Solidarität in der Transformation - Fortschrittspotenziale in Zeiten der Krise Richard Detje und Dieter Sauer - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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ONLINE-PUBLIKATION

  Richard Detje und Dieter Sauer

Solidarität in der
 Transformation
 Fortschrittspotenziale
  in Zeiten der Krise
RICHARD DETJE ist Mitarbeiter von WISSENTransfer und Mitglied im Vorstand
der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

DIETER SAUER ist Sozialforscher am Institut für sozialwissenschaftliche Forschung München
und Honorarprofessor für Soziologie.

RICHARD DETJE und DIETER SAUER arbeiten seit Längerem gemeinsam zu den Themen
betriebliche Restrukturierung, Krisenentwicklung und -bewusstsein, Rechtspopulismus,
Demokratie und Solidarität in der Arbeitswelt.

IMPRESSUM
ONLINE-Publikation 7/2021
wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung
V. i. S. d. P.: Gabriele Nintemann
Straße der Pariser Kommune 8A · 10243 Berlin · www.rosalux.de
ISSN 2567-1235 · Redaktionsschluss: Juni 2021
Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin
Layout/Satz: MediaService GmbH Druck und Kommunikation

Diese Publikation ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Sie wird kostenlos abgegeben und darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden.
INHALT

1 Prolog                                                                                         4

2 Transformation im Krisenprozess – Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Entwicklungs­dynamiken    6

3 Rückkehr des Staates in Zeiten einer «Krise der Demokratie»                                    7

4 Solidarität in der Arbeitswelt – Versuch einer begrifflichen Klärung                            9
4.1 Die Grundlage: die kooperative Struktur des Arbeits- und Verwertungsprozesses                 9
4.2 Zwischenschritt: Kollegialität                                                               10
4.3 Gemeinsamer und antagonistischer Interessenbezug: Solidarität                                11

5 Gerät Solidarität in der Konkurrenz um Arbeitsplätze unter die Räder?                          13

6 Zuspitzungen arbeitsweltlicher Problemlagen –
das Leistungsregime als Solidar- und Demo­­kratiehürde                                           15

7 «Digitaler Kapitalismus» ist weder «digitaler Taylorismus» noch disruptiver Neustart           17

8 Erosion der Kooperationsbeziehungen                                                            19

9 Kollegialität und Solidarität in der Corona-Krise                                              20

Literatur                                                                                        22
RICHARD DETJE UND DIETER SAUER

SOLIDARITÄT IN
DER TRANSFORMATION
FORTSCHRITTSPOTENZIALE IN ZEITEN DER KRISE1

1 PROLOG                                                                      Finanz­instituten die größten Einbrüche, während der
Ein Virus hat die gesellschaftliche Reproduk-                                 Dienstleistungssektor ungeschoren davonkam. In der
tion 2020/21 ins Stocken, teilweise zum Erliegen                              Gegenwart ist Letzterer von der Wucht der sektora-
gebracht. Damit wurde eine Erschütterung des All-                             len Einschläge eher noch stärker als die industrielle
tagslebens ausgelöst, wie es sie in über sieben Jahr-                         Produktion betroffen. Die Corona-Krise hat damit
zehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht                            sowohl an Reichweite wie auch an Durchschlagskraft
gegeben hat.                                                                  gewonnen. Nicht nur Produktionsprozesse, sondern
In der Covid-19-Pandemie ist ein Krisentypus zum                              nahezu die gesamte gesellschaftliche Reproduktion
Vorschein gekommen, den man in den kapitalisti-                               wurde infrage gestellt.
schen Metropolen glaubte, mit der Pest (Zinn 1989)                            Dass die Pandemie ein derart weitreichendes Beben
oder der «Spanischen Grippe» (Fuest 2020) hinter                              auslösen konnte, hat neben der ökonomischen Diffu-
sich gelassen zu haben. Das hat sich als fataler Irr-                         sion auch einen politischen Kern. In vier Jahrzehnten
tum erwiesen. Die zoonotische, vom Tier auf den                               Neoliberalismus hat die Gesellschaft an Widerstands-
Menschen übertragene Infektion ist kein archaisches                           kraft eingebüßt. Bereits im Platzen der Dotcom-Blase
Ereignis, sondern bringt die Rückwirkungen mensch-                            im Jahr 2000, in der Finanz- und Wirtschaftskrise
lichen Lebens auf die innere und äußere Natur krisen-                         2008 ff., in der Eurokrise 2011 ff. und schließlich in
haft auf sehr moderne Weise zum Ausdruck.                                     der Pandemie zeigte sich, dass das «Fortschreiben»
                                                                              eines auf Vermarktlichung aller Lebensbereiche ori-
    «Diese Rückwirkungen bestehen in der Wirkungskette                        entierten politischen Programms ins 21. Jahrhun-
    von Waldrodungen und Landverbrauch durch Urbani-                          dert scheitern muss. Das Auf-die-Spitze-Treiben des
    sierung, Agrarwirtschaft und industrielle Massentier-                     Gegensatzes von privatem Reichtum und öffentli-
    haltung, aus der daraus resultierenden Reduktion der                      cher Armut, die forcierte soziale Spaltung der Gesell-
    Artenvielfalt und der Vermehrung von vielfach medika-                     schaften und das Hintanstellen von sozialer Vorsorge
    mentenresistenten, aber auch gänzlich neuen Viren und                     machten das gesellschaftliche Leben verwundbarer.
    Bakterien auf Lebendtiermärkten.» (Lieber 2020: 47)                       Über Jahrzehnte war daran gearbeitet worden, «Soli-
                                                                              darität» den staatlichen Institutionen auszutreiben
Die Corona-Krise erweist sich – so gesehen – nicht                            (Mayer-Ahuja/Detje 2020). Die fortschreitende Pri-
als äußerer Schock, nicht als «schwarzer Schwan»,                             vatisierung des Krankenhaussystems gehört ebenso
sondern als Teil eines komplexen Systemzusammen-                              dazu wie das Madigmachen des Generationenver-
hangs (Detje/Sauer 2021).                                                     trags in der Alterssicherung. «Gute Arbeit», «Zeit-
Zwei Besonderheiten charakterisieren den neuzeitli-                           wohlstand», «Sozialstaatlichkeit», demokratische
chen Krisenverlauf. Erstens handelt es sich um eine                           Partizipation, alles das, was individuelle und gesell-
Erschütterung, die den gesamten Weltmarkt ohne                                schaftliche Abwehrkräfte stärkt, galt und gilt vielfach
Ausnahme umfasst (Fratzscher 2020). Das war in                                bis in die Gegenwart als Müßiggang auf Kosten der
der großen Finanz- und Wirtschaftskrise vor über                              Produktivität. Zwei Narrative waren prägend. Erstens
einem Jahrzehnt noch anders. Damals waren die                                 der unhinterfragte Vorrang internationaler Wettbe-
BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China,                            werbsfähigkeit, für die es – so die Engführung der
Südafrika) dynamische Zentren nachholender Indus-                             Marktdogmatiker*innen – reiche, an zwei Stellschrau-
trialisierung, heute sind sie – mit Ausnahme Chinas,                          ben zu drehen: an den Leistungsvorgaben und an
wo die Pandemie ihren Ausgangspunkt nahm – Hot­                               der Kosten­effizienz. Das zweite Narrativ: Öffentliche
spots der Infektionsentwicklung. Zweitens sind mit                            Verschuldung öffne das Tor zur Unterwelt, jedenfalls
Industrie und Dienstleistungen die beiden großen                              aus der Perspektive jener oft zitierten «schwäbischen
Wirtschaftssektoren in den Krisenzusammenhang                                 Hausfrau», die jeden Cent hütet, sich jedoch darü-
hineingezogen. 2008 verzeichnete das verarbei-                                ber ausschweigt, ob für ihre Kinder eine Kita, für ihre
tende Gewerbe neben den Banken und anderen                                    Eltern ein Platz im Pflegeheim und für sie selbst mehr

1    Der folgende Text hat den Charakter eines Arbeitspapiers und dient der Vorbereitung einer qualitativen empirischen Untersuchung. Es geht um die
     Klärung von Begriffen und Konzepten und die Zusammenstellung historisch-empirischer Befunde im ausgewählten Themenfeld.

