Solidarität in der Transformation - Fortschrittspotenziale in Zeiten der Krise Richard Detje und Dieter Sauer - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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ONLINE-PUBLIKATION Richard Detje und Dieter Sauer Solidarität in der Transformation Fortschrittspotenziale in Zeiten der Krise
RICHARD DETJE ist Mitarbeiter von WISSENTransfer und Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. DIETER SAUER ist Sozialforscher am Institut für sozialwissenschaftliche Forschung München und Honorarprofessor für Soziologie. RICHARD DETJE und DIETER SAUER arbeiten seit Längerem gemeinsam zu den Themen betriebliche Restrukturierung, Krisenentwicklung und -bewusstsein, Rechtspopulismus, Demokratie und Solidarität in der Arbeitswelt. IMPRESSUM ONLINE-Publikation 7/2021 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Gabriele Nintemann Straße der Pariser Kommune 8A · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2567-1235 · Redaktionsschluss: Juni 2021 Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Layout/Satz: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Diese Publikation ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie wird kostenlos abgegeben und darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden.
INHALT 1 Prolog 4 2 Transformation im Krisenprozess – Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Entwicklungsdynamiken 6 3 Rückkehr des Staates in Zeiten einer «Krise der Demokratie» 7 4 Solidarität in der Arbeitswelt – Versuch einer begrifflichen Klärung 9 4.1 Die Grundlage: die kooperative Struktur des Arbeits- und Verwertungsprozesses 9 4.2 Zwischenschritt: Kollegialität 10 4.3 Gemeinsamer und antagonistischer Interessenbezug: Solidarität 11 5 Gerät Solidarität in der Konkurrenz um Arbeitsplätze unter die Räder? 13 6 Zuspitzungen arbeitsweltlicher Problemlagen – das Leistungsregime als Solidar- und Demokratiehürde 15 7 «Digitaler Kapitalismus» ist weder «digitaler Taylorismus» noch disruptiver Neustart 17 8 Erosion der Kooperationsbeziehungen 19 9 Kollegialität und Solidarität in der Corona-Krise 20 Literatur 22
RICHARD DETJE UND DIETER SAUER SOLIDARITÄT IN DER TRANSFORMATION FORTSCHRITTSPOTENZIALE IN ZEITEN DER KRISE1 1 PROLOG Finanzinstituten die größten Einbrüche, während der Ein Virus hat die gesellschaftliche Reproduk- Dienstleistungssektor ungeschoren davonkam. In der tion 2020/21 ins Stocken, teilweise zum Erliegen Gegenwart ist Letzterer von der Wucht der sektora- gebracht. Damit wurde eine Erschütterung des All- len Einschläge eher noch stärker als die industrielle tagslebens ausgelöst, wie es sie in über sieben Jahr- Produktion betroffen. Die Corona-Krise hat damit zehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht sowohl an Reichweite wie auch an Durchschlagskraft gegeben hat. gewonnen. Nicht nur Produktionsprozesse, sondern In der Covid-19-Pandemie ist ein Krisentypus zum nahezu die gesamte gesellschaftliche Reproduktion Vorschein gekommen, den man in den kapitalisti- wurde infrage gestellt. schen Metropolen glaubte, mit der Pest (Zinn 1989) Dass die Pandemie ein derart weitreichendes Beben oder der «Spanischen Grippe» (Fuest 2020) hinter auslösen konnte, hat neben der ökonomischen Diffu- sich gelassen zu haben. Das hat sich als fataler Irr- sion auch einen politischen Kern. In vier Jahrzehnten tum erwiesen. Die zoonotische, vom Tier auf den Neoliberalismus hat die Gesellschaft an Widerstands- Menschen übertragene Infektion ist kein archaisches kraft eingebüßt. Bereits im Platzen der Dotcom-Blase Ereignis, sondern bringt die Rückwirkungen mensch- im Jahr 2000, in der Finanz- und Wirtschaftskrise lichen Lebens auf die innere und äußere Natur krisen- 2008 ff., in der Eurokrise 2011 ff. und schließlich in haft auf sehr moderne Weise zum Ausdruck. der Pandemie zeigte sich, dass das «Fortschreiben» eines auf Vermarktlichung aller Lebensbereiche ori- «Diese Rückwirkungen bestehen in der Wirkungskette entierten politischen Programms ins 21. Jahrhun- von Waldrodungen und Landverbrauch durch Urbani- dert scheitern muss. Das Auf-die-Spitze-Treiben des sierung, Agrarwirtschaft und industrielle Massentier- Gegensatzes von privatem Reichtum und öffentli- haltung, aus der daraus resultierenden Reduktion der cher Armut, die forcierte soziale Spaltung der Gesell- Artenvielfalt und der Vermehrung von vielfach medika- schaften und das Hintanstellen von sozialer Vorsorge mentenresistenten, aber auch gänzlich neuen Viren und machten das gesellschaftliche Leben verwundbarer. Bakterien auf Lebendtiermärkten.» (Lieber 2020: 47) Über Jahrzehnte war daran gearbeitet worden, «Soli- darität» den staatlichen Institutionen auszutreiben Die Corona-Krise erweist sich – so gesehen – nicht (Mayer-Ahuja/Detje 2020). Die fortschreitende Pri- als äußerer Schock, nicht als «schwarzer Schwan», vatisierung des Krankenhaussystems gehört ebenso sondern als Teil eines komplexen Systemzusammen- dazu wie das Madigmachen des Generationenver- hangs (Detje/Sauer 2021). trags in der Alterssicherung. «Gute Arbeit», «Zeit- Zwei Besonderheiten charakterisieren den neuzeitli- wohlstand», «Sozialstaatlichkeit», demokratische chen Krisenverlauf. Erstens handelt es sich um eine Partizipation, alles das, was individuelle und gesell- Erschütterung, die den gesamten Weltmarkt ohne schaftliche Abwehrkräfte stärkt, galt und gilt vielfach Ausnahme umfasst (Fratzscher 2020). Das war in bis in die Gegenwart als Müßiggang auf Kosten der der großen Finanz- und Wirtschaftskrise vor über Produktivität. Zwei Narrative waren prägend. Erstens einem Jahrzehnt noch anders. Damals waren die der unhinterfragte Vorrang internationaler Wettbe- BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, werbsfähigkeit, für die es – so die Engführung der Südafrika) dynamische Zentren nachholender Indus- Marktdogmatiker*innen – reiche, an zwei Stellschrau- trialisierung, heute sind sie – mit Ausnahme Chinas, ben zu drehen: an den Leistungsvorgaben und an wo die Pandemie ihren Ausgangspunkt nahm – Hot der Kosteneffizienz. Das zweite Narrativ: Öffentliche spots der Infektionsentwicklung. Zweitens sind mit Verschuldung öffne das Tor zur Unterwelt, jedenfalls Industrie und Dienstleistungen die beiden großen aus der Perspektive jener oft zitierten «schwäbischen Wirtschaftssektoren in den Krisenzusammenhang Hausfrau», die jeden Cent hütet, sich jedoch darü- hineingezogen. 2008 verzeichnete das verarbei- ber ausschweigt, ob für ihre Kinder eine Kita, für ihre tende Gewerbe neben den Banken und anderen Eltern ein Platz im Pflegeheim und für sie selbst mehr 1 Der folgende Text hat den Charakter eines Arbeitspapiers und dient der Vorbereitung einer qualitativen empirischen Untersuchung. Es geht um die Klärung von Begriffen und Konzepten und die Zusammenstellung historisch-empirischer Befunde im ausgewählten Themenfeld. 4
