Sozial - Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung

Die Seite wird erstellt Hortensia-Luzy Heine
 
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Sozial - Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung
ZÜRCHER HOCHSCHULE FÜR
NR. 16 / 2022                              ANGEWANDTE WISSENSCHAFTEN   MAGAZIN ZHAW SOZIALE ARBEIT

    Seite 12
               Menschen mit Behinderung:
               Wege zur Selbstbestimmung
                                                                                sozial
Sozial - Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung
EDITORIAL

                                                 Wie sozial sind wir noch mit
                                                     allen diesen Tools?
                                            «Ich bin halt kein Telefonmensch», antwortet ein Freund jeweils,
                                            wenn ich ihn frage, warum er eigentlich nie meine Anrufe anneh-
                                            me. Natürlich ist es netter, mit ihm in einer Bar zu stehen. Gemein-
                                            same Erlebnisse stärken jede Beziehung. Aber wenn ich jemanden
                                            so lange kenne wie ihn, dann empfinde ich unsere Freundschaft
                                            nicht weniger stark trotz ein bisschen Elektronik zwischen uns. Er
                                            schon. Machen uns die Geräte zu anderen Menschen?
                                                  Diese Frage hat Sozialarbeitende wohl noch nie so umgetrie-
                                            ben wie seit der Corona-Pandemie. Soziales verband man stets mit
                                            direktem Kontakt: einander die Hand geben, Gerüche wahrneh-
                                            men, Nonverbales wie zappelnde Beine registrieren und dabei
Impressum                                   gemeinsam Lösungswege suchen. Sozial sein ohne physische
HERAUSGEBER
ZHAW Soziale Arbeit
                                            Präsenz war undenkbar. Mittlerweile ist das anders. Wir entwickeln
Pfingstweidstrasse 96                       neue Verhaltensweisen. Natürlich kann das Digitale das Erlebnis
Postfach, 8037 Zürich
REDAKTION                                   einer realen Begegnung nicht ersetzen. Aber wir differenzieren
Regula Freuler (Leitung), Christine Zürn;
Andrea Koch, Notice Design, Zürich
                                            stärker, in welcher Situation welches Medium passt. Die Digitalisie-
(Gestaltung); Beatrice Geistlich (Bild)     rung beginnt, unser Verständnis des Sozialen zu verändern. Was
ADRESSÄNDERUNGEN
zhaw.ch/sozialearbeit/adressaenderung       bedeutet das für die Soziale Arbeit?
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                                            Beispiel aus der Forschung erhalten Sie in dieser Ausgabe mit dem
adressverwaltung.sozialearbeit@zhaw.ch      Text von unserem Dozenten David Lätsch über Algorithmen. Aus-
DRUCK UND AUFLAGE
Schmid-Fehr AG, Goldach;
                                            serdem bereiten wir ein Weiterbildungsangebot zu digitalen Kom-
20 000 Exemplare; zweimal jährlich          petenzen in der Sozialen Arbeit vor. Sie werden von uns hören -
Klimaneutral gedruckt auf
FSC-zertifiziertes Papier.                  vermutlich auf dem elektronischen Weg.
Gedruckt in der Schweiz.
                                                                                                                   Foto: Peter Hauser

zhaw.ch/sozialearbeit
                                            Herzlich,
 47.7965 cm
                                            Frank Wittmann
                                            Direktor ZHAW Soziale Arbeit
Sozial - Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung
INHALT

                                                                                                                                                                                                                       Algorithmen: fair oder unfair?
                                                                                                                                                                                                                       Seite 8

                                                                                                                                 Selbstbestimmt dank Subjektfinanzierung   Wie sähe gerechtere Sexarbeit aus?          Alumna Lea-Maria Leu
                                                                                                                                 Seite 12                                  Seite 26                                    Seite 28

                                                                                                                                 FORSCHUNG — PRAXIS — WEITERBILDUNG                                                    RUBRIKEN
Foto Cover: Mali Lazell; Fotos Inhalt: Mali Lazell, Yoshiko Kusano, Noëlle Guidon; Illustration Nathalie Lees / «The Guardian»

                                                                                                                                 6 Zu viele Köche                            18 Mehr als Kafikränzli                   4    NOTIERT
                                                                                                                                                                                                                            Neue Forschungsprojekte
                                                                                                                                      Partizipationsprojekte: Wann sie             Wer aktiv ist, bleibt länger             und Studien
                                                                                                                                      scheitern, und wann sie gelingen.            selbständig. In unserer alternden
                                                                                                                                                                                                                       20 INTERVIEW
                                                                                                                                                                                   Gesellschaft ist eine vielfältige
                                                                                                                                                                                                                          mit André Woodtli,
                                                                                                                                 8    Algorithmen gegen                            Beteiligungskultur wichtig.            Vor­steher Amt für Jugend

                                                                                                                                      Ungerechtigkeit                                                                     und Berufsberatung Kanton

                                                                                                                                      Computer können fairer
                                                                                                                                                                             24 Wie aus Wut ein                           Zürich, und den ZHAW-
                                                                                                                                                                                                                          Dozierenden Thomas
                                                                                                                                      entscheiden als Menschen.                 Netzwerk entsteht                         Gabriel und Daniela Reimer

                                                                                                                                      Der Preis ist die Freiheit.                  Care Leaverin Rose Burri nahm       28 ALUMNI
                                                                                                                                                                                   an einem ZHAW-Projekt teil.            Master-Absolventin
                                                                                                                                 11 Verhandlungssache                              Heute ist sie Präsidentin des          Lea-Maria Leu über
                                                                                                                                                                                                                          ihre Arbeit bei der KESB
                                                                                                                                                                                   Vereins Careleaver Schweiz.
                                                                                                                                      Bildschirmzeit, Party und
                                                                                                                                      Privatsphäre: Mitbestimmung                                                      29 SOZIPEDIA
                                                                                                                                      im Jugendheim                          26 Bordell mit                               Eine Kolumne über
                                                                                                                                                                                                                          Fachbegriffe auf Abwegen
                                                                                                                                                                                Selbstorganisation
                                                                                                                                 12 Hier bin ich meine                             Was nötig wäre, um die              30 INTERNATIONAL
                                                                                                                                                                                                                          von Debora D’Alessandri
                                                                                                                                    eigene Chefin                                  unfairen Machtverhältnisse auf
                                                                                                                                                                                                                          aus Lesbos
                                                                                                                                                                                   dem Sexmarkt auszuhebeln:
                                                                                                                                      Menschen mit Behinderung
                                                                                                                                                                                   Anleitung zur Utopie.               31   VERANSTALTUNGEN
                                                                                                                                      sollen dank Subjektfinanzierung
                                                                                                                                      ihr Leben selbst gestalten. Aber                                                 32 CARTOON
                                                                                                                                      wie klärt man ihren Bedarf?                                                         von Lawrence Grimm

                                                                                                                                                                                        3
Sozial - Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung
KINDESSCHUTZ

                  Aufmerksame
                    Schulen
          Rund jede oder jeder sechste Schweizer
          Jugendliche hat Erfahrungen von Miss-
          brauch oder Vernachlässigung. In Viet-
          nam ist geschätzt die Hälfte der Ju-
          gendlichen betroffen. Die Meldezahlen
          liegen aber viel tiefer, vor allem in Viet-
          nam. Wie können Sekundarschulen hel-
          fen, dass Gefährdungen erkannt werden
          und angemessen darauf reagiert wird?
          Dies herauszufinden, steht im Zentrum
          einer dreijährigen Studie des Instituts
          für Kindheit, Jugend und Familie und
          der Hanoi University of Public Health. Sie
          wird vom Schweizerischen Nationalfonds
          finanziert. Vorgesehen sind repräsenta-
          tive Schülerbefragungen und qualitative
          Interviews, Workshops mit Schulverant-
          wortlichen und Entscheidungsträgerin-
          nen und -trägern in der Verwaltung.
NOTIERT

