Sozial - Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung
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ZÜRCHER HOCHSCHULE FÜR NR. 16 / 2022 ANGEWANDTE WISSENSCHAFTEN MAGAZIN ZHAW SOZIALE ARBEIT Seite 12 Menschen mit Behinderung: Wege zur Selbstbestimmung sozial
EDITORIAL Wie sozial sind wir noch mit allen diesen Tools? «Ich bin halt kein Telefonmensch», antwortet ein Freund jeweils, wenn ich ihn frage, warum er eigentlich nie meine Anrufe anneh- me. Natürlich ist es netter, mit ihm in einer Bar zu stehen. Gemein- same Erlebnisse stärken jede Beziehung. Aber wenn ich jemanden so lange kenne wie ihn, dann empfinde ich unsere Freundschaft nicht weniger stark trotz ein bisschen Elektronik zwischen uns. Er schon. Machen uns die Geräte zu anderen Menschen? Diese Frage hat Sozialarbeitende wohl noch nie so umgetrie- ben wie seit der Corona-Pandemie. Soziales verband man stets mit direktem Kontakt: einander die Hand geben, Gerüche wahrneh- men, Nonverbales wie zappelnde Beine registrieren und dabei Impressum gemeinsam Lösungswege suchen. Sozial sein ohne physische HERAUSGEBER ZHAW Soziale Arbeit Präsenz war undenkbar. Mittlerweile ist das anders. Wir entwickeln Pfingstweidstrasse 96 neue Verhaltensweisen. Natürlich kann das Digitale das Erlebnis Postfach, 8037 Zürich REDAKTION einer realen Begegnung nicht ersetzen. Aber wir differenzieren Regula Freuler (Leitung), Christine Zürn; Andrea Koch, Notice Design, Zürich stärker, in welcher Situation welches Medium passt. Die Digitalisie- (Gestaltung); Beatrice Geistlich (Bild) rung beginnt, unser Verständnis des Sozialen zu verändern. Was ADRESSÄNDERUNGEN zhaw.ch/sozialearbeit/adressaenderung bedeutet das für die Soziale Arbeit? KOSTENLOS ABONNIEREN Damit beschäftigen wir uns intensiv am Departement. Ein zhaw.ch/sozial-abonnieren ABBESTELLEN Beispiel aus der Forschung erhalten Sie in dieser Ausgabe mit dem adressverwaltung.sozialearbeit@zhaw.ch Text von unserem Dozenten David Lätsch über Algorithmen. Aus- DRUCK UND AUFLAGE Schmid-Fehr AG, Goldach; serdem bereiten wir ein Weiterbildungsangebot zu digitalen Kom- 20 000 Exemplare; zweimal jährlich petenzen in der Sozialen Arbeit vor. Sie werden von uns hören - Klimaneutral gedruckt auf FSC-zertifiziertes Papier. vermutlich auf dem elektronischen Weg. Gedruckt in der Schweiz. Foto: Peter Hauser zhaw.ch/sozialearbeit Herzlich, 47.7965 cm Frank Wittmann Direktor ZHAW Soziale Arbeit
INHALT Algorithmen: fair oder unfair? Seite 8 Selbstbestimmt dank Subjektfinanzierung Wie sähe gerechtere Sexarbeit aus? Alumna Lea-Maria Leu Seite 12 Seite 26 Seite 28 FORSCHUNG — PRAXIS — WEITERBILDUNG RUBRIKEN Foto Cover: Mali Lazell; Fotos Inhalt: Mali Lazell, Yoshiko Kusano, Noëlle Guidon; Illustration Nathalie Lees / «The Guardian» 6 Zu viele Köche 18 Mehr als Kafikränzli 4 NOTIERT Neue Forschungsprojekte Partizipationsprojekte: Wann sie Wer aktiv ist, bleibt länger und Studien scheitern, und wann sie gelingen. selbständig. In unserer alternden 20 INTERVIEW Gesellschaft ist eine vielfältige mit André Woodtli, 8 Algorithmen gegen Beteiligungskultur wichtig. Vorsteher Amt für Jugend Ungerechtigkeit und Berufsberatung Kanton Computer können fairer 24 Wie aus Wut ein Zürich, und den ZHAW- Dozierenden Thomas entscheiden als Menschen. Netzwerk entsteht Gabriel und Daniela Reimer Der Preis ist die Freiheit. Care Leaverin Rose Burri nahm 28 ALUMNI an einem ZHAW-Projekt teil. Master-Absolventin 11 Verhandlungssache Heute ist sie Präsidentin des Lea-Maria Leu über ihre Arbeit bei der KESB Vereins Careleaver Schweiz. Bildschirmzeit, Party und Privatsphäre: Mitbestimmung 29 SOZIPEDIA im Jugendheim 26 Bordell mit Eine Kolumne über Fachbegriffe auf Abwegen Selbstorganisation 12 Hier bin ich meine Was nötig wäre, um die 30 INTERNATIONAL von Debora D’Alessandri eigene Chefin unfairen Machtverhältnisse auf aus Lesbos dem Sexmarkt auszuhebeln: Menschen mit Behinderung Anleitung zur Utopie. 31 VERANSTALTUNGEN sollen dank Subjektfinanzierung ihr Leben selbst gestalten. Aber 32 CARTOON wie klärt man ihren Bedarf? von Lawrence Grimm 3
KINDESSCHUTZ Aufmerksame Schulen Rund jede oder jeder sechste Schweizer Jugendliche hat Erfahrungen von Miss- brauch oder Vernachlässigung. In Viet- nam ist geschätzt die Hälfte der Ju- gendlichen betroffen. Die Meldezahlen liegen aber viel tiefer, vor allem in Viet- nam. Wie können Sekundarschulen hel- fen, dass Gefährdungen erkannt werden und angemessen darauf reagiert wird? Dies herauszufinden, steht im Zentrum einer dreijährigen Studie des Instituts für Kindheit, Jugend und Familie und der Hanoi University of Public Health. Sie wird vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert. Vorgesehen sind repräsenta- tive Schülerbefragungen und qualitative Interviews, Workshops mit Schulverant- wortlichen und Entscheidungsträgerin- nen und -trägern in der Verwaltung. NOTIERT HATE SPEECH JUGENDARBEIT Wer sind die digitalen Trolle der Schweiz? WhatsApp, Instagram, TikTok und Co. Ein Forschungsteam des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW und des Instituts für Soziologie Nicht nur Eltern, sondern auch viele Fachpersonen der Jugendarbeit der Universität Zürich geht der Frage kennen das Problem: Ist man nicht selber regelmässig in sozialen Netz- nach, wer in der digitalen Schweiz werken unterwegs, verliert man bald einmal den Anschluss. Doch digi- «hasst» – und wie oft. Zum einen soll tale Medien sind für Jugendliche ein bedeutender Sozialraum. Wie nut- das Ausmass digitaler Hassrede ermit- zen Jugendarbeitsstellen sie? Und wie bewerten Jugendliche dies? telt werden. Zum anderen wird unter- Diesen Fragen ging Andrea Scholian vom Institut für Kindheit, Jugend sucht, in welchen soziodemografischen und Familie in einer Studie nach, die im Rahmen des departementalen und -ökonomischen Gruppen Täter und Innovationsprogramms «Soziale Arbeit der Zukunft» ermöglicht wurde. Täterinnen beziehungsweise die Opfer Interviews in drei Gemeinden des Kantons Zürich ergaben ein sehr he- besonders oft vertreten sind. Die Studie terogenes Bild. So beachten Sozialarbeitende vorwiegend jene Kanäle, wird vom Bundesamt für Kommunika die sie als Erwachsene selbst nutzen. Durchgängig ein wichtiger Diskus- tion finanziert und soll im Frühsommer sionspunkt ist die Privatsphäre. Was auffiel: Online erreicht die Jugend- Foto: DEEPOL / plainpicture 2022 abgeschlossen werden. arbeit auch zurückhaltende Teenager, die sich im Treff nicht gut durch- setzen können, und jene mit noch anderen Freizeitstrukturen. Würden Sozialarbeitende digitale Medien aktiver einsetzen, wäre dies für die Jugendarbeit bereichernd. Gerade seit der Covid-Pandemie ist dies of- fenkundig geworden. 4