4
als ein Niedriglohnjob drin sind. In der Corona-Krise                         Mayer-Ahuja/Detje 2020). Welch Renaissance eines
haben sich diese Narrative als fatal herausgestellt.                          Begriffs, der lange Zeit in der linguistischen Asserva-
Das Virus fand in einer exponierten Klassengesell-                            tenkammer weggeschlossen und als «Unwort» aus
schaft mit stark angefressenen wohlfahrtsstaatlichen                          der Zeit der Großkollektive der Arbeiterbewegung
Institutionen leichte Beute. Hierin erweist sich: Der                         gebrandmarkt war. In einer «Gesellschaft der Singu-
Kapitalismus basiert auf sozialen Voraussetzungen,                            laritäten» bestand dafür scheinbar kein Gebrauch
die er selbst nicht schafft. Sie müssen ihm – teilweise                       mehr. Doch nun heißt es: Schalter umlegen! «Erste
immer wieder neu – abgerungen werden.                                         Bürgerpflicht in der Weltkrise: der Wechsel aus der
In «Notfallsituationen» wie der Corona-Krise erschallt                        Ich-AG in die Wir-Gesellschaft», mahnte der Mither-
sogar in bürgerlichen Kreisen bis hinauf in Konzern-                          ausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ),
zentralen der Ruf nach dem Staat. Selbst Kapitalbe-                           Berthold Kohler, am 20. März 2020, an dem Tag, an
teiligungen an von Insolvenz bedrohten Unterneh-                              dem die Gesamtzahl der Todesopfer der Pandemie in
men stehen dann plötzlich auf der Agenda. Als eine                            Italien erstmals die in China überschritt. Gerade in der
der ersten Maßnahmen in der Corona-Krise wurde in                             FAZ, jenem medialen Flaggschiff, das die Ich-AG und
Deutschland ein Fonds von 100 Milliarden Euro für                             andere Formen prekärer, kaum existenzsichernder
staatliche Unternehmensbeteiligungen aufgelegt.                               Arbeit als sozial- und arbeitsmarktpolitische Innova­tio­
Ob daraus ein neues «Zeitalter […] eines Interven­tio­                        nen des 21. Jahrhunderts schlechthin gefeiert hatte.
nismus» (Tooze 2018: 19) erwächst, gar eine «neue                             «Solidarität» im gegenwärtigen Sprachgebrauch
Wirtschaftsordnung», in der «wichtige Prinzipien des                          ist vor allem ein Krisenbegriff: Zusammenstehen in
Kapitalismus […] außer Kraft gesetzt» sind (Capital                           Notzeiten. «Wenn wir in den Monaten der Pandemie
2020: 36), kann man mit Skepsis bewerten. Mariana                             eines gelernt haben, dann das: Niemand bewältigt
Mazzucato (2020) sieht in der Anrufung des Staates                            diese Krise allein. Nur als Wir, nur wenn wir gemein-
als «spender of last resort» weiterhin die Logik der                          sam handeln, finden wir den Weg in eine gute
«Sozialisierung von Risiken und Privatisierung der                            Zukunft», heißt es im Aufruf des Deutschen Gewerk-
Gewinne». Und tatsächlich scheint ein intervenie-                             schaftsbunds (DGB) zum 1. Mai 2021. Doch was kon-
render Staat, der Ressourcen struktur- und industrie­                         stituiert dieses WIR? «Individuelle Verwundbarkeit»
politisch zukunftsorientiert einsetzt und sich dafür                          sei das «Grundmodell der Solidarität», erläutert der
richtungweisende Kompetenz gegenüber den Kapi-                                Soziologe Heinz Bude und fügt hinzu: «Man kann
taleigentümern verschafft, nur in Einzelfällen auf.2 Der                      noch so reich, noch so schlau sein: Man kann sich
Ruf nach dem Staat als Teil eines Notstandsregimes                            nicht selbst schützen, wenn andere sich nicht auch
erlaubt noch keinen gesicherten Blick in die Zukunft –                        schützen.» (Zit. n. DGB 2021) Solidarität jenseits von
die Konturen eines neuen postneoliberalen Wohl-                               Stand und Klasse, Reich und Arm, oben und unten?
fahrtsstaates mit massiv ausgebauten wirtschaftli-                            Was bedeutet «Solidarität», wenn in der Krise die
chen Interventionsmöglichkeiten sind noch extrem                              gesellschaftliche und arbeitsweltliche Spaltung ver-
unscharf.                                                                     stärkt wird? Wenn die Bereiche prekären Lebens und
Bei aller Unsicherheit über den ersehnten Beginn und                          Arbeitens weiter anwachsen? Was bleibt von «Soli-
die neuen Konturen einer Post-Corona-Zeit scheint ein                         darität», sobald die Finanzierung der Krisenlasten auf
Orientierungspunkt unstrittig zu sein: Nur gemein-                            der Tagesordnung steht? Wenn das Einfordern von
sam sei das Virus nachhaltig zu bekämpfen und zu                              «Solidarität» in eine Politik garantierten Reichtums
verhindern, dass es in immer neuen Wellen das Infek-                          an der Spitze der Wohlstandspyramide und erneuter
tionsgeschehen wieder anheizt. Das große WIR des                              Abstiegsdynamik am Sockel übergeht? Was bleibt
«gesellschaftlichen Zusammenhalts»3 wird beschwo-                             von einem widerständigen, eigensinnigen Solidari-
ren – über soziale Gräben und Klassenschranken hin-                           tätsbegriff?
weg. Mehr noch: Von höchster politischer Stelle wird                          Wir zielen mit unseren nachfolgenden Ausführun-
«Solidarität» eingefordert. «Solidarität» der Generatio­                      gen auf Engführung. Nicht auf menschenrechtliche,
nen untereinander, «Solidarität» mit den «Held*in-                            zivilgesellschaftliche «Solidarität». Uns interessieren
nen der Arbeit», die «das Land am Laufen halten»,                             arbeitsgesellschaftliche Grundlagen des neuzeitli-
«Solidarität» der Starken mit den Schwachen (vgl.                             chen Solidaritätsverständnisses (vgl. auch Brinkmann

2   Statt programmierter Wirtschafts- und Strukturpolitik scheint der Staat auch im Hinblick auf die Bewältigung der Pandemiefolgen den Bedarfen
    einflussreicher Lobbys zu folgen. «Was dabei herauskommt, hat der Ökonom Jan Schnellenbach süffisant aufgespießt: Bis zu neun Milliarden Euro
    für den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft; fünf Milliarden Euro für das löchrige Mobilfunknetz; fünf Milliarden Euro für künstliche Intelligenz,
    2,5 Milliarden Euro für den Ausbau der Elektromobilität; weitere zwei Milliarden Euro für die Autoindustrie; 1,2 Milliarden Euro für neue Busse und
    Lkw; eine Milliarde Euro für Airlines, die neue Flugzeuge kaufen (Lufthansa); zwei Milliarden Euro für Bauunternehmen und so weiter. Nur ‹wer keine
    Interessenvertretung am Tische hatte›, sagt Schnellenbach, ‹ging leer aus›» (ebd.: 39).
3   Ein neuer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierter Forschungsverbund zahlreicher Universitäten und Institute hat sich
    dem angenommen, siehe Deitelhoff u. a. (2020).