als ein Niedriglohnjob drin sind. In der Corona-Krise Mayer-Ahuja/Detje 2020). Welch Renaissance eines haben sich diese Narrative als fatal herausgestellt. Begriffs, der lange Zeit in der linguistischen Asserva- Das Virus fand in einer exponierten Klassengesell- tenkammer weggeschlossen und als «Unwort» aus schaft mit stark angefressenen wohlfahrtsstaatlichen der Zeit der Großkollektive der Arbeiterbewegung Institutionen leichte Beute. Hierin erweist sich: Der gebrandmarkt war. In einer «Gesellschaft der Singu- Kapitalismus basiert auf sozialen Voraussetzungen, laritäten» bestand dafür scheinbar kein Gebrauch die er selbst nicht schafft. Sie müssen ihm – teilweise mehr. Doch nun heißt es: Schalter umlegen! «Erste immer wieder neu – abgerungen werden. Bürgerpflicht in der Weltkrise: der Wechsel aus der In «Notfallsituationen» wie der Corona-Krise erschallt Ich-AG in die Wir-Gesellschaft», mahnte der Mither- sogar in bürgerlichen Kreisen bis hinauf in Konzern- ausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), zentralen der Ruf nach dem Staat. Selbst Kapitalbe- Berthold Kohler, am 20. März 2020, an dem Tag, an teiligungen an von Insolvenz bedrohten Unterneh- dem die Gesamtzahl der Todesopfer der Pandemie in men stehen dann plötzlich auf der Agenda. Als eine Italien erstmals die in China überschritt. Gerade in der der ersten Maßnahmen in der Corona-Krise wurde in FAZ, jenem medialen Flaggschiff, das die Ich-AG und Deutschland ein Fonds von 100 Milliarden Euro für andere Formen prekärer, kaum existenzsichernder staatliche Unternehmensbeteiligungen aufgelegt. Arbeit als sozial- und arbeitsmarktpolitische Innovatio Ob daraus ein neues «Zeitalter […] eines Interventio nen des 21. Jahrhunderts schlechthin gefeiert hatte. nismus» (Tooze 2018: 19) erwächst, gar eine «neue «Solidarität» im gegenwärtigen Sprachgebrauch Wirtschaftsordnung», in der «wichtige Prinzipien des ist vor allem ein Krisenbegriff: Zusammenstehen in Kapitalismus […] außer Kraft gesetzt» sind (Capital Notzeiten. «Wenn wir in den Monaten der Pandemie 2020: 36), kann man mit Skepsis bewerten. Mariana eines gelernt haben, dann das: Niemand bewältigt Mazzucato (2020) sieht in der Anrufung des Staates diese Krise allein. Nur als Wir, nur wenn wir gemein- als «spender of last resort» weiterhin die Logik der sam handeln, finden wir den Weg in eine gute «Sozialisierung von Risiken und Privatisierung der Zukunft», heißt es im Aufruf des Deutschen Gewerk- Gewinne». Und tatsächlich scheint ein intervenie- schaftsbunds (DGB) zum 1. Mai 2021. Doch was kon- render Staat, der Ressourcen struktur- und industrie stituiert dieses WIR? «Individuelle Verwundbarkeit» politisch zukunftsorientiert einsetzt und sich dafür sei das «Grundmodell der Solidarität», erläutert der richtungweisende Kompetenz gegenüber den Kapi- Soziologe Heinz Bude und fügt hinzu: «Man kann taleigentümern verschafft, nur in Einzelfällen auf.2 Der noch so reich, noch so schlau sein: Man kann sich Ruf nach dem Staat als Teil eines Notstandsregimes nicht selbst schützen, wenn andere sich nicht auch erlaubt noch keinen gesicherten Blick in die Zukunft – schützen.» (Zit. n. DGB 2021) Solidarität jenseits von die Konturen eines neuen postneoliberalen Wohl- Stand und Klasse, Reich und Arm, oben und unten? fahrtsstaates mit massiv ausgebauten wirtschaftli- Was bedeutet «Solidarität», wenn in der Krise die chen Interventionsmöglichkeiten sind noch extrem gesellschaftliche und arbeitsweltliche Spaltung ver- unscharf. stärkt wird? Wenn die Bereiche prekären Lebens und Bei aller Unsicherheit über den ersehnten Beginn und Arbeitens weiter anwachsen? Was bleibt von «Soli- die neuen Konturen einer Post-Corona-Zeit scheint ein darität», sobald die Finanzierung der Krisenlasten auf Orientierungspunkt unstrittig zu sein: Nur gemein- der Tagesordnung steht? Wenn das Einfordern von sam sei das Virus nachhaltig zu bekämpfen und zu «Solidarität» in eine Politik garantierten Reichtums verhindern, dass es in immer neuen Wellen das Infek- an der Spitze der Wohlstandspyramide und erneuter tionsgeschehen wieder anheizt. Das große WIR des Abstiegsdynamik am Sockel übergeht? Was bleibt «gesellschaftlichen Zusammenhalts»3 wird beschwo- von einem widerständigen, eigensinnigen Solidari- ren – über soziale Gräben und Klassenschranken hin- tätsbegriff? weg. Mehr noch: Von höchster politischer Stelle wird Wir zielen mit unseren nachfolgenden Ausführun- «Solidarität» eingefordert. «Solidarität» der Generatio gen auf Engführung. Nicht auf menschenrechtliche, nen untereinander, «Solidarität» mit den «Held*in- zivilgesellschaftliche «Solidarität». Uns interessieren nen der Arbeit», die «das Land am Laufen halten», arbeitsgesellschaftliche Grundlagen des neuzeitli- «Solidarität» der Starken mit den Schwachen (vgl. chen Solidaritätsverständnisses (vgl. auch Brinkmann 2 Statt programmierter Wirtschafts- und Strukturpolitik scheint der Staat auch im Hinblick auf die Bewältigung der Pandemiefolgen den Bedarfen einflussreicher Lobbys zu folgen. «Was dabei herauskommt, hat der Ökonom Jan Schnellenbach süffisant aufgespießt: Bis zu neun Milliarden Euro für den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft; fünf Milliarden Euro für das löchrige Mobilfunknetz; fünf Milliarden Euro für künstliche Intelligenz, 2,5 Milliarden Euro für den Ausbau der Elektromobilität; weitere zwei Milliarden Euro für die Autoindustrie; 1,2 Milliarden Euro für neue Busse und Lkw; eine Milliarde Euro für Airlines, die neue Flugzeuge kaufen (Lufthansa); zwei Milliarden Euro für Bauunternehmen und so weiter. Nur ‹wer keine Interessenvertretung am Tische hatte›, sagt Schnellenbach, ‹ging leer aus›» (ebd.: 39). 3 Ein neuer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierter Forschungsverbund zahlreicher Universitäten und Institute hat sich dem angenommen, siehe Deitelhoff u. a. (2020). 5
