SOMATOFORM PAIN DISORDER - OVERVIEW SOMATOFORME SCHMERZEN - EIN ÜBERBLICK
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Psychiatria Danubina, 2010; Vol. 22, No. 3, pp 453–458 Conference paper © Medicinska naklada - Zagreb, Croatia SOMATOFORM PAIN DISORDER – OVERVIEW SOMATOFORME SCHMERZEN – EIN ÜBERBLICK Claas Lahmann, Peter Henningsen & Michael Noll-Hussong Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, Deutschland SUMMARY ZUSAMMENFASSUNG Patients with severe and disabling pain and bodily distress Somatoforme Schmerzen sind ein sowohl in der Primär- which cannot be explained by underlying organic pathology als auch der fachsomatischen Versorgung häufiges Beschwer- are common in all levels of health care and are typically debild. Neben somatisch nicht ausreichend zu erklärenden difficult to treat for physicians as well as for mental health Schmerzen aller Lokalisationen treten häufig auch um- specialists. Beside pain in different locations, not fully schriebene Funktionsstörungen einzelner Organsysteme wie explained by specific somatic pathology, specific functional Schwindel, Herz- oder Verdauungsbeschwerden sowie complaints such as dizziness, fatigue or vegetative disorders Erschöpfungsbeschwerden auf. Gleichzeitig klagen viele are common. A great proportion of patients with somatoform Patienten über depressive oder Angstsymptome. Während pain complain of comorbid depressive or anxiety disorder. psychodynamisch-interaktionelle Modelle eine frühe Psychodynamic-interpersonal psychotherapy particularly Beeinträchtigung der Körperbeziehung sowie eine un- emphasises interpersonal processes as well as disturbance of genügende Affektdifferenzierung in den Vordergrund stellen, body awareness and self regulation already in childhood. fokussieren kognitiv-behaviorale Modelle somatosensorische Cognitive-behavioral models focus on the phenomenon of Amplifikationsprozesse. Die organische Ursachenüberzeu- somatosensory amplification. The patients do have a strong gung der Patienten sowie die im Durchschnitt lange believe in an underlying somatic illness, therefore seeking for Anamnesedauer mit Enttäuschungen über die zahlreichen, further diagnostic and somatic therapy. This frequently leads meist unbefriedigenden Behandlungsversuchen bedingen nicht to multiple but ineffective therapeutic attempts in the field of selten interaktionelle Schwierigkeiten in der Arzt-Patienten- somatic medicine resulting in frustration of the patients and a Beziehung. Schulenübergreifende Handlungsempfehlungen difficult doctor-patient-relationship. General therapeutic betonen eine aktive Haltung des Therapeuten, Legitimation recommendations include an active therapeutic approach with der Schmerzbeschwerden sowie Hilfe bei der Symptom- paying tribute for the patients’ suffering and giving support to bewältigung. Psychodynamische Ansätze fokussieren zudem cope with the pain. A specific psychodynamic approach Affektdifferenzierung sowie die Bearbeitung von im furthermore focuses on improvement of affect differentiation Zusammenhang mit Schmerzerleben berichteten Beziehungs- and the interaction of somatoform pain and interpersonal episoden. relationships. Schlüsselwörter: Somatische Störungen, Somatoforme Key words: somatic disorders - somatoform pain disorder - Schmerzen, Psychotherapie psychotherapy * * * * * EINLEITUNG gruppen zugeordnet werden (Henningsen et al. 2007): Am häufigsten sind Schmerzen unterschiedlichster Somatische Störungen zeichnen sich durch Lokalisation wie Kopf-, Nack en-, Rücken-, Muskel- anhaltende