                                                                                                                                                      5
u. a. 2020).4 Dabei verlassen wir das Wohlfühlklima                          Dekarbonisierung der gesellschaftlichen Produktion
der Appelle an das große WIR. Unternehmen sind                               sowie des Konsums eine umkämpfte, aber nicht mehr
Orte des sozialen Antagonismus, der interessenpo-                            länger zu ignorierende Notwendigkeit. Das musste
litischen Antagonismen – trotz Beschwörung von                               schließlich auch die Automobilindustrie zur Kenntnis
«Betriebsfamilie», «Sozialpartnerschaft» und kor-                            nehmen.5 Das betrifft hochkompetitive, auf globale
poratistischer Kooperation. Mit der Frage nach den                           Märkte ausgerichtete Original Equipment Manufac-
arbeitsgesellschaftlichen Ressourcen erweitern wir                           turer (OEMs) mit einem feinteilig austarierten Netz-
im zeitgenössischen Kontext aber auch die Analyse,                           werk von Zulieferindustrien mit zusammen über
indem wir frühere Konzepte von «Arbeitersolidarität»                         1,4 Millionen Beschäftigten. Deren Transformation
maßgeblich in industriellen Produktionsprozessen                             erschöpft sich nicht im E-Antrieb und dem Aufbau der
hinter uns lassen und den Industrie und Dienstleis-                          dafür erforderlichen (Lade-)Infrastruktur, gespeist aus
tungen übergreifenden Entwicklungsprozessen fol-                             erneuerbaren Energien, zumal der ökologische Fuß-
gen, die – wie eingangs betont – in der Corona-Krise                         abdruck beispielsweise der Batterieproduktion kriti-
wiederum eine besondere Prägung erhalten haben.                              sche Fragen hinsichtlich der Nachhaltigkeit aufwirft.
Doch bevor wir uns genauer damit beschäftigen, was                           Soll Mobilität tatsächlich Nachhaltigkeitserfordernis-
«Solidarität» ist und wie sie unter welchen sozialen                         sen entsprechen, bedarf es neuer Verkehrskonzepte,
Voraussetzungen entsteht, müssen wir noch eine                               die den Umstieg vom individuell genutzten Pkw zu
zeitdiagnostische Schleife fahren und das Blickfeld                          kollektiven Verkehrsträgern begünstigen. Es geht
von Krise auf Transformation erweitern. Die Prämisse,                        also nicht um einzelne Produkte, auch nicht nur um
die dem zugrunde liegt, lautet: In Post-Corona-Zeiten                        wenige Branchen, sondern um den Übergang in eine
werden die Transformationsprozesse der Arbeits-                              neue Art von Produktion, Dienstleistungen und Kon-
welt die prägenden Entwicklungsdimensionen sein.                             sumtion.
Schauen wir also näher hin: Transformation, was ist                          Geradezu als «revolutionär» wurde die neue Stufe der
damit gemeint?                                                               Digitalisierung angekündigt: Industrie 4.0.6 Bezeich-
                                                                             nung und Einordnung sind allerdings irreführend.
                                                                             Es sind nicht technologische Basisinnovationen und
2 TRANSFORMATION IM KRISEN­                                                  technische Systeme allein, die den Entwicklungs-
PROZESS – GLEICHZEITIGKEIT UNTER­                                            gang vorgeben. Maßgeblich sind vielmehr die Kon-
SCHIEDLICHER ENTWICKLUNGS­                                                   figurationen des renditegesteuerten Unternehmens,
DYNAMIKEN                                                                    die Produktions- und Arbeitsorganisation, die Macht-
                                                                             ressourcen der Beschäftigten und ihrer Interessenver-
«Transformation» ist in kurzer Zeit zu einem Aller-                          tretungen und nicht zuletzt Regulierungsvorgaben.
weltswort für tiefgreifende globale Umbrüche gewor-                          Kurzum: Wo meist mit technischen Sachzwängen
den. Eine Bezeichnung, die zugleich sperrig und                              argumentiert wird, ist in erheblichem Umfang (Indus-
unbestimmt ist. Doch liegt wohl gerade darin der                             trie-, Unternehmens- und Arbeits-)Politik im Spiel.
Vorteil, gilt es doch, die Gleichzeitigkeit höchst unter-                    Rationalisierungs- und Automatisierungsfortschritte
schiedlicher Entwicklungsdynamiken einzufangen.                              verändern Produktionsabläufe, Arbeitsorganisation
In Zeiten eines die Reproduktion von Natur und                               und Qualifikationsanforderungen. Es ist vor allem
Gesellschaft bedrohenden Klimawandels ist die                                die Verschränkung von marktorientierter Reorga-

4   Die Bedeutung von Arbeitswelt und Betrieb unterliegt historischen Wandlungsprozessen und Branchendifferenzierungen, die aber bis in die
    Gegenwart ganz im Gegenteil zur These der Abwertung, teilweise eher noch zu einer modifizierten Aufwertung geführt haben. Lutz Raphael
    bezieht explizit auch die hier unterlegte Entwicklung der Vermarktlichung und indirekten Steuerung der Unternehmensabläufe ein (Raphael
    2018: 355 f.). «Ob Management-Ideologie oder enttäuschte Belegschaftserwartungen: In beiden Fällen stoßen wir auf den Betrieb oder das
    Unternehmen als Bezugspunkt von Zugehörigkeiten und Identifikationen, dessen Bedeutung im Untersuchungszeitraum offenbar deutlich
    zugenommen hat. […] Hierin liegt die genuin politische Dimension der betrieblichen Sozialverhältnisse.» (Ebd.: 362) Hinsichtlich der Unternehmen
    als «Kreuzungspunkt von Solidaritäten» unterscheidet Raphael vier Typen oder (Untersuchungs-)Felder: erstens die «berufsbezogenen
    Verbindungen und Vergemeinschaftungen» von Facharbeiter*innen, Techniker*innen, Ingenieur*innen; zweitens die Reorganisationsprozesse der
    Arbeitszusammenhänge im shop floor – wir werden das weiter unten als Prägungen von Kollegialität diskutieren; drittens die Zunahme von kleineren
    und mittleren Betrieben mit überschaubaren Sozialräumen gegenüber der «Großfabrik», verbunden «mit einer weitergehenden Dezentralisierung
    von Entscheidungskompetenzen und Teilverantwortungen an einzelne Produktionsstätten oder Abteilungen in den Unternehmen» (ebd.: 373);
    und viertens der «Beziehung zwischen Belegschaft und Konzern oder Unternehmensgruppe, welche analytisch von der zum einzelnen Werk zu
    trennen ist – die These lautet hier, dass infolge der späten 1970er und der 1990er Jahre a) im Zuge der Europäisierung und Internationalisierung
    der Unternehmen und b) der Zunahme von Übernahmen und Fusionen nicht der konzernweite Bezug, sondern die lokale Solidarität an Bedeutung
    gewonnen hat.» (Ebd.) Dörre folgend kommt Raphael zu dem Ergebnis: «Der Industriebetrieb als Stabilitätsanker und als Gegenwelt zu den Distanz-
    und Ohnmachtserfahrungen in Gesellschaft und Politik gehört jedenfalls zu den vielleicht überraschendsten Befunden dieser Untersuchung.» (Ebd.:
    418) Wir haben uns in «Krise ohne Konflikt?» (Detje u. a. 2011) kritisch mit der These des Betriebs als Stabilitätsressource auseinandergesetzt.
5   Nachdem mit China der expansivste Absatzmarkt und mit Volkswagen neben Toyota der weltweit größte Automobilkonzern der Elektromobilität
    den Vorzug gegeben haben, sind auch andere Produzenten dieser Pfadvorgabe gefolgt. Anders scheinen gegenwärtig die Zielsetzungen für
    einen sinkenden CO2 -Ausstoß nicht einzuhalten zu sein. Das heißt aber nicht, dass nicht weiter an alternativen Antrieben wie zum Beispiel dem
    Wasserstoffantrieb geforscht und gearbeitet wird. Daimler und BMW haben sich eine Zwei-Wege-Strategie offengehalten.
6   Die Chiffre steht nach (1) Mechanisierung und Dampfantrieb, (2) Fließband und Massenproduktion, (3) Automatisierung, Elektronik und Computern
    nun (4) für die digitale Vernetzung von Mensch und Maschine (cyber-physikalische Systeme) mit digitalen Assistenzsystemen (Datenbrille usw.) und
    die Vernetzung der Maschinen untereinander («Internet der Dinge»).