u. a. 2020).4 Dabei verlassen wir das Wohlfühlklima Dekarbonisierung der gesellschaftlichen Produktion der Appelle an das große WIR. Unternehmen sind sowie des Konsums eine umkämpfte, aber nicht mehr Orte des sozialen Antagonismus, der interessenpo- länger zu ignorierende Notwendigkeit. Das musste litischen Antagonismen – trotz Beschwörung von schließlich auch die Automobilindustrie zur Kenntnis «Betriebsfamilie», «Sozialpartnerschaft» und kor- nehmen.5 Das betrifft hochkompetitive, auf globale poratistischer Kooperation. Mit der Frage nach den Märkte ausgerichtete Original Equipment Manufac- arbeitsgesellschaftlichen Ressourcen erweitern wir turer (OEMs) mit einem feinteilig austarierten Netz- im zeitgenössischen Kontext aber auch die Analyse, werk von Zulieferindustrien mit zusammen über indem wir frühere Konzepte von «Arbeitersolidarität» 1,4 Millionen Beschäftigten. Deren Transformation maßgeblich in industriellen Produktionsprozessen erschöpft sich nicht im E-Antrieb und dem Aufbau der hinter uns lassen und den Industrie und Dienstleis- dafür erforderlichen (Lade-)Infrastruktur, gespeist aus tungen übergreifenden Entwicklungsprozessen fol- erneuerbaren Energien, zumal der ökologische Fuß- gen, die – wie eingangs betont – in der Corona-Krise abdruck beispielsweise der Batterieproduktion kriti- wiederum eine besondere Prägung erhalten haben. sche Fragen hinsichtlich der Nachhaltigkeit aufwirft. Doch bevor wir uns genauer damit beschäftigen, was Soll Mobilität tatsächlich Nachhaltigkeitserfordernis- «Solidarität» ist und wie sie unter welchen sozialen sen entsprechen, bedarf es neuer Verkehrskonzepte, Voraussetzungen entsteht, müssen wir noch eine die den Umstieg vom individuell genutzten Pkw zu zeitdiagnostische Schleife fahren und das Blickfeld kollektiven Verkehrsträgern begünstigen. Es geht von Krise auf Transformation erweitern. Die Prämisse, also nicht um einzelne Produkte, auch nicht nur um die dem zugrunde liegt, lautet: In Post-Corona-Zeiten wenige Branchen, sondern um den Übergang in eine werden die Transformationsprozesse der Arbeits- neue Art von Produktion, Dienstleistungen und Kon- welt die prägenden Entwicklungsdimensionen sein. sumtion. Schauen wir also näher hin: Transformation, was ist Geradezu als «revolutionär» wurde die neue Stufe der damit gemeint? Digitalisierung angekündigt: Industrie 4.0.6 Bezeich- nung und Einordnung sind allerdings irreführend. Es sind nicht technologische Basisinnovationen und 2 TRANSFORMATION IM KRISEN technische Systeme allein, die den Entwicklungs- PROZESS – GLEICHZEITIGKEIT UNTER gang vorgeben. Maßgeblich sind vielmehr die Kon- SCHIEDLICHER ENTWICKLUNGS figurationen des renditegesteuerten Unternehmens, DYNAMIKEN die Produktions- und Arbeitsorganisation, die Macht- ressourcen der Beschäftigten und ihrer Interessenver- «Transformation» ist in kurzer Zeit zu einem Aller- tretungen und nicht zuletzt Regulierungsvorgaben. weltswort für tiefgreifende globale Umbrüche gewor- Kurzum: Wo meist mit technischen Sachzwängen den. Eine Bezeichnung, die zugleich sperrig und argumentiert wird, ist in erheblichem Umfang (Indus- unbestimmt ist. Doch liegt wohl gerade darin der trie-, Unternehmens- und Arbeits-)Politik im Spiel. Vorteil, gilt es doch, die Gleichzeitigkeit höchst unter- Rationalisierungs- und Automatisierungsfortschritte schiedlicher Entwicklungsdynamiken einzufangen. verändern Produktionsabläufe, Arbeitsorganisation In Zeiten eines die Reproduktion von Natur und und Qualifikationsanforderungen. Es ist vor allem Gesellschaft bedrohenden Klimawandels ist die die Verschränkung von marktorientierter Reorga- 4 Die Bedeutung von Arbeitswelt und Betrieb unterliegt historischen Wandlungsprozessen und Branchendifferenzierungen, die aber bis in die Gegenwart ganz im Gegenteil zur These der Abwertung, teilweise eher noch zu einer modifizierten Aufwertung geführt haben. Lutz Raphael bezieht explizit auch die hier unterlegte Entwicklung der Vermarktlichung und indirekten Steuerung der Unternehmensabläufe ein (Raphael 2018: 355 f.). «Ob Management-Ideologie oder enttäuschte Belegschaftserwartungen: In beiden Fällen stoßen wir auf den Betrieb oder das Unternehmen als Bezugspunkt von Zugehörigkeiten und Identifikationen, dessen Bedeutung im Untersuchungszeitraum offenbar deutlich zugenommen hat. […] Hierin liegt die genuin politische Dimension der betrieblichen Sozialverhältnisse.» (Ebd.: 362) Hinsichtlich der Unternehmen als «Kreuzungspunkt von Solidaritäten» unterscheidet Raphael vier Typen oder (Untersuchungs-)Felder: erstens die «berufsbezogenen Verbindungen und Vergemeinschaftungen» von Facharbeiter*innen, Techniker*innen, Ingenieur*innen; zweitens die Reorganisationsprozesse der Arbeitszusammenhänge im shop floor – wir werden das weiter unten als Prägungen von Kollegialität diskutieren; drittens die Zunahme von kleineren und mittleren Betrieben mit überschaubaren Sozialräumen gegenüber der «Großfabrik», verbunden «mit einer weitergehenden Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen und Teilverantwortungen an einzelne Produktionsstätten oder Abteilungen in den Unternehmen» (ebd.: 373); und viertens der «Beziehung zwischen Belegschaft und Konzern oder Unternehmensgruppe, welche analytisch von der zum einzelnen Werk zu trennen ist – die These lautet hier, dass infolge der späten 1970er und der 1990er Jahre a) im Zuge der Europäisierung und Internationalisierung der Unternehmen und b) der Zunahme von Übernahmen und Fusionen nicht der konzernweite Bezug, sondern die lokale Solidarität an Bedeutung gewonnen hat.» (Ebd.) Dörre folgend kommt Raphael zu dem Ergebnis: «Der Industriebetrieb als Stabilitätsanker und als Gegenwelt zu den Distanz- und Ohnmachtserfahrungen in Gesellschaft und Politik gehört jedenfalls zu den vielleicht überraschendsten Befunden dieser Untersuchung.» (Ebd.: 418) Wir haben uns in «Krise ohne Konflikt?» (Detje u. a. 2011) kritisch mit der These des Betriebs als Stabilitätsressource auseinandergesetzt. 5 Nachdem mit China der expansivste Absatzmarkt und mit Volkswagen neben Toyota der weltweit größte Automobilkonzern der Elektromobilität den Vorzug gegeben haben, sind auch andere Produzenten dieser Pfadvorgabe gefolgt. Anders scheinen gegenwärtig die Zielsetzungen für einen sinkenden CO2 -Ausstoß nicht einzuhalten zu sein. Das heißt aber nicht, dass nicht weiter an alternativen Antrieben wie zum Beispiel dem Wasserstoffantrieb geforscht und gearbeitet wird. Daimler und BMW haben sich eine Zwei-Wege-Strategie offengehalten. 6 Die Chiffre steht nach (1) Mechanisierung und Dampfantrieb, (2) Fließband und Massenproduktion, (3) Automatisierung, Elektronik und Computern nun (4) für die digitale Vernetzung von Mensch und Maschine (cyber-physikalische Systeme) mit digitalen Assistenzsystemen (Datenbrille usw.) und die Vernetzung der Maschinen untereinander («Internet der Dinge»). 6
