Ärztehaushalte im 16. Jahrhundert. Einkünfte, Status und Praktiken der Repräsentation
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Ärztehaushalte im 16. Jahrhundert. Einkünfte, Status und Praktiken der Repräsentation Tilmann Walter Summary Physicians’ Households in the 16th Century 16th-century’s medicine was marked by a wave of professionalization: besides scientific influences – evident by new ambitious texts on botany, anatomy, and chemiatry – func- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr tions of medical expertise for political purposes were an important factor. Based on find- ings made in my DFG-funded project “Ärztliche Autorität in der Frühen Neuzeit” (medical authority in early modern times) is discussed how these influences altered the professional conditions for physicians. “Haushalt” (household) can be understood as a social communi- ty as well as a monetary budget in this context: physicians earned their money with a lot of different ventures beside medical practice, as commerce, farming, banking, or mining etc. Expenses for houses, gardens, interior etc. were based on needs of everyday life but could also be signs of luxury. Thus the physicians demonstrated the high social status they had acquired, and some of them thereby placed themselves at one social level with the nobility. Even scientific books can be estimated as a special case of such a conspicuous consumption for in most cases publishing made high investments without monetary bene- fit necessary. Thus scientific reputation was to some degree foreseeable: epoch-making books like above all Andreas Vesalius’ “De humani Corporis fabrica libri septem” (Basel 1543) had to be financed out of the assets of the family (in Vesalius’ case: a high-standing family in the emperor’s services). Other sources show clearly that many doctors were not able to afford publishing comparable elaborated and expensive books. Einführung Zwischen 1500 und 1600 machte sich in der Medizin eine Welle der Profes- sionalisierung bemerkbar: Neben wissenschaftlichen Einflüssen – neuarti- gen anspruchsvollen Texten zu Botanik, Anatomie und Chemiatrie, die durch die allgemeine Aufbruchsstimmung im Humanismus um 1500 beein- flusst waren1 – war die Funktionalisierung medizinischen Wissens für ord- nungspolitische Anliegen ein wesentlicher Faktor. Als Vergleichsfall wurde die Durchdringung der frühmodernen Gemeinwesen mit juristischen Fach- leuten2 und komplementär die Säkularisierung des universitären Ausbil- dungsbetriebs, namentlich in protestantischen Territorien, diskutiert3. Die dabei angestellten Überlegungen – Nachfrage nach akademischer Expertise 1 Vgl. MacLean (2002), S. 18f.; Schmitz/Keil (1984). 2 Vgl. etwa Immenhauser (2007), S. 224-226, 400-421; Reinhard (2000), S. 189-196; Schnur (1986). 3 Vgl. etwa Baumgart (2006); Holtz (2002); Rudersdorf/Töpfer (2006). Unter den Vor- zeichen der Gegenreformation wurde auch das geistige Leben an den katholischen Universitäten stärker politisiert. MedGG 27 2008, S. 31-73 Franz Steiner Verlag Stuttgart Franz Steiner Verlag
32 Tilmann Walter in Entscheiderpositionen, Tendenz zur bürokratischen Funktionalisierung universitärer Bildung – dürften auch helfen, die wachsende Bedeutung der Ärzteschaft zu erklären4: Für die Obrigkeiten gewann der Wunsch nach verlässlicher Erfüllung des Stadtarztamtes an Gewicht. Im Interesse einer dauerhaft gesicherten Versorgung der Einwohnerschaft wurden Stadtärzte zur unentgeltlichen Behandlung der Armen, eventuell auch von Spitalinsas- sen, zur regelmäßigen Leprösenschau, zur Abfassung von Gutachten bei Gericht und Expertisen bei Epidemien, zur Visitation der Apotheken sowie zur Examinierung von Chirurgen, Badern, Apothekern, Hebammen und anderen Heilpersonen verpflichtet.5 Im Interesse der medizinischen policey6 erhielten die – zahlenmäßig anfangs eher wenigen und aus Furcht vor blei- benden finanziellen Verpflichtungen rechtlich eher locker gebundenen7 – Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr Stadtärzte nun dauerhafte »beamtenähnliche« Stellungen. Für eine Sozialgeschichte der frühneuzeitlichen Ärzteschaft bleibt zu fragen, inwiefern die veränderten Verhältnisse auf Mediziner einen Sog zur Karrie- re ausgeübt haben. Dazu möchte ich im Folgenden ausgewählte Ergebnisse des von mir bearbeiteten DFG-Projekts »Ärztliche Autorität in der Frühen Neuzeit« vorstellen. Ausgangspunkt des Projekts war die Frage nach kol- lektiven und individuellen Strategien der Herstellung, Behauptung und An- fechtung von Autorität in der Ärzteschaft des 15. und 16. Jahrhunderts. Sozialgeschichtlich angelegt war es insofern, als die günstigeren Karrierech- ancen der studierten Mediziner gegenüber nichtakademischen Heilern nicht aus der vermeintlichen Überlegenheit der universitären Heilkunst, sondern aus der vergrößerten Bedeutung ärztlichen Wissens und ärztlicher Verant- wortung im politischen Zusammenleben der Städte, also gesellschaftlichen Faktoren, erklärt werden sollten. Ausgehend von prosopographischen Da- ten sollen hier Rollen und Aufgaben, ökonomische Spielräume und symbo- lische Ausprägungen der materiellen Kultur8 im Umfeld von Mediziner- haushalten näher betrachtet werden. Als ein Sonderfall zur Schau gestellten Konsums werden die in den Druck gelangten wissenschaftlichen Werke analysiert. Schwerpunktmäßig wird auf die qualitative Analyse dieser Zu- 4 Zur Vorgeschichte, dem Sozialprestige von Medizinern im ausgehenden Mittelalter, vgl. am Beispiel Kölns Bernhardt (1996); Prüll (1996). 5 Vgl. dazu exemplarisch u. a. Alfons Fischer (1933), S. 78-81; Klaus Fischer (1996), S. 59-83; Hanhart (1824), S. 143; Kintzinger (2000); Knefelkamp (1989), S. 158-171; Lehmann (1909), S. 31-33; Russel (1981); Schumm (1964), S. 5-35; Studer (1958), bes. S. 154-156, 165f., 168. 6 Vgl. Struppius von Gelnhausen (1573); Hörnigk (1638); dazu Gröschel (1977); La- bisch (1992). 7 Vgl. Kintzinger (2000); Lehmann (1909), S. 32. Kritisch dazu hat sich Immenhauser (2007), S. 422-426, geäußert: Wesentlich für die kurze Laufzeit der Verträge sei die ge- ringe Zahl einheimischer Bewerber gewesen, denen man bereitwillig längere Verträge angeboten habe. Einen Widerspruch sehe ich darin nicht. 8 Vgl. dazu Certeau (1984); Fouquet (1998); Goldthwaite (1987). Franz Steiner Verlag