6
nisation und digitaler Vernetzung, die Rationalisie-                        Diese Entwicklungsprozesse finden nicht isoliert von-
rung verspricht. Durch zunehmende Datentranspa-                             einander statt, sondern durchdringen sich. Zudem
renz können Erfolgsgrößen und Marktkennziffern                              verlaufen sie über Wirtschaftszweige und Branchen,
in die laufenden Arbeitsprozesse integriert und über                        erfassen die Industrie und die heterogene Landschaft
Echtzeitdaten dezentrale Einheiten gesteuert wer-                           des Dienstleistungssektors. Transformation bezeich-
den. Damit gehen enorm erweiterte Möglichkeiten                             net die Gleichzeitigkeit und Parallelität von Dekarbo-
der Kontrolle der Arbeit und davon ausgehend auch                           nisierung, Digitalisierung und Dekomposition des
ihrer Verdichtung und Intensivierung einher.7 Sabine                        Weltmarkts, die den gesamtwirtschaftlichen Produk-
Pfeiffer (2015) spricht in diesem Zusammenhang von                          tions- und Reproduktionsprozess erschüttern, Pfad-
einem «digitalen Despotismus». Dabei finden die                             und Richtungswechsel erzwingen.
größten Veränderungsdynamiken möglicherweise
gar nicht auf dem shop floor der industriellen Produk-
tion, sondern in zwei andere Richtungen statt: zum                          3 RÜCKKEHR DES STAATES IN ZEITEN
einen durch Auflösung des unmittelbar kollektiven                           EINER «KRISE DER DEMOKRATIE»
Charakters der Arbeit im Rahmen von digital vernetz-
ten Plattformen mit teilweiser «Entbetrieblichung»                          Annähernd vier Jahrzehnte lang galt Marktsteue-
und «Entkollektivierung» als Folgen, zum anderen                            rung unter den ökonomischen und politischen Eli-
durch Automatisierung und Rationalisierung indirek-                         ten als Garant für wirtschaftliche Effektivität, rigides
ter Bereiche wie des Rechnungswesens, der Admi-                             Kostenmanagement, Flexibilität und Renditesteige-
nistration sowie der Neueinbettung von Forschung                            rung. «Starving the beast» hatte US-Präsident Ronald
und Entwicklung.                                                            Reagan dem (Wohlfahrts-)Staat zu Beginn der neoli-
Klaus Abel, zuständig für das Projekt «IG Metall vom                        beralen Epoche entgegengerufen. An deren Ende fin-
Betrieb aus denken», prognostiziert: «Wir haben lange                       det nun eine Neukonfiguration des Verhältnisses von
die Verwaltungsebenen nicht in den Blick genom-                             Ökonomie und Politik statt.8
men. Aber der Einsatz künstlicher Intelligenz wird die                      In der Corona-Krise wurde der starke Sozial- und
Arbeitswelt in den Büros massiv verändern. Routine-                         Steuerstaat, nicht der «schlanke Staat» der neolibe-
arbeiten werden wegfallen, weil sie der Kollege Com-                        ralen Ära zum game changer. Mit öffentlichen Ausga-
puter besser kann.» (Zit. n. Höhn 2025: 5) Nadine Mül-                      benprogrammen, die sich auf Billionen summieren,
ler vom ver.di-Arbeitsbereich Innovation und Gute                           wird seit der Ausbreitung der Pandemie versucht, die
Arbeit ergänzt: «Auch in der öffentlichen Verwaltung                        Weltmärkte wieder flottzumachen, Arbeitsmärkte
wird es in den kommenden Jahren wohl zu einem                               und soziale Reproduktionskreisläufe zu stabilisie-
erheblichen Rationalisierungsschub kommen. Vieles,                          ren. Nicht ohne Erfolg: Berechnungen der Interna-
was heute noch persönlich im Amt erledigt werden                            tional Labour Organization (ILO) zufolge wären die
muss, wird digital zu machen sein.» (Ebd.)                                  wöchentlichen Arbeitsstunden ohne staatliche Stüt-
Der Strukturwandel in den Unternehmen und im wirt-                          zungsprogramme um bis zu 28 heruntergefahren
schaftlichen Gesamtprozess – die «Teilung der Arbeit                        worden. Massenarbeitslosigkeit hätte eine soziale
im Atelier» und die Teilung der Arbeit innerhalb der                        Katastrophe nicht nur in den verwundbarsten Staaten
Gesellschaft – verändern sich gleichermaßen. Man                            Lateinamerikas, Asiens und Afrikas, sondern auch
könnte meinen: eine gleich doppelte Transformation.                         unter der arbeitenden Bevölkerung in den kapitalis-
Dekarbonisierung und Digitalisierung vollziehen                             tischen Metropolen zur Folge gehabt. Eindringlich
sich im Kontext einer Neuausrichtung transnationa-                          warnt die ILO davor, frühzeitig wieder in die Austeri-
ler Wertschöpfungsketten. Über vier Jahrzehnte lang                         tätspolitik zurückzufallen.
galt Globalisierung als Nonplusultra marktgesteuer-                         Der Kriseneinbruch 2020 hat gezeigt, dass seit der
ter Liberalisierung. Das Ergebnis ist jedoch nicht die                      Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 politische Lern-
Zementierung eines Weltmarkts, in dem die USA als                           prozesse stattgefunden haben. Der Staat hat in einer
ökonomisches Führungszentrum ihre Position noch                             gleichsam als Notfall wahrgenommenen Ausnahme-
ausbauen können. Vielmehr entwickelte sich China zu                         situation reagiert und durch die umgehende Freigabe
einer konkurrierenden Macht, die Einfluss- und Kräf-                        öffentlicher Stützungsprogramme dramatischere
teverhältnisse verändert. Damit ist eine neue «Spiel-                       Einbrüche verhindert. Die «schwarze Null» als Symbol
ordnung» entstanden.                                                        vermeintlich alternativloser Austeritätspolitik wurde
                                                                            kassiert. Darüber hinausgehende Lernprozesse –

7   «Den Ergebnissen des DGB-Index Gute Arbeit von 2016 zufolge nimmt fast die Hälfte der befragten Erwerbstätigen (46 %) eine Zunahme von
    Überwachung bei der Arbeit aufgrund der Digitalisierung wahr» (Schwemmle 2018: 56).
8   Wer dabei auch an den dynamischen Aufstieg der AfD, den davon nicht verursachten, aber beschleunigten Zerfall des traditionellen Parteiensystems
    und die sukzessive Verschiebung der politischen Agenda nach rechts(-außen) denkt, liegt nicht falsch. Wir haben in unserer Untersuchung über
    «Gewerkschaften und Rechtspopulismus» begründet, dass arbeitsweltliche Transformation ein weiterer «Nährboden des Rechtspopulismus» ist. Vgl.
    Sauer u. a. 2018 sowie das Schwerpunktheft 3/2019 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI).