nisation und digitaler Vernetzung, die Rationalisie- Diese Entwicklungsprozesse finden nicht isoliert von- rung verspricht. Durch zunehmende Datentranspa- einander statt, sondern durchdringen sich. Zudem renz können Erfolgsgrößen und Marktkennziffern verlaufen sie über Wirtschaftszweige und Branchen, in die laufenden Arbeitsprozesse integriert und über erfassen die Industrie und die heterogene Landschaft Echtzeitdaten dezentrale Einheiten gesteuert wer- des Dienstleistungssektors. Transformation bezeich- den. Damit gehen enorm erweiterte Möglichkeiten net die Gleichzeitigkeit und Parallelität von Dekarbo- der Kontrolle der Arbeit und davon ausgehend auch nisierung, Digitalisierung und Dekomposition des ihrer Verdichtung und Intensivierung einher.7 Sabine Weltmarkts, die den gesamtwirtschaftlichen Produk- Pfeiffer (2015) spricht in diesem Zusammenhang von tions- und Reproduktionsprozess erschüttern, Pfad- einem «digitalen Despotismus». Dabei finden die und Richtungswechsel erzwingen. größten Veränderungsdynamiken möglicherweise gar nicht auf dem shop floor der industriellen Produk- tion, sondern in zwei andere Richtungen statt: zum 3 RÜCKKEHR DES STAATES IN ZEITEN einen durch Auflösung des unmittelbar kollektiven EINER «KRISE DER DEMOKRATIE» Charakters der Arbeit im Rahmen von digital vernetz- ten Plattformen mit teilweiser «Entbetrieblichung» Annähernd vier Jahrzehnte lang galt Marktsteue- und «Entkollektivierung» als Folgen, zum anderen rung unter den ökonomischen und politischen Eli- durch Automatisierung und Rationalisierung indirek- ten als Garant für wirtschaftliche Effektivität, rigides ter Bereiche wie des Rechnungswesens, der Admi- Kostenmanagement, Flexibilität und Renditesteige- nistration sowie der Neueinbettung von Forschung rung. «Starving the beast» hatte US-Präsident Ronald und Entwicklung. Reagan dem (Wohlfahrts-)Staat zu Beginn der neoli- Klaus Abel, zuständig für das Projekt «IG Metall vom beralen Epoche entgegengerufen. An deren Ende fin- Betrieb aus denken», prognostiziert: «Wir haben lange det nun eine Neukonfiguration des Verhältnisses von die Verwaltungsebenen nicht in den Blick genom- Ökonomie und Politik statt.8 men. Aber der Einsatz künstlicher Intelligenz wird die In der Corona-Krise wurde der starke Sozial- und Arbeitswelt in den Büros massiv verändern. Routine- Steuerstaat, nicht der «schlanke Staat» der neolibe- arbeiten werden wegfallen, weil sie der Kollege Com- ralen Ära zum game changer. Mit öffentlichen Ausga- puter besser kann.» (Zit. n. Höhn 2025: 5) Nadine Mül- benprogrammen, die sich auf Billionen summieren, ler vom ver.di-Arbeitsbereich Innovation und Gute wird seit der Ausbreitung der Pandemie versucht, die Arbeit ergänzt: «Auch in der öffentlichen Verwaltung Weltmärkte wieder flottzumachen, Arbeitsmärkte wird es in den kommenden Jahren wohl zu einem und soziale Reproduktionskreisläufe zu stabilisie- erheblichen Rationalisierungsschub kommen. Vieles, ren. Nicht ohne Erfolg: Berechnungen der Interna- was heute noch persönlich im Amt erledigt werden tional Labour Organization (ILO) zufolge wären die muss, wird digital zu machen sein.» (Ebd.) wöchentlichen Arbeitsstunden ohne staatliche Stüt- Der Strukturwandel in den Unternehmen und im wirt- zungsprogramme um bis zu 28 heruntergefahren schaftlichen Gesamtprozess – die «Teilung der Arbeit worden. Massenarbeitslosigkeit hätte eine soziale im Atelier» und die Teilung der Arbeit innerhalb der Katastrophe nicht nur in den verwundbarsten Staaten Gesellschaft – verändern sich gleichermaßen. Man Lateinamerikas, Asiens und Afrikas, sondern auch könnte meinen: eine gleich doppelte Transformation. unter der arbeitenden Bevölkerung in den kapitalis- Dekarbonisierung und Digitalisierung vollziehen tischen Metropolen zur Folge gehabt. Eindringlich sich im Kontext einer Neuausrichtung transnationa- warnt die ILO davor, frühzeitig wieder in die Austeri- ler Wertschöpfungsketten. Über vier Jahrzehnte lang tätspolitik zurückzufallen. galt Globalisierung als Nonplusultra marktgesteuer- Der Kriseneinbruch 2020 hat gezeigt, dass seit der ter Liberalisierung. Das Ergebnis ist jedoch nicht die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 politische Lern- Zementierung eines Weltmarkts, in dem die USA als prozesse stattgefunden haben. Der Staat hat in einer ökonomisches Führungszentrum ihre Position noch gleichsam als Notfall wahrgenommenen Ausnahme- ausbauen können. Vielmehr entwickelte sich China zu situation reagiert und durch die umgehende Freigabe einer konkurrierenden Macht, die Einfluss- und Kräf- öffentlicher Stützungsprogramme dramatischere teverhältnisse verändert. Damit ist eine neue «Spiel- Einbrüche verhindert. Die «schwarze Null» als Symbol ordnung» entstanden. vermeintlich alternativloser Austeritätspolitik wurde kassiert. Darüber hinausgehende Lernprozesse – 7 «Den Ergebnissen des DGB-Index Gute Arbeit von 2016 zufolge nimmt fast die Hälfte der befragten Erwerbstätigen (46 %) eine Zunahme von Überwachung bei der Arbeit aufgrund der Digitalisierung wahr» (Schwemmle 2018: 56). 8 Wer dabei auch an den dynamischen Aufstieg der AfD, den davon nicht verursachten, aber beschleunigten Zerfall des traditionellen Parteiensystems und die sukzessive Verschiebung der politischen Agenda nach rechts(-außen) denkt, liegt nicht falsch. Wir haben in unserer Untersuchung über «Gewerkschaften und Rechtspopulismus» begründet, dass arbeitsweltliche Transformation ein weiterer «Nährboden des Rechtspopulismus» ist. Vgl. Sauer u. a. 2018 sowie das Schwerpunktheft 3/2019 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI). 7
gerade im Hinblick auf die Verknüpfung von Stabi- ausgeweitet werden; ferner sollen Algorithmen auf lisierungs- und zukunftsorientierter Industrie- und Verlangen der zuständigen Behörden offengelegt Strukturpolitik – sind bislang jedoch nicht zu erken- werden müssen. Politics matters auch in der digitalen nen. Transformation. Die neue Rolle des Staates wird bei den politischen Eingefleischte Vertreter*innen der Marktorthodoxie Interventionen, mit denen versucht wird, dem dro- mag all das erschüttern. Dabei war bereits die Durch- henden Klimawandel zu begegnen, zu überprüfen setzung der «Herrschaft des Marktes» nicht zuletzt sein. Im Pariser Klimaprotokoll haben sich die unter- auch politischer Herrschaftswille – von (in der Ter- zeichneten Staaten verpflichtet, die maximal zuläs- minologie Bourdieus) der linken, wohlfahrtsstaatli- sige Erderwärmung gegenüber vorindustrieller Zeit chen Hand des Staates zur rechten, deregulierenden, auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Das Ende des sicherheitspolitischen Hand. Zeitalters fossilen Wirtschaftens ist eingeleitet. In Eine «Rückkehr der Politik» sagt