"So wie ich es weiß, so wie ich es verstehe, werde ich dolmetschen" - unipub UB Graz
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„So wie ich es weiß, so wie ich es verstehe, werde ich dolmetschen“ Nicht professionelles Dolmetschen während der Flüchtlingskrise in Kroatien Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (MA) an der Karl-Franzens-Universität Graz vorgelegt von Anita Mužek, MA am Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft Begutachter: Univ.-Prof. Dr. Pekka Kujamäki Graz, 2020
Danksagung An der Erstellung dieser Arbeit waren so viele wundervolle Menschen beteiligt, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Ein großes Dankeschön geht an meinen Betreuer Herrn Univ.-Prof. Dr. Kujamäki. Danke für Ihre Unterstützung, Ihre wertvollen Ratschläge, Ihre Flexibilität und Ihre Ruhe. Einen besseren Betreuer hätte ich mir nicht wünschen können. Danke, dass Sie Ihr Wissen mit mir teilten und dafür, dass ich von Ihnen lernen durfte. Danke auch an alle lieben Studienkollegen/innen, mit denen ich den Kummer und die Freude des Studiums am ITAT im Laufe der Jahre teilen durfte. Besonders bedanken möchte ich mich bei meiner KHG-Crew! Danke Katharina, Claudia, Angelika, Leonie, Vicky und David für alles! Ohne euch wäre meine Studienzeit in Graz nur halb so lustig gewesen. Ihr seid Freunde fürs Leben! Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei der allerbesten Mitbewohnerin und Studienkollegin der Welt, Katrin! Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte! Danke, dass du meine Studienzeit in Graz verschönert hast und mir geholfen hast, mein Studium abzuschließen. “You're my person. You will always be my person” – Christina Yang. Thank you Amin for taking the time to talk to me about your work as an interpreter during the refugee crisis. Without you and your experience, this thesis would not have been possible. I admire you for what you have been through, what it taught you and where you are now. Hvala mojoj Sandri na prijateljstvu, na podršci, na smijehu i na suzama. Hvala ti što si tu i što postojiš. I za kraj, želim se zahvaliti svojoj obitelji. Hvala što ste uvijek vjerovali u mene iako se na trenutke činilo da ovaj rad nikada neće ugledati svjetlo dana. Bez vas ja ne bih bila ovdje, stoga ovaj rad posvećujem vama. Ovo je naš zajednički uspjeh. Over and out!
It takes more than having two hands to be a good pianist. It takes more than knowing two languages to be a good translator or interpreter. François Grosjean
Inhaltsverzeichnis Einleitung ................................................................................................................................... 1 1. Der Konflikt in Syrien............................................................................................................ 5 1.1 Der Syrien-Konflikt im Überblick.................................................................................... 5 1.1.1 Migration als Begriff................................................................................................ 12 1.2 Die Flüchtlingskrise in Kroatien..................................................................................... 18 2. Kommunaldolmetschen........................................................................................................ 22 2.1 Begriffsklärung und Einsatzbereiche.............................................................................. 22 2.2 Abgrenzung zu anderen Dolmetschtypen....................................................................... 25 2.3 Anforderungen und Erwartungen an Kommunaldolmetscher/innen.............................. 28 2.4 Status und Rollenbilder von Kommunaldolmetschern/innen ......................................... 29 3. Professionelle und nicht professionelle Translatoren/innen................................................. 32 3.1 Professionelle Translatoren/innen .................................................................................. 32 3.2 Nicht professionelle Translatoren/innen......................................................................... 36 4. Die Berufsethik beim Dolmetschen ..................................................................................... 42 5. Empirische Studie ................................................................................................................ 48 5.1 Zielsetzung, Forschungsfragen und Hypothesen............................................................ 48 5.2 Datenerhebung: Das qualitative Interview ..................................................................... 49 5.2.1 Erstellung des Interviewleitfadens ........................................................................... 51 5.2.2 Die Interviewpartner/innen ...................................................................................... 52 5.3 Datenaufbereitung: Transkription................................................................................... 53 5.4 Datenanalyse: Qualitative Inhaltsanalyse ....................................................................... 54 5.5. Interpretation der erhobenen Daten ............................................................................... 56 5.5.1 Der Dolmetscher ...................................................................................................... 58 5.5.2 Einsatzbereiche ........................................................................................................ 61 5.5.3 Die Arbeit als nicht professioneller Dolmetscher .................................................... 64 5.5.4 Probleme beim Dolmetschen ................................................................................... 68 5.6. Diskussion der Ergebnisse............................................................................................. 70 6. Conclusio.............................................................................................................................. 74 Bibliographie ............................................................................................................................ 76