oder häufig wiederkehrende, subjektiv als oder Gelenkschmerzen, Bauchschmerzen oder beeinträchtigend erlebte Körperbeschwerden aus, für die unspezifische Brustschmerzen (Reid et al. 2001). Es auch nach angemessener somatischer Diagnostik keine folgen funktionelle Störungen in verschiedenen ausreichende organmedizinische Erklärung im Sinne Organsystemen wie Palpitationen, Schwindel oder einer kausalen Organpathologie gefunden werden kann. Benommenheit, Obstipation oder Diarrhö, Bewegungs- Somatoforme Störungen sind ein weltweit verbreitetes oder Empfindungsstörungen. Fast immer werden – in Phänomen und stellen in fast allen Bereichen der unterschiedlicher Intensität – auch Beschwerden aus Medizin eine klinische Herausforderung dar (Lahmann dem Formenkreis von Müdigkeit und chronischer und Richter 2002). Das Krankheitsbild bedingt eine Erschöpfung geklagt. Sofern im Zentrum der überproportionale, dysfunktionale und vor allem kosten- Beschwerden ein andauernder, schwerer und quälender, intensive Inanspruchnahme des Gesundheitssystems und an den meisten Tagen vorhandener Schmerz steht, der geht insbesondere bei schweren oder chronischen durch einen physiologischen Prozess oder eine Verläufen mit einer Häufung von Angst-, depressiven körperliche Störung nicht adäquat erklärt werden kann oder Persönlichkeitsstörungen einher. Die geklagten und in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder Beschwerden können meist einer von drei Haupt- psychosozialen Problemen auftritt, so kann nach ICD- 453
Claas Lahmann, Peter Henningsen & Michael Noll-Hussong: SOMATOFORM PAIN DISORDER – OVERVIEW Psychiatria Danubina, 2010; Vol. 22, No. 3, pp 453–458 10 F45.40 (Dilling et al. 2008a) die Diagnose einer Akzeptanz somatischer Krankheitsbeschwerden und „anhaltenden somatoformen Schmerzstörung“ gestellt dem auch sozialgesetzlich determinierten sekundäre werden. Nach den ICD-10-Forschungskriterien (Dilling Krankheitsgewinn durch die Möglichkeit krankheits- et al. 2008b) sollte die Symptomatik für die Diagnose- bedingter Gratifikation, z.B. in Form einer Berentung, stellung mindestens sechs Monate bestehen. Während zu berücksichtigen. das Vorliegen von relevanten psychosoziale Belastungs- In einem klassisch psychodynamischen Modell faktoren ein essentielles Kriterium für die Diagnose wurden somatoforme Beschwerden generell lange Zeit einer somatoformen Schmerzstörung ist, sind die als nicht-symbolischer Ausdruck unbewusster intra- betroffenen Patienten typischerweise von einer psychischer Konflikte gesehen (vgl. Lipowski 1988), körperlichen Ursache ihrer Beschwerden überzeugt und ohne dass sich dieses Modell jedoch hinreichend stehen einer integrierten psycho-somatischen Betra- psychophysiologisch bestätigen ließ. chtung der Beschwerden häufig ablehnend gegenüber. Henningsen und Rudolf rücken in ihrem Diese Diskrepanz in der Ursachenzuschreibung interpersonell angelegten Modell (Henningsen 1998) zwischen Arzt und Patient erschwert den Aufbau einer stärker den Aspekt einer Körperbeziehungsstörung, tragfähigen Arzt-Patienten-Beziehung und führt nicht ausgehend von maladaptiven Erfahrungen mit dem selten zu langwierigen Krankheitsverläufen mit eigenen Körper in ontogenetisch frühen Entwicklungs- zahlreichen, meist somatisch ausgerichteten, Therapie- phasen, in den Fokus. Diese Annahme wird durch versuchen. Die damit einhergehende, repetitiv erlebte Befunde der Bindungsforschung gestützt, die bei Enttäuschung über die Beschwerdepersistenz trotz Patienten mit somatoformen Beschwerden vermehrt anfänglicher Hoffnung