MIGRATION UND INTEGRATION SMART HOSPITALS «Gib nicht auf»: Mit einer App die Mobilität fördern Minderjährige Flüchtlinge lernen von Peers Sind Patientinnen und Patienten im Akutspital lange immobil und bettläg- rig, kann es zu Komplikationen und verzögertem Heilungsverlauf kommen. Nasrin möchte einmal Anwältin werden. Mamadou rät: Lernt zuerst Letztlich wird dadurch das Gesundheits- Hochdeutsch und erst danach Schweizerdeutsch. Abdi weiss: Mach eine system belastet. Es gilt also, individuel- gute Lehre, dann wirst du immer Arbeit finden. Und Mortaza empfiehlt: le körperliche Aktivitätsziele zu setzen, Wenn du traurig bist, treib Sport - und gib nie auf. Nasrin, Mamadou, die von medizinischen und pflegeri- Abdi und Mortaza sind ehemalige Mineurs non accompagnés, kurz MNA. schen Fachkräften monitorisiert werden Sie sind als Minderjährige allein in die Schweiz gekommen. Wie haben können. Um dies zu ermöglichen, ent- sie die Sprache gelernt? Eine Lehrstelle gefunden? Sich mit Schweize- wickelt Samuel Wehrli, Leiter des Netz- rinnen und Schweizern angefreundet? Antworten auf solche Fragen werks Soziale Arbeit und Digitalisie- können jüngeren MNA dabei helfen, eigene Perspektiven zu entwickeln. rung am Departement Soziale Arbeit, Lernen von Peers: Das ist das Ziel des Projekts «My Perspective» vom eine digitale Lösung. Diese soll auf zwei Verein Peer-Campaigns. In Workshops werden die MNA mit Interview- Arten nutzbar sein: zum einen als nicht- und Videotechniken vertraut gemacht, anschliessend drehen sie kurze medizinisches Produkt für Patientinnen Filme mit Ex-MNA. Seit dem Start der Pilotphase im Sommer 2020 fan- und Patienten, etwa in Form eines Fit- den drei Workshops statt, insgesamt sind bis Sommer 2021 neun Videos nesstrackers oder einer Motivations- entstanden. Ein ZHAW-Team unter der Leitung von Eva Mey vom Institut App, zum anderen als Medizinprodukt für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe ist mit der Evaluation für Fachpersonen. Beide Arten sollen als NOTIERT des ganzen Projekts betraut, das noch bis Ende 2022 laufen kommerzielle Applikationen auf einer wird. In einem Zwischenschritt wurde die Pilotphase Plattform implementiert werden. Ent- evaluiert. Erkenntnisse daraus fliessen nun in die wickelt wird diese digitale Lösung im weitere Umsetzung ein. Dazu gehört die Empfeh- Rahmen des Projekts «Smart Hospital» lung, in der Themensetzung für die Videos darauf vom Digital Health Lab, einer virtuellen, zu achten, dass auch Themen jenseits von Bildung interdepartementalen Organisation der und Beruf ihren Platz finden. ZHAW. Innosuisse fördert «Smart Hos- www.myperspective.ch pital» mit 5,7 Millionen Schweizer Fran- ken. Das Projekt startete im Januar 2022 und läuft voraussichtlich bis 2025. DIE ZAHL 1,2 Mio. So viele Freiwillige führten im Jahr 2020 in der Schweiz eine unbezahlte Tätigkeit bei Organisationen, Vereinen oder öffentlichen Institutionen aus. Foto: iStock Quellen: Bundesamt für Statistik; Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft 5
Miteinander reden ist Gold in der Stadtentwicklung In einer demokratischen Gesellschaft gestaltet und bestimmt die Bevölkerung ihren Lebensraum mit. Zu Konflikten kommt es oftmals dann, wenn die Erwartungen nicht geklärt wurden. Von ANKE KASCHLIK 6
Sie appellieren an Kreativität und en- Es gibt also zwei Positionen, die nicht enstehen soziale Innovationen. Zudem den gern energisch mit Ausrufezeichen: einfach zu vereinbaren sind, wenn sie sind diese Wissensbestände implizit «Brings uf d’Strass!», «Stadtidee!» oder nicht angesprochen werden. Was aber immer vorhanden und wirken im Zwei- «(Y)our City!» heissen einige Mitwir- braucht es? Im Grunde drei Dinge: eine fel gegen das geplante Vorhaben. Ich kungsprojekte der Stadt Zürich. In Ba- gute Kommunikation, Zeit und Ergeb- bin überzeugt davon, dass die Bevölke- sel soll Partizipation gesetzlich veran- nisoffenheit. Damit widerspricht Par- rung auch einschränkende Planungen kert werden. Und in der Zentralschweiz tizipation in gewissem Masse den sehr mittragen kann, wenn der Sinn dahin- hat man mit «Dialog Luzern» unlängst unterschiedlichen Handlungslogiken ter in einem grösseren Zusammenhang eine Partizipationsplattform lanciert. beider Seiten. verständlich ist. Dies sind nur wenige Beispiele für Die Stadt beziehungsweise die Ver- einen Trend in der Stadt- und Gemein- waltung handelt, wenn sie muss, wenn Sonderrolle der Stadt deentwicklung: die Förderung kon- sie den Auftrag dafür erhalten hat sowie Neben der Angst vor den konkreten kreter Partizipation der Bevölkerung innerhalb von Hierarchien und Fachres- Anliegen aus der Bevölkerung ist auch bei der Gestaltung ihres Lebensraums. sorts. Ihre Arbeit ist an politische Ver- die Angst vor Machtabgabe durch Par- Trotz des plausiblen Gedankens dahin- fahren gebunden. Unsicherheiten wie tizipation auf städtischer Seite immer ter – der Bündelung von Kräften und bei einem Projekt mit offenem Ausgang noch weit verbreitet. Dies lässt ausser Wissen – gelingt die Umsetzung nicht lassen sich kaum im Verwaltungsalltag Acht, dass mit der Abgabe von Ent- immer. Dann kommt es zu Frustratio- integrieren. Zielvereinbarungen und scheidungsmacht auch die Abgabe von nen, Verzögerungen oder Konflikten. Evaluationen sind nach vorherrschen- Verantwortung und damit letztlich Ar- Als Stadt- und Regionalforscherin durf- den Managementanforderungen kaum beitserleichterung für die Verwaltung te ich in Deutschland und in der Schweiz in der Lage, ergebnisoffene Prozesse verbunden ist. Die Erfahrung zeigt: Vor- in und mit Städten unterschiedlicher abzubilden. Bürgerinnen und Bürger haben, die aus partizipativen Verfahren Grösse zahlreiche Erfahrungen mit Par- hingegen sind aktiv im Rahmen der resultieren, werden üblicherweise auch tizipation sammeln. Dabei zeigte sich: Stadtentwicklung, wenn und vor allem von denjenigen mitgetragen, die nicht Oftmals sind vergleichbare Faktoren solange sie wollen und sie den Eindruck direkt beteiligt waren. für die eine oder andere Reaktion auf haben, etwas bewegen zu können. Da- In den überwiegend fertig gebau- ein Projekt entscheidend. für braucht es möglichst schnell sicht- ten Städten wird die Abstimmung un- oder spürbare Entwicklungen. terschiedlicher Interessen, Motive und Angst hier, Ungeduld dort Eine weitere wichtige Grundfra- Ressourcen weiter an Bedeutung ge- Vor allem muss man sich stets etwas ge: Wie viel Partizipation darf es denn winnen. Partizipation im Rahmen der Grundsätzlichem bewusst sein: Ein sein? In vielen Fällen geht die städti- Stadtentwicklung ist herausfordernd. Partizipationsprojekt oder -prozess