aber noch wenig Deutschland sollen bis spätestens 2038 die letzten bis nichts darüber aus, wohin das politische Pendel Kohlekraftwerke vom Netz gehen, bis 2050 soll die schwingt. In der historischen Perspektive schwankte Wirtschaftsbilanz CO2 -neutral sein. Das ist spät ter- es zum einen in das «Zeitalter der Katastrophen» miniert. Damit wird das 1,5-Grad-Ziel voraussichtlich (Hobsbawm 1995): Nur sieben Jahre nach den Turi- verfehlt, was heißt, dass irreversible Zerstörungen ner Fabrikräten vollendeten die italienischen Faschis- von natürlichen und sozialen Lebensprozessen dro- ten 1925 ihre Diktatur; in Deutschland waren die hen. Jetzt werden Unternehmen mit weitreichenden Nationalsozialisten acht Jahre später in der Lage, politischen Zielsetzungen und Normen konfrontiert, mit der demokratischen zugleich eine auf Zivilisation die einen Umbau ihrer Produkt- und Marktstrategien basierende gesellschaftliche und politische Ordnung erzwingen sollen. Und das auch in jenen Branchen – gänzlich außer Kraft zu setzen. Transformation kann wie zum Beispiel der Automobilindustrie –, die bislang aber auch in eine andere Richtung ausschlagen. In ihre Unternehmenspolitik fast ausschließlich an den den USA setzte sich in der Great Depression die Poli- Nachfrage- und Konkurrenzbedingungen der Märkte tik eines New Deal durch, die Wirtschaftssteuerung, ausgerichtet haben. Damit sind heftige Ressourcen-, sozialen und politischen Progress sowie arbeits- Verteilungs- und Machtkonflikte in den kommenden und arbeitsmarktpolitische Reformen brachte (vgl. Jahrzehnten absehbar. Das heißt: Nicht Markt allein, Lehndorff 2020); auch der skandinavische Wohl- sondern Politik steht auf der Tagesordnung. fahrtsstaat gehört in diese historische Fortschritts Für die Umwälzungen auf den Weltmärkten gilt das linie. Neben Demokratiezertrümmerung war Demo- nicht minder. Nationalismus und Protektionismus kratieerweiterung die historische Antwort. Der sind keine gewinnbringenden Strategievarianten glo- Korporatismus der Nachkriegszeit wird jedoch nicht bal ausgerichteter Unternehmen. Ihre eng aufeinan- einfach wiederzubeleben sein. Daraus erwachsen der abgestimmten Wertschöpfungsketten werden heute keine neuen Solidaritätsressourcen mehr. Für erheblich gestört und müssen neu justiert werden. Solidarität im 21. Jahrhundert bedarf es neuer Rah- Nach vier Jahrzehnten marktgetriebener Globalisie- mensetzungen. rung ist die Welt aus den Fugen geraten. Um die Vor- Wohin schlägt das Pendel in den 20er Jahren des herrschaft auf den Weltmärkten finden Kämpfe statt, 21. Jahrhunderts aus? auch um hegemoniale Herrschaft zweiter Ordnung in «Krise der Demokratie» lautet die vielleicht dominante den USA, Europa, Südostasien und Afrika. Auch hier: Zeitdiagnose (vgl. Decker u. a. 2019). Die stärkere politics are back. Rolle der Transformation findet in einem «postdemo- Den Markt der Digitalisierung beherrschen die kratischen» Raum statt (Crouch). Wahlen, Parlament «Frightful Five» (Amazon, Apple, Facebook, Google/ und Gewaltenteilung entsprechen weiterhin formel- Alphabet und Microsoft). Vonseiten der USA ist das len demokratischen Regularien, doch die Institutio politisch gewollt. Auch wenn die politischen Versu- nen sind entkernt. Eine auf Druck von Teilen der che in der Europäischen Union (EU), zumindest eine Zivilgesellschaft in Stellung gebrachte politische Mindeststeuer zu erheben, den ökonomischen Ver- Interventionsmacht mag punktuelle Erfolge erzielen, wertungsinteressen der Digital- und KI-Konzerne droht letztlich jedoch immer wieder ins Leere zu lau- weit hinterherhinken, scheint man in der EU-Kom- fen und an einem nicht mehr steuerungsfähigen poli- mission doch zumindest darauf hinzuarbeiten, die tischen System zu stranden. Es gelingt, gesellschaft- überwältigende Marktmacht von Google, Facebook liche Machtressourcen zu mobilisieren, aber ein Mehr und Amazon zu begrenzen. Mit ihrem Digitalpaket – an Demokratie im institutionellen Feld der Politik ist dem Digital Market Act (DMA) und dem Digital Ser- damit nicht verbunden. Zivilgesellschaft und politi- vice Act (DAS) – sollen zumindest die Transparenz bei sches System befinden sich in einem labilen Macht- kleineren Unternehmensübernahmen und bei der system: «Von unten» erfolgt kein Durchbruch, wäh- Datennutzung (DMA) sowie der Verbraucherschutz rend Politik «von oben» seit Längerem Gefahr läuft, beispielsweise bei Hass- und Falschnachrichten entlegitimiert zu sein. Ein Circulus vitiosus? 8
Eine zweite Krisendiagnose lautet: Die basalen Res- 4 SOLIDARITÄT IN DER ARBEITSWELT – sourcen von Demokratie sind stark angefressen. Zu VERSUCH EINER BEGRIFFLICHEN KLÄRUNG diesen gehört der kollektive, gemeinschaftliche Ein- satz für Fortschritt im Interesse der vielen. Demo- Doch was ist gemeint, wenn von «Solidarität» die kratie, soziale Demokratie allemal, zerfällt, wenn das Rede ist? Was ist der soziale Gehalt dieses Begriffs, entsprechende Kollektivsubjekt nicht mehr auf die der meist als wertorientierter Bezugsrahmen daher- Bühne tritt. Exakt das hat pointiert Heribert Prantl kommt? Es geht uns um Engführung, darum, ob (2019) ausgesprochen: «Solidarität ist Geschichte.» damit (Handlungs-)Ressourcen bezeichnet werden, Die (alte) Arbeiterbewegung, die Ende des Ersten mit denen Einfluss auf Richtung und Gehalt der ein- Weltkriegs Demokratie erkämpft und nach dem Zwei- gangs benannten Transformationsprozesse genom- ten Weltkrieg für «Neuordnung» gestritten hatte, men werden kann, oder ob diese Ressourcen im 21. gebe es nicht mehr. Letztlich entscheidend dafür sei, Jahrhundert nicht mehr mobilisierbar sind, (a) nach dass die Machtressource «Solidarität» kaum noch zur einer 40-jährigen Geschichte entfesselter, markt- und Verfügung stehe – als Folge von sozialer Spaltung, politikgesteuerter Konkurrenz, (b) nach einer ebenso Fragmentierung der Belegschaften, Deregulierung langen Geschichte «nach dem Boom» (Raphael), das und Prekarisierung der Arbeitswelten. Und dort, wo heißt der Erosion des fordistischen, von tayloristi- soziale Kollektive noch in Erscheinung treten, drohe – scher Arbeitsteilung und Massenproduktion gepräg- so Prantl –, die einst rote Farbe AfD-blau überstrichen ten Kapitalismus, und (c) angesichts der neuen Her- zu werden. ausforderungen einer die soziale Fragmentierung Beide Einwände benennen reale Problemdimensio möglicherweise auf die Spitze treibenden digitalen nen, doch die Realität ist widersprüchlicher. In der Wirtschaft. Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 ff. konnte politi- Was sind Hauptelemente einer begrifflichen Klärung? sche Handlungsfähigkeit – wie nicht wenige meinen: kurz vor der Systemschmelze – in kurzer Zeit mobi- 4.1 Die Grundlage: die kooperative Struktur lisiert werden. Und es gibt Befunde revitalisierter des Arbeits- und Verwertungsprozesses Solidarität. Dazu zählen Streiks im Dienstleistungs- Die materiell-soziale Basis für Solidarität liegt in der sektor zur Aufwertung erzieherischer oder pflege- kooperativen Struktur des Arbeitsprozesses, die die rischer Arbeit ebenso wie die Wiederaufnahme der einzelnen Arbeiter*innen aufeinander bezieht und Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung und – grenzüber- miteinander verbindet. schreitend – gemeinsame Aktionen von Belegschaf- ten transnationaler Unternehmen (Amazon, Ryanair «Die Form der Arbeit vieler, die in demselben Produk etc.). Solidarität scheint nicht einfach zu versiegen, tionsprozess oder in verschieden zusammenhängenden sondern auch in neuen Akteursgruppen neu zu ent- Produktionsprozessen planmäßig neben- und miteinan- stehen. Auch in der Corona-Krise haben Beschäftigte der arbeiten, heißt Kooperation.» (MEW 23: 344) nicht nur Erfahrungen mit einem krisengeprägten Kommandosystem gemacht, sondern auch eine neue Der historische Ort für diese Aufhebung der Verein- Wertschätzung der Kooperation der Beschäftigten zelung und ihre Zusammenführung ist der Betrieb. Es untereinander und über Hierarchien hinweg erfah- ist also zunächst eine funktionelle Gemeinsamkeit, ren. In einer Ausnahmesituation werden kollegialer die unter der Regie des Einzelkapitals hergestellt wird, Zusammenhalt und gemeinsame Sinnstiftung erlebt, eine eigene Quelle der Wertschöpfung («Schöpfung Arbeit wird als solidarischer Zusammenhang erfah- einer Produktivkraft») darstellt und dessen Profitabili- ren. tät erhöht. In der Entwicklung des Kapitalismus stellt Wenn Solidarität eine grundlegende Voraussetzung die Kooperation der vielen einen dreifachen Qualitäts- von (sozialer) Demokratie ist, fällt noch etwas anderes sprung dar: auf: dass den Entstehungsbedingungen von Demo- Erstens geht die kollektive Nutzung der Produktions- kratie nahezu durchweg keine Beachtung geschenkt und Arbeitsmittel mit einer Verwohlfeilerung dersel- wird. Demokratiediskurse bewegen sich überwie- ben und der mit ihnen produzierten Waren einher: gend in den institutionellen Grenzen des politischen Feldes und in der Zivilgesellschaft. Die Arbeitswelt «Diese Ökonomie in der Anwendung der Produktionsmit- hingegen scheint demokratischen Überlegungen tel entspringt nur aus ihrem gemeinsamen Konsum im weitgehend entrückt zu sein. Aber ohne Arbeitswelt Arbeitsprozess vieler. Und sie erhalten diesen Charakter und daraus erwachsende Solidarität ist Demokra- als Bedingungen gesellschaftlicher Arbeit oder gesell- tie letztlich eine Luftnummer. Das gilt in Zeiten einer schaftlicher Bedingungen der Arbeit im Unterschied von Transformation der ökonomischen, ökologischen und den zersplitterten und relativ kostspieligen Produktions- sozialen Verhältnisse umso mehr. mitteln vereinzelter selbstständiger Arbeit oder Klein- meister, selbst wenn die vielen nur räumlich, nicht mitein- ander arbeiten.» (Ebd.) 9
Es stellt sich die Frage, ob durch die durch Digitali- stützung in der Arbeit nicht funktionieren. Kollegialität sierung weiter voranschreitende Trennung gemein- in diesem Sinn ist eine unsichtbare Ressource, die ein samer Raum- (Betrieb) und Zeiterfahrung eine neue gemeinsames Interesse an Kooperation konstituiert. Realität geschaffen wird. Gegenseitige Unterstützung ist eine Verpflichtung, Zweitens verändert Kooperation die Arbeitsveraus- die aus der kooperativen Struktur des Arbeitspro- gabung selbst, hebt sie auf eine neue Stufenleiter, zesses resultiert – auch jenseits jeder ethischen oder indem moralischen Orientierung –, und sie ist zugleich Aus- druck des sozialen Miteinanders unter den Kolleg*in- «bei den meisten produktiven Arbeiten der bloße gesell- nen. Kollegialität hat also sowohl eine instrumentelle, schaftliche Kontakt einen Wetteifer und eine eigne Erre- auf den Arbeitsprozess bezogene Basis als auch eine gung der Lebensgeister (animal spirits) [erzeugt], welche auf wechselseitige Unterstützung und Anerkennung die individuelle Leistungsfähigkeit der Einzelnen erhöht» ausgerichtete soziale Orientierung. Nach Kock und (ebd: 345). Kutzner ist Hier haben wir in nuce das, was als arbeitsinhaltliches «die Grundlage kollegialer Beziehungen das Bemü- Interesse beschrieben werden kann, ein subjektiver hen, die Arbeitsaufgaben als gemeinsame zu definieren Antrieb, «gut» und «effizient/effektiv» zu arbeiten, und Einvernehmen darüber zu erzielen, was als Ziel der Arbeit und Leistung als Einheit zu betrachten. Zusammenarbeit gelten soll. Zusammenarbeit als soziale Drittens: Kooperation realisiert sich in einem System Beziehung erfordert ein gewisses Verständnis der Per- der Direktion und Teilung der Arbeit. Durch beides sonen füreinander, das spontan entstehen kann, aber in wird sie zugleich «aufgehoben». Der Produktions- der Regel bewusst von den Beteiligten hergestellt und prozess ist kooperativ, aber im Sinn der Kooperation geformt wird. Eine dritte Praktik zur Herstellung kollegi- diverser, separierter, teilweise isolierter Teilarbeiten. aler Beziehungen besteht darin, dass die Arbeitenden an Kooperation ist also nicht das gleichartige Nebenei- den Schnittstellen ihrer jeweiligen Tätigkeiten einander nanderarbeiten, nicht Arbeit der gleichen, sondern entgegenkommen. Schließlich entwickeln die Beschäf- Kooperation verschiedener Teilarbeiten. Und: Koope- tigten Praktiken gegenseitiger Hilfe und Unterstützung.» ration schließt Herrschaft ein – wobei funktionale (Kock/Kutzner 2018: 464; Herv. im Original) Herrschaft von der Optimierung des Verwertungspro- zesses nicht zu trennen ist. Kollegialität ist folglich nicht allein die subjektive Wenn wir weiter unten agile Arbeit als weiterentwi- Übersetzung der Anforderungen arbeitsprozesslicher ckelte, «radikalisierte» Form indirekter Steuerung Kooperation – sie ist voraussetzungsvoller. Sie erfor- bestimmen (siehe Kapitel 7), bleibt dieser Herr- dert einen gewissen Grad an Transparenz, Zeitres- schaftsbezug erhalten. Die These an dieser Stelle sourcen, die Akzeptanz von Unterschieden und die lautet: Kooperation ist die materiell-soziale Basis von Bereitschaft gegenseitiger Unterstützung (ebd.: 465). Solidarität. Die Gültigkeit dieses Bezugsrahmens Entsprechend bestimmt Hürtgen (2013) «verant- in einer digitalen Arbeitswelt, die von dezentralen wortungsvolle Zusammenarbeit» und Anerkennung Arbeitsformen und individualisierten Crowd-Arbeiten des «Mensch-Seins» unter Kolleg*innen als die zwei gekennzeichnet ist, ist zu prüfen. Dimensionen von Kollegialität. Was «verantwortungs- Damit sind wir aber noch nicht bei «Solidarität» ange- volle Zusammenarbeit» ist, wird mit vom betriebli- kommen. Es gibt einen Zwischenschritt. chen Leistungsregime definiert. 