Ärztehaushalte im 16. Jahrhundert 33 sammenhänge Wert gelegt; im vorstatistischen Zeitalter9 sind be-kanntlich Zahlen wegen fehlenden Belegmaterials, erheblicher lokaler Abweichungen sowie zeitlicher Schwankungen des Feingehaltes und Wertes von Münzen, der Preise sowie Lebenshaltungskosten10 auch nur bedingt aussagekräftig. Ärztehaushalte und ihre Einkünfte In der »klassischen«, auf die Person bedeutender Ärzte und ihre wissen- schaftlichen Leistungen ausgerichteten Medizingeschichtsschreibung stand die Frage im Vordergrund, wie Individuen den Fortgang der Heilkunde beeinflusst haben. Dass Gelehrte, unter die sich die studierten Ärzte einreih- ten, aller zeittypischen Selbststilisierung zum Trotz, kein konsequent zu- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr rückgezogenes, sondern ein soziales Dasein führten, haben jüngere For- schungen zu Briefnetzwerken11 und zu Gelehrtenhaushalten12 vor Augen geführt. Wie vor allem Gadi Algazi in einer Reihe von Veröffentlichungen gezeigt hat13, entwickelten die Geistesarbeiter des Renaissancehumanismus, vergleichbar mit den bald etablierten protestantischen Pfarrfamilien14, eine »spezifische Lebensweise«15. Die für Schichten und soziale Räume typischen Verhaltenserwartungen16 erzeugten eine »Kultur« des Berufsstandes als ein praktisches Verständnis von Wissenschaftlichkeit. Bereits die häusliche Er- ziehung wirkte auf die Erfüllung gewohnheitsmäßiger Rollenerwartungen hin: Wie der Basler Arzt und Medizinprofessor Felix Platter (1536-1617) in seinem Nachruf auf seinen Freund und Kollegen Theodor Zwinger (1533- 1588) mitteilt, pflegte dieser seine Söhne bei Tisch zu instruieren und zu examinieren.17 Aktiv wurden Universitäten im als intellektuell vorbildlich geltenden Ober- italien aufgesucht, denn hinsichtlich Sprache, Auftreten sowie einzelner Le- bensgewohnheiten bemühten sich viele Mediziner um die Nachahmung 9 Vgl. Dirlmeier (1978), S. 26-38; Pierenkemper (1991), bes. S. 14-17, 22, sowie aus medizinhistorischer Perspektive Dinges (2008), S. 34; Jütte (1991), S. 11. 10 Für Belege zu den Schwankungen von Feingehalt und Wechselkursen der Münzen vgl. Bothe (1906), S. 3-14; zu Preisen vgl. die Tabellen im Anhang, Bothe (1906), S. *158-*171, *208-*265; Dirlmeier (1978), S. 293-392. 11 Vgl. etwa Bröer (1994); Findlen (1991); Mauelshagen (2003); Stuber/Hächler/Lien- hard (2005). 12 Vgl. als Einstieg in das Thema Lüdtke/Prass (2007). 13 Vgl. Algazi (2007). 14 Vgl. dazu Greiffenhagen (1991). 15 Algazi (2007), S. 111. 16 Impulse, die der universitäre Alltag auf die Habitusentwicklung der Gelehrten ausübte, hat Füssel (2006) ausführlich diskutiert. 17 Vgl. Zwinger (1604), Bd. 1, Bl. ):(4v [Kennzeichnung der Seite im Original]. Zur Früh- erziehung bei Gelehrten vgl. weiter Algazi (2007), S. 111. Franz Steiner Verlag
34 Tilmann Walter eines Gelehrtenhabitus nach italienischem Vorbild. Nicolò Leoniceno (1428-1524) und sein Schüler Giovanni Manardo (1462-1536) in Ferrara galten als die Leitsterne humanistischer Erneuerung in der Medizin. An ihnen, die meist über ihre philologisch ausgerichteten Schriften als Vorbil- der erfahren wurden, orientierten sich viele Arzthumanisten, bis mit dem literarischen Werk von Andreas Vesalius (1514-1564) und dem posthumen Ruhm von Paracelsus (1493-1541) neue und, was die Methoden anging, spezifischer »medizinische« Personalautoritäten in Mode kamen. Wer die erhebliche Einstiegsinvestition eines Studiums in Italien (mit beträchtlichen Reise- und deutlich höheren Lebenshaltungskosten sowie exorbitanten Prü- fungsgebühren)18 auf sich genommen hatte, schimpfte dann nach seiner Rückkehr vielleicht selbst, wie italienische Ärzte es taten, über die Unfähig- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr keit (anderer) deutscher Ärzte19. Da Chirurgie in Oberitalien als akademi- sches Fach unterrichtet wurde, eröffneten sich auch Möglichkeiten zur Pro- filierung gegenüber den handwerklich ausgebildeten Chirurgen in Deutsch- land.20 Der »gelehrte« Haushalt soll hier einerseits im Sinne des sprichwörtlichen »Ganzen Hauses« als ein für die Frühe Neuzeit Europas typisches Gesamt- gefüge aus personalen Beziehungen und materiellem Besitz verstanden wer- den.21 »Haushalt« ist im gegebenen Zusammenhang andererseits enger als das in einem Haus verfügbare und zu verausgabende monetäre Vermögen zu verstehen: Geld scheint bei ärztlichen Karrieren und darüber hinaus in der Geschichte medizinischer Ideen eine leicht zu unterschätzende Rolle 18 Die italienischen Universitäten ließen sich ihren guten Ruf in barer Münze bezahlen. Doktordiplome konnten an Prächtigkeit, Umfang und großartiger Formulierungskunst mit kaiserlichen Urkunden verglichen werden: vgl. Wolfangel (1957), S. 11f., Faksimi- le S. 68-71: Edition des Doktordiploms von Melchior Ayrer, ausgestellt von der Uni- versität Bologna. Dagegen sind die Diplome des Frankfurter Arztes Johann Hartmann Beyer über die Erlangung des Grades eines Bakkalaureus (1581) und Magister artium (1583) in Straßburg simple Einblattdrucke mit dem Namen sämtlicher Absolventen des Jahrgangs. Das handschriftliche Tübinger Doktordiplom (1588) nennt die abgeleg- ten Prüfungen, verzichtet aber auf jeglichen Schmuck und selbst ein Siegel: vgl. UB Frankfurt/Main, Handschriftenabteilung, Sign. Ms. Ff. J.H. Beyer. 19 Vgl. etwa Lange (1605), S. 2f., 44f., 677-682. 20 Vgl. Paracelsus (1928), S. 12-14: Brief des Nürnberger Arztes Wolfgang Talhauser vom 24. Juli 1536, in dem der ungenügende Bildungsstand der »scherer, bader, lasser, barbirer und was des gesints mehr ist« (Paracelsus (1928), S. 13) beklagt wird. Vor diesem Hintergrund verdiente das humanistische Bestreben des italienischen Profes- sors Manardo um die Erneuerung der Heilkunst Talhauser zufolge besonderes Lob. 21 Vgl. Ariès/Duby (1993-1995), Bde. 2, 3; Beattie (2003); Brunner (1956); DWB (1877), Sp. 640-650; Burkhardt (1990); Derks (1996); Dülmen (1990); Egan (1998); Eibach (2004); Ehlert (1991); Freitag (1988); Haverkamp (1984); Herlihy (1985); Hochstrasser (1993); Medick (1982); Meyer (1998); Mitterauer (1979); Münch (1992); Opitz (1994); Ozment (1983); Petzina (1991); Richarz (1991); Roper (1989); Troßbach (1993); vgl. dazu weiter unter http://www.blogs.uni-osnabrueck.de/inschmid/bibliographie/ (letz- ter Zugriff: 1.10.2008) die Bibliographie der AG »Haus im Kontext«. Franz Steiner Verlag