hat sche Seite fälschlicherweise davon aus, Aber es führt kein Weg daran vorbei: immer zwei Seiten. Die eine Seite initi- der Bevölkerung möglichst viel Mit- Nicht nur die Stadtentwicklung, son- iert die Partizipation und bietet Teilha- sprache einräumen zu müssen. Falls dern auch der Umgang mit dem Kli- be und Teilnahme an beziehungsweise aber der Entscheidungsspielraum sehr mawandel sind soziale Veranstaltun- fördert diese. Die andere Seite nimmt klein ist, reicht es aus, wenn die Verwal- gen. Alle sind betroffen und müssen teil (oder eben auch nicht) oder fordert tung lediglich verständlich und nach- möglichst gemeinsam oder zumindest Teilhabe ein. vollziehbar die einschränkenden Rah- abgestimmt handeln. Letztlich braucht Häufig entstehen Unstimmigkeiten menbedingungen erklärt. So fühlt sich es dafür nicht weniger als eine Kultur- schon zu Beginn, nämlich dann, wenn die Bevölkerung einbezogen und kann veränderung. Denn Partizipation sollte eine Erwartungsklärung und gegebe- darauf vertrauen, dass bei einem ande- nicht mehr als Zusatzaufgabe betrach- nenfalls eine Erwartungsanpassung ren Projekt mit grösseren Spielräumen tet werden, sondern als selbstverständ- ausbleibt. Zum Beispiel: Es gibt eine diese auch genutzt werden. licher Teil jeglicher Entwicklungspro- öffentliche Freifläche, die man neuer- Ebenso sind Informationsaus- zesse. Die Stadt ist innerhalb dieser dings nutzen kann. Auf der einen Sei- tausch und die Erkundung von Wissen Prozesse eine Akteurin unter vielen. te haben wir die Verwaltung, die eine und Interessen jener Menschen, die in Dennoch behält sie eine Sonderrolle: möglichst breite Beteiligung anstrebt. irgendeiner Weise partizipieren wol- Sie ist als einzige dem Gemeinwohl Foto: Urs Jaudas / Tages-Anzeiger Darum möchte sie die Ideen und Wün- len, die Grundlage jedes partizipativen verpflichtet und behält die Planungs- sche der Anwohnenden erfahren, um Prozesses – zumindest sollten sie das hoheit. Daraus ergibt sich eine beson- diese im Rahmen der Möglichkeiten sein. Dadurch werden lokale Wissens- dere Verantwortung – unter anderem umsetzen zu können. Auf der anderen bestände erkundet und integriert, die für Chancengleichheit bei der Beteili- Seite steht eine locker organisierte der Verwaltung allein nicht zugänglich gung an partizipativen Verfahren. Gruppe von Anwohnenden. Diese er- wären. In der Folge stehen Entschei- Weiterbildung: CAS Partizipative Stadt- und warten, selbst Hand anlegen zu können. dungen auf breiterer Grundlage, und es Gemeindeentwicklung 7
Algorithmen gegen Ungerechtigkeit Zunehmend prägen Algorithmen unser Leben. Sie gelten als unfair. Doch sie bedrohen weniger die Gerechtigkeit als unsere Freiheit. Von DAVID LÄTSCH Ich habe meinen Vornamen nie be- meinen Vornamen, sondern auch mein sie gehören, und nicht danach, wer sie sonders gemocht, aber jetzt macht er Alter, mein Geschlecht, wann ich den sind. Dass Denise mehr zahlt als ich, sich bezahlt. David ist hierzulande ein Führerschein gemacht habe, ob ich das obwohl sie für den Algorithmus nichts grundsolider Name. Also tippe ich den Auto privat oder beruflich benötige, anderes sein kann als mein weibliches Namen brav ins Online-Formular des meine Postleitzahl und ob ich in den Ebenbild, das ist ungerecht. Versicherers ein. Dass das Formular letzten fünf Jahren einen Schadensfall Nun klingt diese Art von Unge- nicht auch meinen Nachnamen haben hatte. All das habe ich bei Denise exakt rechtigkeit vielleicht harmlos. Wie aber will, kann ich mir erklären. Offenbar reproduziert. Nur eine der Variablen wäre es, wenn es um das Strafmass gin- schöpft der Algorithmus aus meinem hängt damit zusammen, wie Denise und ge für ein Delikt? Was wäre, wenn ein Vornamen eine Ahnung, ob ich mein ich uns bisher verhalten haben: diejeni- Algorithmus darüber entschiede, ob Auto zu Schrott fahren werde. Unter ge zum Schadensfall. Alle anderen die- sich die KESB in die Erziehung Ihres anderem aus dieser Wahrscheinlichkeit nen dem Algorithmus offenbar dazu, Kindes einmischt? Das nicht deshalb, wird er ableiten, wie hoch meine Prä- uns in soziale Kästchen einzuteilen. weil Sie sind, wer Sie sind. Sondern ein- mie ist. Nachnamen gibt es wie Sand Aus der Interaktion unserer Gruppen- fach darum, weil der Algorithmus für am Meer. Am Vornamen aber klebt zugehörigkeiten leitet der Algorithmus die spezifische Kombination von Zuge- eine soziale Prognose. Und wenn ich ab, wie riskant es für die Versicherung hörigkeiten, die er Ihnen zugeschrieben Ahmed hiesse? Ich lasse den Versiche- ist, uns zu versichern. hat, eine bestimmte Zukunft entwirft. rer zweimal rechnen. Von David will Der Algorithmus arbeitet mit Vor- Es wird einem mulmig zumute. er monatlich 854.40 Franken. Und von urteilen. Für seine Vorurteile hat er Ahmed? Wieder 854.40 Franken. Das Gründe, und diese beruhen auf Zah- Chancen erkennen ist eine Enttäuschung, denn nichts ist len. Vermutlich produzieren Frauen in Vielleicht fragen Sie sich inzwischen, so erhebend wie die Entdeckung einer meinem Alter, die in meiner Gegend warum dieser Artikel eigentlich mit Ungerechtigkeit. Also suche ich weiter wohnen und ungefähr gleich lange den «Algorithmen gegen Ungerechtigkeit» und werde fündig: Hiesse ich Denise, so Führerschein haben wie ich, mehr Scha- überschrieben ist. Von der Psychoana- nähme die Versicherung 885.20 Fran- densfälle als Männer in meinem Alter, lyse schrieb Karl Kraus, dass sie die ken von mir. Wenn schon die Ahmeds die in meiner Gegend wohnen und un- Krankheit sei, für deren Therapie sie nicht diskriminiert werden, so immer- gefähr gleich lange den Führerschein sich halte. Die Algorithmen, möchte ich hin die Frauen. haben wie ich. Das elementare Problem zu bedenken geben, sind die Therapie des Vorurteils ist nicht, dass es auf fal- für jene Krankheit, für die sie gehalten Verführerische Vorurteile schen Annahmen über Zusammenhänge werden. Warum? Mein Rencontre mit dem Formular ist zwischen Merkmalen von Gruppen be- Zunächst: Die Kritik daran, wie ein Beispiel für die lauernde Präsenz ruht. Manche Vorurteile beruhen auf fal- Algorithmen heute verwendet werden, der Algorithmen. Das Beispiel führt schen Annahmen, andere auf richtigen. ist berechtigt. Nur ist es nicht so, als ob zu einer grundlegenden Frage: Ist es Das elementare Problem des Vorurteils diese Kritik spurlos vorüberginge an der gerecht, dass Denise mehr zahlt als ist, dass es uns verführt, Menschen da- stetig wachsenden Gemeinde der Daten- David? Eingegeben habe ich nicht nur nach zu beurteilen, zu welchen Gruppen analytikerinnen, Sozialwissenschaftler, 9