4.2 Zwischenschritt: Kollegialität «Anerkennungstheoretisch formuliert geht es um die Solidarität kann nicht einfach mit Kooperation kurz- doppelte Anerkennung im Kolleg/innenkreis: als Leis- geschlossen werden. Was mit den «Lebensgeistern» tungskraft und als Person. Arbeitsbegrifflich betrachtet bereits angesprochen wurde: Der bzw. die Lohnarbei- insistieren die Gesprächspartner/innen damit auf den ter*in tritt nicht nur als funktionaler Teil des Kapitals, Zusammenhang zwischen dem subjektiv-menschlichen sondern als (Kollektiv-)Subjekt in den kapitalistischen Charakter der Arbeit und ihrer sozial-konkreten Form als Arbeitsprozess. Die sozialen Beziehungen auf der Erfüllung von Norm und Leistung. Kollegialität bedeutet, Basis objektiver Kooperationsstrukturen kann man diesen Zusammenhang gut auszubalancieren und zu als Kollegialität bezeichnen. Kollegialität bezieht sich gestalten.» (Ebd.: 259) zunächst auf den funktionalen Zusammenhang des Arbeitsprozesses. Nicht jede Zusammenarbeit hat Kollegialität ist also nicht nur die subjektive Überset- kollegialen Charakter, insofern stellt Kollegialität eine zung von Kooperation, die jenseits der Verschieden- eigene, über den funktionalen Bezug hinausgehende heit der Arbeitsvorgänge ein gemeinsames Verständ- Qualität dar. nis der Arbeitenden untereinander zum Ausdruck Betriebe würden ohne Kollegialität, ohne die Bereit- bringt, sondern sie ist zugleich zielgerichtet, indem schaft zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Unter- Kooperation und Arbeitsteilung an Rationalitäts- und 10
Effizienzkriterien gemessen werden. Kollegialität ist ganisationsprozesse auf Kosten von Kommunika eingebettet in eine Arbeitswelt, die als ein leistungs tionszeiten gehen («‹Natürlich arbeiten wir in Teams›, orientiertes, meritokratisches System verstanden bemerkte ein Computertechniker prägnant, ‹aber die wird. Das macht Ausbalancierungsprozesse zu Dinge verändern sich ständig und wir verlieren immer einem sehr komplexen und auch widersprüchlichen wieder den Fokus›», ebd.: 225) und die Arbeitsver- Vorgang. Komplex, weil «Leistungserfüllung» nicht hältnisse diskontinuierlicher, befristet und kurzzeiti- einem einfachen Input-Output-Modell folgt, son- ger werden. Das Dreieck droht zu zerfallen. dern selbst ein sozialer Vorgang ist, der vonseiten der Arbeitenden durch Gerechtigkeitsansprüche, vor 4.3 Gemeinsamer und antagonistischer allem «Fürsorge» und «Würde», gebrochen wird. Man Interessenbezug: Solidarität unterstützt Kolleg*innen auch dann, wenn sie auf- Aus Sennetts Sicht ist es zentral, Kooperation und grund besonderer Belastungen nicht zu den Normal- darauf aufbauende soziale Beziehungen auszubauen. performer*innen zählen, sofern sie sich entsprechend Kooperation hält er zur Überbrückung von sozialer anstrengen und nicht auf Kosten anderer «eine ruhige Isolation für die zentrale inklusive, Zusammenhalt und Kugel schieben». Im Folgenden ein Auszug aus einem Gemeinschaft stiftende Ressource. Die Arbeiterbe- Interview: wegung des vergangenen Jahrhunderts sei hingegen einem fatalen Irrtum aufgesessen: «Ich finde es halt viel schlimmer, wenn ich weiß, ich habe einen Kollegen, der kann, aber er will nicht. Setzt sich hin: «Das 20. Jahrhundert pervertierte die Kooperation im ‹Ach nee, das interessiert mich jetzt gerade nicht, was Namen der Solidarität. Und nicht nur tyrannische Regime die anderen tun›, verlangt aber dann von uns, wenn er drängten auf Einheit. Schon der Wunsch nach Solidari- krank ist, dass wir seine Arbeit mit übernehmen. Also das tät lädt dazu ein, die Menschen zu beherrschen und von sind dann so Sachen, nein, das geht nicht. Aber bei einem oben zu manipulieren.» (Ebd.: 372) Kollegen, der jetzt schon älter ist und zum Beispiel auch vielleicht nicht so […], dem greift man halt unter die Arme Solidarität als autoritäres und doktrinäres Einheits- und versucht, das ihm so gut wie möglich zu zeigen.» (Zit. postulat, als Formel für das Zwängen der vielen unter n. Kratzer 2015: 67 f.) einen konformistischen Pensée unique? In der Arbei- terbewegung hat es an Interessenvertretungs- und Was «Leistung» letztlich heißt, ist – selbstverständlich Politikmodellen nicht gefehlt, die «Aktionseinheit» neben den prioritären Vorgaben des Unternehmens – von oben nach unten gedacht und durchdekliniert nicht zuletzt auch Ausdruck des Verständnisses und haben und damit gescheitert sind. Doch Sennetts Verhaltens der abhängig Beschäftigten untereinan- Solidaritätsvorbehalt ist nicht nur Rückschau, son- der. Kollegialität ist insofern ein durchaus eigensinni- dern mehr noch auf die Gegenwarts- und Zukunfts- ges, eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen folgendes entwicklung gerichtet: soziales Verhältnis – nicht nur untereinander, sondern auch gegenüber den im Unternehmen gesetzten «Die Sehnsucht nach einer Solidarität, die inmitten öko- Leistungs- und Normanforderungen. Was davon als nomischer Unsicherheit ein Gefühl der Sicherheit vermit- «gerecht» und «legitim» anerkannt wird, fließt in das teln könnte, führt heute zu einer radikalen Simplifizierung Verständnis darüber ein, wer zu dem Kreis der Kol- des sozialen Lebens: Abgrenzung gegen andere Grup- leg*innen gehört. «Ausbalancierung» beinhaltet bei- pen, verbunden mit dem Gefühl, allein zu stehen und des: Inklusion und Exklusion. ganz auf sich selbst angewiesen zu sein.» (Ebd.: 374) Für Richard Sennett (2019: 202 ff.) ist Kooperation als «soziales Dreieck» von vornherein in diesem erwei- Solidarität mutiere damit zu einem Exklusionskon- terten Kollegialität einschließenden Verständnis zept: solidarisch gegen «die anderen». In dem Maße, gemeint. Dessen Seiten bestehen aus «verdienter wie der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts durch die Autorität» gegenüber von den Beschäftigten aner- Zersetzung des «sozialen Dreiecks» soziale Bezie- kannten Vorgesetzten, «wechselseitigem Respekt» hungen zerstöre, Kooperation auflöse und kollegialer und «Vertrauen» der Kolleg*innen untereinander Unterstützung den Boden entziehe, werde Solidarität sowie aus verstärkter «Kooperation während einer zu einer abgrenzenden, destruktiven Realität. Solida- Krise», wenn sich die Kolleg*innen wechselseitig rität und Ausgrenzung bilden in dieser Konstruktion im Krisenüberwindungsprozess unterstützend bei- ein Paar, scheinen nicht zu trennen zu sein. Damit zer- stehen. Doch dieses Dreieck erodiert durch zuneh- setze sich Solidarität letztlich selbst als eine kollektive, mende Isolation in der Arbeitswelt des 21. Jahrhun- von vielen unterstützte Machtressource. Solidarität, derts, indem E-Mail-Kommunikation an die Stelle der die in diesem Sinne als exkludierende Gruppenbil- Face-to-Face-Kooperation tritt, wachsende Arbeits- dung verstanden wird, hebt sich selbst auf. belastungen (wenn jede*r darauf fokussiert ist, sein Doch Sennett macht einen doppelten Fehler: Jene bzw. ihr Pensum zu schaffen) und permanente Reor- «Kooperation», die nicht an den Spaltungsprozessen 11