                        HATE SPEECH                                                 JUGENDARBEIT

          Wer sind die digitalen
           Trolle der Schweiz?
                                                             WhatsApp, Instagram,
                                                                TikTok und Co.
          Ein Forschungsteam des Instituts für
          Delinquenz und Kriminalprävention der
          ZHAW und des Instituts für Soziologie         Nicht nur Eltern, sondern auch viele Fachpersonen der Jugendarbeit
          der Universität Zürich geht der Frage         kennen das Problem: Ist man nicht selber regelmässig in sozialen Netz-
          nach, wer in der digitalen Schweiz            werken unterwegs, verliert man bald einmal den Anschluss. Doch digi-
          «hasst» – und wie oft. Zum einen soll         tale Medien sind für Jugendliche ein bedeutender Sozialraum. Wie nut-
          das Ausmass digitaler Hassrede ermit-         zen Jugendarbeitsstellen sie? Und wie bewerten Jugendliche dies?
          telt werden. Zum anderen wird unter-          Diesen Fragen ging Andrea Scholian vom Institut für Kindheit, Jugend
          sucht, in welchen soziodemografischen         und Familie in einer Studie nach, die im Rahmen des departementalen
          und -­ökono­mi­schen Gruppen Täter und        Innovationsprogramms «Soziale Arbeit der Zukunft» ermöglicht wurde.
          Täterinnen beziehungsweise die Opfer          Interviews in drei Gemeinden des Kantons Zürich ergaben ein sehr he-
          besonders oft vertreten sind. Die Studie      terogenes Bild. So beachten Sozialarbeitende vorwiegend jene Kanäle,
          wird vom Bundesamt für Kommunika­             die sie als Erwachsene selbst nutzen. Durchgängig ein wichtiger Diskus-
          tion finanziert und soll im Frühsommer        sionspunkt ist die Privatsphäre. Was auffiel: Online erreicht die Jugend-
                                                                                                                                    Foto: DEEPOL / plainpicture

          2022 abgeschlossen werden.                    arbeit auch zurückhaltende Teenager, die sich im Treff nicht gut durch-
                                                        setzen können, und jene mit noch anderen Freizeitstrukturen. Würden
                                                        Sozialarbeitende digitale Medien aktiver einsetzen, wäre dies für die
                                                        Jugendarbeit bereichernd. Gerade seit der Covid-Pandemie ist dies of-
                                                        fenkundig geworden.

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Sozial - Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung
MIGRATION UND INTEGRATION                                                    SMART HOSPITALS

                    «Gib nicht auf»:                                                                           Mit einer App die
                                                                                                               Mobilität fördern
               Minderjährige Flüchtlinge
                   lernen von Peers
                                                                                                           Sind Patientinnen und Patienten im
                                                                                                           Akut­spital lange immobil und bettläg-
                                                                                                           rig, kann es zu Komplikationen und
                                                                                                           verzögertem Heilungsverlauf kommen.
               Nasrin möchte einmal Anwältin werden. Mamadou rät: Lernt zuerst                             Letztlich wird dadurch das Gesundheits-
               Hochdeutsch und erst danach Schweizerdeutsch. Abdi weiss: Mach eine                         system belastet. Es gilt also, individuel-
               gute Lehre, dann wirst du immer Arbeit finden. Und Mortaza empfiehlt:                       le körperliche Aktivitätsziele zu setzen,
               Wenn du traurig bist, treib Sport - und gib nie auf. Nasrin, Mamadou,                       die von medizinischen und pflegeri-
               Abdi und Mortaza sind ehemalige Mineurs non accompagnés, kurz MNA.                          schen Fachkräften monitorisiert werden
               Sie sind als Minderjährige allein in die Schweiz gekommen. Wie haben                        können. Um dies zu ermöglichen, ent-
               sie die Sprache gelernt? Eine Lehrstelle gefunden? Sich mit Schweize-                       wickelt Samuel Wehrli, Leiter des Netz-
               rinnen und Schweizern angefreundet? Antworten auf solche Fragen                             werks Soziale Arbeit und Digitalisie-
               können jüngeren MNA dabei helfen, eigene Perspektiven zu entwickeln.                        rung am Departement Soziale Arbeit,
               Lernen von Peers: Das ist das Ziel des Projekts «My Perspective» vom                        eine digitale Lösung. Diese soll auf zwei
               Verein Peer-Campaigns. In Workshops werden die MNA mit Interview-                           Arten nutzbar sein: zum einen als nicht-­
               und Videotechniken vertraut gemacht, anschliessend drehen sie kurze                         medizinisches Produkt für Patientinnen
               Filme mit Ex-MNA. Seit dem Start der Pilotphase im Sommer 2020 fan-                         und Patienten, etwa in Form eines Fit-
               den drei Workshops statt, insgesamt sind bis Sommer 2021 neun Videos                        nesstrackers oder einer Motivations-­
               entstanden. Ein ZHAW-Team unter der Leitung von Eva Mey vom Institut                        App, zum anderen als Medizinprodukt
               für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe ist mit der Evaluation                          für Fachpersonen. Beide Arten sollen als

                                                                                                                                                        NOTIERT
               des ganzen Projekts betraut, das noch bis Ende 2022 laufen                                  kommerzielle Applikationen auf einer
               wird. In einem Zwischenschritt wurde die Pilotphase                                         Plattform implementiert werden. Ent-
               evaluiert. Erkenntnisse daraus fliessen nun in die                                          wickelt wird diese digitale Lösung im
               weitere Umsetzung ein. Dazu gehört die Empfeh-                                              Rahmen des Projekts «Smart Hospital»
               lung, in der Themensetzung für die Videos darauf                                            vom Digital Health Lab, einer virtuellen,
               zu achten, dass auch Themen jenseits von Bildung                                            interdepartementalen Organisation der
               und Beruf ihren Platz finden.                                                               ZHAW. Innosuisse fördert «Smart Hos-
                  www.myperspective.ch                                                                     pital» mit 5,7 Millionen Schweizer Fran-
                                                                                                           ken. Das Projekt startete im Januar 2022
                                                                                                           und läuft voraussichtlich bis 2025.

                                                       DIE ZAHL

                                1,2 Mio.
               So viele Freiwillige führten im Jahr 2020
               in der Schweiz eine unbezahlte Tätigkeit
                   bei Organisationen, Vereinen oder
                    öffentlichen Institutionen aus.
Foto: iStock

                         Quellen: Bundesamt für Statistik; Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft

                                                                                                       5
Sozial - Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung
Miteinander reden ist Gold
    in der Stadtentwicklung
In einer demokratischen Gesellschaft gestaltet und bestimmt die
     Bevölkerung ihren Lebensraum mit. Zu Konflikten kommt
  es oftmals dann, wenn die Erwartungen nicht geklärt wurden.
                         Von ANKE KASCHLIK