Juristen und Ethikerinnen, die sich mit das Geschlecht durch andere Merk- ihnen beschäftigen. Tatsächlich werden male zu ersetzen, die eng mit dem Ge- die Risiken der algorithmischen Ent- schlecht zusammenhängen, um den scheidungsfindung intensiv beforscht Verlust an Vorhersagekraft wettzuma- und Lösungen vorgeschlagen. Manche chen. Dann müsste die Vorschrift auch Risiken kann man dadurch entkräften, diese Merkmale erfassen. Und wenn dass man die Art von Problem verän- gar nichts mehr hilft, lassen sich Mit- dert, die der Algorithmus lösen soll. Im tel und Wege finden, den Effekt des Forschungsprojekt «Prädiktive Chan- Geschlechts mathematisch auszuglei- cenmodellierung», das vom Schweize- chen, um so wieder Geschlechterge- rischen Nationalfonds gefördert wird, rechtigkeit zu erreichen. Dafür braucht entwickeln wir am Departement Soziale es Reflexion, Innovation, Deliberation Arbeit Algorithmen, die den Sozialar- und Regulation. Das ist die Art, wie beitenden helfen sollen, die Potenziale Demokratien funktionieren. Die Kritik unterschiedlicher Hilfen in einem kon- an den Algorithmen macht Ungerech- kreten Kindesschutzfall einzuschätzen. tigkeit zu einem sichtbaren Problem. Hier geht es also nicht darum, Ver- Vorher war die Ungerechtigkeit in den dachtsmomente zu erkennen, sondern Entscheidungen kein Problem, sondern Chancen. bloss eine chronische Misere. Indessen hängt die Prognose auch in unserem Fall von Vorurteilen ab. So Algorithmen gegen die Freiheit könnte es sein, dass unser Algorithmus Nur sind die Vorurteile, fürchte ich, bei ausländischen Familien seltener auf lange Sicht das geringste Problem Familienbegleitungen empfiehlt als bei der Algorithmen. Je mehr Daten den Schweizer Familien, weil sich Familien- Algorithmen zur Verfügung stehen, begleitungen in den Schweizer Familien desto weiter werden sie sich entfernen stärker bewährt hätten. Das würde dazu von den Vorurteilen, desto genauer und führen, dass man Familienbegleitungen gerechter werden sie. Mein Versicherer künftig noch seltener als bisher in aus- wird mein Geschlecht und meinen Vor- ländischen Familien einsetzt, was die namen bald gar nicht mehr wissen wol- Entwicklung dieser Hilfeform für sol- len, weil er mein Fahrverhalten kennt: che Familien hemmen würde. Damit Er wird wissen, wo ich in den letzten hätte der Algorithmus das, was er vor- Jahren mit dem Wagen unterwegs war, hersagte, nur verstärkt. wie oft ich das Tempolimit übertrat und Doch auch für solche Probleme zu welchen Tages- und Nachtzeiten es werden Lösungen entwickelt. Am Bei- mir bevorzugt entfiel, beim Linksabbie- spiel von Denise und mir: Was wäre, gen den Blinker zu setzen. Er wird eine wenn den Versicherern untersagt wür- Prämie berechnen, die exakt auf mich de, das Geschlecht in die Berechnung und mein Risiko zugeschnitten ist. einfliessen zu lassen? Wahrscheinlich Das alles wird furchtbar gerecht würden findige Datenanalytikerinnen sein. Nur werde ich mich als Autofah- und -analytiker zunächst versuchen, rer für meine gerechte Prämie nackt ausziehen müssen vor dem Versicherer. Sonst nimmt sein Algorithmus einfach das Schlimmste von mir an. Die Gnade Die Gnade der der Anonymität wird zu einem Luxus werden, den sich nur noch die Reichen Anonymität wird zu leisten können. Und das gälte, Sie ah- einem Luxus für die nen es, dann nicht nur fürs Autofahren. Arme Denise. Armer David. Reichen werden. Forschung: zhaw.ch/praediktive-chancen- modellierung Weiterbildung: CAS Digitale Kompetenzen in der Sozialen Arbeit 10
KINDER- UND JUGENDHEIM Spielregeln auszuhandeln, will gelernt sein Von JULIA ROHRBACH Darf Paul die Türe seines Zimmers schliessen, wenn seine mitgedacht, kommen Zweifel an vermeintlich ernsthaftem Freundin ihn besucht? Darf Marie auf dem Gelände rauchen? Interesse an ihnen auf. Sie fragen sich zum Beispiel: Wem Und darf Ben länger in den Ausgang gehen, weil Carla es dient die Zimmerzeitregel über Mittag – mir oder dem Fach- auch durfte? Fachpersonen in Kinder- und Jugendheimen ste- personal? Wird Mitwirkung als mangelhaft empfunden, hen täglich vor solchen Fragen. Einerseits wollen sie junge schwächt dies das Vertrauen in die Betreuungspersonen und Menschen ihren Alltag mitgestalten lassen. Anderseits müs- löst Gefühle der Abhängigkeit aus. Erst wenn Kinder als ak- sen sie zu deren Schutz Regeln aufstellen. tive Akteurinnen und Akteure anerkannt und gefördert wer- Im Forschungs- und Entwicklungsprojekt «Wie wir das den, sind gute Beziehungen möglich. Die Aktionsbox «Wie sehen» der ZHAW Soziale Arbeit und Integras, gefördert wir das sehen», die wir gemeinsam mit jungen Menschen in durch die Stiftung Mercator Schweiz, haben wir festgestellt, Einrichtungen entwickelten, kann als Methode genutzt wer- dass junge Menschen in Einrichtungen viele Gemeinsam- den, um Regeln des Miteinanders und andere Themen zu dis- keiten darin haben, wo sie mitentscheiden möchten. Ganz kutieren. Ebenso kann sie den Betreuenden dazu dienen, sich vorne steht die Privatsphäre: unbeobachtete Momente haben mit ihren eigenen Einstellungen auseinanderzusetzen. Wie zu dürfen und Geheimnisse austauschen zu können. Kinder wird Beteiligung durch junge Menschen wahrgenommen, und und Jugendliche im Heim wollen im gemeinsamen Prozess was heisst das für die Praxis? Darüber werden wir an unserer Foto: Erik Mclean / Pexels mit Sozialarbeitenden Regeln aushandeln können und in kommenden Tagung mit Integras Fachverband für Sozial- ihren Anliegen ernst genommen zu werden. Erleben junge und Sonderpädagogik diskutieren. Denn Partizipation muss Menschen ihren Alltag als hoch strukturiert, entwickeln sie – mehr sein als einige gut gemeinte Aktionen. bewusst oder unbewusst – eigene Strategien, um ans Ziel zu Tagung: Partizipation in stationären Erziehungshilfen. Sichtweisen, kommen. Auch Rebellion gehört dazu. Fühlen sie sich nicht Herausforderungen, Ansätze; 16. Juni 2022 11
RUBRIK 12