in den jeweils nächsten unsichere Bindungsmuster nachgewiesen haben. Auch Therapieversuch führt nicht selten zur Unzufriedenheit auf der Ebene der Beziehungserfahrungen im mit dem aktuellen Behandler und konsekutiven Gesundheitssystem erleben die Patienten im Rahmen Therapieabbrüchen und Arztwechseln – ein Phänomen, ihrer oft langen Beschwerdeanamnese charakteristische das auch unter den Begriffen des „Doctor-Hopping“ Beziehungsstörungen in den Kontakten zu den oder „Doctor-Shopping“ bekannt ist. somatischen Behandlern: Die eigenen, somatisch fixierten Krankheitsmodelle erweisen sich als deutlich EPIDEMIOLOGIE inkongruent mit den Modellen der organmedizinisch ausgerichteten Ärzte, die den Körper für gesund Somatoforme Körperbeschwerden sind ein weltweit befinden, was konsekutiv immer wieder zu Frustration häufiges Phänomen. Während zwischen 80 (Kirmayer und schließlich Arztwechseln bis hin zu den auch als und Robbins 1991) und 95% (Schepank 1987) unter „doctor-shopping“ bezeichneten zahllosen Behand- zumindest einer Körperbeschwerde pro Woche leiden, lungsversuchen führen kann. berichten mindestens 20% der hausärztlichen und bis zu Während ein wiederholt erlebtes Gefühl, im 40% der stationär behandelten Patienten von somatischen Kontext mit den somatisch nicht Körpersymptomen, denen keine oder keine ausreichend ausreichend erklärbaren Schmerzen nicht ernst erklärende somatische Pathologie zugrunde liegt genommen zu werden, im Langzeitverlauf zu einer (Kroenke et al. 1994, Kirmayer und Robbins 1991). unbewusst immer deutlicheren Hervorhebung der Schmerzbeschwerden stellen dabei das größte Schmerzen im Sinne einer Aggravation führen kann, Symptomcluster unter den geklagten Körpereschwerden kann die Zunahme der Beschwerden auch durch das dar. In einer epidemiologischen Untersuchung einer Modell der somatosensorischen Amplifikation erklärt repräsentativen Stichprobe von 2050 Personen fanden werden (Barsky und Wyshak 1990): Das Modell geht Hessel et al. (2005) somatoforme Rückenschmerzen bei davon aus, dass Menschen mit somatoformen 30,2%, somatoforme Gelenkschmerzen bei 25,1%, Beschwerden, alltäglichen Körpermissempfindungen somatoforme Schmerzen in Armen oder Beinen bei wie z.B. einem passageren Schmerzerleben besondere 19,9% und somatoforme Kopf- oder Gesichtsschmerzen Beachtung schenken und diese Wahrnehmungen in bei 19,5% der Stichprobe. katastrophisierender Weise bewerten. Dadurch kommt es zu einer Aufmerksamkeitsfokussierung und - ÄTIOLOGISCHE MODELLE akzentuierung sowie konsekutiv zu einem erhöhten psychophysiologischen Anspannungsniveau, das wie- Wie bei anderen somatoformen Störungen auch sind derum die Schmerzwahrnehmung verstärken kann. für die Disposition, Auslösung und Aufrechterhaltung Natürlich sind die somatoformen Schmerzen somatoformer Schmerzbeschwerden multiple Faktoren dementsprechend nicht nur psychologisch zu erklärende in Betracht zu ziehen. Sowohl individuelle somatische Phänomene, sondern gehen – aus den psycho- Faktoren wie genetische Veranlagung, Belastungs- physiologischen Modellen bereits zu ersehen – auch mit faktoren in der Biographie als auch somatische Vor- nachweisbaren neurobiologischen Veränderungen bzw. Grunderkrankungen spielen hier eine wesentliche einher, ohne dass deren kausale Bedeutung jedoch Rolle. Zusätzlich ist der soziokulturelle Kontext mit bereits hinreichend geklärt ist. seiner in den westlichen Industrieländern stärkeren 454