                                                                                                                                                   7
gerade im Hinblick auf die Verknüpfung von Stabi-        ausgeweitet werden; ferner sollen Algorithmen auf
lisierungs- und zukunftsorientierter Industrie- und      Verlangen der zuständigen Behörden offengelegt
Strukturpolitik – sind bislang jedoch nicht zu erken-    werden müssen. Politics matters auch in der digitalen
nen.                                                     Transformation.
Die neue Rolle des Staates wird bei den politischen      Eingefleischte Vertreter*innen der Marktorthodoxie
Interventionen, mit denen versucht wird, dem dro-        mag all das erschüttern. Dabei war bereits die Durch-
henden Klimawandel zu begegnen, zu überprüfen            setzung der «Herrschaft des Marktes» nicht zuletzt
sein. Im Pariser Klimaprotokoll haben sich die unter-    auch politischer Herrschaftswille – von (in der Ter-
zeichneten Staaten verpflichtet, die maximal zuläs-      minologie Bourdieus) der linken, wohlfahrtsstaatli-
sige Erderwärmung gegenüber vorindustrieller Zeit        chen Hand des Staates zur rechten, deregulierenden,
auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Das Ende des          sicherheitspolitischen Hand.
Zeitalters fossilen Wirtschaftens ist eingeleitet. In    Eine «Rückkehr der Politik» sagt aber noch wenig
Deutschland sollen bis spätestens 2038 die letzten       bis nichts darüber aus, wohin das politische Pendel
Kohlekraftwerke vom Netz gehen, bis 2050 soll die        schwingt. In der historischen Perspektive schwankte
Wirtschaftsbilanz CO2 -neutral sein. Das ist spät ter-   es zum einen in das «Zeitalter der Katastrophen»
miniert. Damit wird das 1,5-Grad-Ziel voraussichtlich    (Hobsbawm 1995): Nur sieben Jahre nach den Turi-
verfehlt, was heißt, dass irreversible Zerstörungen      ner Fabrikräten vollendeten die italienischen Faschis-
von natürlichen und sozialen Lebensprozessen dro-        ten 1925 ihre Diktatur; in Deutschland waren die
hen. Jetzt werden Unternehmen mit weitreichenden         Nationalsozialisten acht Jahre später in der Lage,
politischen Zielsetzungen und Normen konfrontiert,       mit der demokratischen zugleich eine auf Zivilisation
die einen Umbau ihrer Produkt- und Marktstrategien       basierende gesellschaftliche und politische Ordnung
erzwingen sollen. Und das auch in jenen Branchen –       gänzlich außer Kraft zu setzen. Transformation kann
wie zum Beispiel der Automobilindustrie –, die bislang   aber auch in eine andere Richtung ausschlagen. In
ihre Unternehmenspolitik fast ausschließlich an den      den USA setzte sich in der Great Depression die Poli-
Nachfrage- und Konkurrenzbedingungen der Märkte          tik eines New Deal durch, die Wirtschaftssteuerung,
ausgerichtet haben. Damit sind heftige Ressourcen-,      sozialen und politischen Progress sowie arbeits-
Verteilungs- und Machtkonflikte in den kommenden         und arbeitsmarktpolitische Reformen brachte (vgl.
Jahrzehnten absehbar. Das heißt: Nicht Markt allein,     Lehndorff 2020); auch der skandinavische Wohl-
sondern Politik steht auf der Tagesordnung.              fahrtsstaat gehört in diese historische Fortschritts­
Für die Umwälzungen auf den Weltmärkten gilt das         linie. Neben Demokratiezertrümmerung war Demo-
nicht minder. Nationalismus und Protektionismus          kratieerweiterung die historische Antwort. Der
sind keine gewinnbringenden Strategievarianten glo-      Korporatismus der Nachkriegszeit wird jedoch nicht
bal ausgerichteter Unternehmen. Ihre eng aufeinan-       einfach wiederzubeleben sein. Daraus erwachsen
der abgestimmten Wertschöpfungsketten werden             heute keine neuen Solidaritätsressourcen mehr. Für
erheblich gestört und müssen neu justiert werden.        Solidarität im 21. Jahrhundert bedarf es neuer Rah-
Nach vier Jahrzehnten marktgetriebener Globalisie-       mensetzungen.
rung ist die Welt aus den Fugen geraten. Um die Vor-     Wohin schlägt das Pendel in den 20er Jahren des
herrschaft auf den Weltmärkten finden Kämpfe statt,      21. Jahrhunderts aus?
auch um hegemoniale Herrschaft zweiter Ordnung in        «Krise der Demokratie» lautet die vielleicht dominante
den USA, Europa, Südostasien und Afrika. Auch hier:      Zeitdiagnose (vgl. Decker u. a. 2019). Die stärkere
politics are back.                                       Rolle der Transformation findet in einem «postdemo-
Den Markt der Digitalisierung beherrschen die            kratischen» Raum statt (Crouch). Wahlen, Parlament
«Frightful Five» (Amazon, Apple, Facebook, Google/       und Gewaltenteilung entsprechen weiterhin formel-
Alphabet und Microsoft). Vonseiten der USA ist das       len demokratischen Regularien, doch die Institutio­
politisch gewollt. Auch wenn die politischen Versu-      nen sind entkernt. Eine auf Druck von Teilen der
che in der Europäischen Union (EU), zumindest eine       Zivilgesellschaft in Stellung gebrachte politische
Mindeststeuer zu erheben, den ökonomischen Ver-          Interventionsmacht mag punktuelle Erfolge erzielen,
wertungsinteressen der Digital- und KI-Konzerne          droht letztlich jedoch immer wieder ins Leere zu lau-
weit hinterherhinken, scheint man in der EU-Kom-         fen und an einem nicht mehr steuerungsfähigen poli-
mission doch zumindest darauf hinzuarbeiten, die         tischen System zu stranden. Es gelingt, gesellschaft-
überwältigende Marktmacht von Google, Facebook           liche Machtressourcen zu mobilisieren, aber ein Mehr
und Amazon zu begrenzen. Mit ihrem Digitalpaket –        an Demokratie im institutionellen Feld der Politik ist
dem Digital Market Act (DMA) und dem Digital Ser-        damit nicht verbunden. Zivilgesellschaft und politi-
vice Act (DAS) – sollen zumindest die Transparenz bei    sches System befinden sich in einem labilen Macht-
kleineren Unternehmensübernahmen und bei der             system: «Von unten» erfolgt kein Durchbruch, wäh-
Datennutzung (DMA) sowie der Verbraucherschutz           rend Politik «von oben» seit Längerem Gefahr läuft,
beispielsweise bei Hass- und Falschnachrichten           entlegitimiert zu sein. Ein Circulus vitiosus?