Wie bestimme ich mein Leben selbst? Menschen mit Behinderung haben das Recht auf eine unabhängige Lebensführung. Die Subjektfinanzierung soll das ermöglichen. Doch für die Bedarfsermittlung braucht es Zeit und eine aktive Begleitung. Von CHRISTIAN LIESEN und ANGELA WYDER Florian Meier ist fast 40, und er ist Entscheidungen gefällt werden: Wie enttäuscht. Seit vielen Jahren lebt er in möchte ich leben? Wer soll mich unter einer Stiftung für Menschen mit kog- stützen? Für viele Betroffene ist das nitiven Beeinträchtigungen. Dort fühlt völlig neu. So auch für Florian Meier. er sich zwar wohl, aber seit ein paar Im ersten Abklärungsgespräch wurde Jahren werden Bedarfsabklärungen mit sein Interesse an der Seefahrt freund- ihm durchgeführt. Zum dritten Mal hat lich begrüsst. Nach dem zweiten wur- er jetzt am Bedarfsermittlungsverfah- de entschieden, sein Zimmer seemän- ren teilgenommen. Zum dritten Mal hat nisch zu dekorieren, mit Tauwerk und er erzählt, was er will. Und wieder ist Schiffen. Am dritten Gespräch war die nichts passiert. Dabei will er doch See- Mutter von Florian Meier nicht mehr fahrer werden. Schweizer Seefahrer. dabei, darüber freute er sich sehr. Aber Das hat er dreimal laut und deutlich zu hinterher konnte er kaum einordnen, Protokoll gegeben. welche Ergebnisse das Gespräch hatte. Florian Meiers Wohnkanton hat Was war denn nun mit seinem Wunsch, einen Wechsel von der objekt- zur sub- selbst zu bestimmen, wie er die Gelder jektorientierten Finanzierung vollzo- verwenden will? gen. Deren Ziel ist es, dass Menschen In subjektorientierten Finanzie- mit Behinderung ihr Leben freier gestal- rungen ist die Bedarfsermittlung ein ten können. Dafür sind finanzielle Mit- entscheidendes Moment. Das neue Sys- tel entsprechend dem Unterstützungs tem wird hier für alle Akteurinnen und bedarf vorgesehen. Doch nicht mehr Akteure zum ersten Mal erleb- und Fotos: Mali Lazell die Institutionen, sondern die Personen spürbar. Denn um die benötigten Res- selbst legen fest, wofür sie die Gelder sourcen individuell und bedarfsgerecht einsetzen wollen. In der Folge müssen zuzuteilen, muss dargelegt werden, 13
wie hoch der Unterstützungsanspruch darf entsprechen und zugleich das eige- Die Betroffenen sollen jeder einzelnen Person ist. Das Er- ne Bestehen sichern. Aus den genannten gebnis bestimmt über den zugestan- Gründen ist die Bedarfsermittlung hoch sich selbstwirksam denen Ressourcenumfang – und wirkt komplex und wird zur Projektionsflä- erleben. Dazu kann sich direkt im Leben der Person aus. che zahlreicher Anliegen. Was also Die Prozesse, die Personen wie Florian sollten Fachpersonen wissen, die Men- auch gehören, sich mit Meier durchmachen, lassen sich in den schen wie Florian Meier im Bedarfs- Rückschlägen Bedarfserfassungsinstrumenten nicht ermittlungsprozess begleiten? gut abbilden. Denn diese Prozesse kön- Ein solches Verfahren hat zwei auseinanderzusetzen. nen nur zu einem kleinen Teil während Ebenen. Auf der Grundlagenebene wird der Bedarfserfassung stattfinden. Sie zunächst festgelegt, welche Elemente brauchen Zeit und aktive Begleitung. und Abläufe für die Entscheidungsfin- dung anzuwenden sind. Dadurch wird Verfahren mit zwei Ebenen das Instrument definiert. Klassischer- Wenn in Florian Meiers Umfeld nie- weise gehören eine Selbsteinschätzung, mand versteht, dass «Seefahrer sein» eine Fremdeinschätzung sowie ein Ab- heisst, sich mit der Möglichkeit zu völ- klärungsgespräch mit allen involvierten lig neuen Rollen und Lebensentwürfen Personen dazu. Die Selbsteinschätzung auseinanderzusetzen, kann der Vor- wird von der betroffenen Person ausge- gang der Bedarfserfassung daran nichts füllt, gegebenenfalls mit Unterstützung ändern. Freilich wird viel Energie auf oder in Stellvertretung. Die Fremdein- die Bedarfserfassung verwendet. In der schätzung enthält die spezifisch fach- Schweiz werden dazu verschiedene In- lichen Perspektiven. Diese können strumente eingesetzt. Die Erwartungen ergänzt werden durch nahestehende an sie sind vielschichtig. Ein solches In- Personen: Damit wird die Selbstein- strument soll objektiv, einheitlich und schätzung abgerundet. Das Abklärungs- klar in den Beurteilungskriterien sein, gespräch dient der Plausibilisierung der zugleich aber einfach und flexibel in Bedarfseinschätzungen. Es klärt von- der Handhabung. Und es soll die indi- einander abweichende Einschätzungen viduelle Situation realistisch abbilden. und sorgt dafür, dass weder eine Unter- Der Mensch soll sagen können, was er noch Überversorgung resultiert. Die braucht, er soll sich «gesehen» fühlen. Bedarfsermittlungsinstrumente unter- Ausserdem soll das Ergebnis vergleich- scheiden sich darin, welche Elemente bar, eindeutig und fair sein. sie vorgeben und welche Abläufe sie zur Zu diesen vielfältigen, ja kaum Bedarfsfeststellung verlangen. vereinbaren Erwartungen kommt es, weil für das Verständnis darüber, was Keine vorgegebenen Muster ein Bedarf ist, unterschiedliche Be- Auf der zweiten Ebene, der eigentlichen zugsgrössen bestehen: Menschen mit Durchführung, arbeitet man sich zur Behinderung definieren den Bedarf im Entscheidung vor: dem Leistungsan- Hinblick auf ihre individuellen Bedürf spruch einer Person. Gesetzt ist dabei nisse, persönlichen Ziele und Lebens- erst einmal nur, dass am Ende ein Er- vorstellungen. Ein Kanton dagegen be- gebnis stehen wird. Wie dieses konkret hält in der Definition des Bedarfs die aussieht, kann über längere Zeit hinweg Unterstützung für sämtliche anspruchs- offenbleiben. Die Durchführungsebene berechtigten Menschen im Blick. Er ist – und das mag überraschen – kon- möchte seine finanziellen Mittel ge- kurrierend und kontradiktorisch ange- recht verteilen und fragt sich, welche legt. Sie muss mehrere und auch wider- Leistungen es geben muss und was allen sprüchliche Perspektiven ins Verhältnis Menschen möglich sein soll. setzen. Sie funktioniert nicht, wenn Die Leistungsanbieter schliesslich eine Seite darauf verzichten würde, ihre haben eine organisationale Perspekti- eigenen Interessen zu vertreten. ve. Sie möchten mit ihren Angeboten So ergibt sich eine Abfolge von und Leistungen dem individuellen Be- selektiven Entscheidungen, mit denen 14
RUBRIK Das THEATER HORA der Stiftung Züriwerk ist eine international renommierte Theatergruppe von professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern mit kognitiven Beeinträchtigungen. Die Zürcher Fotografin MALI LAZELL begleitet die Truppe seit Jahren bei Produktionen und Workshops. Ihre Fotografien in diesem Heft entstanden 2019 bei der Produktion «Bob Dylans 115ter Traum». 15