Claas Lahmann, Peter Henningsen & Michael Noll-Hussong: SOMATOFORM PAIN DISORDER – OVERVIEW Psychiatria Danubina, 2010; Vol. 22, No. 3, pp 453–458 NEUROBIOLOGIE UND Die zentrale Bedeutung des Stresskonzepts innerhalb PSYCHOPHYSIOLOGIE der Medizin, auch und gerade auf der Suche nach der Verbindung zwischen Körper und Psyche, lässt Gerade im Hinblick auf die Neuroplastizität selbst erwarten, dass die Hypothalamus-Hypophysen-Neben- einfacher Nervensysteme (Kandel 2001) überrascht es nierenrinden-Achse (HPA-Achse) auch bei Somatisie- wenig, dass Bindungsstörungen (Stuart und Noyes rung und somatoformen Schmerzbeschwerden Gegen- 1999) bei der Genese somatoformer Schmerzen von stand wissenschaftlicher Betrachtung ist. Im Gegensatz herausragender Bedeutung sein können (Buffington zum depressiven Formenkreis konnte bei Patienten mit 2009). Säugetiere reagieren dann mit Angst bzw. Vege- organisch unerklärlichen Symptomen eine reduzierte tativem Arousal, wenn sich eine wichtige Bezugsperson, Aktivität der HPA-Achse bzw. der Nebenniere z.B. die Mutter, von ihrem Kind entfernt. Die gefunden werden (Ehlert et al. 2001; Parker et al. 2001). Entwicklung eines solchen beziehungsregulierenden In Hinblick auf die Frage nach genetischen Faktoren Netzwerkes ist evolutionär gesehen sinnvoll, denn bei der somatoformen Schmerzstörung und anderen Beziehungserhalt und Leben in der Gruppe stellt bei psychosomatischen Störungsbildern sind derzeit For- sozialen Tieren einen evolutionären Vorteil dar. schungen im Bereich der Epigenetik besonders im Reguliert wird dieses System neuronal zumindest Kontext er schon für den Menschen nachgewiesenen teilweise durch limbische und paralimbische Strukturen, Bedeutung der Stressregulation von hohem Interesse. beim Menschen ist es mit höheren kortikalen Struk- Im Rattenmodell konnte gezeigt werden, dass die turen, besonders des präfrontalen Cortex, verbunden. Erfahrung von geringem elterlichem Pflegeverhalten die Stressvulnerabilität lebenslang erhöht (Weaver et al. Eine erhöhte Stress- und Schmerzvulnerabilität kann 2004). Es lässt sich nunmehr erstmals bis hin auf die durch das Einwirken ungünstiger Umweltbedingungen Ebene des Genoms abbilden, dass frühe biographische während der Ausreifung des genetisch determinierten Beziehungserfahrungen über eine Kette von biolo- Stressverarbeitungssystems entstehen (McEwen 2007), gischen Prozessen schließlich hochspezifische und wobei traumatisierenden Lebensereignissen, und hier zudem zeitlich nachhaltige molekularbiologische insbesondere frühkindlichem sexuellem Missbrauch, Veränderungen bewirken, welche kausal für eine eine besondere Bedeutung zukommt (Sack et al. 2007). erhöhte bzw. erniedrigte Stressreaktivität verantwortlich Dabei scheinen körperliches und seelisches Schmerzer- sind. Beim Menschen wurden mittlerweile bereits leben in deutlicher Wechselwirkung zu stehen: epigenetische Effekte auf die Regulation des Birenbaum (2000) untersuchte, wie bzw. mit welchen hippokampalen Glucokortikoid-Rezeptors bei kind- Symptomen Kinder und Teenager am häufigsten auf lichem Missbrauch gezeigt (McGowan et al. 2009). den bevorstehenden oder schon eingetretenen Tod eines Die größte Anzahl an neurobiologischen krebskranken Geschwisters reagieren. Er fand, dass bei Untersuchungen zu somatoformen Schmerzen und Kindern und Jugendlichen in dieser ausgeprägten andere somatoformen Störungen stammen aus dem seelischen Belastungssituation schmerzhafte körperliche Bereich der Bildgebung. In einer ersten Studie, welche Reaktionen ganz im Vordergrund stehen, vor allem die SPECT (single photon emission computed Kopf- und Bauchschmerzen. Vor dem Hintergrund tomography) in der