Ärztehaushalte im 16. Jahrhundert 35 gespielt zu haben, so dass der schnöde Mammon in der traditionell perso- nen-, geistes- oder ideengeschichtlich geprägten Medizingeschichtsschrei- bung – aber auch in jüngeren sozialgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten – eher unterbewertet geblieben ist.22 Die Hintergründe sind unschwer abzuse- hen: Dem Selbstverständnis nach waren (und sind) Ärzte selbstlose Helfer an den Kranken.23 Gerade im Hinblick auf das in der klassischen Medizin- geschichte primär fokussierte Personal der »großen Ärzte« und die »Fort- schritte der Medizin« verdient das Thema Beachtung, denn einen bleiben- den Ruf als Gelehrter, Forscher oder Wissenschaftler kann sich ein Arzt nicht ohne einschlägige Publikationen, die in zeitlicher wie finanzieller Hin- sicht erhebliche Investitionen erforderlich machen, erwerben. Daneben gab es immer auch Modeärzte mit hohem Einkommen, die als solche in der Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr Medizingeschichte aber üblicherweise ohne (positive!) Resonanz bleiben. In Briefen, die die Grenzen des ärztlichen Berufsstandes nicht überschritten, findet sich das Thema Geld erfreulich offen thematisiert. Daher liegt für mich hier auch der besondere Wert der für das Projekt bevorzugt unter- suchten Quellengattung der Ärztebriefe.24 Zwar wurde in der literaturge- schichtlich, aber auch wissenschaftssoziologisch ausgerichteten Brieffor- schung25 hervorgehoben, beim frühneuzeitlichen Briefverkehr habe es sich um keine »intime« Kommunikation gehandelt, und »Korrespondenzen« habe man am ehesten als die potentielle Gleichwertigkeit der ausgetauschten Informationen, Geschenke, Empfehlungen und Aufmerksamkeiten im Sin- 22 Angaben zu Einnahmen, Ausgaben und Vermögensverhältnissen von Ärzten kann man in der Literatur mit einiger Mühe zusammensuchen. Weniger Beachtung fanden Preise ärztlicher Behandlungen oder von Medikamenten, die aber in Arzneitaxen und Anstellungsverträgen festgeschrieben wurden: vgl. Dinges (2008), S. 24. Entsprechen- de Angaben zu Köln im 16. und 17. Jahrhundert finden sich bei Jütte (1991), S. 241 (Tab. 8), zu Berlin im 18. Jahrhundert bei Stürzbecher (1966), S. 148-151 (Tab. IV). Übereinstimmungen sind in der Kunstgeschichte laut Goldthwaite (1987), S. 153, in- sofern erkennbar, als die realen Kosten von Kunstwerken ebenfalls wenig beachtet worden seien. Dieser sozialgeschichtliche Aspekt scheint bei der jüngsten Aufmerk- samkeit für das Bild in der Geschichtswissenschaft (vgl. dazu Emich (2008), bes. S. 50- 56; Jäger (2006)) erneut eine geringe Rolle zu spielen. 23 Wofür sie allerdings in der Regel eine überdurchschnittliche Bezahlung erwarten; schon ein frühneuzeitliches Sprichwort besagte allerdings: »Gottseligkait ist kain ge- werbe« (Johann Agricola (1548), S. 267). Die damals vorgebrachte Begründung einer langen und aufwendigen Ausbildung erscheint noch heute in Leserbriefen zu Fragen der Vergütung in jeder durchschnittlichen Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts. Argumen- tiert wird weiter mit der größeren Verantwortlichkeit der Ärzte, verglichen mit dem Pflegepersonal. 24 Diese Quellen wurden ergänzt durch Ego-Dokumente und Archivalien zur Amtsfüh- rung von Stadtärzten. Geographisch konzentrierte sich die Untersuchung auf Süd- deutschland und die deutschsprachige Schweiz. 25 Vgl. dazu etwa Bröer (1994); Findlen (1991); Körber (1997); Mauelshagen (2003); Worstbrock (1983). Franz Steiner Verlag
36 Tilmann Walter ne ihres ökonomischen Tauschwertes zu verstehen26. Gleichwohl liegt in einer im gedruckten Wort so nicht üblichen Offenheit hin zum Persönli- chen oder Vertraulichen der spezifische Wert dieses Quellenmaterials, das in unvergleichlicher Weise Einsichten in die soziale Figuration der Ärzte- schaft eröffnet27, welche einerseits nach außen hin mehr oder weniger abge- schlossen und andererseits intern durch ein deutliches soziales Oben und Unten strukturiert war. Bei allen vordergründigen Übereinstimmungen der Familien Platter und Zwinger – Felix Platter wie Theodor Zwinger zählten zu den bedeutendsten Medizinern der Universität Basel und verfügten über beste Beziehungen zu den städtischen Führungsschichten, beide unterhielten umfangreiche Kor- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr respondenzen und traten durch Veröffentlichungen von bleibender Bedeu- tung in Erscheinung – sind hier beispielsweise die ökonomischen Unter- schiede nicht zu übersehen: Theodor Zwinger war nach seiner Heirat mit Valeria Rüdin (1532-1601), Tochter des Zunftmeisters Jakob Rüdin und Witwe von Johann Lucas Iselin, finanziell abgesichert. Den großbürgerli- chen Lebensstil, den Zwinger genoss, demonstrierte etwa sein karitatives Engagement: Wie Platter in seinem Nachruf auf Zwinger berichtet, konnte es sich sein Kollege leisten, die teuren chymischen Medikamente, die da- mals aufkamen, kostenlos an die Armen abzugeben, anstatt mit der begehr- ten Medizin Berge von Gold (»aureos montes«) anzuhäufen.28 Nicht bei allen Ärzten war Geld immer im Überfluss vorhanden; von als ungenügend empfundenen Einkünften und daraus entstehenden Geldsorgen zeugen unmittelbar die Supplikationen an die Dienstherren: Mit einer Bitte um Aufbesserung seiner Bezüge wandte sich 1502 der Stadtarzt Johann Steinwert von Soest (1448-1506) an Bürgermeister und Rat der Stadt Frank- furt am Main. Zur Begründung verwies er auf die nichtakademische heileri- sche Konkurrenz vor Ort, durch deren Tätigkeit ihm das »brott abge- schnytten« werde; inzwischen, so kommentierte er dies, sei es so weit ge- kommen, dass »schyr yderman Ertzny tryben wyl«.29 Unter diesen ungüns- tigen Umständen bringe ihm seine Privatpraxis nicht ausreichend Geld ein; die städtische Obrigkeit akzeptierte dieses Argument und erhöhte seine jähr- lichen Bezüge um 50 Prozent.30 Mit finanziellen Belastungen als Vater von zehn Kindern erklärte der als Botaniker berühmt gewordene Tübinger Me- dizinprofessor Leonhard Fuchs (1501-1566) seinen Wunsch nach berufli- cher Veränderung: Mit Herzog Albrecht von Preußen (1490-1568) verhan- delte er über eine Tätigkeit als Leibarzt von Albrechts Schwager, König 26 Vgl. pointiert Findlen (1991); Mauelshagen (2003). 27 Vgl. übereinstimmend Dinges/Barras (2007). 28 Vgl. Zwinger (1604), Bd. 1, Bl. ):(4r. 29 Vgl. IfStG Frankfurt/Main, Bestand Sanitätsamt: Akten des Rats (Medicinalia), Sign. 113. 30 Vgl. IfStG Frankfurt/Main, Bestand Dienstbriefe, Sign. 964. Franz Steiner Verlag
Ärztehaushalte im 16. Jahrhundert 37 Christian III. von Dänemark (1503-1559), und Professor für Medizin in Kopenhagen. Fuchs schwebte eine erhebliche Ausweitung seiner bisherigen Einkünfte – als Professor bezog er in Tübingen ein Gehalt von 200 Gulden plus Zulagen – vor, denn er erwartete sich künftig ein Entgelt von 700 bis 800 Gulden.31 Ein Engagement wurde letztlich durch Fuchs’ umfänglichen Haushalt verhindert: Mit so vielen kleinen Kindern und so vielen Büchern, wie er sie habe, war ihm der Umzug zu weit, und Fuchs blieb der Universi- tät Tübingen bis an sein Lebensende erhalten. Auch der Züricher Schul- meister und Arzt Konrad Gesner (1516-1565) wandte sich im Jahr 1558 an Bürgermeister und Rat seiner Heimatgemeinde: Er verwies auf familiäre Verpflichtungen, weil er diverse Zahlungen für die Versorgung seiner chro- nisch kranken Frau und der erweiterten Familie (Gesner selbst war kinder- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr los) zu übernehmen habe.32 Hierfür sei die schlechte Besoldung als Schul- meister nicht