Jesuiten Schlaf in himmlischer Ruh - Jesuiten.org

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2021-4

Jesuiten
Schlaf in himmlischer Ruh
Jesuiten Schlaf in himmlischer Ruh - Jesuiten.org
EDITORIAL

Schlaf in himmlischer Ruh!

Liebe Leserinnen und Leser,                     Realität und Phantasie. In der Bibel kommen
                                                Träume vor, wenn Gott den Menschen etwas
Wie passen Weihnachten und Schlafen zusam-      mitteilen will. Im Traum erhält Josef aus Na-
men? Mit dieser Frage begann für uns als Re-    zareth Botschaften, die er im Wachzustand als
dakteure eine längere Suche nach dem, was       Auftrag Gottes umsetzt.
uns am Schlaf wichtig ist. Herausgekommen
ist eine Entdeckungsreise, auf der wir den      Schließlich thematisieren viele Weihnachtslie-
Schlaf in vielen verschiedenen Facetten ken-    der den Schlaf des Jesuskindes. Das ist nicht
nengelernt haben und mit der wir wieder da      weiter erstaunlich, feiern wir doch das Fest ei-
bei Ihnen landen wollen, wo die Nacht und       nes Neugeborenen – und Neugeborene schla-
vielleicht auch der Schlaf am längsten sind,    fen viel und fest. Schlafen wie ein Kind, ist
in der vorweihnachtlichen Sonnenwendezeit.      deshalb auch unter Erwachsenen ein sprich-
                                                wörtlicher Wunsch. Doch sollten wir das Weih-
Es ist spannend, dass wir den Schlaf oft nur    nachtsfest nicht vorschnell auf ein schlafendes
dann beachten, wenn er uns fehlt, obwohl wir    Kind reduzieren. Denn dieses Kind bringt uns
ein Drittel unseres Lebens mit Schlafen ver-    als Inkarnation von Gottes Wort Erlösung und
bringen und der Schlaf lebensnotwendig ist.     Hoffnung auf ein ewiges Leben. Weihnachts-
Im Schlaf verarbeitet unser Unterbewusstsein    lieder sind auch nicht einfach fromme Wiegen-
die Ereignisse des Tages, nach einem guten      lieder, sondern erinnern daran, dass das Leben
Schlaf gehen wir unsere Aufgaben voller Ta-     Jesu mit dem schlafenden Kind erst seinen An-
tendrang an und wenn wir „eine Nacht darüber    fang nimmt. Weihnachten zeigt uns jedes Jahr,
schlafen“, finden wir einfacher eine Lösung.    wie Gottes Liebe Wirklichkeit geworden ist
                                                und wie wir diese Liebe weitergeben können.
Schlafen heißt auch Träumen – diese können
Schäume sein oder uns etwas über uns selber     In diesem Sinne wünschen wir Ihnen einen
verraten, z.B. im Exerzitienprozess. Auch die   gesunden Schlaf und eine gesegnete und hoff-
Literatur hat etwas Traumähnliches, mit ih-     nungsvolle Weihnachtszeit,
rer Fiktion auf der Zwischenebene zwischen

               Christian                 Matthias                 Mathias
             Braunigger SJ               Rugel SJ                 Werfeli SJ

                                                                                              1
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SCHWERPUNKT

Still, o Himmel,
still, o Erde!
Noch bevor mit Franz von Assisi die Krippendarstellungen
aufkamen, gab es im deutschsprachigen Raum das
sogenannte Kindel­wiegen. Hans Brandl SJ über den beinahe
800 Jahre alten Weihnachtsbrauch.

Zum ersten Mal bezeugt wurde der Brauch Mit-           sein entspanntes Gesichtchen schenken der
te des 12. Jahrhunderts. Er bestand in Andach-         eigenen Unruhe den ersehnten Frieden.
ten, bei denen ein Jesuskind aus Wachs o.ä. in            Für die geistlichen Wiegenlieder bedeutet
einer Wiege sanft gewiegt und besungen wur-            die Wiege des Herrn dennoch kein Idyll. Be-
de. Aus den dabei gesungenen Liedern ent-             reits in der zweiten Strophe heißt es: „Denke
wickelten sich die geistlichen Wiegenlieder,          nit an Kreuz und Leiden, nit an jene Bitter-
die besonders im Alpenraum bis heute sehr              keit,/die dein Herz einst wird durchschneiden,
beliebt sind. Zu den bekanntesten Liedern              es ist noch nit an der Zeit!“ Das Kind wird
dieses Genres gehören „Es wird schon glei              einst alle Ruhe und inneren Frieden für sein