Einleitung Das Thema dieser MA-Arbeit ist das Dolmetschen für Flüchtlinge in Kroatien. Da Kroatien traditionell kein Einwanderungsland ist und folglich der Bedarf an Kommunaldolmetschern/innen gering ist, liegt der Fokus dieser Arbeit auf der Flüchtlingskrise. Diese Arbeit umfasst den Zeitraum von September 2015 (Schließung der ungarisch-serbischen Grenze für Flüchtlinge) bis März 2016 (Schließung der Balkanroute, die bis dahin wichtigste Fluchtroute). In diesem Zeitraum kamen zehntausende Flüchtlinge über Kroatien in andere EU-Mitgliedsstaaten, wie zum Beispiel Österreich und Deutschland. Während dieser Zeit engagierten sich viele Freiwillige, wie auch Behörden und internationale Organisationen, in der Flüchtlingshilfe. Unterkunft und Verpflegung wurden vom Staat bereitgestellt und die Flüchtlinge wurden über ihre Rechte und die Weiterreise, die viele von ihnen noch vor sich hatten, informiert. Hierbei stellt sich die Frage, wie mit Flüchtlingen, die vorwiegend aus dem Nahen und Mittleren Osten kamen und Arabisch, Urdu, Persisch oder andere orientalische Sprachen sprechen, kommuniziert wurde. In Kroatien gibt es kein Arabistik Studium. Arabisch kann nur in Sprachschulen oder im Rahmen des Turkologie- Studiums an der Philosophischen Fakultät in Zagreb gelernt werden. Zudem gibt es keine Ausbildung zum/zur Übersetzer/Übersetzerin und/oder Dolmetscher/Dolmetscherin für orientalische Sprachen. Im Rahmen dieser Forschungsarbeit gilt zu erforschen, wie das Dolmetschen während der Flüchtlingskrise in Kroatien organisiert war beziehungsweise wie es in der Praxis funktionierte. Um dies zu erreichen, wurden themenbezogene Forschungsfragen formuliert. Die erste Frage beschäftigt sich mit den Dolmetschern/innen, die eingesetzt wurden. Dabei wird erforscht, wer und für welche Sprachen als Dolmetscher/in eingesetzt wurde und ob es sich um professionelle oder nicht professionelle Dolmetscher/innen handelte. Das Ziel der zweiten Forschungsfrage ist herauszufinden, was diese Dolmetscher/innen dazu bewegte, für Flüchtlinge zu dolmetschen. Besonderes Augenmerk gilt dabei der persönlichen Motivation. Die dritte Fragestellung bezieht sich auf das Engagement. Hierbei wird erforscht, wie die Dolmetscher/innen zu ihrer Tätigkeit kamen, ob sie beauftragt wurden oder sich freiwillig meldeten. Der Fokus der vierten Forschungsfrage liegt auf der Tätigkeit selbst, das heißt, aus welchen Aufgaben die Tätigkeit bestand, wie sie organisiert war, wie und wo gedolmetscht wurde und ob es Probleme gab. Es wird angenommen, dass hauptsächlich nicht professionelle Dolmetscher/innen beziehungsweise Laiendolmetscher/innen zum Einsatz kamen, weil für die nötigen Sprachen keine ausgebildeten Dolmetscher/innen zur Verfügung standen. Ohne den 1
Einsatz von nicht professionellen Dolmetschern/innen wäre die Kommunikation mit den Flüchtlingen wesentlich erschwert oder gar unmöglich gewesen. Da NPIT (Non-Professional Interpreting and Translation) ein wachsendes Forschungsfeld innerhalb der Translationswissenschaft darstellt und es in Kroatien bislang weitgehend unerforscht blieb, ist diese MA-Arbeit ein wertvoller wissenschaftlicher Beitrag zur Erforschung dieses Bereiches in Kroatien. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Blockfreienbewegung, eine internationale Organisation von Staaten, gegründet. Die Mitgliedsstaaten der Bewegung hatten kein Interesse am Ost-West-Konflikt und widmeten sich ihren eigenen politischen Bedürfnissen. Ihr Hauptziel war es, ihre „frisch erworbene Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gegenüber neuerlicher Einmischungen und Fremdbestimmung von außen abzusichern und auszuweiten“ (Woyke 1986:81). Die Organisation wurde Anfang der sechziger Jahre vom damaligen jugoslawischen Präsidenten Tito, dem ägyptischen Staatschef Nasser und dem indischen Premierminister Nehru, die sich alle keinem der zwei existierenden Militärblöcke anschließen wollten, ins Leben gerufen. Bis Mitte der Achtziger beteiligten sich über 100 Länder, vorwiegend aus Asien und Afrika, an der Blockfreienbewegung. Die Mitgliedsstaaten setzten sich vorwiegend für eine friedliche Koexistenz ein, versuchten gute internationale Beziehungen zu pflegen und wirtschaftlich zusammenzuarbeiten. Die Zusammenarbeit in mehreren Bereichen sollte zur Entwicklung der Drittländer beitragen und es ihnen ermöglichen, als Gegengewicht zu den damaligen Großmächten zu agieren (vgl. Woyke 1986:81ff.). Das ehemalige Jugoslawien, als ein Mitgliedsland der Bewegung der blockfreien Staaten, arbeitete ebenfalls eng mit anderen Mitgliedsländern zusammen. Diese Zusammenarbeit wirkte sich auch auf Universitäten und Hochschulen aus und ermöglichte einen Studierendenaustausch zwischen Mitgliedsländern. Im Rahmen dessen kamen viele Studenten/innen aus Ägypten, Libyen oder Syrien nach Jugoslawien für das Studium. Nach dem Abschluss ihres Studiums blieben einige von ihnen im damaligen Jugoslawien beziehungsweise im heutigen Kroatien. Es gibt auch andere, spätere Beispiele von Migranten/innen aus dem Nahen und Mittleren Osten, die sich in Kroatien niedergelassen haben und dort ihre Familien gründeten. Es wird angenommen, dass gerade diese Menschen oder ihre Familienmitglieder, die noch während des ehemaligen Jugoslawiens nach Kroatien kamen, während der Flüchtlingskrise als Dolmetscher/innen tätig waren. Dank ihrer muttersprachlichen Kompetenzen in orientalischen Sprachen und in Kroatisch, agierten sie als Dolmetscher/innen und ermöglichten die Kommunikation zwischen Behörden und 2
Flüchtlingen. Weiterhin wird angenommen, dass sie zuvor keine formelle Ausbildung oder Erfahrung im Dolmetsch- und/oder Übersetzungsbereich hatten. Obwohl es sich um nicht professionelle Dolmetscher/innen handelt, wird angenommen, dass sie sich an die berufsethischen Grundprinzipien und Standards (Professionalität, Vertraulichkeit/Verschwiegenheitspflicht, Genauigkeit/Vollständigkeit, respektvolles Verhalten, Neutralität/Unparteilichkeit) für professionelle Dolmetscher/innen hielten und ihrer Tätigkeit verantwortungsvoll nachgingen. Diese Hypothese basiert auf der Forschungsarbeit von Drugan, die im Laufe ihrer Untersuchungen von professionellen und nicht professionellen Ethikkodizes zum Schluss gekommen ist, dass nicht professionelle und professionelle Übersetzer/innen teilweise ähnliche ethische Grundprinzipien verfolgen. Der Hauptunterschied zwischen diesen zwei Gruppen liegt, laut Drugan, im Stellenwert, der den einzelnen Prinzipien zugeschrieben wird. Während beispielsweise drei Viertel aller nicht profesioneller Ethikkodizes die gemeinsamen Ziele und Vorsäzte nennen, wird diese Komponente in professionellen Kodizes nur beiläufig und in Kürze erwähnt (vgl. Drugan 2011:116ff.). Drugans Forschung, trotz ihres Fokuses auf nicht professionelle Übersetzer/innen, diente als Basis für die Ausarbeitung der Hypothese für diese Arbeit, die sich mit nicht professionellen Kommunaldolmetscher/innen befasst. Der Aufbau dieser Arbeit gliedert sich in mehrere Kapitel, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen. Nach der vorliegenden Einleitung folgt ein kurzer Überblick über den Konflikt in Syrien und die darauffolgende Flüchtlingskrise in Kroatien. Zudem werden beim Überblick über den