möglichst viele Schülerinnen und
Schüler zu schaffen, ist die Heuristik notwendig, auf die im nächsten Kapitel eingegangen wird
(Bruder & Collet 2011: 34f).

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4 Heuristik
Die Heuristik (griech. heuríkein: finden, entdecken) ist die Wissenschaft von Verfahren, um
Probleme zu lösen (Stangl 2020a). Heurismen, auch Problemlösestrategien genannt, werden oft
dem Begriff Algorithmus entgegengesetzt, denn sie bieten nur Impulse zum Weiterdenken und
garantieren keine Lösung (Bruder & Collet 2011: 42).

Es gibt eine Vielzahl an Heurismen, sowie Einteilungen dieser (u.a. Schwarz 2018, Posamentier
& Krulik 2009). Welche für den Mathematikunterricht bedeutsam sind und wie man diese lernt,
sind nach wie vor offene Fragen in der Forschung (Holzäpfel et al. 2018: 138). Als zentraler
Ausgangspunkt gilt vielfach das Stellen geeigneter Fragen: Diese können helfen, das Problem
zu lösen, oder sie geben Hinweise darauf, welche Heurismen verwendet werden können. Pólya
(1945/1973) gab dazu in seinem Werk „How to solve it“ (dt. „Schule des Denkens“) für jede
der vier Phasen des Problemlösens („Verstehen“, „Ausdenken“, „Ausführen des Plans“ und
„Reflexion“) Fragen an (vgl. Kapitel 5.1). Für die erste Phase „Verstehen“ solle man sich
beispielsweise die Fragen „What is the unknown?“, „What are the data?“ und „What ist the
condition?“ stellen. Zech (2002: 313) bezeichnet das als heuristische Fragetechnik.

In dieser Arbeit wird die Einteilung von Bruder & Collet (2011) verwendet, da diese speziell in
Hinblick auf schulische Anwendung erstellt wurde und unter anderem auch vom Bifie
verwendet wird. Es wird zwischen vier Arten von Heurismen unterschieden:

 • heuristische Hilfsmittel
 • heuristische Strategien
 • heuristische Prinzipien
 • Regeln

Diese Einteilung wird nachfolgend genauer erläutert. Eine andere Einteilung, die insbesondere
für Schülerinnen und Schüler eine gute Übersicht bietet und im Wesentlichen die gleichen
Heurismen abdeckt, ist die Strategie-Landkarte in Abbildung 3 (Holzäpfel et al. 2018: 139f).

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Abbildung 3: Strategielandkarte: Eine Übersicht über mögliche Problemlösestrategien für Schülerinnen und Schüler
(Holzäpfel et al. 2018: 140).

Die einzelnen Verfahren werden nachfolgend erläutert und ihre Anwendungsgebiete aufgeführt.
Die Reihenfolge der Oberkategorien Hilfsmittel, Strategien, Prinzipien und Regeln sowie die
Reihenfolge der einzelnen Heurismen entspricht dabei einer bewussten Anordnung von einfach
zu komplex (Bruder & Collet 2011: 88).

4.1 Heuristische Hilfsmittel
Bei heuristischen Hilfsmitteln handelt es sich im Gegensatz zu heuristischen Strategien (Kapitel
4.2) und heuristischen Prinzipien (Kapitel 4.3) nicht um Handlungsanweisungen, sondern sie
dienen dazu, die Problemaufgabe besser zu verstehen, zu strukturieren und zu visualisieren
(Bruder & Collet 2011: 45; Bifie 2013: 22). Insbesondere eignen sie sich für leistungsschwache

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