                                                                                                          © Moshbidon shutterstock.com
dumper“ (d.h. dunkel), „Still, still, still, weil’s    großes Werk der Versöhnung brauchen. Oder
Kindlein schlafen will“ oder eben das Lied im         ist die Passion der eigentliche Grund für diese
Titel dieses Beitrags. Das aus Tirol und Ober-         schützenswerte Ruhe vor dem Sturm? Die in-
bayern stammende Lied „Still, o Himmel“ mag           haltliche Tiefe geistlicher Wiegenlieder zeigt
uns als Beispiel für die thematischen Aspekte          sich an der Zusammenschau von Wiege und
dieser Zeugnisse der Volksfrömmigkeit dienen.         Kreuz, wie wir sie auch in anderen Weihnachts­-
   Die erste Strophe gebietet Ruhe im Himmel          ­liedern finden, besonders ausgeprägt jedoch
und auf der Erde, denn „Jesus schließt die             bei einem Text von Jochen Klepper (GL 254:
Äuglein zu“. Nun heißt es still sein, „dass nit       „Dein Elend wendet keiner ab./ Vor deiner
zerstöret werde dessen angenehme Ruh“. Der            Krippe gähnt das Grab“).
Refrain lautet „Schlafe, Jesus, schlafe süß,              Das schlafende Kind und seine Bestimmung
und jetzt deine Ruh genieß“ und wird auf ei-          rühren das Herz der Betrachtenden. In der
ner besonders weichen, wiegenden Melodie               dritten Strophe heißt es: „Da ich dich hier sehe
gesungen. Warum zieht der ruhige Schlaf die-           liegen auf dem Stroh und harten Bett,/mache
ses Kindes so viel Aufmerksamkeit und An-              du mein Herz zur Wiegen, welches dir schon
dacht auf sich? Still werden. Ruhe finden und          offen steht.“ Es ist die Bitte um ein weiches
genießen. In der Stille Kraft schöpfen und            Herz für den Erlöser, der die Härte von Leiden
diese Stille als heilige Ruhe schützen. Es ist        und Tod für mich erduldet. Konsequent singt
eine Ruhe, die man nicht nur dem Jesuskind             dann die vierten Strophe vom Segen der Auf-
gönnen willen, sondern nach der sich die sin-          erstehung. Die Aufnahme des Herrn im Her-
genden und hart arbeitenden Menschen auch              zen bewirkt die Aufnahme des Betenden in das
selbst sehnen. Die Wiege des Erlösers und             Reich Gottes.

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SCHWERPUNKT

    Ob Volkslied oder Kunstlied wie z.B. „Mariä       Himmelssaal verlassen / und will reisen auf
Wiegenlied“ von Max Reger (Text Martin Boe-           unseren Straßen“ (Still, still, still, 5. Strophe).
litz, 1912), die Intimität und Innigkeit der geist-   Der Friede dieses Kindes erfülle uns und heile
lichen Wiegenlieder bleiben selten ohne Wir-          unsere Beziehungen.
kung. Rein menschlich betrachtet erfüllt der
Anblick eines schlafenden Neugeborenen mit                               Hans Brandl SJ
Liebe, Frieden und Verantwortungsgefühl. Er
                                                                         Er wurde 1972 in Brixlegg geboren
wirkt entwaffnend auf uns, die wir beruflich oft                         und wuchs im Zillertal auf. Vor sei-
in mühsames Konkurrenzdenken verwickelt                                  nem Ordenseintritt 2005 studierte
sind. Sein Anblick berührt, denn „nichts be-                             er Lehramt Musikerziehung und
                                                                         Religionspädagogik, Philosophie
rührt wie das Unberührte“ (Österreichische
                                                                         und Kirchenmusik in Wien. Seit
Bundesforste). Gläubigen Menschen jedoch                                 2012 unterrichtet er Religion am
führt dieses schlafende Kind immer wieder das                            Gymnasium Kollegium Kalksburg
Staunenswerteste vor Augen: „Gott hat den                                und ist dort auch Schulseelsorger.