ausreichend. Mit seiner Praxis mache er nur wenig Gewinn, und seine schlechte Gesundheit und nachlassende Sehkraft verwehrten ihm zusehends die gewohnten Nebeneinkünfte aus seiner Tätigkeit als Heraus- geber und Fachschriftsteller. Da er 20 Jahre lang bei geringer Besoldung geduldig Dienste für seine Stadt ausgeübt habe, bat er um die Aufnahme in das Stift beim Münster, die ihm dann auch gewährt wurde. Nicht jeder ärzt- liche Bittsteller konnte bereits auf langjährige Dienste verweisen. Gerade beim Berufseinstieg hatten es Mediziner finanziell schwer, da sie noch ohne Patientenstamm waren. Die Gemeinden statteten Jungärzte anfangs wohl bewusst schlechter aus, weil sie, sollte sich das Dienstverhältnis bewähren, mit erhöhten Gehaltsforderungen rechneten. Wie seinem Kollegen Theodor Zwinger gelang Felix Platter durch seine Heirat mit Magdalena Jeckelmann (1534-1613), der einzigen Tochter des Scherers und Ratsherrn Franz Jeckelmann (1504-1579), der Aufstieg in die führenden Kreise seiner Heimatstadt Basel. Anders als Valeria Rüdin brachte Magdalena Jeckelmann allerdings kein nennenswertes Vermögen mit in die Ehe33, und Platter litt, wie er sich später erinnerte, darunter, sei- ner attraktiven jungen Frau keinen angemessenen Lebensstil bieten zu kön- nen34. Schon zu Studienzeiten hatte ihn sein Vater Thomas (1499?/1507?- 1582) daran erinnert, dass er als eines »armen schůlmeisters sun« die Unter- stützung bekannter Männer des Rates benötigen würde35, denn gegenüber der politischen Elite der Gemeinde standen Thomas Platter als Stadtlehrer und Felix Platter als Archiater und Hochschullehrer in einem Dienst- und 31 Vgl. Voigt (1841), S. 266: Brief an Herzog Albrecht von Preußen vom 10. April 1538. 32 Vgl. Milt (1929), S. 486. 33 Vgl. Lötscher (1975), S. 92-112, hier S. 104: Als Mitgift brachte sie 300 lb. sowie wei- tere 100 fl. in bar mit. 34 Vgl. Platter (1976), S. 330. 35 Achilles Burckhardt (1890), S. 40: Brief mit einem Recipi Felix Platters vom 26. Febru- ar 1554. Franz Steiner Verlag
38 Tilmann Walter Abhängigkeitsverhältnis. Umgekehrt war der Ratsherr Franz Jeckelmann anscheinend auf das akademische Renommee erpicht, das ihm die Verhei- ratung seiner Tochter einbringen würde: Thomas Platter berichtete an sei- nen Sohn, man sehe in Basel ungern, dass Jeckelmann seine Tochter ande- ren potentiellen Bewerbern vorenthalte; die Leute meinten, »sy můss ein iungen doctor han«.36 Den Konstanzer Bürgermeister Thomas Blarer (nach 1492-1567) bewegten ähnliche Sorgen wie den älteren Platter, nachdem sein Sohn Albert (um 1534-1592) das Medizinstudium beendet hatte, denn auch in der Bodensee- stadt gab es schon mehr als genug Ärzte. Unter solchen Umständen war die Einheirat in bessere Kreise – meistens über Witwen, oftmals solche, die ver- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr storbene Kollegen zurückließen – für Nachwuchsmediziner der übliche Weg, sich zu etablieren.37 Gleich zweimal ging der Stadtarzt der schwäbi- schen Reichsstadt Hall, Johann Morhard (1554-1631), die Ehe mit Witwen von Standeskollegen ein: 1588 mit Anna (geb. Hiller, † 1603), der Witwe seines Tübinger Mitstudenten Josef Brenz († 1586), jüngster Sohn des Haller Reformators, von dem er das Amt des Stadtarztes, die Amtswohnung und mit der Eheschließung auch zwei unmündige Kinder übernahm. 1622 hei- ratete Morhard in dritter Ehe Catharina, die Witwe seines Kollegen Georg Winkler. Insgesamt brachten seine drei Frauen Aktiva in Höhe von rund 270038, 296839 und 420040 Gulden mit in die Ehe. Diese Beträge blieben 36 Achilles Burckhardt (1890), S. 84: Brief vom September 1555. 37 Vgl. Blarer/Blarer (1908-1912), Bd. 3, S. 416: Brief vom 9. Januar [1558]: Der Rektor des St. Anna-Gymnasiums, Matthias Schenk (1517-1571), teilt mit, in Augsburg ließe sich, da Blarers Name in der Stadt einen guten Ruf genieße, entweder eine reiche Gat- tin oder eine passende Stelle finden. 38 Vgl. Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Sign. 6/88 1/2: Zubringensinventur von Anna Brenz, geb. Hiller von 1588. Hinzu kamen ein Haus, Hausrat sowie die Bibliothek von Josef Brenz. Die hier zitierten Abrechnungen sind durch ausgesprochene De- tailfreudigkeit ausgezeichnet, für den außenstehenden Leser bleibt allerdings vieles nicht nachvollziehbar. Die genauen Summen sind nicht zuverlässig zu beziffern, da teilweise nur die regelmäßigen Zinseinkünfte aufgeführt werden und die verliehene Hauptsumme offenbleibt. Grund hierfür war, dass in Zinsgeschäften konkrete Rückzah- lungstermine der Gesamtschuld (»Wiederkauf«) im Sinne einer dauerhaften Leibrente (»ewiger Kauf«) nicht festgelegt wurden. Außenstände blieben teilweise jahrzehntelang offen: vgl. Lipp (2007), S. 28. Beim Wiederkauf war die Höhe der zurückzuzahlenden Summe dann offenbar Gegenstand von Verhandlungen: vgl. Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Sign. 17/1475 und 17/1476: Urkunden über den Wiederkauf von Schulden der Stadt Schwäbisch Hall von Erben Morhards aus zweiter bzw. dritter Ehe. 39 Vgl. Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Sign. 6/88 1/2: Testament von Johann Morhard und Barbara Koch vom 12. März 1615; hier Anhang: Inventur des von Barbara Koch in die Ehe gebrachten Besitzes aus der Feder von Morhard anlässlich ihres Todes vom 1. September 1622: Zu der genannten Summe kamen Schmuck und Hausrat. Aller- dings brachte Barbara Koch auch Schulden in Höhe von 3840 fl. mit in die Ehe, so dass der Saldo insgesamt negativ ausfiel. 40 Vgl. Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Sign. 6/88 1/2: Testament von Johann Morhard Franz Steiner Verlag
Ärztehaushalte im 16. Jahrhundert 39 nach dem Tod der Ehefrauen ihren Erben vorbehalten und fielen nicht Kindern aus anderen Ehen zu.41 Als Vater zahlreicher Kinder musste Mor- hard auch für die Ausbildung seiner Söhne und die Aussteuer seiner Töch- ter aufkommen.42 Bei seinem Tod im Jahr 1631 hinterließ er seinen Erben ein Haus und Barschaft im Wert von 1280 Gulden zuzüglich 18.043 Gul- den in Gült- und Zinsbriefen, abzüglich eigener Schulden in Höhe von 2995 Gulden.43 Hinzu kamen Kleinodien und Ringe aus Gold, Silberge- schirr sowie wertvoller Hausrat aus Silber, Kupfer und Messing. Wagt man eine mit vielen Unsicherheiten behaftete Bilanz – da nirgends verzeichnet wurde, wie viel Morhard aus dem Erbe seiner Eltern zugesprochen bekam, bleibt beispielsweise die Höhe dieses Zugewinns unklar –, so hat Morhard zwischen 1588 und 1631 einen Gewinn von 10.300 Gulden oder einen jähr- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr lichen Gewinn von durchschnittlich rund 240 Gulden erwirtschaftet. Ein nennenswertes Vermögen44 war für Ärzte aus eigener Kraft nur mit Ge- schick zu erzielen. Breiten Raum nimmt die Beschreibung seines mit erheb- lichen Mühen erkämpften finanziellen Aufstiegs, den er in der Hauptsache dem Erwerb eines solventen Patientenstamms verdankte, im Tagebuch Fe- vom 20. April 1629. Hinzu kamen Schmuck und Hausrat. 