Konflikt in Syrien in einem Unterkapitel die Unterschiede zwischen Migration und Flucht erörtert, da sie im Zusammenhang mit Konflikten und/oder Kriegen oft verwechselt werden. Das Thema der Flüchtlingskrise in Kroatien wird näher beleuchtet, indem erörtert wird, wie Flüchtlinge nach Kroatien kamen, wie mit ihnen kommuniziert wurde, wer gedolmetscht hat und welchen Herausforderungen sich Hilfsorganisationen und die Regierung bei der Beauftragung von Dolmetschern/innen stellen mussten. Da diese Arbeit thematisch zum Kommunaldolmetschen gehört, wird dieses näher betrachtet. Das Kommunaldolmetschen als Forschungsfeld innerhalb der Translationswissenschaft wird dargestellt und von anderen Dolmetschbereichen abgegrenzt. Hierbei wird näher auf den Bereich des Dolmetschens für Migranten/innen und Flüchtlinge eingegangen. Darauf folgt eine Diskussion über die Anforderungen und Erwartungen an Kommunaldolmetscher/innen. Hier werden die Hauptvoraussetzungen für erfolgreiches Dolmetschen und die Herausforderungen, mit denen Dolmetscher/innen im kommunalen Bereich zu kämpfen 3
haben, genannt. Das letzte Unterkapitel zum Thema Kommunaldolmetschen beschäftigt sich mit dem Status und den Rollenbildern von Kommunaldolmetschern/innen. Der Schwerpunkt liegt auf der unterschiedlichen Wahrnehmung von Kommunaldolmetschern/innen in der Öffentlichkeit. Thematisch ist das nächste große Kapitel den professionellen beziehungsweise nicht professionellen Translatoren/innen gewidmet. Verschiedene Ansätze und Definitionen diesbezüglich werden diskutiert und gegenübergestellt. Diesem folgt ein Kapitel über die beruflichen und ethischen Grundprinzipien beim Dolmetschen. Ethische Normen und Konventionen, die beim professionellen Dolmetschen vorausgesetzt werden, werden dargelegt und analysiert. Weiterhin werden potenzielle ethische Konflikte (zum Beispiel Loyalität und Neutralität in Konflikt- oder Extremsituationen) beim Dolmetschen erörtert und ein Vergleich mit der Tätigkeit von nicht professionellen Dolmetschern/innen wird gezogen. Den praktischen Teil dieser Arbeit bildet ein semistrukturiertes Interview, das mit einem nicht professionellen Dolmetscher, der während der Flüchtlingskrise in Kroatien tätig war, geführt wurde. Um die Forschungsfragen dieser Arbeit zu beantworten und der Hypothese nachzugehen, wurde für die Analyse des Interviews eine qualitative Forschungsmethode angewendet. Die Durchführung des Interviews, die Beschreibung der angewandten Forschungsmethode und die Interpretation der gewonnenen Daten erfolgen in jeweils separaten Kapiteln. Anschließend werden die Analyseergebnisse zusammengefasst und diskutiert. Das primäre Ziel dieser Arbeit ist die Erforschung von nicht professionellem Dolmetschen während der Flüchtlingskrise in Kroatien mit Blick auf die ethischen Grundprinzipien des professionellen Dolmetschens. 4
1. Der Konflikt in Syrien Einleitend wird der Syrien-Konflikt erörtert. Der Zeitrahmen, die Hintergründe, die Akteure/innen und die Folgen des Konfliktes werden dargelegt, um die Basis für diese Arbeit zu legen. Es folgt die Erklärung der Begriffe „Migration“ und „Flucht“, die oft verwechselt und folglich als Synonyme verwendet werden. Weiterhin werden Migrationstypen, das Push- Pull-Modell der Migration und die mikro- und makroökonomischen Theorien der Migration, definiert, erklärt und abgegrenzt. Zuletzt folgt die Darstellung der Flüchtlingskrise in Kroatien. 1.1 Der Syrien-Konflikt im Überblick Mit dem Syrien-Konflikt kam der Krieg vor die Türen der Europäischen Union. „Der syrische Aufstand als Teil der regionalen, arabischen Revolte begann im März 2011“ (Bank/Mohns 2013:85). Zu dieser Zeit war der Arabische Frühling im vollen Gang, in Tunesien und Ägypten waren die Staats- und Regierungsoberhäupter bereits gestürzt. Der Ausbruch der Konflikte in Syrien war nun eine Fortsetzung der Protestwelle, die durch die arabische Welt zog (vgl. Bank/Mohns 2013:85). Die anfangs friedlichen Protestbewegungen in Syrien forderten Reformen im Land, der Sturz des Regimes wurde erst später zu ihrem Ziel. Verschiedene Protestgruppen forderten politische, wirtschaftliche und soziale Reformen, und erste Rufe nach Demokratie wurden laut (vgl. Becker 2016:84). Die ersten Protestbewegungen fanden auf lokaler Ebene statt und waren dezentralisiert. Die weitgehend friedlichen Gruppen samt Opposition waren sich zu Beginn der Proteste einig, die territoriale Integrität Syriens und die Einigkeit des Volkes zu erhalten (vgl. Phillips 2015:359; van Dam 2017:o.S.; Asseburg 2014:98). Nationale Fragen waren für die Protestgruppen und die Opposition wichtiger als die Spaltung der Bevölkerung entlang ethnischer und konfessionell-religiöser Linien. Obwohl sich die syrische Gesellschaft aus vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammensetzt, wie beispielsweise den Alawiten/innen, Sunniten/innen, Schiiten/innen, Christen/innen und Kurden/innen, waren die einzelnen Interessen der jeweiligen Gruppen zu Beginn nicht im Vordergrund. Die Demonstranten/innen identifizierten sich als ein Volk, erst als Syrer/innen und dann als Mitglied einer Gruppe (vgl. van Dam 2017:o.S.; Phillips 2015:359). Die Slogans, die sie bei Protesten skandierten und mit denen sie ihre Ziele ausdrücken und ihre Einheit beweisen wollten, lauteten: „„Gott, Syrien und Freiheit“ (in Abwandlung des Regime-Leitspruchs „Gott, Syrien und Baschar“), „friedlich, friedlich“ und „das syrische Volk ist eins““ 5
(Asseburg 2014:96). Mit der Zeit änderten sich aber die Forderungen der Protestgruppen und es kam vermehrt zur Fragmentierung innerhalb der einzelnen Gruppen entlang konfessionell- religiöser Linien: Der im Süden des Landes entfachte, zu Beginn von Seiten der Protestbewegung gewaltlos geführte Volksaufstand hat sich sukzessive in eine bewaffnete Revolte transformiert, die in einigen Landesteilen Merkmale eines Bürgerkriegs angenommen hat. (Bank/Mohns 2013:85f.) Obwohl die Einheit des Volkes einst so betont wurde, verlor sie mit der Zeit an Bedeutung. Unter internationaler Beobachtung entfaltete sich der Konflikt zu einem offenen Bürgerkrieg, den niemand vorhersehen konnte und dessen Ende nicht absehbar ist (vgl. van Dam 2017:o.S.). Mitte März 2011 brachen die ersten „Proteste in der südsyrischen Stadt Dara’a aus, die sich innerhalb weniger Wochen in ganz Syrien ausbreiteten“ (Bank/Mohns 2013:88). Der Grund warum die initialen Protestbewegungen in ländlichen Regionen als Erstes ausbrachen, liegt in der Tatsache, dass diese Gegenden Armut, soziale Ungleichheiten, wirtschaftliche Probleme, Arbeitslosigkeit, Korruption und die Repression des Staates am meisten zu spüren bekamen. Die Kluft zwischen ländlichen