                                                                                                           3
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Die Schwester des Schlafs –
Insomnia
Schlaf ist auch ein weitverbreitetes Motiv in Belletristik,
Poesie, Film und Fernsehen. Die Literaturwissenschaftlerin
Claudia Stockinger geht auf Spurensuche.
Wenn das Auge des Gesetzes im Wortsinn un-       stehen auf Entspannung. Schlaf ist Regene-
ermüdlich wacht, verhindert es keine Verbre-     ration, Wellness für die Seele, überlebensnot-
chen. Im Gegenteil: Völlig übernächtigt kann     wendige Verlagerung von Ungelöstem in die
man da schon einmal zum Mörder werden – so       Anderswelt des Ichs, wo dann erledigt werden
wie in Insomnia, einem Thriller des Regisseurs   kann, wofür tagsüber kein Möglichkeitsraum
Christoph Nolan von 2002, in dem der unter der   bleibt.
Mitternachtssonne Alaskas leidende Ermitt-           All das leuchtet unbedingt ein. Nur: Nicht
ler Will Dormer seinen Partner erschießt. Im     jedem ist die Gabe des Schlafs geschenkt.
Film wurde „das Auge des Gesetzes" in Dormers    Schlafen zu können ist eine Gnade, keine Leis-
Auge konkret, das sich nächtens nicht mehr       tung aus eigener Kraft. Dass etwas in einem
schloss, und so führte das fehlende Gleich-      immerfort denkt, gehört zu den Kennzeichen

                                                                                                    © constantgardener iStock.com
gewicht zwischen Wachen und Schlafen bei         der Insomnia. „Das Wachen hat kein Subjekt“,
ihm zu tiefgreifenden psychischen Störungen;     wie Emmanuel Lévinas das so treffend auf den
er tötete im Wahn. Es geht aber auch anders:     Punkt gebracht hat: „In der Schlaflosigkeit
In Dominik Grafs Frau Bu lacht (1995), dem       gibt es nicht mein Wachen über die Nacht; es
unerreichten Meisterwerk aus der ARD-Reihe       ist die Nacht selber, die wacht. Es wacht.“ Es
Tatort, wälzt sich Jenny (Barbara Ahren), eine   wacht in mir.
sympathische Bekannte des Kriminalbeamten            Ich weiß, wovon die Rede ist, denn ich
Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl), schlaflos im    komme aus einer Familie der Schlafverweige-
Bett. Die Folge dreht sich um das Thema Kin-     rer. Der Schlaf verweigert sich uns. Wir mögen
desmissbrauch. An Nachtruhe ist da nicht zu      ihn, wir sehnen ihn herbei, wir erwarten ihn
denken, und auch die Kommissare arbeiten         und hoffen auf ihn – aber doch wohl eher wie
rund um die Uhr an der Lösung des Falls.         auf einen guten Freund, den man nicht allzu
   Unsere Gegenwart sorgt sich um den Schlaf.    regelmäßig empfängt, warum auch immer. Bei
In einer übermüdeten Gesellschaft, in der uns    den Gründen angekommen, drängt sich eine
Beschleunigungsangebote und Mobilitätszu-        Vielzahl an Fragen auf. Ertragen wir ihn nicht?
mutungen unter Stress setzen und zugleich        Fürchten wir ihn? Wollen wir uns ihm nicht
eine Art Pflicht zur Selbstfürsorge besteht,     restlos hingeben? Lasse ich aber das Fragen
genießt die Schlaflosigkeit keinen guten Ruf.    sein und akzeptiere diesen Zustand, tut sich
Gut und ausreichend zu schlafen, wird zu         Ungeahntes auf: die Ruhe der Nacht, ihre Stil-
einer Forderung von unstrittiger Dringlichkeit   le, ihre Leere, ihre Kühle. Vieles, was tagsüber
und – das ist eine Paradoxie unserer Zeit –      ablenkt, erdrückt oder bedrängt, bleibt aus,
zur harten Arbeit an sich selbst. Die Zeichen    spielt keine Rolle mehr. Und dann kommen

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Einsichten, die man nicht erwartet hätte, Ant-   Ruhekissen" – wenigstens vorläufig, denn:
worten lassen sich finden, Dankbarkeit stellt    Das globale Problem des Menschenhandels
sich ein. Und mit ihr der Schlaf.                ist nicht aus der Welt geschafft; das macht
   Das Finale von Frau Bu lacht zeigt alle Be-   auch diese Tatort-Folge immer wieder klar. –
teiligten nochmals in kurzen Aufblendungen,      Gefürchtete, geliebte Schwester des Schlafs,
während ein seit Tagen erwartetes Gewitter       Insomnia.
endlich hereinbricht. Es ist Nacht, doch kaum
einer hat sich schon zur Ruhe begeben, alle                      Claudia Stockinger
wirken innerlich bewegt vom Erlebten. Allein                     lehrt neuere deutsche Literatur
Jenny schläft jetzt tief und fest. Die Rettung                   (19.-21. Jahrhundert) an der
                                                                 Humboldt-Universität zu Berlin. Sie
einer thailändischen Frau und ihrer kleinen
                                                                 ist Mitglied der Ausbildungs-Kom-
Tochter aus den Händen eines Missbrauchs-                        mission der Zentraleuropäischen
täters verschafft ihr im Wortsinn „ein sanftes                   Provinz der Jesuiten.