Untersuchung somatoformer dieser Befunde, vor allem aber im Kontext der starken Störungen einsetzte, konnten Hypoperfusionen in neuroanatomischen Überlappung zwischen Schmerz- verschiedenen Hirnregionen gefunden werden - und Emotions-relevanten peripheren und ZNS- eindeutige Lateralisierungsphänomene ließen sich Regelkreisen bezeichnet Craig (2002) Schmerz als eine jedoch nicht nachweisen (Garcia-Campayo et al. 2001). homöostatische Emotion, vergleichbar mit dem Affekt Bildgebungsstudien mit Hilfe der funktionellen der Angst oder Traurigkeit. Magnetresonanztomographie (fMRI, fMRT) bei der Auf neurochemischer Ebene wird dem Neuro- somatoformen Schmerzstörung (Gracely et al. 2002; transmitter Serotonin eine besondere Bedeutung für die Stoeter et al. 2007; Gündel et al. 2008) zeigten bei der somatoforme Schmerzstörung zugeschrieben, wenn- Applikation peripherer (Schmerz)Reize eine erhöhte gleich das serotonergen System auch bei fast allen zentrale Aktivierung verschiedener für die Stress- und anderen psychiatrischen bzw. psychosomatischen Störu- Affektverarbeitung (Angst, Ekel, Freude, Trauer) ngen eine wichtige Rolle spielt (Russo et al. 2009). Für bedeutsamer Hirnareale, insbesondere der Insula, des das Fibromyalgie-Syndrom konnte ein Polymorphismus anterioren Gyrus cinguli (ACC) sowie der Amygdala. in den Serotonin-Rezeptor-Genen nachgewiesen werden Von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass auch (Frank 2004). Vor dem Hintergrund einer erhöhten sozialer Schmerz, wie z.B. bei Gefühlen des Schmerzempfindlichkeit bei chronischen Schmerz- Ausgeschlossenwerdens, zumindest in teilweiser patienten scheint es darüber hinaus einen möglichen Überlappung die sogenannte Schmerzmatrix Zusammenhang mit der genetisch bedingten, (Eisenberger et al. 2003) aktiviert, die in ähnlicher interindividuell unterschiedlichen Ausprägung der Weise bei er zentralnervösen Verarbeitung somatischer Katecholamin-O-methyltransferase-Aktivität zu geben, Schmerzreize aktiviert wird. wobei β2- und β3-Adrenorezeptoren moduliert zu Bemerkenswert wenig wurde insgesamt bislang zur werden scheinen (Nackley et al. 2007). Kenntnis genommen, dass gerade Veränderungen bzw. 455
Claas Lahmann, Peter Henningsen & Michael Noll-Hussong: SOMATOFORM PAIN DISORDER – OVERVIEW Psychiatria Danubina, 2010; Vol. 22, No. 3, pp 453–458 Störungen in zwischenmenschlichen Beziehungen ALLGEMEINE zeitlich gehäuft mit der Erstmanifestation oder der HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN ZUM Exazerbation von Schmerzen oder anderen Körper- beschwerden einhergehen können. Gerade in diesem UMGANG MIT PATIENTEN MIT Zusammenhang verdienen Untersuchungen zum System SOMATOFORMEN SCHMERZEN der sog. Spiegelneurone (Rizzolatti et al. 2009) sowie zur Empathiefähigkeit (Decety 2009) besondere Mehr als bei anderen psychischen Störungen hat Beachtung und sind Gegenstand ambitionierter wie insbesondere bei somatoformen Schmerzen die vielversprechender Forschungsbemühungen (Cheng et psychosomatische Grundversorgung im somatischen al. 2008). Kontext als auch die Kooperation zwischen somatischen Ärzten und psychotherapeutischen Mitbehandlern einen hohen Stellenwert. Begründet liegt dies in den DIAGNOSTIK, KLASSIFIKATION somatisch ausgerichteten Krankheitsmodellen der UND DIFFERENTIALDIAGNOSTIK Patienten, die sich durch eine vorschnelle Überweisung zum Psychotherapeuten häufig abgeschoben und in Bei im Vordergrund stehender Schmerzsymptomatik ihrem Leiden an körperlichen Schmerzen nicht wird häufig die Diagnose einer „anhaltenden ausreichend ernst