41 Dementsprechend verzeichnet die Nachlassinventur Morhards vom 19. April 1631 beispielsweise das Silbergeschirr nach Provenienz aus zweiter und dritter Ehe: vgl. Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Sign. 14/542. 42 So sicherte Morhard in seinem Testament vom 20. April 1629 seinen beiden jüngsten, noch unmündigen Töchtern aus dritter Ehe je 1200 Gulden zu: vgl. Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Sign. 6/88 1/2. 43 Vgl. Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Sign. 14/542. Wenige Jahre vor Morhards Amts- antritt, 1580, wurde das Durchschnittsvermögen der Haller anlässlich der Steuererhe- bung mit nicht ganz 600 Gulden angegeben: vgl. Landkreis Schwäbisch Hall (2005), S. 155. 1618 belief sich das durchschnittliche Vermögen der Steuerpflichtigen (N = 1179) auf 1088 Gulden; insgesamt hatten Halls Bürger für ein Gesamtvermögen von 1.045.346 Gulden Steuern zu entrichten: vgl. Wunder (1980), S. 269, Statistik 5. Die elf reichsten Bürger (≈ 0,9 %) besaßen gemeinsam 163.100 (≈ 15,6 %) oder durch- schnittlich 14.827 Gulden. Dann ließ der Dreißigjährige Krieg die Vermögen dahin- schmelzen. 44 In der Literatur wird die Schwelle zu den »Reichen« unter den Steuerpflichtigen für das ausgehende Mittelalter bei einem Vermögen über 2000, 5000 oder 10.000 Gulden angesetzt: vgl. Dirlmeier (1978), S. 503-508. Bothe (1906), S. 153, vermittelt einen Eindruck von der Verteilung des Steueraufkommens in Frankfurt am Main: Im Jahr 1556 waren demzufolge von (N =) 2111 Steuerpflichtigen 208 (≈ 9,9 %) »Nichtshäbi- ge«, 1004 (≈ 47,6 %) Steuerpflichtige versteuerten bis zu 99 fl., 400 (≈ 18,9 %) Steuer- pflichtige 100-299 fl., 386 (≈ 18,3 %) Steuerpflichtige 300-999 fl., 33 (≈ 1,6 %) Steuer- pflichtige 1000-5999 fl. Die reichsten 80 (≈ 3,8 %) Steuerpflichtigen hatten für ein Vermögen von über 6000 fl. Steuern zu entrichten. 1593 setzte die höchste Steuerklas- se (≈ 4,1 % der Steuerpflichtigen) bei einem Vermögen von 8000 fl. ein: vgl. Bothe (1906), S. 154. In der Handels- und Messestadt Frankfurt waren die reichsten Bürger Patrizier und Kaufleute: vgl. Bothe (1906), S. 162-166; für weitere Impressionen aus anderen Gemeinden vgl. Bothe (1906), S. 142-149; Dirlmeier (1978), S. 491-526. Franz Steiner Verlag
40 Tilmann Walter lix Platters ein. Als junger Arzt scheute Platter nicht vor beschwerlichen mehrtägigen Reisen zurück, um Kranke auswärts zu besuchen; allein im November 1562 verließ der 26-Jährige zehnmal die Stadt, wobei er einmal drei, ein anderes Mal vier Tage ausblieb.45 Auch der Mühe, Patienten im eigenen Haus zur stationären Pflege aufzunehmen46, hätte sich ein etablier- ter Arzt wohl nicht mehr unterzogen. Für Platter zahlte sich der Aufwand, den er als reisender Arzt anfangs betrieb, aus; mit der Behandlung Auswär- tiger hatte er schließlich mehr als das Fünffache dessen verdient, was ihm die ärztliche Versorgung Einheimischer einbrachte.47 Gelegenheit zum kon- templativ zurückgezogenen Studium48 wird ihm dabei wenig geblieben sein. Auch die vielen erhaltenen Patientenbriefe sprechen zu dieser Zeit für eine gezielte Konzentration Platters auf seine zahlungskräftigen Patienten: Aus Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr seinem Tagebuchbericht und der archivalischen Überlieferung ergeben sich keine Hinweise auf eine umfangreiche Gelehrtenkorrespondenz49, wie sie für die Basler Ärztefamilien Zwinger und Bauhin50 durch ihre Briefarchive überliefert ist. Da er nicht wie Zwinger eine vermögende Baslerin zur Frau genommen hatte und ihm auch keine frühe Erbschaft Geld einbrachte, war die Sicherung seines Nachruhms für Platter offenkundig ein sekundäres An- liegen: Während Zwinger schon 1565 sein monumentales »Theatrum vitae humanae« veröffentlichte, gab Platter sein Erstlingswerk »De Corporis Humani Structura et Usu« (Basel 1583) erst im Alter von 47 Jahren heraus. Den bis dahin erreichten akademischen Aufstieg verdankte er stattdessen glücklichen Umständen: Als Platter an der Universität Basel zu lehren be- 45 Vgl. Platter (1976), S. 389f. Wie sich aus der Aufstellung aller Einnahmen von 1612 ergibt, war er allein in den ersten 13 Jahren seiner Laufbahn 414-mal, insgesamt an die 700-mal zu Kranken gereist: vgl. Platter (1976), S. 520. 46 Vgl. Platter (1976), S. 362. 47 Vgl. Platter (1976), S. 520. 48 Vgl. Algazi (2007), S. 110-112. 49 Die Briefe müssten verschollen sein – oder sie wurden, was wahrscheinlicher ist, nie geschrieben. Die erhaltenen Briefe des ansonsten sammel- und erinnerungssüchtigen Felix Platter wurden von Jakob Zwinger aufbewahrt, der als Testamentsvollstrecker Magdalena Platters (geb. Jeckelmann) in den Besitz der Briefe kam: vgl. Lötscher (1975), S. 163. Der einzige geschlossene Band mit Briefen an Platter in der Frey- Grynaeischen Sammlung (Sign. Fr. Gr. Ms I, 6) der Handschriftenabteilung der UB Basel enthält 244 Patientenbriefe in deutscher Sprache aus den Jahren 1569/70: vgl. Staehelin (1947), S. 182-185. Lateinische Briefe von Kollegen tauchen verstreut in den Bänden mit Briefen an Theodor und Jakob Zwinger auf; andere (etwa von Gesner o- der Wilhelm Fabri) sind aus zeitgenössischen Editionen bekannt. 50 Ähnlich wie Zwinger war auch Caspar Bauhin schon am Beginn seiner Karriere frei von echten finanziellen Sorgen. Sein Vater, der Glaubensflüchtling Jean Bauhin d. Ä. (1511-1582), hatte in Frankreich in königlichen Diensten gestanden. Als hochangese- hener Arzt erwarb er sich in Basel schnell eine solvente Patientenschaft, die sein Sohn Caspar nach seinem Tod übernahm: vgl. als Gesamtdarstellung noch immer maßgeb- lich Heß (1860). Franz Steiner Verlag