8
Eine zweite Krisendiagnose lautet: Die basalen Res-       4 SOLIDARITÄT IN DER ARBEITSWELT –
sourcen von Demokratie sind stark angefressen. Zu         VERSUCH EINER BEGRIFFLICHEN KLÄRUNG
diesen gehört der kollektive, gemeinschaftliche Ein-
satz für Fortschritt im Interesse der vielen. Demo-       Doch was ist gemeint, wenn von «Solidarität» die
kratie, soziale Demokratie allemal, zerfällt, wenn das    Rede ist? Was ist der soziale Gehalt dieses Begriffs,
entsprechende Kollektivsubjekt nicht mehr auf die         der meist als wertorientierter Bezugsrahmen daher-
Bühne tritt. Exakt das hat pointiert Heribert Prantl      kommt? Es geht uns um Engführung, darum, ob
(2019) ausgesprochen: «Solidarität ist Geschichte.»       damit (Handlungs-)Ressourcen bezeichnet werden,
Die (alte) Arbeiterbewegung, die Ende des Ersten          mit denen Einfluss auf Richtung und Gehalt der ein-
Weltkriegs Demokratie erkämpft und nach dem Zwei-         gangs benannten Transformationsprozesse genom-
ten Weltkrieg für «Neuordnung» gestritten hatte,          men werden kann, oder ob diese Ressourcen im 21.
gebe es nicht mehr. Letztlich entscheidend dafür sei,     Jahrhundert nicht mehr mobilisierbar sind, (a) nach
dass die Machtressource «Solidarität» kaum noch zur       einer 40-jährigen Geschichte entfesselter, markt- und
Verfügung stehe – als Folge von sozialer Spaltung,        politikgesteuerter Konkurrenz, (b) nach einer ebenso
Fragmentierung der Belegschaften, Deregulierung           langen Geschichte «nach dem Boom» (Raphael), das
und Prekarisierung der Arbeitswelten. Und dort, wo        heißt der Erosion des fordistischen, von tayloristi-
soziale Kollektive noch in Erscheinung treten, drohe –    scher Arbeitsteilung und Massenproduktion gepräg-
so Prantl –, die einst rote Farbe AfD-blau überstrichen   ten Kapitalismus, und (c) angesichts der neuen Her-
zu werden.                                                ausforderungen einer die soziale Fragmentierung
Beide Einwände benennen reale Problemdimensio­            möglicherweise auf die Spitze treibenden digitalen
nen, doch die Realität ist widersprüchlicher. In der      Wirtschaft.
Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 ff. konnte politi-      Was sind Hauptelemente einer begrifflichen Klärung?
sche Handlungsfähigkeit – wie nicht wenige meinen:
kurz vor der Systemschmelze – in kurzer Zeit mobi-        4.1 Die Grundlage: die kooperative Struktur
lisiert werden. Und es gibt Befunde revitalisierter       des Arbeits- und Verwertungsprozesses
Solidarität. Dazu zählen Streiks im Dienstleistungs-      Die materiell-soziale Basis für Solidarität liegt in der
sektor zur Aufwertung erzieherischer oder pflege-         kooperativen Struktur des Arbeitsprozesses, die die
rischer Arbeit ebenso wie die Wiederaufnahme der          einzelnen Arbeiter*innen aufeinander bezieht und
Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung und – grenzüber-          miteinander verbindet.
schreitend – gemeinsame Aktionen von Belegschaf-
ten transnationaler Unternehmen (Amazon, Ryanair            «Die Form der Arbeit vieler, die in demselben Produk­
etc.). Solidarität scheint nicht einfach zu versiegen,      tionsprozess oder in verschieden zusammenhängenden
sondern auch in neuen Akteursgruppen neu zu ent-            Produktionsprozessen planmäßig neben- und miteinan-
stehen. Auch in der Corona-Krise haben Beschäftigte         der arbeiten, heißt Kooperation.» (MEW 23: 344)
nicht nur Erfahrungen mit einem krisengeprägten
Kommandosystem gemacht, sondern auch eine neue            Der historische Ort für diese Aufhebung der Verein-
Wertschätzung der Kooperation der Beschäftigten           zelung und ihre Zusammenführung ist der Betrieb. Es
untereinander und über Hierarchien hinweg erfah-          ist also zunächst eine funktionelle Gemeinsamkeit,
ren. In einer Ausnahmesituation werden kollegialer        die unter der Regie des Einzelkapitals hergestellt wird,
Zusammenhalt und gemeinsame Sinnstiftung erlebt,          eine eigene Quelle der Wertschöpfung («Schöpfung
Arbeit wird als solidarischer Zusammenhang erfah-         einer Produktivkraft») darstellt und dessen Profitabili-
ren.                                                      tät erhöht. In der Entwicklung des Kapitalismus stellt
Wenn Solidarität eine grundlegende Voraussetzung          die Kooperation der vielen einen dreifachen Qualitäts-
von (sozialer) Demokratie ist, fällt noch etwas anderes   sprung dar:
auf: dass den Entstehungsbedingungen von Demo-            Erstens geht die kollektive Nutzung der Produktions-
kratie nahezu durchweg keine Beachtung geschenkt          und Arbeitsmittel mit einer Verwohlfeilerung dersel-
wird. Demokratiediskurse bewegen sich überwie-            ben und der mit ihnen produzierten Waren einher:
gend in den institutionellen Grenzen des politischen
Feldes und in der Zivilgesellschaft. Die Arbeitswelt        «Diese Ökonomie in der Anwendung der Produktionsmit-
hingegen scheint demokratischen Überlegungen                tel entspringt nur aus ihrem gemeinsamen Konsum im
weitgehend entrückt zu sein. Aber ohne Arbeitswelt          Arbeitsprozess vieler. Und sie erhalten diesen Charakter
und daraus erwachsende Solidarität ist Demokra-             als Bedingungen gesellschaftlicher Arbeit oder gesell-
tie letztlich eine Luftnummer. Das gilt in Zeiten einer     schaftlicher Bedingungen der Arbeit im Unterschied von
Transformation der ökonomischen, ökologischen und           den zersplitterten und relativ kostspieligen Produktions-
sozialen Verhältnisse umso mehr.                            mitteln vereinzelter selbstständiger Arbeit oder Klein-
                                                            meister, selbst wenn die vielen nur räumlich, nicht mitein-
                                                            ander arbeiten.» (Ebd.)

                                                                                                                     9
Es stellt sich die Frage, ob durch die durch Digitali-        stützung in der Arbeit nicht funktionieren. Kollegialität
sierung weiter voranschreitende Trennung gemein-              in diesem Sinn ist eine unsichtbare Ressource, die ein
samer Raum- (Betrieb) und Zeiterfahrung eine neue             gemeinsames Interesse an Kooperation konstituiert.
Realität geschaffen wird.                                     Gegenseitige Unterstützung ist eine Verpflichtung,
Zweitens verändert Kooperation die Arbeitsveraus-             die aus der kooperativen Struktur des Arbeitspro-
gabung selbst, hebt sie auf eine neue Stufenleiter,           zesses resultiert – auch jenseits jeder ethischen oder
indem                                                         moralischen Orientierung –, und sie ist zugleich Aus-
                                                              druck des sozialen Miteinanders unter den Kolleg*in-
  «bei den meisten produktiven Arbeiten der bloße gesell-     nen. Kollegialität hat also sowohl eine instrumentelle,
  schaftliche Kontakt einen Wetteifer und eine eigne Erre-    auf den Arbeitsprozess bezogene Basis als auch eine
  gung der Lebensgeister (animal spirits) [erzeugt], welche   auf wechselseitige Unterstützung und Anerkennung
  die individuelle Leistungsfähigkeit der Einzelnen erhöht»   ausgerichtete soziale Orientierung. Nach Kock und
  (ebd: 345).                                                 Kutzner ist

Hier haben wir in nuce das, was als arbeitsinhaltliches         «die Grundlage kollegialer Beziehungen das Bemü-
Interesse beschrieben werden kann, ein subjektiver              hen, die Arbeitsaufgaben als gemeinsame zu definieren
Antrieb, «gut» und «effizient/effektiv» zu arbeiten,            und Einvernehmen darüber zu erzielen, was als Ziel der
Arbeit und Leistung als Einheit zu betrachten.                  Zusammenarbeit gelten soll. Zusammenarbeit als soziale
Drittens: Kooperation realisiert sich in einem System           Beziehung erfordert ein gewisses Verständnis der Per-
der Direktion und Teilung der Arbeit. Durch beides              sonen füreinander, das spontan entstehen kann, aber in
wird sie zugleich «aufgehoben». Der Produktions-                der Regel bewusst von den Beteiligten hergestellt und
prozess ist kooperativ, aber im Sinn der Kooperation            geformt wird. Eine dritte Praktik zur Herstellung kollegi-
diverser, separierter, teilweise isolierter Teilarbeiten.       aler Beziehungen besteht darin, dass die Arbeitenden an
Kooperation ist also nicht das gleichartige Nebenei-            den Schnittstellen ihrer jeweiligen Tätigkeiten einander
nanderarbeiten, nicht Arbeit der gleichen, sondern              entgegenkommen. Schließlich entwickeln die Beschäf-
Kooperation verschiedener Teilarbeiten. Und: Koope-             tigten Praktiken gegenseitiger Hilfe und Unterstützung.»
ration schließt Herrschaft ein – wobei funktionale              (Kock/Kutzner 2018: 464; Herv. im Original)
Herrschaft von der Optimierung des Verwertungspro-
zesses nicht zu trennen ist.                                  Kollegialität ist folglich nicht allein die subjektive
Wenn wir weiter unten agile Arbeit als weiterentwi-           Übersetzung der Anforderungen arbeitsprozesslicher
ckelte, «radikalisierte» Form indirekter Steuerung            Kooperation – sie ist voraussetzungsvoller. Sie erfor-
bestimmen (siehe Kapitel 7), bleibt dieser Herr-              dert einen gewissen Grad an Transparenz, Zeitres-
schaftsbezug erhalten. Die These an dieser Stelle             sourcen, die Akzeptanz von Unterschieden und die
lautet: Kooperation ist die materiell-soziale Basis von       Bereitschaft gegenseitiger Unterstützung (ebd.: 465).
Solidarität. Die Gültigkeit dieses Bezugsrahmens              Entsprechend bestimmt Hürtgen (2013) «verant-
in einer digitalen Arbeitswelt, die von dezentralen           wortungsvolle Zusammenarbeit» und Anerkennung
Arbeitsformen und individualisierten Crowd-Arbeiten           des «Mensch-Seins» unter Kolleg*innen als die zwei
gekennzeichnet ist, ist zu prüfen.                            Dimensionen von Kollegialität. Was «verantwortungs-
Damit sind wir aber noch nicht bei «Solidarität» ange-        volle Zusammenarbeit» ist, wird mit vom betriebli-
kommen. Es gibt einen Zwischenschritt.                        chen Leistungsregime definiert.