                                                                                                   5
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                                  „Wie im Traum“
                                  Schlaf in der Kunst: Pater Tobias Zimmermann berichtet, wie von
                                  seinem Mitbruder Michael Kampik SJ (1948 - 2016): ein Glas-,
                                  Mosaik- und Lebenskünstler.
                                   Betrat man das Zimmer von Michael, war man         den Gestalten wäre jemals unbeschadet zu
                                   in einer anderen Welt: Wenige Charakter-Mö-       bewegen gewesen. Die nächste Ideenflut riss
                                   bel. Darunter eine geheimnisvolle Truhe, auf       sie ohnehin auseinander: Flüchtige Gestalten,
                                   der ich oft saß oder stand, wenn                              geboren für einen Abend bei Wein
                                   er für eines seiner Projekte wie-                             und Brot, entsprungen einer wun­
                                   der einmal ein Modell brauchte.                               dersamen Traumwelt, die nur noch
                                  Wie Darsteller wanderten die                                   so eben die Wirklichkeit jenseits
                                   Möbel ständig durch den Raum.                                 seines Zimmers berührte. Und den­
                                   Und getrieben wie von Ebbe und                                noch waren sie oft wirklicher als
                                   Flut strömten Bilder und Papier­                              das Getriebe und die Routinen der
                                   schnitzel durch den Raum, türm-                               Stadt vor den Fenstern. Immer wie-
                                   ten und verloren sich; Reste von                              der jedenfalls haben sie in mir heil-
                                   Opern- oder Ballettprogrammen,                                sam das Staunen geweckt über das
                                   Bildbänden, Fotos, die Michael                                Wunder und die Zerbrechlichkeit
                                   auf dem Trödelmarkt erwarb. Stapel Zeich-          des Lebens. Mehr nehme ich selten mit aus den
                                   nungen. Am Grad der Auflösung von Zimmer          Begegnungen mit den großformatigen Schwät-
                                   und Bewohner ließ sich ablesen, wo er gera-       ­zern an den Wänden von Galerien und Banken.
                                   de unterwegs war: Mal traumwandelnd und               Ein Bild habe ich ihm rechtzeitig abge-
                                   übersprudelnd wie ein Kind im Angesicht neu-      luchst. Ich hatte mal wieder Modell gestanden.
                                   er Entdeckungen. Mal aufgewühlt, die eigene       Michael liebte die Geschichte des Gauklers, der
                                  Verzweiflung kaum verbergend, weil sich nicht       sein Alter im Kloster verbringen durfte. Der
                                   zeigen wollte, was sich zeigen sollte.            hielt das stille Sitzen beim Chorgebet nicht
                                      Herzliche Gastfreundschaft mit Wein, Brot       aus. Heimlich schlich er in die Seitenkapelle.
                                   und manchmal ein Stückchen Käse. Wir such-        Der Abt, alarmiert von missgünstigen Mit­
                                   ten uns ein Plätzchen, mal am Rande eines         brüdern, fand ihn dort jonglierend. Im Pub-
                                   Abgrundes zum Chaos, mal mit Blick auf eine       likum – unbemerkt selbst vom Gaukler, ver-
                                   Bühne, auf der sich überraschend, neu, wie        tieft in sein Tun – der ganze himmlische Hof.
                                   am ersten Tag, das Leben zeigte. Michael          Das hat Michael gefallen. Viel Freude bei Wein,
                                   schwärmte stundenlang von der Anmut sei-          Brot und Käse, Gott!
                                   ner Helden, Rudolf Nurejew, Vaslav Nijinsky,
© Armin Staudt shutterstock.com