Ärztehaushalte im 16. Jahrhundert 41 gann, fehlte es unter dem gealterten Ordinarius Oswald Bär (1486-1568) an jungen, brillanten Köpfen.51 Nachdem die zwei, später drei medizinischen Lehrstühle Basels mit Platter, Zwinger und Caspar Bauhin (1560-1624) be- setzt worden waren und ihnen jeweils ihre Söhne (bzw. in Platters Fall sein Halbbruder und Ziehsohn Thomas II.) nachfolgten, machte in der Basler Universitätsmedizin sonst niemand mehr Karriere. Mit 76 Jahren bilanzierte Platter seine Einnahmen aus den Jahren 1558 bis 1612, um sich und seinen Nachfahren den eigenen Aufstieg ins Gedächtnis zu rufen. Wie diese Aufzeichnungen zeigen, bezog er Einkünfte aus den un- terschiedlichsten Quellen: Mit rund 45.169 Pfund machte die Privatpraxis ein Vielfaches der Entlohnungen als Stadtarzt, Hochschullehrer, Leibarzt Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr des Basler Bischofs in Pruntrut und der Nebeneinkünfte aus Prüfungen so- wie Publikationen aus. Als Stadtarzt hatte er 2031 lb., als Professor 11.139 lb., als Leibarzt des Basler Bischofs in Pruntrut 208 lb. und mit Prüfungen weitere 2850 lb. verdient. Hinzu kamen die zusätzliche Besoldung als Rek- tor und Prorektor (342 lb.) und Vergütungen aus wissenschaftlichen Aktivi- täten wie öffentlichen Anatomien (38 lb.) und seinen Publikationen (76 lb.).52 Weitere Einnahmen verzeichnete Platter aus unternehmerischen Tä- tigkeiten wie dem Handel mit Zitruspflanzen und -früchten, Äpfeln, Ros- marin und anderen Pflanzen, Kanarienvögeln, Habichten, Tauben und Meerschweinchen, der Beherbergung von Studenten sowie Eintrittsgeld zum Besuch seiner Sammlungen.53 Erheblich ins Gewicht fiel mit 12.669 Pfund auch der Erlös aus landwirtschaftlichen Flächen, die er verpachtet hatte. Verglichen damit spielten die Erbschaften (4069 lb.) in seinem Fall keine große Rolle. Auch sonst nahmen Ärzte Geld mit unternehmerischen Aktivitäten man- cherlei Art ein: In den 1530ern hatte Heinrich Stromer (1482-1542) in Leipzig für ein gutes Drittel der in der ganzen Stadt anfallenden Steuer auf eingelagerten Wein aufzukommen, den er in seinem Wirtshaus, dem be- rühmten Auerbachschen Keller, ausschenken ließ.54 Obwohl es den Ärzten üblicherweise nicht erlaubt war55, betätigten sie sich auch als Apotheker: Der Arzt Johannes Münsinger (1423-1502/1504) übernahm 1470 eine Apo- theke in Tübingen56, und auch der Gründungsrektor und erste medizinische 51 Vgl. Albrecht Burckhardt (1917), S. 46. Auch die beiden Dozenten Johann Huber (1506-1571) und Isaak Keller (1530-1596) konnten bei den Studenten wenig Begeiste- rung wecken, wie zeitgenössische Briefe belegen. 52 Platter (1976), S. 519-536. Die Einkünfte summierten sich in Platters Rechnung auf 118.669 Pfund. Gerechnet werden kann für diese Zeit: 5 Pfund (= lb.) ≈ 4 Gulden (= fl.). 53 Vgl. dazu Platter (1976), S. 505 (Anm. 95), sowie Lötscher (1975), S. 88. 54 Vgl. Wustmann (1902), S. 77. 55 Vgl. Schmitz (1982), S. 11f. 56 Vgl. Hofmann (2000), S. 21. Zuvor stand er als Leibarzt in Diensten von Graf Eber- Franz Steiner Verlag
42 Tilmann Walter Professor der Universität Wittenberg, Martin Pollich von Mellrichstadt (um 1455-1513), hatte als Gründer und Besitzer der ersten Apotheke am Ort 1513 eine Grundsteuer von 120 Groschen zu bezahlen57. Von der üblichen Regelung, die Ärzten den Arzneihandel verbot, wurde abgewichen, wenn andernfalls kein Medikamentenverkauf stattgefunden hätte. In Luzern stellte der langjährige Stadtarzt Johann Oehen († 1657) im Jahr 1651 die Stadt- oberen allerdings schlicht vor vollendete Tatsachen, als er eine Apotheke im Ort erwarb. Auf Initiative der Apotheker wurde ihm die Führung des Geschäfts zunächst verboten, dann aber doch gestattet, als der Rücktritt vom Kaufvertrag misslang.58 Genossenschaftlich betriebene Bergwerksunternehmungen waren in der Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr Frühen Neuzeit eine verbreitete Anlagemöglichkeit für freies Kapital; der Münchener Arzt Sigismund Gotzkircher († 1475) notierte um 1460 womög- lich mit diesem Hintergedanken die Namen mehrerer nahe gelegener Berg- werksorte in sein Haushaltungsbuch.59 Dass Georgius Agricola (1494-1555) seine ausgezeichneten Kenntnisse des Bergwesens auch für eigene Investi- tionen nutzte, ist ebenfalls vermutet worden.60 Sicher ist, dass der Augsbur- ger Arzt Ulrich Jung (1478-1548) 1537 Geld in eine Messinggießerei in Mühlau bei Innsbruck am Inn investierte61 und dass sich Leonhard Thurneisser (1531-1596) lange in Tirol als Metallurge und Berg- bauunternehmer betätigt hatte, bevor er als Leibarzt in die Dienste von Kurfürst Johann Georg von Brandenburg (1525-1598) trat62. Durch Geld- verleih ließ sich freies Kapital ebenfalls in regelmäßige Zinseinkünfte ver- wandeln63: Georgius Agricola lieh 1553 dem Rat der Stadt Chemnitz, wo er als Stadtarzt tätig war, 500 Gulden, auf die ihm jährlich 5 % Zinsen zu zah- len waren64. Der Wiener Medizinprofessor Johann Aicholz (1520-1588) bot 1579 über den Stadtarzt Joachim Camerarius d. J. (1534-1598) der Nürn- berger Stadtkasse eine Anleihe von 1000 Gulden an, die er ebenfalls mit 5 % verzinst haben wollte.65 Auch Felix Platter verlieh, nachdem er zu Ver- hard im Bart. 57 Vgl. Schlereth (2000), S. 125-131. 58 Vgl. Studer (1958), S. 172. 59 Vgl. Lehmann (1909), S. 14, 39. 60 Vgl. Engewald (1982), S. 73. 61 Vgl. Fleischmann (1955), S. 36. 62 Zur Gesamtdarstellung von Thurneissers Lebensweg vgl. noch immer maßgeblich Moehsen (1783); weiter Boerlin (1976); Kühlmann/Telle (2004) mit weiterer Literatur; Spitzer (1996). 63 Vgl. zu dieser Praxis jüngst Seggern/Fouquet/Gilomen (2008) mit einschlägigen Bei- trägen von Hans-Jörg Gilomen, Bernd Fuhrmann und Michael Rothenberger. 64 Vgl. Georg Agricola (1992), S. 626, 641. 65 Vgl. Liberalitatis Eximiae (1803), S. 3f.: Brief vom 9. März 1579. Franz Steiner Verlag
Ärztehaushalte im 16. Jahrhundert 43 mögen gekommen war, erhebliche Summen an höhergestellte Personen, darunter regelmäßige Patienten wie den Basler Fürstbischof Melchior von Lichtenfels66, Herzog Friedrich von Württemberg67 und weiter an den Markgrafen Friedrich von Baden bzw. den Landgrafen Moritz von Hes- sen68. Unternehmerisch besonders breit aufgestellt operierte in Berlin der paracel- sistische Laienarzt Leonhard Thurneisser, ein Landsmann Platters: Der ge- lernte Goldschmied und versierte Metallurge bezog als Leibarzt bei Hofe nicht nur ein weit überdurchschnittliches Gehalt von 1352 Talern69, son- dern verdiente an Ferndiagnosen (die er gegen eine Gebühr von zehn Ta- lern erteilte)70 und am Versand von Medizinalien aus kostbaren minera- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr lischen Zutaten sowie Talismanen und Sigillen. Thurneisser besaß außer- dem eine Druckerei, die für ihre Typensätze exotischer Sprachen bekannt war71, und eine Schriftgießerei. Mit gutem Gewinn veröffentlichte seine Of- fizin Jahreskalender und Almanache. Hinzu kamen Geldgeschäfte verschie- dener Art.72 Sozialer Status Neben beträchtlichem Reichtum gewann Thurneisser Ruhm als Modearzt des europäischen Adels – wenigstens unter seinen hochgeborenen Patienten, was andererseits Neid, Missgunst und Kritik der studierten Ärzteschaft pro- vozierte73 und ihm seinen bis heute bleibenden Ruf als Scharlatan einbrach- te: Was dem Emporkömmling und Autodidakten Thurneisser vor allem fehlte (und andererseits seine Neigung zur Paracelsischen Medizin erklärlich macht), war eine solide akademische Ausbildung. Obwohl er sich auch mit »gelehrten« Schriften hervortat, machte sich seine fehlende formale Bildung in selbstgefälligen, aber eher wirren Gedankengängen, die er darin ausbrei- tete, bemerkbar. Adlige waren die potentiell zahlungskräftigsten Abnehmer medizinischer Dienstleistungen und damit die wohl vielversprechendste Klientel der Ärzte. Medizinisches Wissen zum Zweck der Selbstversorgung gehörte zwar 66 Vgl. Platter (1976), S. 358 (Anm. 211). 67 Vgl. Platter (1976), S. 468 (Anm. 2). 68 Insgesamt betrug die verliehene Hauptsumme über 28.000 fl.: vgl. Lötscher (1975), S. 167-170. 69 Vgl. Moehsen (1783), S. 86. 70 Vgl. Moehsen (1783), S. 128. 71 Vgl. Moehsen (1783), S. 55-127; Spitzer (1996), S. 31-72. 72 Vgl. Moehsen (1783), S. 131-145. 73 Eine längere Liste kritischer Pamphlete gegen Thurneisser verzeichnet Moehsen (1783), S. 7f. (Anm.). Franz Steiner Verlag