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nacheinander eine Konstellation von unterscheiden. Eine Unterstützung zu Fakten und Sinnbeziehungen aufge- erhalten, die den persönlichen Lebens- baut wird und Alternativen eliminiert vorstellungen entspricht, ist nicht mit werden. Die Situation der Person mün- Wunscherfüllung zu verwechseln. Es det in eine bestimmte, fassbare He- werden nicht Wünsche wahr, sondern rausforderung. Was ist relevant und Bedarfe gedeckt. Was von den Fach- was nicht? Was ist zugelassen und was personen zu leisten ist, bleibt also ganz nicht? Welche Personen werden gehört, unabhängig vom Instrument dasselbe: welche nicht? Was wird als Störung des Ziel ist es, mit den Betroffenen zusam- Ablaufs angesehen, und was wird zu de- men Perspektiven zu eröffnen und – auf ren Vermeidung getan? allen Seiten – selbstreferenzielle Be- Dabei gibt es keine vorgegebe- trachtungsweisen zu überwinden. nen Muster, die man abarbeiten kann. Stattdessen wird etwas Neues erarbei- Bei den Leistungen ansetzen tet: eine einmalige verbindliche Ent- Man muss die betroffenen Menschen scheidung beziehungsweise die Grund- darin begleiten und befähigen, sich mit lage dazu. Die Entscheidung, die am den eigenen Bedürfnissen, Wünschen, Schluss steht, ist eine brauchbare, nicht Lebensvorstellungen, Ressourcen und die einzig wahre. Man kann von einer Beeinträchtigungen auseinanderzuset- Verfahrenswahrheit sprechen, die man zen. Man muss herausarbeiten, welche der geldgebenden Stelle entgegenhalten Bedarfe hinter den Wünschen und Zie- und mit der diese sachlich weiterarbei- len stecken. Und den Betroffenen dabei ten kann. Letztlich ist die Anerkennung Raum geben, sich selbstwirksam erle- des Ergebnisses durch alle Beteiligten ben zu können, sich mit Rückschlägen wichtiger als die Frage, welches Verfah- auseinandersetzen zu können und Ent- ren zur Anwendung kam. scheide revidieren zu dürfen. Ein Knackpunkt für die Brauchbar- Damit wird klar: Ein solcher Pro- keit der Entscheidung ist aber: Die Si- zess kann Wochen, Monate oder so- tuation der Person wird mit den Instru- gar auch Jahre dauern. Es geht um Le- menten differenziert erfasst, doch was bensentscheidungen und darum, sich dabei herauskommt, muss zu den Leis- selbst überhaupt in der Rolle einer tungen passen, die dann erbracht wer- Person wahrzunehmen, die Entschei- den. So gibt es beispielsweise eine Vari- dungen trifft. Die Bedarfsabklärung ante der Selbsteinschätzung, welche die ist noch kein Garant dafür, dass ein persönlichen Ziele von Menschen mit Mensch mit Behinderungen am Ende Angebote für die Zukunft Behinderung in den Vordergrund stellt. mehr Selbstbestimmung oder Wahl Im neuen CAS «Behinderung und Sie fragt nach den individuellen Le- freiheit geniesst. Selbstbestimmung – Zukunftsorientier- bensvorstellungen. Im Anschluss wird Man muss deshalb auch gezielt bei te Angebote entwickeln» bringen die verlangt, Massnahmen zu formulieren, den Leistungen ansetzen. Zukunftsge- Teilnehmenden ihre Angebotsideen an die der Zielerreichung dienen. richtete Bedürfnisse verlangen nach den Start, beispielsweise eine neue zukunftsgerichteten Angeboten. Mit Dienstleistung, ein Produkt oder ein Kein Wunschkonzert anderen Worten: Es sind Ideen für Instrument. Sie lernen, wie man Daten, Diese Variante erfährt in der Praxis eine Leistungen und Angebote gefragt, die Bedarfe und Ressourcen strukturiert hohe Akzeptanz bei Menschen mit Be- durchlässiger sind als die heutigen. und zukunftsgewandt analysiert und hinderung. Sie können ihre Vorstellun- Sie müssen flexibler und näher bei den dies für die Angebotsentwicklung und gen offen formulieren und müssen nicht Betroffenen sein. Dafür müssen Fach- -implementierung nutzt. Die Weiter- einen Kriterienkatalog abarbeiten. Sie personen und Organisationen zu einem bildung richtet sich an verantwortliche fühlen sich als handelnde und selbst- kreativen und unternehmerischen Um- Fachleute und Führungskräfte aus der bestimmte Personen anerkannt, wor- gang mit den Ressourcen finden. Sich Behindertenhilfe, an Disability Entre- um sie auch jahrzehntelang kämpfen im Dreieck von Bedarfsermittlung, An- preneurs sowie an Selbst- und Stellver- mussten. Doch im Zuge der selektiven gebotsnutzen und Ressourcen bewegen tretungen und ihre Organisationen. Kettenbildung ist es dann herausfor- zu können, wird in einer subjektorien- Weiterbildung: dernd, persönliche Ziele und objekti- tierten Finanzierung zu einem entschei- CAS Behinderung und Selbstbestimmung – ven behinderungsbedingten Bedarf zu denden Qualitätsmerkmal. Zukunftsorientierte Angebote entwickeln 17
Immer am Ball bleiben Ein reges Sozialleben stärkt und verlängert die Selbständigkeit älterer Menschen. In einem Projekt der ZHAW wird untersucht, wie man in Alterssiedlungen die Beteiligung fördern kann. Von SYLVIE JOHNER-KOBI, BARBARA BAUMEISTER und KUSHTRIM ADILI «Als ich vor elf Jahren hier anfing zu Siedlungen gibt es keine solchen Fach- so manche neu Zugezogene nicht auf arbeiten, stellte ich immer wieder fest, personen. Doch der Bedarf an nachbar- Anhieb. Es gibt aber auch andere Grün- dass einige Mieterinnen und Mieter ei- schaftsorientierten Stellen steigt. Laut de für soziale Zurückhaltung: Wer an nander gar nicht kennen.» Christina Bundesamt für Statistik leben die meis- Veranstaltungen teilnimmt oder solche Müllers Stimme hört man heute noch ten älteren Menschen in der Schweiz mitorganisiert, exponiert sich. Das wur- das Erstaunen von damals an, als sie die in einem Privathaushalt. Im Jahr 2016 de in den Interviews öfters thematisiert. Teilzeitstelle einer Siedlungsassistentin waren dies 96 Prozent der Personen Man möchte involviert sein, aber nicht in der Soodmatte antrat. Die Siedlung über 65 Jahre. Alterswohnungen und zu sehr. «Das geht so rassig mit Rumer- mit 49 Mietwohnungen für Menschen -siedlungen gehören zu dieser Haus- zählen», sagte eine Frau. Niemand wird ab 60 Jahren wurde im Jahr 2000 von haltsform, und sie werden in Zukunft gern zum Mittelpunkt von Gerede. der Stiftung für Altersbauten in Adlis- an Bedeutung gewinnen. Dies zeigt der wil gebaut. Soziale Kontakte anzuregen, neuste «Age Report» der Age-Stiftung Kritik aushalten ist nur eine von Müllers Aufgaben. Sie und der Fondation Leenaards. Auch eine gewisse Spontaneität will plant die Organisation und Durchfüh- Partizipation von älteren Men- man sich offen halten. Anders gesagt: rung von Veranstaltungen gemeinsam schen im Wohnumfeld wird als zentraler Nähe ist wichtig, Privatsphäre und Frei- mit den Mieterinnen und Mietern. Zu- Aspekt gesehen, um deren Lebensqua- willigkeit aber genauso. Wer mithilft dem berät sie diese individuell mit dem lität zu erhöhen. Sie kann verschiedene oder mitorganisiert, muss damit klar- Ziel, dass sie so lange und so selbständig Stufen beinhalten. Im Projekt verwen- kommen, wenn Veranstaltungen nicht wie möglich in der Soodmatte wohnen den wir ein Modell mit vier Stufen: genutzt oder kritisiert werden. Man können. Müller fördert die Selbstorga- Informiert werden, Anhörung von Be- darf nicht unbedingt mit Dankbarkeit nisation und Nachbarschaftshilfe inner- troffenen, Mitbestimmen oder Mitent- rechnen. In den fünf Siedlungen spielt halb der Bewohnerschaft. Ihre Arbeit scheiden sowie Selbstorganisation oder die architektonische Gestaltung eine findet Anklang. «Immer wieder lassen Selbstverwaltung. Insbesondere in den grosse Rolle. die Menschen hier durchblicken, dass beiden Siedlungen mit Siedlungsassis- Sitzbänke und Gemeinschaftsräu- sie die Vorteile einer Teilhabe