                                   Heinz Bosl. Wir betrachteten seine neuesten                          Tobias Zimmermann SJ
                                  „Versuche“, die sich traumwandelnd unter sei-                         ist Priester, Jesuit und Künstler. Im
                                   nen Händen gefunden oder gebildet hatten.                            Zentrum für Ignatianische Pä­da­
                                   Er konnte sie sich selbst nicht reimen. Wir                          gogik ist er als Leiter bei Projekten
                                   entdeckten sie gemeinsam: Wilde Collagen,                            der Schulentwicklung, im Coaching
                                                                                                        für Leitungskräfte und in der Fort-
                                   überzeichnete Fotos, wundersame Fundstü-
                                                                                                        bildung tätig. Seit Oktober 2019
                                   cke aus Holz und glitzerndem Glas, Mosaik-                           wirkt er auch als Direktor des
                                   steinchen ... Kaum eine dieser fragil-glitzern-                      Heinrich Pesch Hauses.

                                                                                                                                           7
Jesuiten Schlaf in himmlischer Ruh - Jesuiten.org
SCHWERPUNKT

Schlafe, mein Kindchen
schlaf ein…
Für viele Kinder ist Einschlafen eine Herausforderung. Die Angst vor
dem „kleinen Tod" hält sie wach. Auch im Internat des Kollegs
St. Blasien tun sich die Schüler*innen manchmal schwer, berichtet die
Internatspädagogin Maria Kiefer. Das Protokoll eines Nachtdienstes.

Meine kleine Enkeltochter liegt in ihrem Bett-       ter der Decke und stellt sich schlafend. Eine
chen und kuschelt unter der Decke. Irgendwie         gemurmelte Entschuldigung soll alles unge-
will der Schlaf noch nicht eintreten. Kleine Ge-     schehen machen – das wird sich am nächsten
schichten erzähle ich ihr, doch dann wird daraus     Tag noch einmal klären müssen.
ein kleines Liedchen, das ich einem Mantra              Die Nachtdienstdame bei den Mädchen
ähnlich wiederhole. Selig schlummert die Kleine      kann ähnliches berichten. In der Gruppe der
ein (und ich selbst fast auch). Im Kolleg St. Bla-   Zehntklässlerinnen tobt ein Streit: es geht um
sien leben über 250 Mädchen und Jungen, diese        Freundschaften. Bis da wieder Ruhe einkehrt,
werden rundum betreut. In den Nächten sor-           das kann dauern. In der Gruppe 11 ist die Flori
gen wir Kolleginnen und Kollegen auch für die        krank. Die Kollegin bringt ihr die vorbereitete
Nachtruhe. Zumeist ist es ruhig, aber im Fall        Medizin, sitzt an ihrem Bett und redet ihr gut
des Falles reicht so ein kleines Liedchen nicht.     zu. Flori schläft wieder ein, später wird die Kol-
   Ein Nachtdienstprotokoll: Es ist 23:30 Uhr,       legin noch einmal nach ihr sehen. Zwei Zim-
ich bin auf meinem Rundgang und höre Stim-           mer weiter erklingen fröhliche Stimmen aus
men in einem Zimmer. Dort treffe ich drei            einem Handy. Kaum zu glauben, aber daneben
Jungs aus der 7. Klassenstufe an, sie sitzen an      liegt das dazugehörende Mädchen – längst
einem kleinen Tischchen, mit Taschenlampen-          eingeschlafen. Gott sei Dank! Vorsorglich wird
beleuchtung und Schokoriegeln ausgestattet.          das Handy im Büro deponiert.
Meine Frage kann daher nur lauten: „Jungs,              Manchmal ist es eine Tasse Tee, eine Wärm­
was macht Ihr denn hier zu so später Stunde?“.       flasche, ein wenig Reden, wir vom Kollegium
Die Antwort: „Wir haben nach den Ferien noch         sind für alle Fälle vorbereitet und ja, wir wür-
gar keine Zeit gehabt, uns mal zu erzählen,          den auch ein Liedchen singen.
was wir so alles erlebt haben." Mit einem inne-
ren Schmunzeln bitte ich die Jungs, jetzt aber
schnell ins Bett zu gehen, schließlich müssen
                                                                         Maria Kiefer
sie spätestens um 6:30 Uhr aufstehen. 1:30 Uhr,
                                                                         Maria Kiefer ist seit 2011 Inter-
jetzt wird es richtig laut; in der Gruppe der Abi­                       natspädagogin im Kolleg St. Bla-
turienten findet gerade eine Party statt. Musik                          sien. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit
ertönt, Stimmen im Flur, plötzlich scheppert                             ist die Betreuung der chinesischen
etwas. Hoppla, es wurde tatsächlich bemerkt,                             und ausländischen Schüler*innen.
                                                                         Daneben engagiert sie sich in der
dass ich da bin. Schnell wird alles eingesam-
                                                                         Mitarbeiter*innenvertretung. Sie
melt, dunkle Schemen verschwinden, Türen                                 ist Mutter und Großmutter und lebt
schließen. Ich klopfe bei Tobi an, der liegt un-                         in der Nähe von St. Blasien.