44 Tilmann Walter durchaus zum Bildungsschatz des Adels74, doch waren unter den Ärzten praktisch keine von Geburt an adligen Personen zu finden75. Theophrastus von Hohenheim oder Paracelsus war auch diesbezüglich ein Sonderfall; seinem qua Geburt erhöhten Stand entsprachen jedoch keine gehobenen Lebensumstände: Mit seiner vor Schmutz starrenden Kleidung und seinem als ungehobelt verrufenen Auftreten verletzte er die an einen Arzt gestellten sozialen Erwartungen; seine Zeitgenossen fühlten sich eher an einen Fuhr- mann erinnert.76 Arzt war von Herkommen, Erleben und Selbstverständnis her also ein »bürgerlicher« Beruf77, und die höfische Umwelt, in der sich manche Mediziner bewegten und von der sie profitierten, wird von ihnen nicht selten als eine feindselige Welt beschrieben78. Für ihre Verdienste ge- adelt wurden am ehesten Ärzte, die in kaiserlichen Diensten standen: Ulrich Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr Jung, Andreas Vesalius, Johannes Crato (dann: von Krafftheim, 1519-1585), Carolus Clusius (1526-1609) oder Michael Maier (1568/69-1622). Ein gewisses monetäres Startkapital gehörte wegen der hohen Kosten des Studiums zu den unabdingbaren Voraussetzungen des Arztseins.79 Da die Studien- und Prüfungsverordnungen eine Studiendauer von wenigstens sie- ben Jahren vorsahen und zudem nicht geringe Prüfungsgebühren mit sich brachten, studierten Mittellose eher die artes und verließen die Universitäten zumeist ohne formalen Abschluss.80 Auf dem Feld der Heilkunst bot sich die handwerkliche Ausbildung zum Chirurgen oder Apotheker als preiswer- te Alternative an.81 Zu den Kosten des Studiums und der Lebenshaltung 74 Vgl. Schofer (1994), S. 121-124; Schumm (1964), S. 73-76. 75 Vgl. übereinstimmend Immenhauser (2007), S. 428. 76 Davon berichten übereinstimmend der ehemalige Famulus Johannes Oporinus (vgl. Benzenhöfer (1989), S. 61f.) und der Reformator Heinrich Bullinger, der 1527 in Zü- rich mit Paracelsus zusammengetroffen war: vgl. Erastus (1571/72), Tl. I, S. 239f. 77 Größer war die wechselseitige soziale Durchlässigkeit bei den Juristen: vgl. Füssel (2006), S. 110; Immenhauser (2007), S. 224-226; Reinhard (2000), S. 189-196. 78 Vgl. etwa Boerlin (1976), S. 188: Brief Leonhard Thurneissers an Theodor Zwinger vom 23. März 1579; Sambucus (1968), S. 241: Brief an Crato von Krafftheim vom 29. Juli [15]78. 79 Vgl. exemplarisch Ludwig (1997): Ludwig schätzt die Kosten für das fünfjährige (1521-1525) Studium Zeno Reicharts (1507-1542/43) bis zum Magister artium an ver- schiedenen Universitäten des deutschen Sprachraums auf 170 Gulden, für das Studi- um in Italien bis zum Erwerb des Dr. med. auf weitere 100-115 Gulden (S. 685f.). Zu Beginn des 17. Jahrhunderts schuldeten die Stipendiaten Onophrio Bürgi und Jakob Gilg der Gemeinde Luzern 1863 bzw. 1273 Gulden: vgl. Studer (1958), S. 169f. Bürgi hatte mit diesem Geld in Rom und Padua, Gilg in Montpellier studiert. 80 Vgl. Immenhauser (2007), S. 495, 513f.; Jütte (1991), S. 19f. 81 Vgl. Ludwig (1999), S. 179: Brief vom 12. August 1523, in dem Johannes Beischlag, ein früherer Studienkollege, an den Studenten Zeno Reichart berichtet, er habe wegen seiner beengten finanziellen Situation sein Medizinstudium aufgegeben und beschlos- sen, Apotheker zu werden. Franz Steiner Verlag
Ärztehaushalte im 16. Jahrhundert 45 kam das mühselige oder, so man es von anderen erledigen ließ, teure Ab- schreiben der wichtigsten Lehrbücher, in späterer Zeit die Anschaffung ge- druckter Bände. Insofern war die väterliche Bibliothek ein sinnvolles Ar- gument für die Aufnahme eines Medizinstudiums82 und erklärt so unschwer die Tatsache, dass viele Ärzte ihrerseits Söhne von Ärzten waren. In Schwäbisch Hall legte der Stadtarzt Johann Morhard 1617 testamentarisch fest, dass seine medizinischen Bücher, deren Gesamtwert er mit 300 Gulden veranschlagte, an seine Söhne aus zweiter Ehe gehen sollten.83 Für begabte Schüler aus ärmeren Familien hatten etliche Städte in der Ab- sicht, ihren Ärztenachwuchs sicherzustellen, Stipendien eingerichtet, mit denen Söhnen der Handwerkerschicht der Eintritt ins akademische Milieu Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr ermöglicht wurde: Unter den prominenteren Ärzten profitierten Johann Winter von Andernach (1505-1574), Konrad Gesner, Johann Hartmann (1568-1631) und Daniel Sennert (1572-1637) davon.84 Studierten Ärzten glückte andererseits leichter der Aufstieg in die politisch führenden Kreise: Heinrich Stromer, Joachim Vadian (1484-1551), Georgius Agricola und Johann Hartmann Beyer (1563-1625) wurden zu Bürgermeistern ihrer Ge- meinden gewählt. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Übereinstim- mung städtischer Interessen (an einer kontinuierlichen medizinischen Ver- sorgung) mit dem Streben führender Familien nach gesichertem Einkom- men und Status entwickelten sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts so re- gelrechte Ärztedynastien: in Basel die Familien Platter, Bauhin und Zwin- ger, in Zürich die Familien Gesner, Scheuchzer, Lavater und von Muralt, in Luzern die Familien Cysat und Corragioni, in St. Gallen die Familien Schobinger, Zollikofer und Hiller, in Augsburg die Familien Mettlinger, Occo und Jung, in Nürnberg das Geschlecht der Camerarii, in Heilbronn die Familien Eisenmenger und Reichlin von Meldegg und in Frankfurt am Main die Familie Uffenbach. Die Stipendien wurden nun zunehmend für die Ausbildung der Söhne füh- render Familien zweckentfremdet – oder gleich ausdrücklich zu diesem Zweck eingerichtet: Als der kurfürstlich sächsische Leibarzt Johann Neefe 82 Vgl. Ludwig (1999), S. 111: Brief des Arztes Wolfgang Reichart an seinen Sohn Zeno vom 21. August 1522. 83 Vgl. Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Sign. 6/88 1/2: Testament von Johann Morhard vom 16. April 1617. Die Zubringensinventuren aus seinen zwei anderen Ehen zeigen, dass zwei weitere Haller Ärzte gut 100 bzw. knapp 130 Bücher gesammelt hatten: vgl. Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Sign. 14/168: Zubringensinventur von Anna Brenz, geb. Hiller von 1588; Sign. 14/449: Inventur der Catharina Winklerin zum Teilungs- protokoll der Eheleute Morhard vom 22. Juli 1623. Vgl. dazu auch Lorenz (1983), S. 193-198: In ihren jeweiligen Bibliotheken hatten Hartmann Schedel etwa 630, Vadian über 1259, Achilles Pirmin Gasser (1505-1577) in Augsburg etwa 2900, Georg Palma (1543-1591) in Nürnberg allein 651 medizinische und Jeremias Martius (um 1535- 1585) in Augsburg etwa 500 Bände stehen. 84 Winters Vater war Schneider, Gesners Vater Kürschner, Hartmanns Vater Wollweber und Sennerts Vater Schuhmacher gewesen. Franz Steiner Verlag