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Sozial - Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung
Sie appellieren an Kreativität und en-      Es gibt also zwei Positionen, die nicht      enstehen soziale Innovationen. Zudem
                                    den gern energisch mit Ausrufezeichen:      einfach zu vereinbaren sind, wenn sie        sind diese Wissensbestände implizit
                                    «Brings uf d’Strass!», «Stadtidee!» oder    nicht angesprochen werden. Was aber          immer vorhanden und wirken im Zwei-
                                    «(Y)our City!» heissen einige Mitwir-       braucht es? Im Grunde drei Dinge: eine       fel gegen das geplante Vorhaben. Ich
                                    kungsprojekte der Stadt Zürich. In Ba-      gute Kommunikation, Zeit und Ergeb-          bin überzeugt davon, dass die Bevölke-
                                    sel soll Partizipation gesetzlich veran-    nisoffenheit. Damit widerspricht Par-        rung auch einschränkende Planungen
                                    kert werden. Und in der Zentralschweiz      tizipation in gewissem Masse den sehr        mittragen kann, wenn der Sinn dahin-
                                    hat man mit «Dialog Luzern» unlängst        unterschiedlichen Handlungslogiken           ter in einem grösseren Zusammenhang
                                    eine Partizipationsplattform lanciert.      beider Seiten.                               verständlich ist.
                                         Dies sind nur wenige Beispiele für          Die Stadt beziehungsweise die Ver-
                                    einen Trend in der Stadt- und Gemein-       waltung handelt, wenn sie muss, wenn              Sonderrolle der Stadt
                                    deentwicklung: die Förderung kon-           sie den Auftrag dafür erhalten hat sowie     Neben der Angst vor den konkreten
                                    kreter Partizipation der Bevölkerung        innerhalb von Hierarchien und Fachres-       Anliegen aus der Bevölkerung ist auch
                                    bei der Gestaltung ihres Lebensraums.       sorts. Ihre Arbeit ist an politische Ver-    die Angst vor Machtabgabe durch Par-
                                    Trotz des plausiblen Gedankens dahin-       fahren gebunden. Unsicherheiten wie          tizipation auf städtischer Seite immer
                                    ter – der Bündelung von Kräften und         bei einem Projekt mit offenem Ausgang        noch weit verbreitet. Dies lässt ausser
                                    Wissen – gelingt die Umsetzung nicht        lassen sich kaum im Verwaltungsalltag        Acht, dass mit der Abgabe von Ent-
                                    immer. Dann kommt es zu Frustratio-         integrieren. Zielvereinbarungen und          scheidungsmacht auch die Abgabe von
                                    nen, Verzögerungen oder Konflikten.         Evaluationen sind nach vorherrschen-         Verantwortung und damit letztlich Ar-
                                    Als Stadt- und Regionalforscherin durf-     den Managementanforderungen kaum             beitserleichterung für die Verwaltung
                                    te ich in Deutschland und in der Schweiz    in der Lage, ergebnisoffene Prozesse         verbunden ist. Die Erfahrung zeigt: Vor-
                                    in und mit Städten unterschiedlicher        abzubilden. Bürgerinnen und Bürger           haben, die aus partizipativen Verfahren
                                    Grösse zahlreiche Erfahrungen mit Par-      hingegen sind aktiv im Rahmen der            resultieren, werden üblicherweise auch
                                    tizipation sammeln. Dabei zeigte sich:      Stadtentwicklung, wenn und vor allem         von denjenigen mitgetragen, die nicht
                                    Oftmals sind vergleichbare Faktoren         solange sie wollen und sie den Eindruck      direkt beteiligt waren.
                                    für die eine oder andere Reaktion auf       haben, etwas bewegen zu können. Da-               In den überwiegend fertig gebau-
                                    ein Projekt entscheidend.                   für braucht es möglichst schnell sicht-      ten Städten wird die Abstimmung un-
                                                                                oder spürbare Entwicklungen.                 terschiedlicher Interessen, Motive und
                                          Angst hier, Ungeduld dort                  Eine weitere wichtige Grundfra-         Ressourcen weiter an Bedeutung ge-
                                    Vor allem muss man sich stets etwas         ge: Wie viel Partizipation darf es denn      winnen. Partizipation im Rahmen der
                                    Grundsätzlichem bewusst sein: Ein           sein? In vielen Fällen geht die städti-      Stadtentwicklung ist herausfordernd.
                                    Partizipationsprojekt oder -prozess hat     sche Seite fälschlicherweise davon aus,      Aber es führt kein Weg daran vorbei:
                                    immer zwei Seiten. Die eine Seite initi-    der Bevölkerung möglichst viel Mit-          Nicht nur die Stadtentwicklung, son-
                                    iert die Partizipation und bietet Teilha-   sprache einräumen zu müssen. Falls           dern auch der Umgang mit dem Kli-
                                    be und Teilnahme an beziehungsweise         aber der Entscheidungsspielraum sehr         mawandel sind soziale Veranstaltun-
                                    fördert diese. Die andere Seite nimmt       klein ist, reicht es aus, wenn die Verwal-   gen. Alle sind betroffen und müssen
                                    teil (oder eben auch nicht) oder fordert    tung lediglich verständlich und nach-        möglichst gemeinsam oder zumindest
                                    Teilhabe ein.                               vollziehbar die einschränkenden Rah-         abgestimmt handeln. Letztlich braucht
                                          Häufig entstehen Unstimmigkeiten      menbedingungen erklärt. So fühlt sich        es dafür nicht weniger als eine Kultur-
                                    schon zu Beginn, nämlich dann, wenn         die Bevölkerung einbezogen und kann          veränderung. Denn Partizipation sollte
                                    eine Erwartungsklärung und gegebe-          darauf vertrauen, dass bei einem ande-       nicht mehr als Zusatzaufgabe betrach-
                                    nenfalls eine Erwartungsanpassung           ren Projekt mit grösseren Spielräumen        tet werden, sondern als selbstverständ-
                                    ausbleibt. Zum Beispiel: Es gibt eine       diese auch genutzt werden.                   licher Teil jeglicher Entwicklungspro-
                                    öffentliche Freifläche, die man neuer-             Ebenso sind Informationsaus-          zesse. Die Stadt ist innerhalb dieser
                                    dings nutzen kann. Auf der einen Sei-       tausch und die Erkundung von Wissen          Prozesse eine Akteurin unter vielen.
                                    te haben wir die Verwaltung, die eine       und Interessen jener Menschen, die in        Dennoch behält sie eine Sonderrolle:
                                    möglichst breite Beteiligung anstrebt.      irgendeiner Weise partizipieren wol-         Sie ist als einzige dem Gemeinwohl
Foto: Urs Jaudas / Tages-Anzeiger

                                    Darum möchte sie die Ideen und Wün-         len, die Grundlage jedes partizipativen      verpflichtet und behält die Planungs-
                                    sche der Anwohnenden erfahren, um           Prozesses – zumindest sollten sie das        hoheit. Daraus ergibt sich eine beson-
                                    diese im Rahmen der Möglichkeiten           sein. Dadurch werden lokale Wissens-         dere Verantwortung – unter anderem
                                    umsetzen zu können. Auf der anderen         bestände erkundet und integriert, die        für Chancengleichheit bei der Beteili-
                                    Seite steht eine locker organisierte        der Verwaltung allein nicht zugänglich       gung an partizipativen Verfahren.
                                    Gruppe von Anwohnenden. Diese er-           wären. In der Folge stehen Entschei-            Weiterbildung: CAS Partizipative Stadt- und
                                    warten, selbst Hand anlegen zu können.      dungen auf breiterer Grundlage, und es          Gemeindeentwicklung

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Sozial - Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung
Illustration: Nathalie Lees; Erstveröffentlichung in «The Guardian»
Sozial - Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung
Algorithmen gegen
             Ungerechtigkeit
                       Zunehmend prägen Algorithmen unser Leben.
                          Sie gelten als unfair. Doch sie bedrohen
                       weniger die Gerechtigkeit als unsere Freiheit.
                                                     Von DAVID LÄTSCH

Ich habe meinen Vornamen nie be-          meinen Vornamen, sondern auch mein           sie gehören, und nicht danach, wer sie
sonders gemocht, aber jetzt macht er      Alter, mein Geschlecht, wann ich den         sind. Dass Denise mehr zahlt als ich,
sich bezahlt. David ist hierzulande ein   Führerschein gemacht habe, ob ich das        obwohl sie für den Algorithmus nichts
grundsolider Name. Also tippe ich den     Auto privat oder beruflich benötige,         anderes sein kann als mein weibliches
Namen brav ins Online-Formular des        meine Postleitzahl und ob ich in den         Ebenbild, das ist ungerecht.
Versicherers ein. Dass das Formular       letzten fünf Jahren einen Schadensfall            Nun klingt diese Art von Unge-
nicht auch meinen Nachnamen haben         hatte. All das habe ich bei Denise exakt     rechtigkeit vielleicht harmlos. Wie aber
will, kann ich mir erklären. Offenbar     reproduziert. Nur eine der Variablen         wäre es, wenn es um das Strafmass gin-
schöpft der Algorithmus aus meinem        hängt damit zusammen, wie Denise und         ge für ein Delikt? Was wäre, wenn ein
Vornamen eine Ahnung, ob ich mein         ich uns bisher verhalten haben: diejeni-     Algorithmus darüber entschiede, ob
Auto zu Schrott fahren werde. Unter       ge zum Schadensfall. Alle anderen die-       sich die KESB in die Erziehung Ihres
anderem aus dieser Wahrscheinlichkeit     nen dem Algorithmus offenbar dazu,           Kindes einmischt? Das nicht deshalb,
wird er ableiten, wie hoch meine Prä-     uns in soziale Kästchen einzuteilen.         weil Sie sind, wer Sie sind. Sondern ein-
mie ist. Nachnamen gibt es wie Sand       Aus der Interaktion unserer Gruppen-         fach darum, weil der Algorithmus für
am Meer. Am Vornamen aber klebt           zugehörigkeiten leitet der Algorithmus       die spezifische Kombination von Zuge-
eine soziale Prognose. Und wenn ich       ab, wie riskant es für die Versicherung      hörigkeiten, die er Ihnen zugeschrieben
Ahmed hiesse? Ich lasse den Versiche-     ist, uns zu versichern.                      hat, eine bestimmte Zukunft entwirft.
rer zweimal rechnen. Von David will             Der Algorithmus arbeitet mit Vor-      Es wird einem mulmig zumute.
er monatlich 854.40 Franken. Und von      urteilen. Für seine Vorurteile hat er
Ahmed? Wieder 854.40 Franken. Das         Gründe, und diese beruhen auf Zah-                Chancen erkennen
ist eine Enttäuschung, denn nichts ist    len. Vermutlich produzieren Frauen in        Vielleicht fragen Sie sich inzwischen,
so erhebend wie die Entdeckung einer      meinem Alter, die in meiner Gegend           warum dieser Artikel eigentlich mit
Ungerechtigkeit. Also suche ich weiter    wohnen und ungefähr gleich lange den         «Algorithmen gegen Ungerechtigkeit»
und werde fündig: Hiesse ich Denise, so   Führerschein haben wie ich, mehr Scha-       überschrieben ist. Von der Psychoana-
nähme die Versicherung 885.20 Fran-       densfälle als Männer in meinem Alter,        lyse schrieb Karl Kraus, dass sie die
ken von mir. Wenn schon die Ahmeds        die in meiner Gegend wohnen und un-          Krankheit sei, für deren Therapie sie
nicht diskriminiert werden, so immer-     gefähr gleich lange den Führerschein         sich halte. Die Algorithmen, möchte ich
hin die Frauen.                           haben wie ich. Das elementare Problem        zu bedenken geben, sind die Therapie
                                          des Vorurteils ist nicht, dass es auf fal-   für jene Krankheit, für die sie gehalten
    Verführerische Vorurteile             schen Annahmen über Zusammenhänge            werden. Warum?
Mein Rencontre mit dem Formular ist       zwischen Merkmalen von Gruppen be-                Zunächst: Die Kritik daran, wie
ein Beispiel für die lauernde Präsenz     ruht. Manche Vorurteile beruhen auf fal-     Algorithmen heute verwendet werden,
der Algorithmen. Das Beispiel führt       schen Annahmen, andere auf richtigen.        ist berechtigt. Nur ist es nicht so, als ob
zu einer grundlegenden Frage: Ist es      Das elementare Problem des Vorurteils        diese Kritik spurlos vorüberginge an der
gerecht, dass Denise mehr zahlt als       ist, dass es uns verführt, Menschen da-      stetig wachsenden Gemeinde der Daten-
David? Eingegeben habe ich nicht nur      nach zu beurteilen, zu welchen Gruppen       analytikerinnen, Sozialwissenschaft­ler,