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Jesuiten Schlaf in himmlischer Ruh - Jesuiten.org
SCHWERPUNKT

Vom Flair des Erwachens
Jetzt raus aus dem Bett, in kürzerer oder längerer Zeit fasst der
Mensch da so etwas wie einen Beschluss, überwindet seine Träg-
heit oder folgt einer Gewohnheit. Das ist aber nicht die ganze
Geschichte. Matthias Rugel SJ über den Zauber des Aufwachens.

Manchmal hat das Aufwachen eine Melodie,           Geschichte hinauslaufen: Das Schöne, das oft
manchmal eine Vorstellung von einer Sache,         mit Grauen gemischt ist. Wilde Aspekte von
 die heute passieren muss, manchmal fühle          Sexualität und Aggression. Meine Hoffnung
ich eine Not oder eine Vorfreude.                  und Enttäuschung. Wie das Ganze zusam-
    Mir scheint, es gibt noch eine dritte Dimen-   mengehört.
sion, die ein Tor öffnet in eine andere Welt.         Warum ist diese Tür des Aufwachens so
Annie Dillard schreibt davon so: „Aufwachen        flüchtig wie Annie Dillards Kater? Warum
ist wie eine Katze haben, der von der Mäu-         schließt sie sich, wenn ich mir kaltes Was-
sejagd auf den nackten Körper gesprungen           ser übers Gesicht laufen lasse und bewusst da
ist, schnurrt, stinkt und ihre rosenförmigen       bin? Warum beobachte ich nicht, wie dieser
Pfotenspuren hinterlässt." Solange man noch        Ur-Eindruck meinen Tag bereichert? Hat er
einfach Routinen abspult, etwa beim Waschen,       ihn jemals intensiviert? Es mag sein, es wäre
nimmt sich die Phantasie des Geschehenen           mir heute zu viel gewesen, hätte ich diese
an. Aus den roten Pfotenspuren wird alles          Fülle des Morgens präsent behalten. Aber ich
Rote: Rosen und Verletzungen. Alle Geschich-       entdecke den Morgen wieder, wenn ich die
ten, die von Rot erzählen. Dillard schreibt:       großen Mythen höre, die mich ansprechen.
„Benommen wusch ich mich vor dem Spie-
gel, und mein verdrehter Sommerschlaf hing
noch an mir wie Seetang. Was für ein Blut war
 das, und was für Rosen? Es hätte die Rose der
Vereinigung sein können, das Blut des Mor-
 des, oder die Rose der nackten Schönheit und
 das Blut einer unsagbaren Opferung oder Ge-
burt. Das Zeichen an meinem Körper hätte
ein Erkennungszeichen sein können oder ein
Schandfleck, der Schlüssel zum Himmelreich
oder ein Kainszeichen. Ich war mir nie sicher,                       Matthias Rugel SJ
während ich mich wusch und das Blut verlief,                         Er hat Mathematik und Theo-
                                                                     logie studiert und in Philosophie
blaß wurde und schließlich verschwand, ob
                                                                     promoviert. Bevor er 2012 in den
ich gereinigt oder das Blutzeichen des Pas-                          Orden eingetreten ist, hat er als
sahfestes ausgelöscht hatte. Wir erwachen,                           Softwareentwickler in der Wirt-
wenn wir überhaupt je erwachen, umgeben                              schaft und als wissenschaftlicher
vom Geheimnis, Todesraunen, Schönheit, Ge-                           Mitarbeiter an der Hochschule für
                                                                     Philosophie in München gearbei-
walt …" (Der freie Fall der Spottdrossel, S. 11)
                                                                     tet. Er ist derzeit als Referent am
    Beim Aufwachen liegt vor mir ein offenes                         Heinrich Pesch Haus in Ludwigs-
Rätsel – und die Ahnung, worauf Leben und                            hafen tätig.