4.2 Zwischenschritt: Kollegialität                              «Anerkennungstheoretisch formuliert geht es um die
Solidarität kann nicht einfach mit Kooperation kurz-            doppelte Anerkennung im Kolleg/innenkreis: als Leis-
geschlossen werden. Was mit den «Lebensgeistern»                tungskraft und als Person. Arbeitsbegrifflich betrachtet
bereits angesprochen wurde: Der bzw. die Lohnarbei-             insistieren die Gesprächspartner/innen damit auf den
ter*in tritt nicht nur als funktionaler Teil des Kapitals,      Zusammenhang zwischen dem subjektiv-menschlichen
sondern als (Kollektiv-)Subjekt in den kapitalistischen         Charakter der Arbeit und ihrer sozial-konkreten Form als
Arbeitsprozess. Die sozialen Beziehungen auf der                Erfüllung von Norm und Leistung. Kollegialität bedeutet,
Basis objektiver Kooperationsstrukturen kann man                diesen Zusammenhang gut auszubalancieren und zu
als Kollegialität bezeichnen. Kollegialität bezieht sich        gestalten.» (Ebd.: 259)
zunächst auf den funktionalen Zusammenhang des
Arbeitsprozesses. Nicht jede Zusammenarbeit hat               Kollegialität ist also nicht nur die subjektive Überset-
kollegialen Charakter, insofern stellt Kollegialität eine     zung von Kooperation, die jenseits der Verschieden-
eigene, über den funktionalen Bezug hinausgehende             heit der Arbeitsvorgänge ein gemeinsames Verständ-
Qualität dar.                                                 nis der Arbeitenden untereinander zum Ausdruck
Betriebe würden ohne Kollegialität, ohne die Bereit-          bringt, sondern sie ist zugleich zielgerichtet, indem
schaft zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Unter-            Kooperation und Arbeitsteilung an Rationalitäts- und

10
Effizienzkriterien gemessen werden. Kollegialität ist             ganisationsprozesse auf Kosten von Kommunika­
eingebettet in eine Arbeitswelt, die als ein leistungs­           tionszeiten gehen («‹Natürlich arbeiten wir in Teams›,
orientiertes, meritokratisches System verstanden                  bemerkte ein Computertechniker prägnant, ‹aber die
wird. Das macht Ausbalancierungsprozesse zu                       Dinge verändern sich ständig und wir verlieren immer
einem sehr komplexen und auch widersprüchlichen                   wieder den Fokus›», ebd.: 225) und die Arbeitsver-
Vorgang. Komplex, weil «Leistungserfüllung» nicht                 hältnisse diskontinuierlicher, befristet und kurzzeiti-
einem einfachen Input-Output-Modell folgt, son-                   ger werden. Das Dreieck droht zu zerfallen.
dern selbst ein sozialer Vorgang ist, der vonseiten
der Arbeitenden durch Gerechtigkeitsansprüche, vor                4.3 Gemeinsamer und antagonistischer
allem «Fürsorge» und «Würde», gebrochen wird. Man                 Interessenbezug: Solidarität
unterstützt Kolleg*innen auch dann, wenn sie auf-                 Aus Sennetts Sicht ist es zentral, Kooperation und
grund besonderer Belastungen nicht zu den Normal-                 darauf aufbauende soziale Beziehungen auszubauen.
performer*innen zählen, sofern sie sich entsprechend              Kooperation hält er zur Überbrückung von sozialer
anstrengen und nicht auf Kosten anderer «eine ruhige              Isolation für die zentrale inklusive, Zusammenhalt und
Kugel schieben». Im Folgenden ein Auszug aus einem                Gemeinschaft stiftende Ressource. Die Arbeiterbe-
Interview:                                                        wegung des vergangenen Jahrhunderts sei hingegen
                                                                  einem fatalen Irrtum aufgesessen:
  «Ich finde es halt viel schlimmer, wenn ich weiß, ich habe
  einen Kollegen, der kann, aber er will nicht. Setzt sich hin:     «Das 20. Jahrhundert pervertierte die Kooperation im
  ‹Ach nee, das interessiert mich jetzt gerade nicht, was           Namen der Solidarität. Und nicht nur tyrannische Regime
  die anderen tun›, verlangt aber dann von uns, wenn er             drängten auf Einheit. Schon der Wunsch nach Solidari-
  krank ist, dass wir seine Arbeit mit übernehmen. Also das         tät lädt dazu ein, die Menschen zu beherrschen und von
  sind dann so Sachen, nein, das geht nicht. Aber bei einem         oben zu manipulieren.» (Ebd.: 372)
  Kollegen, der jetzt schon älter ist und zum Beispiel auch
  vielleicht nicht so […], dem greift man halt unter die Arme     Solidarität als autoritäres und doktrinäres Einheits-
  und versucht, das ihm so gut wie möglich zu zeigen.» (Zit.      postulat, als Formel für das Zwängen der vielen unter
  n. Kratzer 2015: 67 f.)                                         einen konformistischen Pensée unique? In der Arbei-
                                                                  terbewegung hat es an Interessenvertretungs- und
Was «Leistung» letztlich heißt, ist – selbstverständlich          Politikmodellen nicht gefehlt, die «Aktionseinheit»
neben den prioritären Vorgaben des Unternehmens –                 von oben nach unten gedacht und durchdekliniert
nicht zuletzt auch Ausdruck des Verständnisses und                haben und damit gescheitert sind. Doch Sennetts
Verhaltens der abhängig Beschäftigten untereinan-                 Solidaritätsvorbehalt ist nicht nur Rückschau, son-
der. Kollegialität ist insofern ein durchaus eigensinni-          dern mehr noch auf die Gegenwarts- und Zukunfts-
ges, eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen folgendes                entwicklung gerichtet:
soziales Verhältnis – nicht nur untereinander, sondern
auch gegenüber den im Unternehmen gesetzten                         «Die Sehnsucht nach einer Solidarität, die inmitten öko-
Leistungs- und Normanforderungen. Was davon als                     nomischer Unsicherheit ein Gefühl der Sicherheit vermit-
«gerecht» und «legitim» anerkannt wird, fließt in das               teln könnte, führt heute zu einer radikalen Simplifizierung
Verständnis darüber ein, wer zu dem Kreis der Kol-                  des sozialen Lebens: Abgrenzung gegen andere Grup-
leg*innen gehört. «Ausbalancierung» beinhaltet bei-                 pen, verbunden mit dem Gefühl, allein zu stehen und
des: Inklusion und Exklusion.                                       ganz auf sich selbst angewiesen zu sein.» (Ebd.: 374)
Für Richard Sennett (2019: 202 ff.) ist Kooperation als
«soziales Dreieck» von vornherein in diesem erwei-                Solidarität mutiere damit zu einem Exklusionskon-
terten Kollegialität einschließenden Verständnis                  zept: solidarisch gegen «die anderen». In dem Maße,
gemeint. Dessen Seiten bestehen aus «verdienter                   wie der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts durch die
Autorität» gegenüber von den Beschäftigten aner-                  Zersetzung des «sozialen Dreiecks» soziale Bezie-
kannten Vorgesetzten, «wechselseitigem Respekt»                   hungen zerstöre, Kooperation auflöse und kollegialer
und «Vertrauen» der Kolleg*innen untereinander                    Unterstützung den Boden entziehe, werde Solidarität
sowie aus verstärkter «Kooperation während einer                  zu einer abgrenzenden, destruktiven Realität. Solida-
Krise», wenn sich die Kolleg*innen wechselseitig                  rität und Ausgrenzung bilden in dieser Konstruktion
im Krisenüberwindungsprozess unterstützend bei-                   ein Paar, scheinen nicht zu trennen zu sein. Damit zer-
stehen. Doch dieses Dreieck erodiert durch zuneh-                 setze sich Solidarität letztlich selbst als eine kollektive,
mende Isolation in der Arbeitswelt des 21. Jahrhun-               von vielen unterstützte Machtressource. Solidarität,
derts, indem E-Mail-Kommunikation an die Stelle der               die in diesem Sinne als exkludierende Gruppenbil-
Face-to-Face-Kooperation tritt, wachsende Arbeits-                dung verstanden wird, hebt sich selbst auf.
belastungen (wenn jede*r darauf fokussiert ist, sein              Doch Sennett macht einen doppelten Fehler: Jene
bzw. ihr Pensum zu schaffen) und permanente Reor-                 «Kooperation», die nicht an den Spaltungsprozessen