Gegenden und urbanen Zentren, und der Bevölkerung, die in den jeweiligen Orten wohnte, war in Syrien besonders stark ausgeprägt. Die Bewohner/innen der urbanen Zentren, wie beispielsweise Aleppo und Damaskus, konnten sich mit den Problemen der Menschen in ländlichen Regionen nur teilweise identifizieren (vgl. van Dam 2017:o.S.; Asseburg 2014:96ff.; Bank/Mohns 2013:88f.). Wie bereits angedeutet, waren die ersten Protestbewegungen weitgehend friedlicher Art. Menschen versammelten sich auf den Straßen und verlangten Reformen, die ihnen ein besseres Leben hätten ermöglichen sollen. Anfangs reagierte das Regime noch mit Verhaftungen, doch als die Proteste anfingen, immer mehr Menschen anzuziehen, antwortete Präsident Bashar al-Assad mit Gewalt. Während das Regime noch zu Beginn mit Reformversprechen und Verhaftungen versuchte, die Lage zu stabilisieren, wurde es mit der Zeit immer brutaler im Umgang mit den Demonstranten/innen. Präsident al-Assad antwortete mit Gewalt und setze das Militär ein. Er wollte wieder die Kontrolle über die Situation zurückerlangen und den Demonstrationen ein Ende setzen. Folter, Verhaftungen, Misshandlungen und weitere brutale Methoden wurden zum Merkmal des Regimes. Die enorme Brutalität mit der al-Assad vorging, führte dazu, dass sich immer mehr Menschen 6
gegen das Regime wandten und auf die Straßen gingen, was folglich zu noch mehr Unruhen führte. Mittlerweile verlangten die Demonstranten/innen nicht nur Reformen, sondern auch den Sturz des Regimes (vgl. Asseburg 2014:96f.; Bank/Mohns 2013:89f.). Baschar al-Assad aus der al-Assad Familie trat im Jahr 2000 als Nachfolger seines Vaters Hafiz al-Assad das Amt des syrischen Präsidenten an. Hafiz al-Assad ergriff die Macht nach einem Militärputsch 1970 und war der erste Präsident, der der religiösen Minderheit der Alawiten/innen angehörte und somit die Tradition der sunnitischen Präsidenten brach (vgl. Marsing 2012:39f.). Die alawitische Minderheit wurde im Laufe seiner Amtszeit die mächtigste Gruppe innerhalb des Landes, obwohl sie nur zehn bis zwölf Prozent der syrischen Bevölkerung, die 22 Millionen Menschen umfasst, ausmacht. Die Mehrheit der Syrer/innen sind Sunniten/innen (65 Prozent), während der Rest der Bevölkerung der christlichen (10 Prozent) oder sunnitisch-kurdischen (10 Prozent) Gemeinde angehört (vgl. Hokayem 2013:17). Hafiz al-Assad hinterließ seinem Sohn einen autoritären Staat, über den er Jahrzehnte lang mit harter Hand regierte. Zudem installierte er zahlreiche Mitglieder seiner Familie, wie auch andere Alawiten/innen aus den einflussreichen Kreisen Syriens an wichtigen Posten innerhalb der Regierung, der Partei, der Armee, des Sicherheitsapparates und der Wirtschaft. Eine Praxis, die auch Baschar al-Assad fortführte. Somit wurde die syrische religiöse Minderheit der Alawiten/innen, die zum schiitischen Spektrum des Islams gehört, Machtträger innerhalb eines Landes in dem Sunniten/innen die Mehrheit bilden (vgl. Marsing 2012:39). Nahezu alle politischen Schlüsselrollen sind in Syrien mit alawitischen Politikern, Funktionären und Offizieren besetzt. Die massgeblichen Entscheidungsträger zeichnen sich vielfach durch eine verwandtschaftliche Verbundenheit zur al-Assad-Familie aus. Die Kabinettsliste der Regierung ist ein deutliches Spiegelbild des alawitischen „Patronage- und Klientelsystems“ und die Offiziersriege des Militär besteht zur 80-90 Prozent aus Alawiten. (Marsing 2012:39) Der Nepotismus und politische Klientelismus, die von Hafiz al-Assad eingeführt und von seinem Sohn fortgeführt wurden, ermöglichten es der Glaubensgruppe der Alawiten/innen an die Macht zu kommen und ihren Einfluss von dort aus auszubreiten. Die Alawiten/innen wurden zur mächtigsten Gruppe innerhalb des Landes, die den Sicherheitsapparat benutzte, um Syrer/innen zu kontrollieren und an der Macht zu bleiben. Baschar al-Assad übernahm 2000 auch den Vorsitz in der Baath-Partei, der führenden Partei des Landes. „Die alawitische 7
Glaubensgruppe ist innerhalb der Baath-Partei traditionell überproportional stark vertreten“ (Marsing 2012:35), doch auch der Anteil an Sunniten/innen stieg während Hafiz al-Assads Amtszeit. Es wird angenommen, dass dies eine Maßnahme zur Machtfestigung war, da die Baath-Partei eine große Rolle innerhalb Syriens spielt. Sie ist nicht nur die führende Partei des Landes, sondern dient als Festung Baschar al-Assads und als Mittel zur Kontrolle seiner eigenen Landsleute (vgl. Marsing 2012:35-39). Mit der Zeit formten sich aus den Reihen der friedlichen Demonstranten/innen verschiedene Gruppen, die gegen die Regimekräfte, insbesondere das Militär, kämpften. Teile der Protestbewegungen, die „in grenznahen Gebieten verortet waren, wurden durch Schmugglernetzwerke aus dem Libanon, der Türkei und Jordanien mit Kleinwaffen versorgt“ (Bank/Mohns 2013:91). Teile der syrischen Armee, hauptsächlich Deserteure/innen versammelt um den Offizier Riad al-Asaad, wehrten sich gegen die Verordnungen des Präsidenten und gründeten im Sommer 2011 im türkischen Exil die Freie Syrische Armee (FSA). Die FSA wurde zu einer der bekanntesten und größten Gruppen, die gegen das Regime kämpfte und von westlichen Ländern teilweise unterstützt wurde. Die FSA kann jedoch nicht als klassische Armee bezeichnet werden, da sie sich aus verschiedenen dezentralisierten Protestbewegungen zusammensetzt, die zwar gleiche oder ähnliche Ziele verfolgten, jedoch nicht als eine Einheit fungierten. Dazu verfügte die FSA über keine ausgebildeten Soldaten/innen, sondern war auf die Teilnahme und Mitgliedschaft von Deserteuren/innen und Zivilisten/innen, die lokal handelten, angewiesen (vgl. Asseburg 2014:99f.; Phillips 2015:359; van Dam 2017:o.S.; Bank/Mohns 2013:96f.). Die Schmuggelnetzwerke ermöglichten die Bewaffnung verschiedener Protestgruppen, die immer fragmentierter wurden und anfingen, sich entlang ethnischer und religiöser Linien zu teilen. Gewalt, Exekutionen und weitere Gräueltaten wurden zum Alltag in zahlreichen syrischen Städten und Provinzen. Neben der FSA wurde im türkischen Exil auch der Syrische Nationalrat (SNR) gegründet. Diese Koalition vereinigte verschiedene Gruppen jenseits ihrer persönlichen Bekenntnisse und sollte vor allem „als Ansprechpartner für die internationale Gemeinschaft fungieren und Unterstützung für die syrische Revolution generieren“ (Asseburg 2014:98). Das Nationale Koordinierungskomitee für demokratischen Wandel (NKDW) aus Damaskus, eine weitere politische Oppositionsgruppe, setzte sich ebenfalls aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammen und strebte ähnliche Ziele wie das SNR an. Eine Zusammenarbeit des SNR und des NKDW kam aber nie zustande, da sie sich über Vorgangsweise und Mittel zur Erlangung ihrer Ziele nicht einigen konnten. Beide politischen 8