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Sozial - Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung
Juristen und Ethikerinnen, die sich mit    das Geschlecht durch andere Merk-
          ihnen beschäftigen. Tatsächlich werden     male zu ersetzen, die eng mit dem Ge-
          die Risiken der algorithmischen Ent-       schlecht zusammenhängen, um den
          scheidungsfindung intensiv beforscht       Verlust an Vorhersagekraft wettzuma-
          und Lösungen vorgeschlagen. Manche         chen. Dann müsste die Vorschrift auch
          Risiken kann man dadurch entkräften,       diese Merkmale erfassen. Und wenn
          dass man die Art von Problem verän-        gar nichts mehr hilft, lassen sich Mit-
          dert, die der Algorithmus lösen soll. Im   tel und Wege finden, den Effekt des
          Forschungsprojekt «Prädiktive Chan-        Geschlechts mathematisch auszuglei-
          cenmodellierung», das vom Schweize-        chen, um so wieder Geschlechterge-
          rischen Nationalfonds gefördert wird,      rechtigkeit zu erreichen. Dafür braucht
          entwickeln wir am Departement Soziale      es Reflexion, Innovation, Deliberation
          Arbeit Algorithmen, die den Sozialar-      und Regulation. Das ist die Art, wie
          beitenden helfen sollen, die Potenziale    Demokratien funktionieren. Die Kritik
          unterschiedlicher Hilfen in einem kon-     an den Algorithmen macht Ungerech-
          kreten Kindesschutzfall einzuschätzen.     tigkeit zu einem sichtbaren Problem.
          Hier geht es also nicht darum, Ver-        Vorher war die Ungerechtigkeit in den
          dachtsmomente zu erkennen, sondern         Entscheidungen kein Problem, sondern
          Chancen.                                   bloss eine chronische Misere.
               Indessen hängt die Prognose auch
          in unserem Fall von Vorurteilen ab. So          Algorithmen gegen die Freiheit
          könnte es sein, dass unser Algorithmus     Nur sind die Vorurteile, fürchte ich,
          bei ausländischen Familien seltener        auf lange Sicht das geringste Problem
          Familienbegleitungen empfiehlt als bei     der Algorithmen. Je mehr Daten den
          Schweizer Familien, weil sich Familien-    Algorithmen zur Verfügung stehen,
          begleitungen in den Schweizer Familien     desto weiter werden sie sich entfernen
          stärker bewährt hätten. Das würde dazu     von den Vorurteilen, desto genauer und
          führen, dass man Familienbegleitungen      gerechter werden sie. Mein Versicherer
          künftig noch seltener als bisher in aus-   wird mein Geschlecht und meinen Vor-
          ländischen Familien einsetzt, was die      namen bald gar nicht mehr wissen wol-
          Entwicklung dieser Hilfeform für sol-      len, weil er mein Fahrverhalten kennt:
          che Familien hemmen würde. Damit           Er wird wissen, wo ich in den letzten
          hätte der Algorithmus das, was er vor-     Jahren mit dem Wagen unterwegs war,
          hersagte, nur verstärkt.                   wie oft ich das Tempolimit übertrat und
               Doch auch für solche Probleme         zu welchen Tages- und Nachtzeiten es
          werden Lösungen entwickelt. Am Bei-        mir bevorzugt entfiel, beim Linksabbie-
          spiel von Denise und mir: Was wäre,        gen den Blinker zu setzen. Er wird eine
          wenn den Versicherern untersagt wür-       Prämie berechnen, die exakt auf mich
          de, das Geschlecht in die Berechnung       und mein Risiko zugeschnitten ist.
          einfliessen zu lassen? Wahrscheinlich           Das alles wird furchtbar gerecht
          würden findige Datenanalytikerinnen        sein. Nur werde ich mich als Autofah-
          und -analytiker zunächst versuchen,        rer für meine gerechte Prämie nackt
                                                     ausziehen müssen vor dem Versicherer.
                                                     Sonst nimmt sein Algorithmus einfach
                                                     das Schlimmste von mir an. Die Gnade
   Die Gnade der                                     der Anonymität wird zu einem Luxus
                                                     werden, den sich nur noch die Reichen
Anonymität wird zu                                   leisten können. Und das gälte, Sie ah-
einem Luxus für die                                  nen es, dann nicht nur fürs Autofahren.
                                                     Arme Denise. Armer David.
 Reichen werden.
                                                        Forschung: zhaw.ch/praediktive-chancen-
                                                        modellierung
                                                        Weiterbildung: CAS Digitale Kompetenzen
                                                        in der Sozialen Arbeit

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KINDER- UND JUGENDHEIM

                                                         Spielregeln auszuhandeln,
                                                              will gelernt sein
                                                                                 Von JULIA ROHRBACH

                             Darf Paul die Türe seines Zimmers schliessen, wenn seine             mitgedacht, kommen Zweifel an vermeintlich ernsthaftem
                             Freundin ihn besucht? Darf Marie auf dem Gelände rauchen?            Interesse an ihnen auf. Sie fragen sich zum Beispiel: Wem
                             Und darf Ben länger in den Ausgang gehen, weil Carla es              dient die Zimmerzeitregel über Mittag – mir oder dem Fach-
                             auch durfte? Fachpersonen in Kinder- und Jugendheimen ste-           personal? Wird Mitwirkung als mangelhaft empfunden,
                             hen täglich vor solchen Fragen. Einerseits wollen sie junge          schwächt dies das Vertrauen in die Betreuungspersonen und
                             Menschen ihren Alltag mitgestalten lassen. Anderseits müs-           löst Gefühle der Abhängigkeit aus. Erst wenn Kinder als ak-
                             sen sie zu deren Schutz Regeln aufstellen.                           tive Akteurinnen und Akteure anerkannt und gefördert wer-
                                  Im Forschungs- und Entwicklungsprojekt «Wie wir das             den, sind gute Beziehungen möglich. Die Aktionsbox «Wie
                             sehen» der ZHAW Soziale Arbeit und Integras, gefördert               wir das sehen», die wir gemeinsam mit jungen Menschen in
                             durch die Stiftung Mercator Schweiz, haben wir festgestellt,         Einrichtungen entwickelten, kann als Methode genutzt wer-
                             dass junge Menschen in Einrichtungen viele Gemeinsam-                den, um Regeln des Miteinanders und andere Themen zu dis-
                             keiten darin haben, wo sie mitentscheiden möchten. Ganz              kutieren. Ebenso kann sie den Betreuenden dazu dienen, sich
                             vorne steht die Privatsphäre: unbeobachtete Momente haben            mit ihren eigenen Einstellungen auseinanderzusetzen. Wie
                             zu dürfen und Geheimnisse austauschen zu können. Kinder              wird Beteiligung durch junge Menschen wahrgenommen, und
                             und Jugendliche im Heim wollen im gemeinsamen Prozess                was heisst das für die Praxis? Darüber werden wir an unserer
Foto: Erik Mclean / Pexels

                             mit Sozialarbeitenden Regeln aushandeln können und in                kommenden Tagung mit Integras Fachverband für Sozial-
                             ihren Anliegen ernst genommen zu werden. Erleben junge               und Sonderpädagogik diskutieren. Denn Partizipation muss
                             Menschen ihren Alltag als hoch strukturiert, entwickeln sie –        mehr sein als einige gut gemeinte Aktionen.
                             bewusst oder unbewusst – eigene Strategien, um ans Ziel zu              Tagung: Partizipation in stationären Erziehungshilfen. Sichtweisen,
                             kommen. Auch Rebellion gehört dazu. Fühlen sie sich nicht               Herausforderungen, Ansätze; 16. Juni 2022