                                                                                                       9
SCHWERPUNKT

Die Biologie: Was das Gehirn
tut, wenn es schläft
Zum Schlaf hat jeder etwas zu sagen. Die einen schlafen zu schlecht,
die anderen zu wenig oder zu viel, dabei ist Schlaf ein komplexes
und faszinierendes Thema der Biologie. Psychotherapeutin Barbara
Knab erklärt, was im Gehirn passiert, wenn es schläft.

   Unsere Altvorderen hielten den Schlaf für       EEG, dem Elektroenzephalogramm. Das EEG
den „Bruder des Todes“. Das ist er nicht. Er ist   kommt heraus, wenn man die Signale der
der „Bruder der Wachheit“, eine wunderbare         Großhirnrinde mit Hilfe von kleinen Elektro-
Form des Lebendigseins, wenn auch vorzugs-         den misst bzw. „ableitet“. Es handelt sich um
weise liegend. Er ist sowohl Gegenstück als        elektrische Schwingungen.
auch Voraussetzung für die Wachheit. Schla-
fen und Wachen sind zwei Seiten der gleichen
Medaille Leben. Insofern muss man Rainer           Schlaf-EEG und Schlafstadien 1 bis 4
Werner Fassbinders berühmten Satz umdre-
hen. Wenn schon, müsste er heißen: „Schla-         Das Schlaf-EEG ändert sich im Verlauf der
fen kann ich nicht mehr, wenn ich tot bin."        Nacht immer wieder. Wenn wir wach und
                                                   hochkonzentriert sind, ist es schnell, mehr
                                                   als 12 oder 14 Hertz (Hz – Physik: das sind
Das EEG                                            die Schwingungen pro Sekunde), und nur ein
                                                   paar Mikrovolt stark. Wenn wir sehr entspannt
Im Schlaf bewegen wir uns nicht (außer beim        sind, wird es langsamer, 8 bis 12 Hz, und die
Schlafwandeln, aber das ist eine eigene Ge-        Stromstärke steigt ein wenig. Das ist der be-
 schichte). Das Gehirn ist trotzdem aktiv. Es      rühmte Alphazustand. Der ist angenehm, aber
 spielt sozusagen sein eigenes Programm ab.        präzise denken können wir da nicht, auch
„Sehen“ kann man das Programm mit dem              wenn mitunter das Gegenteil behauptet wird.

© ozgurdonmaz iStock.com

10
SCHWERPUNKT

   Zu Beginn des Schlafs wird das EEG noch            Im Lauf einer Nacht haben die meisten Leute
langsamer, 4 bis 7 Hz, das nennen wir Leicht-      5 solcher Non-REM-REM-Zyklen. Jeder dauert
schlaf im Stadium 1. Dabei bleibt es nicht, es     ungefähr 90 Minuten, der erste kann etwas kür-
geht bis auf 1 bis 2 Hz herunter. Gleichzeitig     zer sein. Die Abfolge ist fest, das nennt man die
steigt die Stromstärke auf mehr als 75 Mikro-      Schlafarchitektur. Innerhalb der Zyklen ändert
volt. Wenn in einer halben Minute mehr als ein     sich aber schon einiges: die Anteile der einzelnen
Fünftel aus solchen Wellen besteht, heißt das      Stadien verschieben sich. So wird der Tiefschlaf
Tiefschlaf (je dichter diese Wellen, umso tiefer   von Zyklus zu Zyklus weniger, ab dem dritten
ist der Schlaf). Den tiefsten Tiefschlaf nennen    hört er meist ganz auf, bei älteren Menschen
wir Stadium 4, es wird also von 1 über 2 über 3    schon früher. An seine Stelle tritt leichterer
bis 4 immer tiefer. Der Hintergrund der Benen-     Non-REM-Schlaf. Die Dauer des REM-Schlafs
nung: je tiefer, umso schwerer ist man weckbar.    dagegen verlängert sich im Laufe einer Nacht.