Oppositionsgruppen wünschten sich zwar einen höheren Grad an Einfluss auf die Ereignisse im Land und strebten Veränderungen an, ihr wahrhaftiger Einfluss blieb aber marginal (vgl. Bank/Mohns 2013:94ff.). Die stark fragmentierte syrische politische Opposition erwies sich als unkoordiniert, dezentralisiert und ineffektiv, da Angriffe auf die Regimekräfte oft nur lokal und impulsiv beziehungsweise ohne Struktur und sorgfältige Planung durchgeführt wurden. Der Mangel an Koordination und Einheit in den Reihen der Opposition verschaffte dem Regime einen Vorteil, da die Opposition keine wahre Bedrohung für sie darstellte. Die Regimekräfte waren im Gegensatz zur Opposition besser organisiert und wurden immer brutaler im Umgang mit der Opposition und den Demonstranten/innen (vgl. Bank/Mohns 2013:94ff.). Während das Regime zu Beginn der Proteste mit gewaltsamen Unterdrückungen und Reformen die Verbreitung der Protestbewegungen verhindern wollte, wechselte es mit der Zeit seine Vorgangsweise. In seiner Aufstandsbekämpfung stützt sich das Regime auf einen weitverzweigten Sicherheitsapparat, Eliteeinheiten, Teile der Armee, bewaffnete Mitglieder der Ba‘th-Partei und bewaffnete irreguläre Milizen, die sogenannten schabīha (arab. „Geister“), die sich aus zivilen Unterstützern des Regimes und Mitgliedern klandestiner, ehemals krimineller Netzwerke zusammensetzen. (Bank/Mohns 2013:92) Mit Unterstützung der genannten Gruppen setzte das Regime auch auf gezielte Medienkampagnen, die die Demonstranten/innen als Terroristen/innen und Unruhestifter/innen darstellten und die Regimekräfte als Befreier/innen. Der Sicherheitsapparat, die Eliteeinheiten und Teile der Armee, die sich alle vorwiegend aus Familienmitgliedern der al-Assad Familie und/oder Mitgliedern der alawitischen Glaubensgemeinschaft zusammensetzen, waren jedoch das wichtigste Mittel al-Assads in der Bekämpfung der Aufstände (vgl. ibid.:92f.). Der Konflikt in Syrien beeinflusste nicht nur die politische Dynamik des Landes, sondern auch die Zivilgesellschaft. Der Einsatz der Armee änderte den Charakter der Protestbewegungen. In kurzer Zeit eskalierten die friedlichen Proteste. Die Opposition antworteten ebenfalls mit Gewalt auf al-Assads Unterdrückungen. Die ethnische und religiös- konfessionelle Vielfalt innerhalb der Oppositionsgruppen verlor an Bedeutung und wurde zum Problem. Dies führte zu Fragmentierungen innerhalb der Oppositionsgruppen und damit 9
verloren die Bewegungen an Legitimität und Stärke. Die FSA und die verschiedenen Oppositionsgruppen wehrten sich gegen die Regimekräfte und lieferten sich Kämpfe in Dörfern, Städten und ländlichen Gebieten. Während der Kämpfe kamen zahlreiche Menschen ums Leben, tausende wurden schwer verletzt und weitere Millionen wurden gezwungen, sich auf die Flucht zu machen. Auf jede Aktion der FSA und der Oppositionsgruppen antwortete das Regime mit noch mehr Brutalität. Die Einsätze der Luftwaffe verliehen dem Konflikt eine neue Dimension und den Regimekräften einen Vorteil. Der Höhepunkt der Konflikte wurde im Sommer 2013 erreicht, als Chemiewaffen in einem Ort in der Nähe von Damaskus eingesetzt wurden. Al-Assad wurde des Angriffes beschuldigt und die internationale Gemeinschaft reagierte mit Empörung (vgl. Asseburg 2014:99-102; Bank/Mohns 2013:96-99; Hokayem 2013: 39-104). Grundsätzlich lässt sich das Verhalten der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf Syrien in zwei Lager aufteilen: Unterstützer/innen und Opponenten/innen von al-Assad. Zu Beginn erwarteten viele westliche Staats- und Regierungsoberhäupter, dass das Regime als Folge der Protestwellen, ähnlich wie in einigen anderen Ländern in der Umgebung, fallen würde. Sie waren davon überzeugt, dass al-Assad bald zurücktreten würde, um größere Konflikte und Gewaltausbrüche zu verhindern. Die Stärke des Regimes und al-Assads Kontrolle über das Land wurden massiv unterschätzt. Die Türkei, einer der wichtigsten syrischen Handelspartner, löste einige Abkommen auf und sprach sich gegen das Regime aus. In der Arabischen Liga wurden die syrische Mitgliedschaft suspendiert und Sanktionen eingeführt, während zugleich zwischen dem Regime und der Opposition Mediationsgespräche organisiert wurden. Es wurde versucht, al-Assad zum Rücktritt zu bewegen, in dem immer mehr Druck von allen beteiligten Seiten auf ihn ausgeübt wurde. Militärinterventionen auf syrischem Boden wurden jedoch von allen internationalen Akteuren/innen von Anfang an abgelehnt, um größeren Konflikten und Gewaltausbrüchen in der Region vorzubeugen. Weitere Maßnahmen die westliche Länder gegenüber Syrien ergriffen waren fast ausschließlich durch die innen- und außenpolitische Situation im eigenen Land eingeschränkt. Kein Land wollte innenpolitische Probleme und Auseinandersetzungen mit wichtigen internationalen Partnern/innen riskieren. Einige EU- Mitgliedsstaaten, die Türkei und die USA versuchten der Opposition und Rebellen/innen zu helfen, indem sie „überwiegend politische und logistische, zum Teil auch militärische Unterstützung“ (Asseburg 2014:104) zur Verfügung stellten. Die Waffenlieferung hielt sich jedoch in Grenzen, aus Angst, dass die Waffen nicht an ihr Ziel gelangen würden. Die geringe Hilfe, die die Opposition und die Rebellen/innen vom Westen erhielten, war nicht 10
ausreichend, um gegen die Regimekräfte anzukämpfen und größere Durchbrüche zu erreichen. Saudi-Arabien und Katar verfolgten ihre eigene Politik gegenüber Syrien, während der Iran und Libanon al-Assads Regime weiterhin unterstützen und im internationalen Umfeld verteidigten. China und Russland legten mehrere Male ein Veto gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrates gegen Syrien ein. Russland erwies sich als al-Assad größter Unterstützer und Partner und verhinderte jegliche Versuche, ihn und sein Regime zu stürzen. Russland verfolgte eigene Interessen in Syrien und pflegt politische Beziehungen, die weit in die Geschichte reichen und in deren Mittelpunkt die geo-politische Bedeutung Syriens für Russland steht (vgl. Hokayem 2013:105-190; van Dam 2017:o.S.; Bank/Mohns 2013:99-102; Asseburg 2014:99-105). „Die Gewalteskalation hat zur Radikalisierung der Rebellen beigetragen“ (Asseburg/Wimmen 2012:2). Vor allem bei Mitgliedern der sunnitischen Glaubensgemeinde ist eine Radikalisierung zu beobachten. Der Dschihad wurde zum Mittelpunkt im Kampf gegen das Regime. Die Errichtung eines islamischen Staates, beziehungsweise eines Kalifates mit dem sunnitischen Islam als Staatsreligion wurde zum ultimativen Ziel. Nicht nur Syrer/innen schlossen sich den