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Wie bestimme
                          ich mein
                        Leben selbst?
                       Menschen mit Behinderung haben das Recht
                           auf eine unabhängige Lebensführung.
                       Die Subjektfinanzierung soll das ermöglichen.
                          Doch für die Bedarfsermittlung braucht
                            es Zeit und eine aktive Begleitung.
                                         Von CHRISTIAN LIESEN und ANGELA WYDER

                     Florian Meier ist fast 40, und er ist       Entscheidungen gefällt werden: Wie
                     enttäuscht. Seit vielen Jahren lebt er in   möchte ich leben? Wer soll mich unter­
                     einer Stiftung für Menschen mit kog-        stützen? Für viele Betrof­fene ist das
                     nitiven Beeinträchtigungen. Dort fühlt      völlig neu. So auch für Florian Meier.
                     er sich zwar wohl, aber seit ein paar       Im ersten Abklärungsgespräch wurde
                     Jahren werden Bedarfsabklärungen mit        sein Interesse an der Seefahrt freund-
                     ihm durchgeführt. Zum dritten Mal hat       lich begrüsst. Nach dem zweiten wur-
                     er jetzt am Bedarfsermittlungsverfah-       de entschieden, sein Zimmer seemän-
                     ren teilgenommen. Zum dritten Mal hat       nisch zu dekorieren, mit Tauwerk und
                     er erzählt, was er will. Und wieder ist     Schiffen. Am dritten Gespräch war die
                     nichts passiert. Dabei will er doch See-    Mutter von Florian Meier nicht mehr
                     fahrer werden. Schweizer Seefahrer.         dabei, darüber freute er sich sehr. Aber
                     Das hat er dreimal laut und deutlich zu     hinterher konnte er kaum einordnen,
                     Protokoll gegeben.                          welche Ergebnisse das Gespräch hatte.
                          Florian Meiers Wohnkanton hat          Was war denn nun mit seinem Wunsch,
                     einen Wechsel von der objekt- zur sub-      selbst zu bestimmen, wie er die Gelder
                     jektorientierten Finanzierung vollzo-       verwenden will?
                     gen. Deren Ziel ist es, dass Menschen            In subjektorientierten Finanzie-
                     mit Behinderung ihr Leben freier gestal-    rungen ist die Bedarfsermittlung ein
                     ten können. Dafür sind finanzielle Mit-     entscheidendes Moment. Das neue Sys-
                     tel entsprechend dem Unterstützungs­        tem wird hier für alle Akteurinnen und
                     bedarf vorgesehen. Doch nicht mehr          Akteure zum ersten Mal erleb- und
Fotos: Mali Lazell

                     die Institutionen, sondern die Personen     spürbar. Denn um die benötigten Res-
                     selbst legen fest, wofür sie die Gelder     sourcen individuell und bedarfsgerecht
                     einsetzen wollen. In der Folge müssen       zuzuteilen, muss dargelegt werden,

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wie hoch der Unterstützungsanspruch          darf entsprechen und zugleich das eige-    Die Betroffenen sollen
jeder einzelnen Person ist. Das Er-          ne Bestehen sichern. Aus den genannten
gebnis bestimmt über den zugestan-           Gründen ist die Bedarfsermittlung hoch       sich selbstwirksam
denen Ressourcenumfang – und wirkt           komplex und wird zur Projektionsflä-         erleben. Dazu kann
sich direkt im Leben der Person aus.         che zahlreicher Anliegen. Was also
Die Prozesse, die Personen wie Florian       sollten Fachpersonen wissen, die Men-      auch gehören, sich mit
Meier durchmachen, lassen sich in den        schen wie Florian Meier im Bedarfs-             Rückschlägen
Bedarfserfassungsinstru­menten nicht         ermittlungsprozess begleiten?
gut abbilden. Denn diese Prozesse kön-             Ein solches Verfahren hat zwei       auseinanderzusetzen.
nen nur zu einem kleinen Teil während        Ebenen. Auf der Grundlagenebene wird
der Bedarfserfassung stattfinden. Sie        zunächst festgelegt, welche Elemente
brauchen Zeit und aktive Begleitung.         und Abläufe für die Entscheidungsfin-
                                             dung anzuwenden sind. Dadurch wird
     Verfahren mit zwei Ebenen               das Instrument definiert. Klassischer-
Wenn in Florian Meiers Umfeld nie-           weise gehören eine Selbsteinschätzung,
mand versteht, dass «Seefahrer sein»         eine Fremdeinschätzung sowie ein Ab-
heisst, sich mit der Möglichkeit zu völ-     klärungsgespräch mit allen involvierten
lig neuen Rollen und Lebensentwürfen         Personen dazu. Die Selbsteinschätzung
auseinanderzusetzen, kann der Vor-           wird von der betroffenen Person ausge-
gang der Bedarfserfassung daran nichts       füllt, gegebenenfalls mit Unterstützung
ändern. Freilich wird viel Energie auf       oder in Stellvertretung. Die Fremdein-
die Bedarfserfassung verwendet. In der       schätzung enthält die spe­zi­fisch fach-
Schweiz werden dazu verschiedene In-         lichen Perspektiven. Diese können
strumente eingesetzt. Die Erwartungen        ergänzt werden durch nahestehende
an sie sind vielschichtig. Ein solches In-   Personen: Damit wird die Selbstein-
strument soll objektiv, einheitlich und      schätzung abgerundet. Das Abklärungs-
klar in den Beurteilungskriterien sein,      gespräch dient der Plausibilisierung der
zugleich aber einfach und flexibel in        Bedarfseinschätzungen. Es klärt von-
der Handhabung. Und es soll die indi-        einander abweichende Einschätzungen
viduelle Situation realistisch abbilden.     und sorgt dafür, dass weder eine Unter-
Der Mensch soll sagen können, was er         noch Überversorgung resultiert. Die
braucht, er soll sich «gesehen» fühlen.      Bedarfsermittlungsinstrumente unter-
Ausserdem soll das Ergebnis vergleich-       scheiden sich darin, welche Elemente
bar, eindeutig und fair sein.                sie vorgeben und welche Abläufe sie zur
     Zu diesen vielfältigen, ja kaum         Bedarfsfeststellung verlangen.
verein­baren Erwartungen kommt es,
weil für das Verständnis darüber, was             Keine vorgegebenen Muster
ein Bedarf ist, unterschiedliche Be-         Auf der zweiten Ebene, der eigentlichen
zugsgrössen bestehen: Menschen mit           Durchführung, arbeitet man sich zur
Behinderung definieren den Bedarf im         Entscheidung vor: dem Leistungsan-
Hinblick auf ihre individuellen Bedürf­      spruch einer Person. Gesetzt ist dabei
nisse, persönlichen Ziele und Lebens-        erst einmal nur, dass am Ende ein Er-
vorstellungen. Ein Kanton dagegen be-        gebnis stehen wird. Wie dieses konkret
hält in der Definition des Bedarfs die       aussieht, kann über längere Zeit hinweg
Unterstützung für sämtliche anspruchs-       offenbleiben. Die Durchführungsebene
berechtigten Menschen im Blick. Er           ist – und das mag überraschen – kon-
möchte seine finanziellen Mittel ge-         kurrierend und kontradiktorisch ange-
recht verteilen und fragt sich, welche       legt. Sie muss mehrere und auch wider-
Leistungen es geben muss und was allen       sprüchliche Perspektiven ins Verhältnis
Menschen möglich sein soll.                  setzen. Sie funktioniert nicht, wenn
     Die Leistungsanbieter schliesslich      eine Seite darauf verzichten würde, ihre
haben eine organisationale Perspekti-        eigenen Interessen zu vertreten.
ve. Sie möchten mit ihren Angeboten               So ergibt sich eine Abfolge von
und Leistungen dem individuellen Be-         selektiven Entscheidungen, mit denen

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         Das THEATER HORA der Stiftung Züriwerk ist eine
         international renommierte Theatergruppe von
         professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern
         mit kognitiven Beeinträchtigungen.

         Die Zürcher Fotografin MALI LAZELL begleitet die
         Truppe seit Jahren bei Produktionen und Workshops.
         Ihre Fotografien in diesem Heft entstanden 2019
         bei der Produktion «Bob Dylans 115ter Traum».