an ge- tenz werden alle vier Stufen der Partizi- me stellen wichtige Rahmenbedingun- meinschaftlichen Aktivitäten erkennen pation gelebt, während bei den anderen gen dar. In einer der Siedlungen plant und schätzen», sagt die Sozialarbeiterin. beiden meist nur die Partizipations- das Projektteam deshalb, zusammen stufe eins sichtbar ist. Wobei auch dort mit den Mieterinnen und Mietern den Bloss nicht zu sehr exponieren teilweise Elemente der Selbstorganisa- Gemeinschaftsraum mit neuer Möblie- Siedlungsassistenzen sind ein neueres tion wie in Form von Nachbarschafts- rung und anderem aufzuwerten. Einen Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit. Wie hilfe erkennbar sind. solchen Raum, das Soodmatte Stübli, wichtig sie im Altersbereich sind, stellen «Es muss jemand da sein, der et- gibt es seit sechs Jahren. Er ermög- wir, ein Team des Instituts für Vielfalt was anreisst, sonst leben alle für sich», lichte schon zahlreiche Aktivitäten. In und gesellschaftliche Teilhabe, in un- sagte ein Mieter der ländlichen Sied- der Soodmatte stellen ausserdem auch serem Forschungs- und Entwicklungs- lung im Interview mit uns. Bisherige Laubengänge eine Art Begegnungs- projekt fest. Beteiligt sind eine länd- Projekte und Studien bestätigen: Es zone dar, wo es regelmässig zu einem liche, zwei städtische sowie zwei Sied- braucht Kontaktpersonen vor Ort wie spontanen Schwatz kommt. Manchmal lungen in Agglomerationsgemeinden. Siedlungsassistenzen, Hauswartinnen braucht es nicht viel, damit Begegnun- In zwei Siedlungen sind Sozialarbeiten- und Hauswarte mit erweitertem Auf- gen zustande kommen. de angestellt, um Beteiligungsprozes- gabenprofil. Denn selbst den ersten Projekt: se anzustossen. In den restlichen drei Schritt der Kontaktaufnahme wagen zhaw.ch/beteiligungskultur-alter 18
Foto: Mira / Alamy Stock Photo 19
INTERVIEW MIT DANIELA REIMER ANDRÉ WOODTLI THOMAS GABRIEL Was bringt das neue Kinder- und Jugendheimgesetz? Das war dringend nötig: 60 Jahre lang regelte im Kanton Zürich dasselbe Gesetz, wie die Fremdplatzierung von Kindern Illustrationen: Elisabeth Moch und Jugendlichen finanziert und organisiert wird. Seit Januar gilt ein neues Gesetz. Es kommt einem Paradigmenwechsel gleich. Interview: REGULA FREULER 20
Seit dem 1. Januar 2022 ist im Kanton Zürich das neue Kinder- und Jugendheimgesetz, kurz KJG, in Kraft. Was verändert sich damit? AW Wir haben es mit einem Paradigmenwechsel zu tun. Das alte Gesetz, das seit 1962 galt, war ein Finanzierungsgesetz. Jetzt haben wir mit dem KJG ein Gesetz, das die Gewährleistung eines kantonalen Leistungsangebots regelt, «Wir bekommen die also das, was man einen Service public nen- Folgen der Corona- nen kann. Krisenbewältigung voll Was bedeutet das konkret? zu spüren.» AW Der Kanton hat einen ganz neuen Auftrag be- kommen, nämlich die Sicherstellung von allen ANDRÉ WOODTLI ergänzenden Hilfen zur Erziehung für Kinder, Jugendliche und Familien. Das Gesetz regelt Heimpflege, Familienpflege, Dienstleistungs- angebote in der Familienpflege – sogenannte DAF – und sozialpädagogische Familienhilfe. Der Kanton klärt den Bedarf, erstellt also eine Gesamtplanung und bestellt die entsprechen- den Leistungen. Und diese müssen von ver- zent der Kosten. Zudem ist eine Reihe behörd- gleichbarer Qualität sein. licher Aufgaben an den Kanton gegangen. DR Da das AJB, das kantonale Amt für Jugend und Berufsberatung, auch eine Reihe von Was heisst das in Zahlen ausgedrückt? Qualitätskontrollen und auch die Bewilligung AW Weil der Kanton viele neue Aufgaben bewäl- der Pflegeverhältnisse übernimmt, besteht die tigen muss, sind nun rund fünfmal so viele Hoffnung, dass dies zu einem Professionali- Mitarbeitende in diesem Bereich tätig. Die sierungsschub führt. Gesamtkosten sind bedarfsabhängig. Wie TG Das alte Gesetz setzte zum Teil falsche öko- sich das entwickelt, kann man nicht genau nomische Anreize, die immer wieder das voraussagen, denn da ergibt sich gerade eine übersteuerten, was aus fachlicher Sicht rich- völlig ungeplante Situation. tig und nötig gewesen wäre. Das neue Gesetz ANDRÉ WOODTLI installiert nun eine fachliche Steuerung. Sie sprechen von der Corona-Pandemie? steht seit 2008 dem Amt für Jugend und AW So ist es. Wir bekommen die Folgen der Kri- Berufsberatung (AJB) Bestand darüber während der langen Vernehm- senbewältigung voll zu spüren. Bei fast allen im Kanton Zürich vor. Dieses ist zuständig lassung stets Konsens? Leistungen des AJB verzeichnen wir rund für die ausserschuli- TG Leider nein. Als Mitglied der kantonalen Ju- 25 Prozent mehr Inanspruchnahmen als vor sche Bildung und den gendhilfekommission erlebte ich immer wie- Corona im Jahr 2019. Das heisst: 25 Prozent Kindesschutz. der Diskussionen über die Finanzierbarkeit mehr Stipendiengesuche, mehr Kindesschutz- THOMAS GABRIEL von Massnahmen, vor allem wenn es um hohe abklärungen, mehr schwere Kindesschutzfäl- leitet das Institut für Standards an Professionalisierung ging. le, mehr Alimentenhilfegesuche. Kindheit, Jugend und Familie. Seine wissen- schaftlichen Schwer- Welche Kostenfolgen hat das Gesetz? Trotz aller Verbesserungen gibt es auch Kritik am punkte sind Kinder- und Jugendhilfe, AW Es war nie ein Sparauftrag mit dem KJG ver- neuen Gesetz, vor allem von den DAF. Bis anhin Pflegekinderwesen bunden. Der Auftrag lautete, Kostenneutra- hatten sie eine Tagespauschale, neu müssen sie und Adoption. lität zu wahren. Weil die Kosten nicht voll- nach Stunden beziehungsweise konkret erbrach- DANIELA REIMER ständig transparent waren, bleibt es sehr ten Leistungen abrechnen. Warum? ist Professorin am komplex, die finanzielle Ausgangslage zu AW Das ist richtig: Die Dienstleistungsanbieten- Institut für Kindheit, Jugend und Familie. definieren. Es war die politische Absicht, die den in der Familienpflege müssen erstmals Sie lehrt und forscht Kostenverteilung leicht zugunsten der Ge- Kosten und Leistungen transparent machen. zu Pflegefamilien mit meinden zu verschieben. Im neuen System DAF gibt es seit den 1990er-Jahren, als Al- besonderem Fokus auf deren Verberuf übernimmt der Kanton 40 Prozent und alle ternative zu Heimplatzierungen. Für diese lichung und fachlichen Gemeinden zusammen übernehmen 60 Pro- Dienstleistungen gab es lange Zeit weder eine Begleitung. 21