Dschihadisten/innen an, sondern auch viele freiwillige ausländische Kämpfer/innen, was zur Komplexität des Krieges in Syrien beitrug. Islamistische Organisationen, wie beispielsweise Ahrar ash-Sham und Jaysh al-Islam wurden gegründet, wie auch die dschihadistische al-Nusra-Front, die Beziehungen zur al-Qaida pflegte. Der IS (Islamischer Staat) breitete sich aus dem Irak nach Syrien aus. Somit wuchs die Zahl der Terrorzellen in Syrien, die eine direkte Bedrohung für westliche Länder darstellten. Der Bürgerkrieg in Syrien erwies sich als fruchtbarer Boden für die Gründung extremer Terrorzellen, die Angst und Schrecken innerhalb und außerhalb Syriens verbreiteten. Die verschiedenen extremistischen Organisationen wurden aus mehreren internationalen Quellen finanziert, was ihnen eine rasche Ausbreitung ermöglichte. Das Hervortreten solcher Organisationen und die Bedrohung, die sie für den Westen darstellten, zwang die USA und einige EU-Länder ihre Politik gegenüber Syrien zu ändern und den Fokus auf die Terrorbekämpfung zu legen (vgl. van Dam 2017:o.S.; Bank/Mohns 2013:99-102; Hokayem 2013:68-104; Asseburg 2014:99-105; Balanche 2018:68-91). Die Zwischenbilanz des Krieges in Syrien ist katastrophal. Seit seinem Beginn im Jahr 2011 sind über 400.000 Menschen ums Leben gekommen. Über 5,6 Millionen Menschen haben Syrien verlassen. Rund drei Millionen wurden in Flüchtlingslagern in der Türkei 11
aufgenommen, während sich der Rest in Flüchtlingslagern in Jordanien, im Libanon, dem Irak und Ägypten befindet. Ein Teil fand Zuflucht in westlichen Ländern. Über 6,5 Millionen Menschen sind Opfer interner Vertreibungen und insgesamt 13 Millionen Syrer/innen befinden sich in Not und brauchen humanitäre Hilfe. Seit Beginn der Konflikte wurde ein Drittel des Wohnungsbestandes und die Hälfte aller medizinischen Einrichtungen und Bildungsinstitutionen entweder beschädigt oder zerstört. Die syrische Wirtschaft leidet ebenfalls unter den Folgen des Krieges. 538.000 Arbeitsplätze gingen jährlich seit Beginn des Konflikts verloren und neun Millionen Menschen arbeiten zurzeit nicht. Insgesamt schätzt die Weltbank die wirtschaftlichen Verluste Syriens seit 2011 auf 226 Milliarden US-Dollar (vgl. The World Bank 2017; UNHCR 2018). Neben der wirtschaftlichen Dimension dürfen die menschlichen Schicksale nicht außer Acht gelassen werden. Millionen von Syrern/innen kämpfen täglich ums Überleben und ein Ende des Konfliktes ist nicht in Sicht. Jegliche Mediationsgespräche und Verhandlungen führten nicht zu Frieden, sondern ermöglichten es lediglich, den Menschen in Not humanitäre Hilfe zu bieten. Das Verhältnis des Westens gegenüber dem Konflikt in Syrien lässt sich in wie folgt zusammenfassen: fehlgeschlagene Massnahmen und verpasste Möglichkeiten. Die Friedensaufrufe blieben nur Aufrufe und konkrete Maßnahmen wurden nicht ergriffen. Zu Beginn der Konflikte setzte der Westen den Fokus auf al-Assads Rücktritt und versuchte ihn unter Druck zu setzen, unternahm jedoch keine Interventionen aus Angst vor innen- und außenpolitischen Auseinandersetzungen. Danach kamen islamistische Organisationen, vor allem der IS, die eine Bedrohung für den Westen darstellten und der Schwerpunkt wurde auf dessen Bekämpfung gesetzt. Zuletzt kamen hunderttausende Flüchtlinge nach Europa und Europa kümmerte sich erneut um sich selbst und seine Grenzen. Die wahren Ursachen des Konfliktes in Syrien wurden nie angesprochen und die Reaktionen des Westens hielten sich in Grenzen. Das Problem der Flüchtlinge wurde als ein internes politisches Problem gesehen und die Angst vor einer Islamisierung europäischer Bevölkerungen wuchs, während die menschlichen Schicksale von Millionen Syrer/innen außer Acht gelassen wurden (vgl. van Dam 2017:o.S.; Asseburg 2014:105-106; Hokayem 2013:191-210). 1.1.1 Migration als Begriff Migration, wie auch die Unterbegriffe Emigration und Immigration, werden oft synonym verwendet, obwohl sie eigentlich keine Synonyme sind. Dazu kommen noch die Begriffe 12
Asylwerber/in und Flüchtling, die ebenfalls inkorrekt verwendet werden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist deshalb eine differenziertere Erläuterung der Begriffe notwendig. Der Duden definiert Migration als „(Soziologie) Abwanderung in ein anderes Land, in eine andere Gegend, an einen anderen Ort“ (Duden online 2018) wobei der/die Migrant/in jene Person ist, die freiwillig ins Ausland zieht oder schon umgezogen ist, beziehungsweise ihren Wohnort innerhalb eines Landes verlegt hat. Hierbei sind die Umzugsgründe und der rechtliche Status der Person irrelevant (vgl. International Organization for Migration 2004:41). Im Vorfeld festgelegte Aufenthalte an einem anderen Ort innerhalb oder außerhalb des Landes, wie beispielsweise Studienaufenthalte, werden nicht als Migration bezeichnet, da sie zeitlich begrenzt sind. Migration wird grundsätzlich auf „Emigration (Auswanderung) aus einem Herkunftsland und Immigration (Einwanderung) in ein Zielland“ (Treibel 2008:295; Hervorh. i. Orig.) aufgeteilt. In diesem Zusammenhang schreibt Treibel: Für die meisten Migrantinnen und Migranten ist, ob ihre Wanderung nun dauerhaft wird oder nicht, ein Grund ausschlaggebend: Sie wollen ihr Leben auf eine bessere Grundlage stellen und sie entscheiden sich mehr oder weniger freiwillig zu diesem Schritt. Dies bezeichnet man im weitesten Sinne als Arbeitsmigration. Davon abgegrenzt wird die Fluchtmigration. Hier gibt es konkrete Akteuere wie Diktatoren oder Ereignisse, wie Kriege oder Erdbeben, die Menschen zur Flucht zwingen. (Treibel 2008:295; Hervorh. i. Orig.) Treibel weicht in ihrer Definierung von Migration von der traditionellen Sichtweise, die Migration nur auf Emigration und Immigration beschränkt ab, sie bezieht zusätzlich die Begriffe Arbeits- und Fluchtmigration mit ein und stellt sie als untergeordnete Formen der Migration dar. Arbeitsmigration ist, laut Treibel, eine Art von Migration, zu der sich eine Person freiwillig entscheidet, während bei Fluchtmigration dies nicht der Fall ist. In der Theorie sind diese Definitionen anwendbar, in der Praxis jedoch werden Menschen oft zu Arbeitsmigranten/innen, weil sie die wirtschaftlichen Zustände im eigenen Land dazu bewegen beziehungsweise „zwingen“. Bei Fluchtmigration gibt es zwar die Möglichkeit im eigenen Land zu bleiben, diese ist jedoch mit Risiken und Angst um das eigene Leben verbunden (vgl. Treibel 2008:295-298; Treibel 2011:20f.,157f.). Ähnlich zu Treibel beschäftigt sich auch Han mit dem Thema Migration. Hierbei stützt er sich auf Definitionen aus der Soziologie, die besagen, dass jeder dauerhafte Wohnortwechsel als Migration betrachtet werden kann. Wie ein dauerhafter Wohnortwechsel zu definieren ist, 13