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nacheinander eine Konstellation von         unterscheiden. Eine Unterstützung zu
Fakten und Sinnbeziehungen aufge-           erhalten, die den persönlichen Lebens-
baut wird und Alternativen eliminiert       vorstellungen entspricht, ist nicht mit
werden. Die Situation der Person mün-       Wunscherfüllung zu verwechseln. Es
det in eine bestimmte, fassbare He-         werden nicht Wünsche wahr, sondern
rausforderung. Was ist relevant und         Bedarfe gedeckt. Was von den Fach-
was nicht? Was ist zugelassen und was       personen zu leisten ist, bleibt also ganz
nicht? Welche Personen werden gehört,       unabhängig vom Instrument dasselbe:
welche nicht? Was wird als Störung des      Ziel ist es, mit den Betroffenen zusam-
Ablaufs angesehen, und was wird zu de-      men Perspektiven zu eröffnen und – auf
ren Vermeidung getan?                       allen Seiten – selbstreferenzielle Be-
     Dabei gibt es keine vorgegebe-         trachtungsweisen zu überwinden.
nen Muster, die man abarbeiten kann.
Stattdessen wird etwas Neues erarbei-            Bei den Leistungen ansetzen
tet: eine einmalige verbindliche Ent-       Man muss die betroffenen Menschen
scheidung beziehungsweise die Grund-        darin begleiten und befähigen, sich mit
lage dazu. Die Entscheidung, die am         den eigenen Bedürfnissen, Wünschen,
Schluss steht, ist eine brauchbare, nicht   Lebensvorstellungen, Ressourcen und
die einzig wahre. Man kann von einer        Beeinträchtigungen auseinanderzuset-
Verfahrenswahrheit sprechen, die man        zen. Man muss herausarbeiten, welche
der geldgebenden Stelle entgegenhalten      Bedarfe hinter den Wünschen und Zie-
und mit der diese sachlich weiterarbei-     len stecken. Und den Betroffenen dabei
ten kann. Letztlich ist die Anerkennung     Raum geben, sich selbstwirksam erle-
des Ergebnisses durch alle Beteiligten      ben zu können, sich mit Rückschlägen
wichtiger als die Frage, welches Verfah-    auseinandersetzen zu können und Ent-
ren zur Anwendung kam.                      scheide revidieren zu dürfen.
     Ein Knackpunkt für die Brauchbar-           Damit wird klar: Ein solcher Pro-
keit der Entscheidung ist aber: Die Si-     zess kann Wochen, Monate oder so-
tuation der Person wird mit den Instru-     gar auch Jahre dauern. Es geht um Le-
menten differenziert erfasst, doch was      bensentscheidungen und darum, sich
dabei herauskommt, muss zu den Leis-        selbst überhaupt in der Rolle einer
tungen passen, die dann erbracht wer-       Person wahrzunehmen, die Entschei-
den. So gibt es beispielsweise eine Vari-   dungen trifft. Die Bedarfsabklärung
ante der Selbsteinschätzung, welche die     ist noch kein Garant dafür, dass ein
persönlichen Ziele von Menschen mit         Mensch mit Behinderungen am Ende            Angebote für die Zukunft
Behinderung in den Vordergrund stellt.      mehr Selbstbestimmung oder Wahl­            Im neuen CAS «Behinderung und
Sie fragt nach den individuellen Le-        freiheit geniesst.                          Selbstbestimmung – Zukunftsorientier-
bensvorstellungen. Im Anschluss wird             Man muss deshalb auch gezielt bei      te Angebote entwickeln» bringen die
verlangt, Massnahmen zu formulieren,        den Leistungen ansetzen. Zukunftsge-        Teilnehmenden ihre Angebotsideen an
die der Zielerreichung dienen.              richtete Bedürfnisse verlangen nach         den Start, beispielsweise eine neue
                                            zukunftsgerichteten Angeboten. Mit          Dienstleistung, ein Produkt oder ein
     Kein Wunschkonzert                     anderen Worten: Es sind Ideen für           Instrument. Sie lernen, wie man Daten,
Diese Variante erfährt in der Praxis eine   Leistungen und Angebote gefragt, die        Bedarfe und Ressourcen strukturiert
hohe Akzeptanz bei Menschen mit Be-         durchlässiger sind als die heutigen.        und zukunftsgewandt analysiert und
hinderung. Sie können ihre Vorstellun-      Sie müssen flexibler und näher bei den      dies für die Angebotsentwicklung und
gen offen formulieren und müssen nicht      Betroffenen sein. Dafür müssen Fach-        -implementierung nutzt. Die Weiter-
einen Kriterienkatalog abarbeiten. Sie      personen und Organisationen zu einem        bildung richtet sich an verantwortliche
fühlen sich als handelnde und selbst-       kreativen und unternehmerischen Um-         Fachleute und Führungskräfte aus der
bestimmte Personen anerkannt, wor-          gang mit den Ressourcen finden. Sich        Behindertenhilfe, an Disability Entre-
um sie auch jahrzehntelang kämpfen          im Dreieck von Bedarfsermittlung, An-       preneurs sowie an Selbst- und Stellver-
mussten. Doch im Zuge der selektiven        gebotsnutzen und Ressourcen bewegen         tretungen und ihre Organisationen.
Kettenbildung ist es dann herausfor-        zu können, wird in einer subjektorien-
                                                                                           Weiterbildung:
dernd, persönliche Ziele und objekti-       tierten Finanzierung zu einem entschei-        CAS Behinderung und Selbstbestim­mung –
ven behinderungsbedingten Bedarf zu         denden Qualitätsmerkmal.                       Zukunftsorientierte Angebote entwickeln

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Immer am Ball bleiben
         Ein reges Sozialleben stärkt und verlängert die Selbständigkeit
         älterer Menschen. In einem Projekt der ZHAW wird untersucht,
            wie man in Alterssiedlungen die Beteiligung fördern kann.
                             Von SYLVIE JOHNER-KOBI, BARBARA BAUMEISTER und KUSHTRIM ADILI

«Als ich vor elf Jahren hier anfing zu       Siedlungen gibt es keine solchen Fach-      so manche neu Zugezogene nicht auf
arbeiten, stellte ich immer wieder fest,     personen. Doch der Bedarf an nachbar-       Anhieb. Es gibt aber auch andere Grün-
dass einige Mieterinnen und Mieter ei-       schaftsorientierten Stellen steigt. Laut    de für soziale Zurückhaltung: Wer an
nander gar nicht kennen.» Christina          Bundesamt für Statistik leben die meis-     Veranstaltungen teilnimmt oder solche
Müllers Stimme hört man heute noch           ten älteren Menschen in der Schweiz         mitorganisiert, exponiert sich. Das wur-
das Erstaunen von damals an, als sie die     in einem Privathaushalt. Im Jahr 2016       de in den Interviews öfters thematisiert.
Teilzeitstelle einer Siedlungsassisten­tin   waren dies 96 Prozent der Personen          Man möchte involviert sein, aber nicht
in der Soodmatte antrat. Die Siedlung        über 65 Jahre. Alterswohnungen und          zu sehr. «Das geht so rassig mit Rumer-
mit 49 Mietwohnungen für Menschen            -siedlungen gehören zu dieser Haus-         zählen», sagte eine Frau. Niemand wird
ab 60 Jahren wurde im Jahr 2000 von          haltsform, und sie werden in Zukunft        gern zum Mittelpunkt von Gerede.
der Stiftung für Altersbauten in Adlis-      an Bedeutung gewinnen. Dies zeigt der
wil gebaut. Soziale Kontakte anzuregen,      neuste «Age Report» der Age-Stiftung             Kritik aushalten
ist nur eine von Müllers Aufgaben. Sie       und der Fondation Leenaards.                Auch eine gewisse Spontaneität will
plant die Organisation und Durchfüh-               Partizipation von älteren Men-        man sich offen halten. Anders gesagt:
rung von Veranstaltungen gemeinsam           schen im Wohnumfeld wird als zentraler      Nähe ist wichtig, Privatsphäre und Frei-
mit den Mieterinnen und Mietern. Zu-         Aspekt gesehen, um deren Lebensqua-         willigkeit aber genauso. Wer mithilft
dem berät sie diese individuell mit dem      lität zu erhöhen. Sie kann verschiedene     oder mitorganisiert, muss damit klar-
Ziel, dass sie so lange und so selbständig   Stufen beinhalten. Im Projekt verwen-       kommen, wenn Veranstaltungen nicht
wie möglich in der Soodmatte wohnen          den wir ein Modell mit vier Stufen:         genutzt oder kritisiert werden. Man
können. Müller fördert die Selbstorga-       Informiert werden, Anhörung von Be-         darf nicht unbedingt mit Dankbarkeit
nisation und Nachbarschaftshilfe inner-      troffenen, Mitbestimmen oder Mit­ent-       rechnen. In den fünf Siedlungen spielt
halb der Bewohnerschaft. Ihre Arbeit         scheiden sowie Selbstorganisation oder      die architektonische Gestaltung eine
findet Anklang. «Immer wieder lassen         Selbstverwaltung. Insbesondere in den       grosse Rolle.
die Menschen hier durchblicken, dass         beiden Siedlungen mit Siedlungsassis-            Sitzbänke und Gemeinschaftsräu-
sie die Vorteile einer Teilhabe an ge-       tenz werden alle vier Stufen der Partizi-   me stellen wichtige Rahmenbedingun-
meinschaftlichen Aktivitäten erkennen        pation gelebt, während bei den anderen      gen dar. In einer der Siedlungen plant
und schätzen», sagt die Sozialarbeiterin.    beiden meist nur die Partizipations-        das Projektteam deshalb, zusammen
                                             stufe eins sichtbar ist. Wobei auch dort    mit den Mieterinnen und Mietern den
     Bloss nicht zu sehr exponieren          teilweise Elemente der Selbstorganisa-      Gemeinschaftsraum mit neuer Möblie-
Siedlungsassistenzen sind ein neueres        tion wie in Form von Nachbarschafts-        rung und anderem aufzuwerten. Einen
Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit. Wie      hilfe erkennbar sind.                       solchen Raum, das Soodmatte Stübli,
wichtig sie im Altersbereich sind, stellen         «Es muss jemand da sein, der et-      gibt es seit sechs Jahren. Er ermög-
wir, ein Team des Instituts für Vielfalt     was anreisst, sonst leben alle für sich»,   lichte schon zahlreiche Aktivitäten. In
und gesellschaftliche Teilhabe, in un-       sagte ein Mieter der ländlichen Sied-       der Soodmatte stellen ausserdem auch
serem Forschungs- und Entwicklungs-          lung im Interview mit uns. Bisherige        Laubengänge eine Art Begegnungs-
projekt fest. Beteiligt sind eine länd-      Projekte und Studien bestätigen: Es         zone dar, wo es regelmässig zu einem
liche, zwei städtische sowie zwei Sied-      braucht Kontaktpersonen vor Ort wie         spontanen Schwatz kommt. Manchmal
lungen in Agglomerationsgemeinden.           Siedlungsassistenzen, Hauswartinnen         braucht es nicht viel, damit Begegnun-
In zwei Siedlungen sind Sozialarbeiten-      und Hauswarte mit erweitertem Auf-          gen zustande kommen.
de angestellt, um Beteiligungsprozes-        gabenprofil. Denn selbst den ersten            Projekt:
se anzustossen. In den restlichen drei       Schritt der Kontaktaufnahme wagen              zhaw.ch/beteiligungskultur-alter