                                                                                                                            11
der Arbeitswelt zerbricht, idealisiert er: als «Werkstatt­                       Kapitalverhältnis charakterisierenden Verkehrungs-
erfahrung», als «Alltagsdiplomatie» und als «Nach-                               zusammenhang zu sprechen, wonach die Einkom-
barschaftsgemeinschaft». Der heutigen Arbeitswelt                                men, auf die der produzierte Reichtum verteilt wird,
(und einer sozial wie kulturell differenzierten Zivilge-                         zugleich als dessen Quellen erscheinen (MEW 25:
sellschaft) wird das nicht ansatzweise gerecht. «Soli-                           822 ff.). Die Verteilungsverhältnisse werden auf Pro-
darität» hingegen ist bei Sennett entleert von inter-                            duktionsverhältnisse zurückbezogen. Profit, Grund-
essengeleitetem Handeln in einer antagonistischen                                rente und Arbeitslohn scheinen jeweils dem Einsatz
Gesellschaft. Es ist jedoch der Interessenbezug, der                             von Kapital, Boden/Immobilien und der Verausga-
den Kern arbeitsweltlicher Solidarität in einer kapita-                          bung von Arbeitskraft geschuldet zu sein. Marx nennt
listischen Gesellschaft ausmacht.                                                das die «trinitarische Formel». In der bundesdeut-
Die basalen Interessen an lohnabhängiger Arbeit                                  schen Nachkriegsordnung bildete dies die Grundlage
ergeben sich aus dem Verkauf und den Nutzungs-                                   eines Verständnisses von Kapitalismus als «soziale
bedingungen der Ware Arbeitskraft: Kontinuität des                               Marktwirtschaft» (vgl. Zinn 1992) und der darin agie-
Beschäftigungsverhältnisses auf Reproduktionsni-                                 renden Interessenvertretungsorganisationen als
veaus, die der Qualifikation und den Arbeitsanfor-                               «Sozialpartner».
derungen sowie den Niveaus der Entwicklung des                                   Diese «Verkehrung» ist charakteristisch im Prospe-
gesellschaftlichen Reichtums entsprechen; humane                                 ritätszyklus, das heißt ohne krisenhafte Störung bei
Arbeitsbedingungen, Sicherung der Gesundheit, des                                expandierender Kapitalakkumulation und einem nicht
Wissens und Könnens im Arbeitsprozess, der Mög-                                  von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Arbeitsmarkt.
lichkeiten beruflichen Aufstiegs. Darin zeigt sich, dass                         Sie kann aber auch unter Krisenbedingungen in einer
basale Interessen nicht starr, sondern dynamisch                                 modifizierten Variante wirksam sein, wenn es darum
sind, indem sie (der Wert der Ware Arbeitskraft) zivili-                         geht, die Wettbewerbsposition des Nationalkapitals
satorische Entwicklung transportieren: das Interesse                             gegenüber der Konkurrenz anderer Nationalkapi-
an der Höherentwicklung des Arbeitsvermögens, an                                 tale – oder den «eigenen» Produktionsstandort gegen
stofflich gelingender guter Arbeit, auch das intrinsi-                           andere – zu verteidigen. Ein «internationalistisches»
sche Interesse an Kooperation, das Interesse, nicht                              Solidaritätsverständnis gerät dabei unter die Räder.
nur Objekt, sondern auch Subjekt der Entwicklung                                 Solidarität als systemisch antagonistisches Verhält-
der Arbeitsgesellschaft zu sein, also Arbeit als partizi-                        nis kann somit nicht als eine Konstante des Alltags-
pativ, mitbestimmt und veränderbar zu verstehen.                                 bewusstseins angesehen (und von Aktivist*innen
Was Solidarität von Kollegialität unterscheidet, ist der                         gleichsam abgerufen) werden, sondern unterliegt
übergreifende, Lohnabhängigkeit über den unmit-                                  der Praxisrelevanz. Solidarität entsteht aus realen
telbaren Arbeitsbereich hinaus in Augenschein neh-                               Gegensatzerfahrungen. Solidarität als Gegenmacht-
mende Interessenbezug.9 Solidarität, so könnte mit                               ressource ist ein Praxisfeld.
Lessenich gesagt werden, ist nicht «eine Praxis der                              Doch auch ein Praxisfeld unter Krisenbedingungen
Verbindung unter Gleichen, sondern die Überbrü-                                  hat nicht zwangsläufig einen explizit öffentlich zum
ckung von Differenzen» (Lessenich 2019: 100). Hinzu                              Tragen kommenden antagonistischen Charakter. Dies
kommt: Die Interessen der Verkäufer und der Käufer                               war einer der Befunde unserer Befragungsstudie,
der Ware Arbeitskraft sind nicht identisch, sondern                              die wir in der Zeit der Finanz- und Wirtschaftskrise
in ihrer Grundbestimmung gegensätzlich. Solidarität                              2008 ff. durchgeführt haben (vgl. Detje u. a. 2011).
bedeutet die Identifizierung gemeinsamer Interessen                              Die Erkenntnis besteht aus zwei Teilen: (a) Krise wird
und ist zugleich Solidarität gegen zuwiderlaufende                               neben der unmittelbaren ökonomischen Erschütte-
Interessen. Insofern steckt in Solidarität ein Inklusi-                          rung vor allem als arbeitsweltlicher Normalfall wahr-
ons- und Exklusionsverständnis. Doch die Exklusion                               genommen: Krise ist immer. «Sozialpartnerschaft» ist
ist eine andere als jene, die Sennett abstrakt in Grup-                          insofern eine gebrochene, fragile Konstruktion, weil
penbildungsprozessen und politischen oder auch kul-                              «Krise» hier bedeutet: Vermeintliche Sicherheit ist
turellen Herrschaftsformen verortet; im arbeitsweltli-                           permanent infrage gestellt, sei es durch Leistungs-
chen Kontext ist Lohnabhängigensolidarität exklusiv                              druck, schlechte, prekäre Arbeitsbedingungen, Flexi-
gegenüber dem Kapital.                                                           bilisierung der Arbeits- und Arbeitszeitanforderungen
Doch diese Grundbestimmung funktioniert nicht wie                                etc. Hinzu kommt (b): Krise ist schwer adressierbar.
ein elektronisches Navigationsgerät. Marx kommt am                               In der gut ein Jahrzehnt zurückliegenden Krisenkon-
Ende des «Kapital» zusammenfassend auf den das                                   stellation waren es die Finanzmärkte, die schwer als

9    Als Besitzer*in der Ware Arbeitskraft hat der bzw. die abhängig Beschäftigte ein Interesse an deren Reproduktion. Das ist zunächst ein individuelles
     Interesse, dem jedoch Kräfte einer Verallgemeinerung unterliegen: Zum einen sind dies die konkreten Beziehungen im Arbeitsprozess durch
     dessen kooperativen Charakter und zum anderen die Gefährdungen ihrer Ware, ihres Arbeitsvermögens durch gemeinsam erfahrene Vernutzung
     im Arbeitsprozess (z. B. der Gesundheit). Hintergrund ist die strukturelle Machtasymmetrie, die den individuellen Verkauf und die Erhaltung der
     Arbeitskraft systematisch gefährdet.

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