beziehungsweise welcher zeitliche Rahmen in Betracht gezogen wird, bleibt jedem Land selbst überlassen. Weiters wird nicht jeder Wohnortwechsel Migration genannt, weil nicht jeder Wechsel permanent ist, wie zum Beispiel im Fall von Touristen/innen und/oder Pendler/innen. Wie auch Treibel betont Han, dass die Freiwilligkeit zum Wohnortwechsel keine Rolle in der Definition des Begriffes Migration spielt. Migration wird „durch eine Vielzahl zusammenhängender Ursachen und Zwänge“ (Han 2005:8) jeglicher Art ausgelöst und „kann selten monokausal erklärt werden“ (ibid.). Die Migration wird weiterhin als ein komplexer Prozess gesehen, der sich auf einer geistigen und physischen Ebene abwickelt, und sich über mehrere Phasen erstreckt (vgl. Han 2005:8f.). Wie schon von Han angedeutet, sind Migrationsgründe vielfältig und entstehen als Folge persönlicher Erfahrungen. Da jeder Mensch eigene Erfahrungen macht und diese auch auf eigene Weise interpretiert, unterscheiden sich die Migrationsgründe und -motive von Person zu Person. Bei gewissen Gruppen von Menschen, die beispielsweise vor Krieg flüchten, kann es zu einer Überschneidung von Migrationsgründen kommen. Grundsätzlich können Migrationsmotive in zwei Gruppen aufgeteilt werden: 1) Push- und 2) Pull-Faktoren. Push- Faktoren sind jene Gründe, die einen Menschen zur Migration bewegen. Dazu zählen Armut, Hunger, Umweltkatastrophen, wirtschaftliche Krisen, Kriege, Naturkatastrophen, verschieden Arten von Verfolgung und andere Gründe, durch die sich eine Person zur Flucht gezwungen fühlt. In Gegensatz zu Push-Faktoren stehen Pull-Faktoren beziehungsweise Anziehungsgründe. Pull-Faktoren sind wie Push-Faktoren unterschiedlich. Das Versprechen von Wohlstand und Arbeit, bessere Arbeitsmöglichkeiten, ein besseres Bildungs- und Gesundheitswesen und weitere positive Aspekte eines Landes, durch die sich eine Person angesprochen fühlen könnte, sind den Pull-Faktoren zuzuordnen. Push- und Pull-Faktoren sind subjektiver Art und deren Bedeutung und Abstoßungs- und/oder Anziehungskraft hängt von der einzelnen Person ab. Informationen über das Land aus dem geflüchtet oder in das geflüchtet wird sind heutzutage, dank der Globalisierung und dem Internet, leicht auffindbar und können die Entscheidung über den Verbleib oder die Flucht deutlich beschleunigen. Darüber hinaus führte die Vernetzung von Migranten/innen über das Internet zur Gründung von Migrationsnetzwerken, die als Informationsgruppen dienen und zugleich Unterstützung und andere Arten von Hilfe anbieten. Diese Netzwerke haben das Potenzial, Menschen zur Flucht zu bewegen oder sie davon abzuhalten, da sie heutzutage zu mehr Informationen in kürzer Zeit kommen können, als es unzählige Migranten/innen vor ihnen konnten (vgl. Han 2005:14ff.; Lee 1966:49-52). 14
In der Migrationsforschung wird neben dem Push-Pull-Modell auch die neoklassische Wirtschaftstheorie als Erklärungsmodell für Migration herangezogen. Diese Theorie bezieht sich vor allem auf die Arbeitsmigration. Dabei wird zwischen dem Makro- und Mikroansatz unterschieden. Die makroökonomische Theorie besagt, dass inländische und internationale Migration die Folge von unterschiedlichen geografischen Angeboten und Nachfragen an Arbeitskräften ist. Aus Ländern, die niedrige Investitionen in das Humankapital leisten, ungenügend Kapital besitzen, einen Überschuss an Arbeitnehmern/innen und ein niedriges Lohnniveau haben, wird meistens ausgewandert. Im Gegensatz zu ihnen stehen Einwanderungsländer, denen es an Arbeitskräften mangelt, die das nötige Kapital besitzen und hohe Verdienstmöglichkeiten bieten. Der Austausch an Arbeitskräften zwischen Ländern mit wenig und Ländern mit viel Kapital wird auch als Austausch von Investitionskapital bezeichnet. Dazu zählt auch das Humankapital des/der einzelnen Migranten/in, der/die als hoch ausgebildete und qualifizierte Arbeitskraft in ein anderes Land auswandert. Das Humankapital darf mit der puren Wirtschaftsmigration jedoch nicht gleichgestellt werden, da unter Migranten/innen große Unterschiede im Ausbildungsgrad und Wissen bestehen. Der zentrale Punkt des makroökonomischen Ansatzes ist, dass die Situation am Arbeitsmarkt ausschlaggebend für Migration ist. Unterschiedliche Lohnniveaus in Ländern bewegen Menschen zur Migration. Die Beseitigung dieser und/oder die staatliche Kontrolle des Arbeitsmarkts im Aus- und Einwanderungsland würden den Anreiz zur Migration mindern (vgl. Massey et al. 1993:433f.). Im Gegensatz zur makroökonomischen Theorie steht der mikroökonomische Ansatz. Während beim makroökonomischen Ansatz die wirtschaftliche Situation und ihre Auswirkung auf die Gesellschaft eine Rolle spielen, wird der Fokus im Rahmen der mikroökonomischen Theorie auf die einzelne Person beziehungsweise den/die Migranten/in gesetzt. Im Vordergrund stehen die Motive und Gründe, die die Person zur Migration bewegen. Die Entscheidung zu migrieren wird aufgrund einer rationalen Kosten- Nutzen-Analyse gefällt. Hierbei betrachtet die einzelne Person, welche persönlichen und beruflichen Vorteile eine Auswanderung mit sich bringen würde. Neben den Vorteilen und einer möglichen Verbesserung des Lebensstandards werden auch die Probleme, die auf eine Person zukommen, berücksichtigt, wie zum Beispiel das Erlernen einer neuen Sprache, die Kosten des Umzuges und die psychische Belastung, die als Folge der Trennung vom gewohnten Umfeld entsteht. Die zentrale These der mikroökonomischen Theorie ist, dass sich Menschen für Migration entscheiden, weil sie sich eine Verbesserung des Lebensstandards und der -qualität erhoffen und ihre Entscheidungen in den meisten Fällen individuell sind. Dabei werden die Kosten und Nutzen einer Migration berechnet und eine rationale 15