46 Tilmann Walter (1499-1574) 1570 eine Summe von 2000 Gulden veranlagte, sollten die vier hiervon bestrittenen Stipendien bevorzugt an seine ärmeren Verwandten, dann an arme Bürgerskinder der Stadt Wittenberg, wo Neefe lebte, und, wenn sich niemand Derartiges fände, an Bewerber aus ganz Deutschland vergeben werden.85 Praktiken der Repräsentation Etablierte und wohlhabende Ärzte orientierten sich in ihrem Auftreten und in der Ausstattung ihrer Wohnsitze am adligen Lebensstil: Der Münchner Arzt Sigismund Gotzkircher, der als Berater der bayerischen Herzöge Hoff- nungen auf einen Aufstieg in kaiserliche Dienste hegte86, legte um 1460 de- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr taillierte Notizen an, die in die Renovierung seines Münchner Stadthauses Einblick geben87. Auch auf Erscheinungsbild und Auftreten des offenbar sehr vermögenden Arztes erlauben diese Aufzeichnungen Rückschlüsse: Gotzkircher hielt drei Pferde88 und bezahlte Rüstung sowie Waffen – Har- nisch, Helm, Schwert, Streitaxt, Degen und Sporen –, die er mit Wappen- und Heiligenmotiven bemalen ließ89. Einem ritterlichen Lebensstil ent- sprach auch das Stiften mehrerer jährlicher Messen in den Kirchen und Klöstern der Stadt, darunter nicht nur solche für die Ärzteheiligen Cosmas und Damian, sondern auch für den Heiligen St. Georg als sanctus Georgius equester.90 Dagegen steht der St. Gallener Stadtarzt und Bürgermeister Joachim Vadi- an, der als Reformator seiner Heimatstadt bekanntgeworden ist, für den sozialen Übergang vom zölibatär lebenden Gelehrten zum Hausvater und homo politicus.91 Bevor Vadian 1521 in den kleinen Rat und 1526 erstmals zum Bürgermeister gewählt wurde, hatte er an der Universität Wien Karrie- re gemacht92: 1514 war er vom Kaiser zum Poeta laureatus gekrönt worden, 85 Vgl. Gößner (2003), S. 95, für weitere Bspe. vgl. Gößner (2003), S. 150, 155f., 164. 86 Vgl. Lehmann (1909), S. 13. Fest bestallt war er am herzoglichen Hof nicht. Wahr- scheinlich wirkte er, wie viele Leibärzte, »von Haus aus« und wurde fallweise hono- riert. 87 Vgl. dazu Lehmann (1909), S. 5-13. 88 Vgl. Lehmann (1909), S. 13. 89 Vgl. Lehmann (1909), S. 10-12. 90 Vgl. Lehmann (1909), S. 15f. Eher auf ein Gelehrtendasein verwies dagegen das Sammeln von Handschriften, oft medizinischen, aber auch historischen und theologi- schen Inhalts: vgl. Lehmann (1909), S. 6-9. 91 Wie Algazi (2007), S. 108-110, bemerkt hat, waren Frauen und Kinder in Gelehrten- haushalten am Ausgang des Mittelalters noch eine Neuheit. 92 Immatrikuliert im Jahr 1501, hatte er unter dem Einfluss von Celtis, Cuspinian und Hans Tichtl studiert, 1504 das Bakkalaureat abgelegt, 1508 den Magister artium er- worben. Seit 1512 war er Professor der artes, zeitweise stand er der Universität als Rek- tor vor: vgl. Näf (1936), S. 84-88. Franz Steiner Verlag
Ärztehaushalte im 16. Jahrhundert 47 und 1517 hatte er, wohl eher einem naturphilosophischen Interesse folgend denn in der Absicht zu praktizieren, den medizinischen Doktorgrad erwor- ben. Daraufhin kehrte er freilich in seine Heimatgemeinde zurück, wo er 1517 zum Stadtarzt ernannt wurde, Martha Grebel aus dem Züricher Stadt- adel heiratete und das Haus »Zum tiefen Keller« erwarb. Der Kauf eines Stadthauses entsprach einer fundamentalen Notwendigkeit des alltäglichen Lebens.93 Konrad Gesner jedenfalls betonte, als er sich bei den Stadtoberen Zürichs um eine Gehaltsaufbesserung bemühte, man dürfe ihn keineswegs für reich halten, weil er am Ort als Besitzer eines Hauses und eines Gartens bekannt war.94 Da die Akten der Städte, was Grundstücksverkäufe angeht, früh sehr vollständig geführt wurden, ist gut nachvollziehbar, wie sich ihre bestallten Ärzte in dieser Weise etablierten: Der Stadtarzt Johann Morhard Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 18:52 Uhr kaufte in Schwäbisch Hall 1589 ein Haus in der Oberen Herrngasse für 750 Gulden von der Gemeinde95, wobei der niedrige Preis an ein Sonderange- bot denken lässt, um dem Arzt eine dauerhafte Niederlassung schmackhaft zu machen. Der Stadtarzt Johann Hartmann Beyer erwarb 1594 für 1900 Gulden ein Haus in Frankfurt, was, wie man annehmen möchte, ebenfalls nicht unbedingt als Ausweis großen Reichtums gedeutet werden muss, denn das Grundstück wurde dafür eigens geteilt.96 David Eisenmenger d. J. (um 1575-1626), seit 1606 als Stadtarzt Speyers aktenkundig97, erwarb dort 1624 für 1200 Gulden eine Eckbehausung auf dem Kornmarkt am Löffelsgäss- chen. Belegt ist er außerdem als Besitzer eines Ackers von 3 1/3 Morgen, was einen Hinweis auf naturalwirtschaftlichen Nebenerwerb, dem die Ärzte nachgingen, liefert.98 Denn Gärten konnten, wie Konrad Gesner in seiner Schrift »De hortis Ger- maniae« (Straßburg 1561) eingangs erläuterte, unterschiedlichen Zwecken dienen: Als zweckmäßige Nutzflächen ermöglichten sie den Anbau von 93 Vgl. Fouquet (1998), S. 409-417. 94 Vgl. Hanhart (1824), S. 139-147, hier S. 141: Brief an Heinrich Bullinger von [1558]. Bullinger riet ihm daraufhin, sich brieflich an die Stadtoberen zu richten: siehe Anm. 32. Gesner hatte insofern recht, als Häuser, gemessen am Einkommen eines studierten Arztes, wohl weniger kosteten als heute. 95 Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Sign. 13/1538. 1596 kaufte er dem Arzt Johann Weid- ner für 160 fl. einen Garten ab: vgl. Morhard (1962), S. 40. 96 Vgl. IfStG Frankfurt/Main, Bestand Hausurkunden, Sign. 1.007, Nr. 2. 97 Vgl. Paulus (1994), S. 350. 98 Vgl. Stadtarchiv Speyer, Sign. 1B15, fol. 41/3 bzw. fol. 40/6. Diesen Hinweis verdan- ke ich der freundlichen Auskunft von Katrin Hopstock am 26. September 2007. Auch der Lindauer Stadtarzt Abraham Mürgel wird 1571 und 1580 als Besitzer eines Gar- tens bzw. Weingartens urkundlich erwähnt: vgl. Burmeister (2000), S. 40; zu dem Haus »Zum Hirschen«, das er bewohnte, gehörten Stallungen, ein Hühnerhaus und ein Kornkasten: siehe Anm. 109. Zur Einheit von »Wohnen und Wirtschaft«, Haupt- und Nebengebäuden sowie Gärten bei Häusern der Frühen Neuzeit vgl. Hochstrasser (1993), S. 46f. Franz Steiner Verlag
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