                                                               18
Foto: Mira / Alamy Stock Photo

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INTERVIEW

                                  MIT
DANIELA REIMER          ANDRÉ WOODTLI                THOMAS GABRIEL

      Was bringt
 das neue Kinder- und
 Jugendheimgesetz?
  Das war dringend nötig: 60 Jahre lang regelte im Kanton Zürich
      dasselbe Gesetz, wie die Fremdplatzierung von Kindern
                                                                      Illustrationen: Elisabeth Moch

 und Jugendlichen finanziert und organisiert wird. Seit Januar gilt
  ein neues Gesetz. Es kommt einem Paradigmenwechsel gleich.
                         Interview: REGULA FREULER

                                   20
Seit dem 1. Januar 2022 ist im Kanton Zürich das
neue Kinder- und Jugendheimgesetz, kurz KJG,
in Kraft. Was verändert sich damit?
AW Wir haben es mit einem Paradigmenwechsel
     zu tun. Das alte Gesetz, das seit 1962 galt, war
     ein Finanzierungsgesetz. Jetzt haben wir mit
     dem KJG ein Gesetz, das die Gewährleistung
     eines kantonalen Leistungsangebots regelt,                                          «Wir bekommen die
     also das, was man einen Service public nen-                                          Folgen der Corona-
     nen kann.
                                                                                        Krisenbewältigung voll
Was bedeutet das konkret?                                                                     zu spüren.»
AW Der Kanton hat einen ganz neuen Auftrag be-
    kommen, nämlich die Sicherstellung von allen                                                   ANDRÉ WOODTLI
    ergänzenden Hilfen zur Erziehung für Kinder,
    Jugendliche und Familien. Das Gesetz regelt
    Heimpflege, Familienpflege, Dienstleistungs-
    angebote in der Familienpflege – sogenannte
    DAF – und sozialpädagogische Familienhilfe.
    Der Kanton klärt den Bedarf, erstellt also eine
    Gesamtplanung und bestellt die entsprechen-
    den Leistungen. Und diese müssen von ver-               zent der Kosten. Zudem ist eine Reihe behörd-
    gleichbarer Qualität sein.                              licher Aufgaben an den Kanton gegangen.
DR Da das AJB, das kantonale Amt für Jugend
    und Berufsberatung, auch eine Reihe von             Was heisst das in Zahlen ausgedrückt?
    Qualitätskontrollen und auch die Bewilligung        AW Weil der Kanton viele neue Aufgaben bewäl-
    der Pflegeverhältnisse übernimmt, besteht die           tigen muss, sind nun rund fünfmal so viele
    Hoffnung, dass dies zu einem Professionali-             Mitarbeitende in diesem Bereich tätig. Die
    sierungsschub führt.                                    Gesamtkosten sind bedarfsabhängig. Wie
TG Das alte Gesetz setzte zum Teil falsche öko-             sich das entwickelt, kann man nicht genau
    nomische Anreize, die immer wieder das                  voraussagen, denn da ergibt sich gerade eine
    übersteuerten, was aus fachlicher Sicht rich-           völlig ungeplante Situation.
    tig und nötig gewesen wäre. Das neue Gesetz                                                              ANDRÉ WOODTLI
    installiert nun eine fachliche Steuerung.           Sie sprechen von der Corona-Pandemie?                steht seit 2008 dem
                                                                                                             Amt für Jugend und
                                                        AW So ist es. Wir bekommen die Folgen der Kri-       Berufsberatung (AJB)
Bestand darüber während der langen Vernehm-                  senbewältigung voll zu spüren. Bei fast allen   im Kanton Zürich vor.
                                                                                                             Dieses ist zuständig
lassung stets Konsens?                                       Leistungen des AJB verzeichnen wir rund
                                                                                                             für die ausserschuli-
TG Leider nein. Als Mitglied der kantonalen Ju-              25 Prozent mehr Inanspruchnahmen als vor        sche Bildung und den
     gendhilfekommission erlebte ich immer wie-              Corona im Jahr 2019. Das heisst: 25 Prozent     Kindesschutz.
     der Diskussionen über die Finanzierbarkeit              mehr Stipendiengesuche, mehr Kindesschutz-      THOMAS GABRIEL
     von Massnahmen, vor allem wenn es um hohe               abklärungen, mehr schwere Kindesschutzfäl-      leitet das Institut für
     Standards an Professionalisierung ging.                 le, mehr Alimentenhilfegesuche.                 Kindheit, Jugend und
                                                                                                             Familie. Seine wissen-
                                                                                                             schaftlichen Schwer-
Welche Kostenfolgen hat das Gesetz?                     Trotz aller Verbesserungen gibt es auch Kritik am    punkte sind Kinder-
                                                                                                             und Jugendhilfe,
AW Es war nie ein Sparauftrag mit dem KJG ver-          neuen Gesetz, vor allem von den DAF. Bis anhin       Pflegekinderwesen
    bunden. Der Auftrag lautete, Kostenneutra-          hatten sie eine Tagespauschale, neu müssen sie       und Adoption.
    lität zu wahren. Weil die Kosten nicht voll-        nach Stunden beziehungsweise konkret erbrach-
                                                                                                             DANIELA REIMER
    ständig transparent waren, bleibt es sehr           ten Leistungen abrechnen. Warum?                     ist Professorin am
    komplex, die finanzielle Ausgangslage zu            AW Das ist richtig: Die Dienstleistungsanbieten-     Institut für Kindheit,
                                                                                                             Jugend und Familie.
    definieren. Es war die politische Absicht, die           den in der Familienpflege müssen erstmals
                                                                                                             Sie lehrt und forscht
    Kostenverteilung leicht zugunsten der Ge-                Kosten und Leistungen transparent machen.       zu Pflegefamilien mit
    meinden zu verschieben. Im neuen System                  DAF gibt es seit den 1990er-Jahren, als Al-     besonderem Fokus
                                                                                                             auf deren Verberuf­
    übernimmt der Kanton 40 Prozent und alle                 ternative zu Heimplatzierungen. Für diese       lichung und fachlichen
    Gemeinden zusammen übernehmen 60 Pro-                    Dienstleistungen gab es lange Zeit weder eine   Begleitung.