genommen fühlen. Entsprechend somatoformen Schmerzstörung“ (F45.40) gestellt. sollte vor allem in der Initialphase der Behandlung die Allerdings ist diese diagnostische Entität nicht Symptomklage des Patienten in einer aktiven Weise unproblematisch, da die Diagnosekriterien der entgegen genommen und durch Nachfragen und ansonsten deskriptiven und atheoretischen ICD-10- Anregungen strukturiert werden. Die teils sehr Struktur zuwider laufen und eine „Verbindung [des ausführlichen Schilderungen der Schmerzen sollten Schmerzes] mit emotionalen Konflikten oder dabei nicht als Widerstand interpretiert werden, sondern psychosozialen Problemen (Dilling et al. 2008a) stellen das für die weitere Therapie wesentliche fordern. „Diese sollten schwer genug sein, um als Material dar. Die „Sprache der Schmerzen und entscheidende ursächliche Einflüsse zu gelten“ (Dilling Körperbeschwerden“ sollte also als die momentan et al. 2008a). Die Betonung der Dominanz von einzig mögliche Ausdrucksweise des Patienten verstanden werden. Auf dem Boden einer tragfähiger psychosozialen Faktoren führt jedoch bei vielen werdenden therapeutischen Beziehung kann dann im Patienten zu Klassifikationsproblemen, da während weiteren Verlauf versucht werden, die Schmerz- unterschiedlicher Erkrankungsphasen und insbesondere beschwerden zunehmend in den Kontext von zu Beginn einer somatoformen Schmerzstörung Beziehungsepisoden und Affekten zu rücken. eindeutige somatische Faktoren ätiologisch und Aus dieser aktiv stützenden therapeutischen Haltung therapeutisch im Vordergrund stehen können, während entspringt die Form der ‚tangentialen Gesprächs- in anderen Phasen psychosoziale Faktoren von hoher führung‘. Dies bedeutet, dass Aspekte des psychischen Relevanz sind und psychosoziale Interventionen die Erlebens und des Zusammenhangs von psychosozialen primären Behandlungsoptionen darstellen (Rief et al. Belastungsfaktoren und Körperbeschwerden zumindest 2009). Zudem ist die Beurteilung der Kausalität in der initial wichtigen Phase der psychosomatischen psychosozialer Belastungsfaktoren selbst im Kontext Grundversorgung eher beiläufig angesprochen und aufwändiger Begutachtungen schwierig und im somit dezidiert psychotherapeutische Prozesse weder klinischen Alltag kaum valide. Aus diesem Grund vom Rahmen noch von der Wortwahl explizit wurde 2009 die „Chronische Schmerzstörung mit angestrebt werden. Der Zugang zu diesen somatischen und psychischen Faktoren“ (F45.41) Themenbereichen kann vielmehr durch die Einführung aufgenommen (Rief et al. 2009). Diagnosekriterien sind allgemeiner Begriffe wie ‚Stress‘ oder ‚Belastungs- im Vordergrund des klinischen Bildes stehende, seit reaktion‘ bzw. die sorgfältige Aufklärung über mögliche mindestens 6 Monaten bestehende Schmerzen in einer Störungsmodelle wie z.B. einer Dysbalance im oder mehreren anatomischen Regionen, die ihren vegetativen Nervensystem, ggf. in Analogie zum Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder Betriebssystem eines Computers, erleichtert werden. einer körperlichen Störung haben. Psychischen Faktoren Aus dieser Haltung heraus sollte in der Frühphase der wird eine wichtige Rolle für Schweregrad, Exazerbation Therapie auch die direkte Deutung psychosozialer oder Aufrechterhaltung der Schmerzen beigemessen, Zusammenhänge sowie die Konfrontation mit inneren jedoch nicht die ursächliche Rolle für deren Beginn Widerständen oder konflikthaften Aspekten des Erle- (Rief et al. 2009). bens und Verhaltens weitestgehend vermieden werden. Nicht selten werden über die Schmerzen