INTERVIEW Bewilligungspflicht noch eine Aufsicht. Auch kel. Wir können Entwicklungsvorhaben damit fehlt bis heute eine Kostentransparenz. Das zusätzlich finanzieren. ändert sich jetzt mit dem neuen Gesetz ganz DR Aber vieles von dem, was die DAF bisher ge- grundsätzlich. Eine so grosse Umstellung leistet haben, wird laut ihren Angaben nicht kann verständlicherweise zu einem gewissen mehr bezahlt. Unmut führen. AW Die DAF haben zwei Leistungsaufträge. Der DR Wir hören aus der Praxis, dass sich viele DAF eine ist ihre Vermittlungstätigkeit. Dafür be- schlechter gestellt fühlen. Zum Unmut kom- kommen sie weiterhin eine Pauschale, welche men Existenzängste hinzu. Der administrati- die konzeptionell beschriebenen Leistungen ve Aufwand erhöht sich deutlich. abgelten wird. Das kann auch die Aufgaben als Arbeitgeber umfassen, beispielsweise Ist das neue KJG auch ein Misstrauensvotum Mitarbeitenden- und Qualifikationsgesprä- gegenüber den DAF? che. Der zweite Auftrag ist die Begleitung von AW Der Kanton ist neu für die Abgeltung zuständig Familien. Dafür ist ein Standardtarif von 150 und regelt diese auch zum ersten Mal. Bei der Franken pro Stunde vorgesehen. Abgeltung geht es auch stets um Qualität. Das ist der Grund für die angestrebte Transparenz. Ist das Volumen der Begleitung gedeckelt? Konkret: Wir wollen wissen, ob auch in abge- AW Nein, es wird vorab geklärt, wie viele Stun- legenen Tälern die Gastfamilien gut erreicht den es braucht. Dieser Bedarf wird je nach- werden können – und wie und wie oft sie er- dem und nach Rücksprache angepasst. Aber reicht werden. auch hier: Es gibt keine Carte Blanche mehr. TG Die «United Nations Guidelines for the Al- Und das ist richtig so. Jeder Berater und jede ternative Care of Children» empfehlen, dass Supervisorin muss die wirklich geleisteten man mit der Kinder- und Jugendhilfe kein Stunden auch abrechnen. Geld verdienen sollte. Natürlich muss profes- sionelle Arbeit adäquat entlöhnt werden, aber So viel zur Kontrolle der Leistungserbringer. Wie man muss sicherstellen, dass das Geld nicht messen Sie die Tauglichkeit und die Wirksamkeit in organisationalen Strukturen versickert. des neuen Gesetzes beziehungsweise die Leistun- DR Dennoch müssen Innovationen möglich blei- gen jener, die es umsetzen, also des AJB? ben. Wird es finanziell eng, fehlt der Spiel- AW Wir sind daran, dies aufzubauen. Es gibt raum dafür. auf verschiedenen Stufen Controlling- und AW Das haben wir berücksichtigt. Darum enthält Evaluationsfragen. Man kann sowohl das Ge- das neue Gesetz auch einen Subventionsarti- setz selbst evaluieren wie auch die einzelnen Leistungsvereinbarungsprozesse. Zudem ma- chen wir ein systematisches Umsetzungscon- trolling für alle beteiligten Akteurinnen und Akteure. Welche Faktoren sollten bei einer Qualitätskon «Man muss das System trolle beachtet werden? TG Es braucht fachlich abgestimmte und abgesi- resilient machen cherte Maximen der Angebotsentwicklung. gegen ökonomische Man muss das System resilient machen dage- gen, dass es nur von fachfremden Kriterien und ideologische gesteuert wird. Dazu gehören nicht nur die Kriterien.» bereits erwähnten ökonomischen Kriterien, sondern auch ideologische. THOMAS GABRIEL Zum Beispiel? DR Lange galt der Ansatz: ambulant vor statio- när. Nicht nur, aber auch aus Kostengründen hat man eine Art Ideologie produziert. Man hat in einer Angebotskaskade gedacht. Das ist problematisch. Hier kann man von internati- 22
onalen Erfahrungen profitieren. In Deutsch- land hat etwa der Ausbau der ambulanten Massnahmen nicht dazu geführt, dass statio- näre Massnahmen abgenommen haben, son- dern dazu, dass bestimmte junge Menschen zu lange durch verschiedene Massnahmen laufen mussten. «In den nächsten TG Das hatte die Folge, dass die Kinder mit einem viel höheren Problemdruck ins Heim kamen, Jahren muss die als er bei einer frühen Platzierung vorgelegen Herkunftselternarbeit hätte. Statt auf Ideologien muss ein solches System auf Evidenzen aufbauen. Nur so kann mehr in den Fokus man erfahren, welche Massnahme welchen rücken.» Effekt hat auf ein Kind und seine Familie. DANIELA REIMER Eine Kritik der DAF ist, dass sie nun selbst Geld bei den leiblichen Eltern einfordern müssen. Das belastet das ohnehin nicht einfache Verhältnis. Warum treiben nicht die Gemeinden das Geld ein? AW Ich verstehe diese Vorbehalte. Aber faktisch haben sie dies bis jetzt schon mehrheitlich gemacht, weil die meisten Angebote über die AW Bei uns sind die Voucher verbindlicher. Aber Sozialhilfe finanziert werden und die Ge- ich habe früher selbst ein Jugendheim geleitet meinde damit automatisch involviert ist. Ich und nur selten Fälle erlebt, in denen jemand gehe davon aus, dass es auch weiterhin in vie- partout keine Sozialarbeitenden mehr sehen len Fällen die Gemeinde sein wird, welche die wollte. Ich bin gegen zu viel Paternalismus. Finanzierung übernimmt. Jeder und jede hat das Recht darauf, es allein zu probieren. Dennoch wird hier ein gewisser Druck auf die TG Das Gesetz geht mit den neuen Möglichkei- Pflegefamilien abgewälzt. ten, die Jugendhilfe zu verlängern, in die AW Theoretisch könnte in Zukunft auch das AJB richtige Richtung. Wir sollten dabei aber dieses Inkasso machen, wie wir es schon bei nicht vergessen, die Nachhaltigkeit der Hil- Ausbildungsbeiträgen und bei der Alimenten- fen vor dem 18. Geburtstag zu stärken. Füh- hilfe machen. Aber dafür würden wir einen ren die Hilfen dazu, dass sich die jungen gesetzlichen Auftrag benötigen. Menschen gesellschaftlich gut integrieren können? Diesen Fokus hat man ein Stück weit Neu kann die Jugendhilfe bis zum 25. Geburts- vernachlässigt. tag verlängert werden. Aber sie muss nahtlos erfolgen, und ein Bedarf muss plausibel gemacht Wie wird oder sollte sich das neue Gesetz nun werden. In Care-Leaver-Kreisen werden diese entfalten? Bedingungen kritisiert. Wäre eine flexible Lösung AW Mit dem neuen KJG sind Rahmenbedingun- nicht realistischer? gen geschaffen worden, um den Service pub- DR Wir haben viele biografische Interviews mit lic weiterzuentwickeln. In welche Richtungen jungen Erwachsenen durchgeführt. Was deut- das gehen wird, wird sich erst noch zeigen lich wurde, ist dieses grosse Gefühl bei vielen und ist unter anderem Gegenstand der Ge- mit 18: Wenn es endlich keine Sozialarbeiten- samtplanung. den mehr gibt, dann ist alles gut und normal. TG Das neue Gesetz bringt Rechtssicherheit und Dabei geht es dann oftmals erst los mit den beseitigt falsche ökonomische Anreize. Es Schwierigkeiten. Interessant finde ich darum ist sehr zu hoffen, dass dies schweizweit eine die Lösung in Kanada. Dort können Care Le- Signalwirkung hat. aver ihre Voucher beziehen und diese flexibel DR Die Herkunftselternarbeit ist im neuen Ge- einlösen, wenn sie nach Beendigung der Kin- setz noch nicht klar geregelt. Das muss in den desschutzmassnahmen eine Beratung wollen. nächsten Jahren – oder Jahrzehnten – mehr in Sie müssen das nicht vorab festlegen. den Fokus rücken. 23
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