Entscheidung wird getroffen. Wenn der Nutzen der Migration die damit verbundenen Probleme übersteigt, kommt es zur Migration. Wie auch bei der makroökonomischen Theorie, haben Staaten die Möglichkeit den Migrationsprozess zu beeinflussen, indem sie Gesetze und Verordnungen erlassen, die die Auswanderung ins andere Land weniger anziehend machen (vgl. Massey et al. 1993:434ff.). Das Push-Pull-Modell und der makro- und mikroökonomische Ansatz der Migration sind weit anwendbar in der Migrationsforschung, vor allem im Bereich der Arbeitsmigration. Wie auch Arbeitsmigration, ist Flucht eine Sonderform der Migration. Das Bedürfnis, die Begriffe Flucht und Flüchtling zu definieren und erklären, kam erst nach dem zweiten Weltkrieg auf, infolgedessen Millionen von Menschen vor Krieg, Zerstörung, Verfolgung, Hunger und Armut aus ihren Heimatländern geflüchtet sind. Hierbei muss jedoch betont werden, dass es Flucht und Flüchtlinge schon seit den Anfängen der Menschheit gibt und dies kein Phänomen der neuen Zeit ist. Am 28. Juli 1951 wurde das erste universell geltende „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ im Rahmen einer UN-Sonderkonferenz in Genf verabschiedet. Dieses internationale Dokument, das heutzutage unter dem Namen Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bekannt ist, ist das wichtigste Dokument für den Schutz von Flüchtlingen. Das Abkommen war nur der Anwendung auf europäischem Boden und für europäische Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg gedacht, doch im Laufe der Zeit wurde das Bedürfnis nach Schutz von nicht-europäischen Flüchtlingen bemerkt und das Abkommen erweitert. Im Dokument wird definiert, wer das Recht auf einen Flüchtlingsstatus hat, wer ein Flüchtling ist und welche Rechte und Pflichten die Person gegenüber dem Gastland hat. Weiterhin werden auch die Verpflichtungen von Unterzeichnerstaaten genannt und erklärt (UNHCR o.J.a). In Artikel 1, Absatz 2 ist festgelegt, dass als Flüchtling jede Person bezeichnet werden kann, die: […] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will. (UNHCR o.J.b:2) Insgesamt haben 148 Staaten die GFK unterschrieben. In nicht Unterzeichnerstaaten ist der 16
Schutz von Flüchtlingen nicht gewährleistet, da diese Länder eigene Vorschriften und Gesetze in Bezug auf Flüchtlinge haben (vgl. UNHCR o.J.a). Flüchtlinge sind zur Flucht durch die Ereignisse im eigenen Land gezwungen. Laut UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees), dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, befinden sich zurzeit über 25 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Davon befinden sich rund 85 Prozent in Entwicklungsländern (vgl. UNHCR o.J.c). Die Problematik der Flüchtlinge wird erst dann thematisiert, wenn sie in westliche Länder flüchten und diese die Verantwortung für sie übernehmen müssen. Die Fluchtursachen und die Tatsache, dass Flucht „teilweise das Ergebnis einer verfehlten Politik […] der Aufnahmeländer“ (Scheffran 1994:23) gegenüber den Fluchtländern ist, werden dabei außer Acht gelassen. Des Weiteren tragen vor allem westliche Länder, die oft das primäre Ziel der Flüchtlinge sind und einen Einfluss auf globaler Ebene haben, zum Menschenhandel und Menschenschmuggel bei. Ihre verfehlte Politik macht den Verbleib im eigenen Land unmöglich und eine legale Auswanderung in ein anderes Land wird dermaßen erschwert, dass Menschen dazu gezwungen sind Grenzen illegal zu überschreiten. Neben Armut und Hunger sind Kriege und bewaffnete Konflikte weltweit die größten Fluchtursachen, die zur Entstehung von Flüchtlingsströmen führen. Ein Flüchtlingsstrom ist eine Art Migrationsstrom, den Han als „Richtung der Migrationsbewegung von einem bestimmten Ausgangsort (Auswanderungsort) zu einem bestimmten Zielort (Einwanderungsort) hin“ (Han 2005:10) definiert. In der Vergangenheit wurde als Migrationsstrom die Migration von Menschen aus ländlichen Gegenden in Städte bezeichnet. Heutzutage zeichnen sich Migrationsströme durch die Arbeitsmigration aus, das heißt von niedrig qualifizierter Arbeitskraft in wirtschaftlich starke Länder und von hoch qualifizierten Arbeitnehmern/Arbeitnehmerinnen in Entwicklungsländer, wo sie mit ihrem Fachwissen einen großen Beitrag zur Entwicklungshilfe leisten können. Als Flüchtlingsstrom wird daher die Bewegung einer Gruppe von Menschen bezeichnet, die freiwillig oder unfreiwillig ihren Wohnort verlassen und sich auf die Flucht begeben (vgl. ibid.). Ein Beispiel für einen Flüchtlingsstrom ist jener aus Syrien, der auch in dieser Arbeit behandelt wird. Die GFK regelt den Rechtsstatus von Flüchtlingen, ihr Recht auf Aufnahme und Schutz. Im Gegensatz zu Flüchtlingen stehen Asylsuchende. Asylsuchende sind jene Menschen, die sich im Asylverfahren befinden und auf die Anerkennung ihres Flüchtlingsstatus warten. Dieser ermöglicht ihnen den Verbleib im Land und regelt ihre Rechte und Pflichten. Das 17
Asylverfahren unterscheidet sich von Land zu Land und dauert unterschiedlich lang. Im Laufe des Verfahrens muss der/die Asylsuchende beweisen, dass er/sie im eigenen Land nicht sicher ist, Gründe dafür nennen und warum eine Rückkehr nicht infrage kommt (vgl. UNHCR o.J.d). Nicht jede Person wird der Flüchtlingsstatus nach Abschluss des Asylverfahrens auch anerkannt. 1.2 Die Flüchtlingskrise in Kroatien Nachdem im Sommer 2015 die erste große Flüchtlingswelle Deutschland erreichte, kam im September des gleichen Jahres die Flüchtlingskrise auch nach Kroatien. Das Ziel der Flüchtlinge, die sich auf ihren Weg nach Europa aus Syrien und zahlreichen Flüchtlingslagern in Syriens Nachbarländern machten, war Westeuropa, insbesondere Deutschland. Zuerst führte ihre Reise aus Syrien und der Türkei über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Slowenien in die wirtschaftlich starken Länder Westeuropas, wie Österreich, Deutschland und die skandinavischen Länder. Der Weg durch diese Transitländer, später auch durch Kroatien, die als Korridor in den Westen dienten, bekam den Namen „Balkanroute“, weil er über die verschiedenen Länder Osteuropas beziehungsweise des Balkans führte (vgl. Berc 2018:63f.; Mikac/Dragović 2017:132). Tausende von Menschen überquerten täglich die serbisch-ungarische Grenze nach Ungarn, bis die Regierung mit der Errichtung eines Stacheldrahtzauns die Schließung der Grenze ankündigte. Die Anzahl der Flüchtlinge nahm dadurch jedoch nicht ab. Eine neue Balkanroute, die durch Kroatien führte, wurde errichtet. Am 16. September 2015 betraten die ersten Flüchtlinge den kroatischen Boden in der Stadt Tovarnik im Osten des Landes. Daraufhin gründete die Regierung eine Koordinationsstelle für Flüchtlingsfragen, deren Leiter der damalige Innenminister Ranko Ostojić war. Unter seiner Leitung wurde die Verpflegung von Flüchtlingen und deren Transport zur slowenischen Grenze organisiert. Die kroatische Regierung wollte Flüchtlinge so schnell wie möglich zur slowenischen Grenze bringen, um ihren Verbleib auf kroatischem Boden zu verhindern. Eine ähnliche Methode wandte auch Serbien an, das ebenfalls versuchte, Flüchtlinge schnell von der serbisch-mazedonischen zur serbisch-kroatischen Grenze zu befördern. Dies führte zu politischen Auseinandersetzungen zwischen Kroatien und Serbien, weil Kroatien nicht bereit war, weitere Flüchtlinge aus Serbien aufzunehmen. Bis zum Ende des Jahres 2015 zogen 558.724 Flüchtlinge durch Kroatien, ungefähr 10.000 Menschen pro Tag. Davon haben nur 39 einen Asylantrag in Kroatien gestellt (vgl. Berc 2018:66; Koprić/Škarica 2016:918; Zrinjski 2016). 18
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