hinaus Vielmehr sollten die sich zumeist in Klagen über weitere Körperbeschwerden geklagt, so dass diffe- Schmerzen und andere Körperbeschwerden erschöp- rentialdiagnostisch auch weitere somatoforme Störun- fenden Äußerungen des Patienten als spezifische und gen wie die Somatisierungsstörung (F45.0), die momentan einzig mögliche Kommunikationsform des undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1) oder Patienten verstanden werden. Zugleich kann die ge- eine somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3) meinsame Verständigung über somatische Beschwerden in Betracht kommen (Dilling et al. 2008a,b). jedoch eine Chance sein, einen für die weitere 456
Claas Lahmann, Peter Henningsen & Michael Noll-Hussong: SOMATOFORM PAIN DISORDER – OVERVIEW Psychiatria Danubina, 2010; Vol. 22, No. 3, pp 453–458 Behandlung bedeutsamen kommunikativen Prozess zu 11. Frank B, Niesler B, Bondy B, Späth M, Pongratz DE, initiieren. Die häufig von Patienten aufgeworfene Frage Ackenheil M, Fischer C, Rappold G: Mutational analysis nach einer somatischen oder psychogenen Ätiologie der of serotonin receptor genes: HTR3A and HTR3B in Beschwerden kann mit dem Versuch beantwortet fibromyalgia patients. Clin Rheumatol 2004; 23:338–44. werden, ein integratives bio-psycho-soziales Modell mit 12. Garcia-Campayo J, Sanz-Carrillo C, Baringo T, Ceballos C: SPECT scan in somatization disorder patients: an einer Haltung des „sowohl als auch“ statt „entweder exploratory study of eleven cases. Aust N Z J Psychiatry oder“ zu etablieren. Insgesamt sollte die therapeutische 2001; 35:359–63. Haltung im Umgang mit Patienten, die – wie bei 13. Gracely RH, Petzke F, Wolf JM, Clauw DJ: Functional Patienten mit somatoformen Schmerzen häufig zu magnetic resonance imaging evidence of augmented pain beobachten – nur über eine eingeschränkte Fähigkeit zur processing in fibromyalgia. Arthritis Rheum 2002; Wahrnehmung und Verbalisierung eigener Affekte 46:1333–43. haben und häufig nicht über das volle Maß an ich- 14. Gündel H, Valet M, Sorg C, Huber D, Zimmer C, strukturellen Fähigkeiten verfügen, die therapeutische Sprenger T, Tölle TR: Altered cerebral response to Haltung modifiziert werden. Hilfreich ist hier ein noxious heat stimulation in patients with somatoform pain selektiv-authentisches Therapeutenverhalten, das im disorder. Pain 2008; 137:413–21. Gegensatz zu strenger analytischer Neutralität einer 15. Henningsen P: Somatisierung und Affektregulation – aktiven und unterstützenden Grundhaltung im Sinne Elemente eines interpersonellen Modells. In: Rudolf G, eines „Prinzips der Antwort“ statt dem „Prinzip der Henningsen P (Hrsg.). Somatoforme Störungen. Stuttgart: Deutung“ folgt. Schattauer, 1998. Diese Grundvariablen im Umgang mit somato- 16. Henningsen P, Zipfel S, Herzog W: Management of functional somatic syndromes. Lancet 2007;.369:946–55. formen Schmerzpatienten sind auch bereits an anderer 17. Henningsen P, Sattel H, Gündel H, Guthrie E, Kruse J, Stelle beschrieben (Lahmann et al. 2007, Ronel et al. Lahmann C, Noll-Hussong M, Ohmann C, Ronel J, Sack 2008) und habe sich in einer randomisierten klinischen M, Sauer N, Schneider G: Psychodynamic-interpersonal Multi-Center-Studie als wirksam erwiesen (Henningsen psychotherapy for patients with pain-predominant et al. 2009). multisomatoform disorder: a randomized controlled trial. Submitted, 2009. LITERATUR 18. Hessel A, Beutel M, Geyer M, Schumacher J, Brähler E: Prevalence of somatoform pain complaints in the German 1. 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