der Arbeitswelt zerbricht, idealisiert er: als «Werkstatt Kapitalverhältnis charakterisierenden Verkehrungs- erfahrung», als «Alltagsdiplomatie» und als «Nach- zusammenhang zu sprechen, wonach die Einkom- barschaftsgemeinschaft». Der heutigen Arbeitswelt men, auf die der produzierte Reichtum verteilt wird, (und einer sozial wie kulturell differenzierten Zivilge- zugleich als dessen Quellen erscheinen (MEW 25: sellschaft) wird das nicht ansatzweise gerecht. «Soli- 822 ff.). Die Verteilungsverhältnisse werden auf Pro- darität» hingegen ist bei Sennett entleert von inter- duktionsverhältnisse zurückbezogen. Profit, Grund- essengeleitetem Handeln in einer antagonistischen rente und Arbeitslohn scheinen jeweils dem Einsatz Gesellschaft. Es ist jedoch der Interessenbezug, der von Kapital, Boden/Immobilien und der Verausga- den Kern arbeitsweltlicher Solidarität in einer kapita- bung von Arbeitskraft geschuldet zu sein. Marx nennt listischen Gesellschaft ausmacht. das die «trinitarische Formel». In der bundesdeut- Die basalen Interessen an lohnabhängiger Arbeit schen Nachkriegsordnung bildete dies die Grundlage ergeben sich aus dem Verkauf und den Nutzungs- eines Verständnisses von Kapitalismus als «soziale bedingungen der Ware Arbeitskraft: Kontinuität des Marktwirtschaft» (vgl. Zinn 1992) und der darin agie- Beschäftigungsverhältnisses auf Reproduktionsni- renden Interessenvertretungsorganisationen als veaus, die der Qualifikation und den Arbeitsanfor- «Sozialpartner». derungen sowie den Niveaus der Entwicklung des Diese «Verkehrung» ist charakteristisch im Prospe- gesellschaftlichen Reichtums entsprechen; humane ritätszyklus, das heißt ohne krisenhafte Störung bei Arbeitsbedingungen, Sicherung der Gesundheit, des expandierender Kapitalakkumulation und einem nicht Wissens und Könnens im Arbeitsprozess, der Mög- von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Arbeitsmarkt. lichkeiten beruflichen Aufstiegs. Darin zeigt sich, dass Sie kann aber auch unter Krisenbedingungen in einer basale Interessen nicht starr, sondern dynamisch modifizierten Variante wirksam sein, wenn es darum sind, indem sie (der Wert der Ware Arbeitskraft) zivili- geht, die Wettbewerbsposition des Nationalkapitals satorische Entwicklung transportieren: das Interesse gegenüber der Konkurrenz anderer Nationalkapi- an der Höherentwicklung des Arbeitsvermögens, an tale – oder den «eigenen» Produktionsstandort gegen stofflich gelingender guter Arbeit, auch das intrinsi- andere – zu verteidigen. Ein «internationalistisches» sche Interesse an Kooperation, das Interesse, nicht Solidaritätsverständnis gerät dabei unter die Räder. nur Objekt, sondern auch Subjekt der Entwicklung Solidarität als systemisch antagonistisches Verhält- der Arbeitsgesellschaft zu sein, also Arbeit als partizi- nis kann somit nicht als eine Konstante des Alltags- pativ, mitbestimmt und veränderbar zu verstehen. bewusstseins angesehen (und von Aktivist*innen Was Solidarität von Kollegialität unterscheidet, ist der gleichsam abgerufen) werden, sondern unterliegt übergreifende, Lohnabhängigkeit über den unmit- der Praxisrelevanz. Solidarität entsteht aus realen telbaren Arbeitsbereich hinaus in Augenschein neh- Gegensatzerfahrungen. Solidarität als Gegenmacht- mende Interessenbezug.9 Solidarität, so könnte mit ressource ist ein Praxisfeld. Lessenich gesagt werden, ist nicht «eine Praxis der Doch auch ein Praxisfeld unter Krisenbedingungen Verbindung unter Gleichen, sondern die Überbrü- hat nicht zwangsläufig einen explizit öffentlich zum ckung von Differenzen» (Lessenich 2019: 100). Hinzu Tragen kommenden antagonistischen Charakter. Dies kommt: Die Interessen der Verkäufer und der Käufer war einer der Befunde unserer Befragungsstudie, der Ware Arbeitskraft sind nicht identisch, sondern die wir in der Zeit der Finanz- und Wirtschaftskrise in ihrer Grundbestimmung gegensätzlich. Solidarität 2008 ff. durchgeführt haben (vgl. Detje u. a. 2011). bedeutet die Identifizierung gemeinsamer Interessen Die Erkenntnis besteht aus zwei Teilen: (a) Krise wird und ist zugleich Solidarität gegen zuwiderlaufende neben der unmittelbaren ökonomischen Erschütte- Interessen. Insofern steckt in Solidarität ein Inklusi- rung vor allem als arbeitsweltlicher Normalfall wahr- ons- und Exklusionsverständnis. Doch die Exklusion genommen: Krise ist immer. «Sozialpartnerschaft» ist ist eine andere als jene, die Sennett abstrakt in Grup- insofern eine gebrochene, fragile Konstruktion, weil penbildungsprozessen und politischen oder auch kul- «Krise» hier bedeutet: Vermeintliche Sicherheit ist turellen Herrschaftsformen verortet; im arbeitsweltli- permanent infrage gestellt, sei es durch Leistungs- chen Kontext ist Lohnabhängigensolidarität exklusiv druck, schlechte, prekäre Arbeitsbedingungen, Flexi- gegenüber dem Kapital. bilisierung der Arbeits- und Arbeitszeitanforderungen Doch diese Grundbestimmung funktioniert nicht wie etc. Hinzu kommt (b): Krise ist schwer adressierbar. ein elektronisches Navigationsgerät. Marx kommt am In der gut ein Jahrzehnt zurückliegenden Krisenkon- Ende des «Kapital» zusammenfassend auf den das stellation waren es die Finanzmärkte, die schwer als 9 Als Besitzer*in der Ware Arbeitskraft hat der bzw. die abhängig Beschäftigte ein Interesse an deren Reproduktion. Das ist zunächst ein individuelles Interesse, dem jedoch Kräfte einer Verallgemeinerung unterliegen: Zum einen sind dies die konkreten Beziehungen im Arbeitsprozess durch dessen kooperativen Charakter und zum anderen die Gefährdungen ihrer Ware, ihres Arbeitsvermögens durch gemeinsam erfahrene Vernutzung im Arbeitsprozess (z. B. der Gesundheit). Hintergrund ist die strukturelle Machtasymmetrie, die den individuellen Verkauf und die Erhaltung der Arbeitskraft systematisch gefährdet. 12
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