                                                               21
INTERVIEW
                Bewilligungspflicht noch eine Aufsicht. Auch          kel. Wir können Entwicklungsvorhaben damit
                fehlt bis heute eine Kostentransparenz. Das           zusätzlich finanzieren.
                ändert sich jetzt mit dem neuen Gesetz ganz        DR Aber vieles von dem, was die DAF bisher ge-
                grundsätzlich. Eine so grosse Umstellung              leistet haben, wird laut ihren Angaben nicht
                kann verständlicherweise zu einem gewissen            mehr bezahlt.
                Unmut führen.                                      AW Die DAF haben zwei Leistungsaufträge. Der
             DR Wir hören aus der Praxis, dass sich viele DAF         eine ist ihre Vermittlungstätigkeit. Dafür be-
                schlechter gestellt fühlen. Zum Unmut kom-            kommen sie weiterhin eine Pauschale, welche
                men Existenzängste hinzu. Der administrati-           die konzeptionell beschriebenen Leistungen
                ve Aufwand erhöht sich deutlich.                      abgelten wird. Das kann auch die Aufgaben
                                                                      als Arbeitgeber umfassen, beispielsweise
             Ist das neue KJG auch ein Misstrauensvotum               Mitarbeitenden- und Qualifikationsgesprä-
             gegenüber den DAF?                                       che. Der zweite Auftrag ist die Begleitung von
             AW Der Kanton ist neu für die Abgeltung zuständig        Familien. Dafür ist ein Standardtarif von 150
                  und regelt diese auch zum ersten Mal. Bei der       Franken pro Stunde vorgesehen.
                  Abgeltung geht es auch stets um Qualität. Das
                  ist der Grund für die angestrebte Transparenz.   Ist das Volumen der Begleitung gedeckelt?
                  Konkret: Wir wollen wissen, ob auch in abge-     AW Nein, es wird vorab geklärt, wie viele Stun-
                  legenen Tälern die Gastfamilien gut erreicht          den es braucht. Dieser Bedarf wird je nach-
                  werden können – und wie und wie oft sie er-           dem und nach Rücksprache angepasst. Aber
                  reicht werden.                                        auch hier: Es gibt keine Carte Blanche mehr.
             TG Die «United Nations Guidelines for the Al-              Und das ist richtig so. Jeder Berater und jede
                  ternative Care of Children» empfehlen, dass           Supervisorin muss die wirklich geleisteten
                  man mit der Kinder- und Jugendhilfe kein              Stunden auch abrechnen.
                  Geld verdienen sollte. Natürlich muss profes-
                  sionelle Arbeit adäquat entlöhnt werden, aber    So viel zur Kontrolle der Leistungserbringer. Wie
                  man muss sicherstellen, dass das Geld nicht      messen Sie die Tauglichkeit und die Wirksamkeit
                  in organisationalen Strukturen versickert.       des neuen Gesetzes beziehungsweise die Leistun-
             DR Dennoch müssen Innovationen möglich blei-          gen jener, die es umsetzen, also des AJB?
                  ben. Wird es finanziell eng, fehlt der Spiel-    AW Wir sind daran, dies aufzubauen. Es gibt
                  raum dafür.                                           auf verschiedenen Stufen Controlling- und
             AW Das haben wir berücksichtigt. Darum enthält             Evaluationsfragen. Man kann sowohl das Ge-
                  das neue Gesetz auch einen Subventionsarti-           setz selbst evaluieren wie auch die einzelnen
                                                                        Leistungsvereinbarungsprozesse. Zudem ma-
                                                                        chen wir ein systematisches Umsetzungscon-
                                                                        trolling für alle beteiligten Akteurinnen und
                                                                        Akteure.

                                                                   Welche Faktoren sollten bei einer Qualitätskon­
«Man muss das System                                               trolle beachtet werden?
                                                                   TG Es braucht fachlich abgestimmte und abgesi-
  resilient machen                                                      cherte Maximen der Angebotsentwicklung.
 gegen ökonomische                                                      Man muss das System resilient machen dage-
                                                                        gen, dass es nur von fachfremden Kriterien
  und ideologische                                                      gesteuert wird. Dazu gehören nicht nur die
     Kriterien.»                                                        bereits erwähnten ökonomischen Kriterien,
                                                                        sondern auch ideologische.
     THOMAS GABRIEL
                                                                   Zum Beispiel?
                                                                   DR Lange galt der Ansatz: ambulant vor statio-
                                                                       när. Nicht nur, aber auch aus Kostengründen
                                                                       hat man eine Art Ideologie produziert. Man
                                                                       hat in einer Angebotskaskade gedacht. Das ist
                                                                       problematisch. Hier kann man von internati-

                                                    22
onalen Erfahrungen profitieren. In Deutsch-
     land hat etwa der Ausbau der ambulanten
     Massnahmen nicht dazu geführt, dass statio-
     näre Massnahmen abgenommen haben, son-
     dern dazu, dass bestimmte junge Menschen
     zu lange durch verschiedene Massnahmen
     laufen mussten.                                                                      «In den nächsten
TG   Das hatte die Folge, dass die Kinder mit einem
     viel höheren Problemdruck ins Heim kamen,
                                                                                          Jahren muss die
     als er bei einer frühen Platzierung vorgelegen                                     Herkunftselternarbeit
     hätte. Statt auf Ideologien muss ein solches
     System auf Evidenzen aufbauen. Nur so kann
                                                                                         mehr in den Fokus
     man erfahren, welche Massnahme welchen                                                    rücken.»
     Effekt hat auf ein Kind und seine Familie.
                                                                                                  DANIELA REIMER
Eine Kritik der DAF ist, dass sie nun selbst Geld
bei den leiblichen Eltern einfordern müssen. Das
belastet das ohnehin nicht einfache Verhältnis.
Warum treiben nicht die Gemeinden das Geld ein?
AW Ich verstehe diese Vorbehalte. Aber faktisch
     haben sie dies bis jetzt schon mehrheitlich
     gemacht, weil die meisten Angebote über die       AW Bei uns sind die Voucher verbindlicher. Aber
     Sozialhilfe finanziert werden und die Ge-            ich habe früher selbst ein Jugendheim geleitet
     meinde damit automatisch involviert ist. Ich         und nur selten Fälle erlebt, in denen jemand
     gehe davon aus, dass es auch weiterhin in vie-       partout keine Sozialarbeitenden mehr sehen
     len Fällen die Gemeinde sein wird, welche die        wollte. Ich bin gegen zu viel Paternalismus.
     Finanzierung übernimmt.                              Jeder und jede hat das Recht darauf, es allein
                                                          zu probieren.
Dennoch wird hier ein gewisser Druck auf die           TG Das Gesetz geht mit den neuen Möglichkei-
Pflegefamilien abgewälzt.                                 ten, die Jugendhilfe zu verlängern, in die
AW Theoretisch könnte in Zukunft auch das AJB             richtige Richtung. Wir sollten dabei aber
    dieses Inkasso machen, wie wir es schon bei           nicht vergessen, die Nachhaltigkeit der Hil-
    Ausbildungsbeiträgen und bei der Alimenten-           fen vor dem 18. Geburtstag zu stärken. Füh-
    hilfe machen. Aber dafür würden wir einen             ren die Hilfen dazu, dass sich die jungen
    gesetzlichen Auftrag benötigen.                       Menschen gesellschaftlich gut integrieren
                                                          können? Diesen Fokus hat man ein Stück weit
Neu kann die Jugendhilfe bis zum 25. Geburts-             vernachlässigt.
tag verlängert werden. Aber sie muss nahtlos
erfolgen, und ein Bedarf muss plausibel gemacht        Wie wird oder sollte sich das neue Gesetz nun
werden. In Care-Leaver-Kreisen werden diese            entfalten?
Bedingungen kritisiert. Wäre eine flexible Lösung      AW Mit dem neuen KJG sind Rahmenbedingun-
nicht realistischer?                                       gen geschaffen worden, um den Service pub-
DR Wir haben viele biografische Interviews mit             lic weiterzuentwickeln. In welche Richtungen
     jungen Erwachsenen durchgeführt. Was deut-            das gehen wird, wird sich erst noch zeigen
     lich wurde, ist dieses grosse Gefühl bei vielen       und ist unter anderem Gegenstand der Ge-
     mit 18: Wenn es endlich keine Sozialarbeiten-         samtplanung.
     den mehr gibt, dann ist alles gut und normal.     TG Das neue Gesetz bringt Rechtssicherheit und
     Dabei geht es dann oftmals erst los mit den           beseitigt falsche ökonomische Anreize. Es
     Schwierigkeiten. Interessant finde ich darum          ist sehr zu hoffen, dass dies schweizweit eine
     die Lösung in Kanada. Dort können Care Le-            Signalwirkung hat.
     aver ihre Voucher beziehen und diese flexibel     DR Die Herkunftselternarbeit ist im neuen Ge-
     einlösen, wenn sie nach Beendigung der Kin-           setz noch nicht klar geregelt. Das muss in den
     desschutzmassnahmen eine Beratung wollen.             nächsten Jahren – oder Jahrzehnten – mehr in
     Sie müssen das nicht vorab festlegen.                 den Fokus rücken.

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