Der REM-Schlaf                                     Träume

Bis dahin sind die Muskeln entspannt und die       In aller Kürze: wir träumen meistens. Verrück-
Augen ruhig. Nach einer Stunde kommt REM.          te Träume aber, solche, die wirklich interessant
Im REM-Schlaf sind die Muskeln nach und            sind, die wir uns merken und erzählen wollen,
nach gelähmt, dafür gehen die Augen schnell        wo wir womöglich fliegen oder sonstige eigent-
hin und her – REM heißt „rapid eye movement“,      lich unmögliche Dinge tun – die liefern uns die
schnelle Augenbewegungen. Das EEG ist so           REM-Phasen.
ähnlich wie zu Beginn des Schlafs in Stadium 1.
Da REM so besonders ist, heißen alle anderen
                                                                       Barbara Knab
Stadien zusammen Non-REM-Schlaf.
                                                                       ist Wissenschaftsautorin und
                                                                       Psychologische Psychotherapeutin
                                                                       in München. Ihre Spezialgebiete
Die Schlafarchitektur                                                  sind Schlaf, Chronobiologie und
                                                                       Kognition. Sie schrieb mit Jürgen
                                                                       Zulley „Die kleine Schlafschule“.
Danach geht es wieder von vorne los: Stadium
1, 2, 3 und (vielleicht) 4, und nach einer guten                       Aus https://psychologie.barbara-
Stunde kommt wieder REM. Das ist ein Non-                              knab.de/schlaf-schlaf-eeg-und-
REM-REM-Zyklus.                                                        schlafverlauf/

                                                                                                     11
SCHWERPUNKT

Der vermessene Schlaf
Eine Kurzgeschichte von Michael Röth
Der Straßburger Somniometer des Matt-            Traumphasen ganz bewusst zu verbleiben
hieu Emile Roullande ein Schlafregulator         und die dabei äußerst kreative Hirntätigkeit
gibt bis heute Rätsel auf. Roulland, Erfinder    zur Problemlösung auszunutzen. Leider kön-
der Hypnodaesie, der Schlafvermessung,           nen wir heute nur erahnen, welchen damals
würde heute als einer der bedeutendsten          aktuellen astronomischen, mathematischen
Forscher des Barock gelten, hätten seine         oder physikalischen Fragen er sich wohl
Experimente auch nur den geringsten Stan-        zuwandte. Im Sommer 1705 wies er seinen
dards der Wissenschaftlichkeit genügt. So        Hausdiener an, ihn unter keinen Umstän-
jedoch blieb er alleine durch das bekann-        den zu stören, was dieser auch konsequent
te Spottgedicht in Erinnerung, das jedem         über drei Monate befolgte. Als man dann das
müden Schüler aus Lehrermund entgegen-           Schlaf- und Arbeitszimmer Roullands betrat,
hallt: „Es schläft Matthieu, der Hypnodät, von   hatte ihn die sommerliche Trockenhitze be-
mittags früh bis morgens spät.“ Roullandes       reits zu einer unversehrten Mumie konser-
Maschine gilt dagegen als einzige Hinterlas-     viert, dass es wirkte, als schlafe er immer
senschaft des Elsässers. Sie entstand nach       noch. Auch wenn die moderne Forschung
seinen Plänen in der Werkstatt des genialen      von einem Herzstillstand ausgeht, wün-
Konstrukteurs und Wissenschaftlers Christiaan    sche ich mir, dass der Hypnodät von einer
Huygens um 1678 in Den Haag. Vermutlich          Erleuchtung überwältigt zur nächstgrößeren
wollte Roullande damit seinen Schlaf in be-      Einsicht gelangte und sich in der unendlichen
stimmten Traumphasen unterbrechen und            Weite der Erkenntnis verlor.
gleichzeitig vermessen. Hätte Roullande die         Als 1809 Napoleon erneut in Straßburg
Möglichkeiten moderner Schlafforscher ge-        weilte, ausgerechnet neben Roullandes Haus,
habt, wer weiß, ob seine Forschungen so zu       und seine Nachtruhe durch das laute Ticken
einem Ziel gelangt wären. Andererseits ver-      des immer noch funktionierenden Somnio-
fügte er schon in frühen Jahren über die Fä-     meter empfindlich gestört fühlte, wies er mit
higkeit, Klarträume selbst zu steuern, ein       den berühmten Worten „Nicht durch Träume,
Phä­nomen, das erst jüngst erforscht und         nur durch Taten erringt man Ruhm“, seinen
be­stätigt wurde. Schon dem jungen Roul-         Adjutanten an, drei Schüsse in das filigrane
lande fiel dabei auf, dass er auf diese Weise    Zahnräderwerk zu feuern. Der Apparat stand
komplexe Schulaufgaben seines Hauslehrers        sogleich still, und es gelang nie wieder, ihn in
meistern konnte. Erst als ihn seine Versuche     Gang zu setzen.
mit dem Somniometer nicht weiterbrachten,
entsann er sich dieser Methode zur Lösung
großer wissenschaftlicher Fragen seiner Zeit.                       Michael Röth
                                                                                                            © MartinPBGV iStock.com

Vermutlich trieb ihn hierbei die Verzweiflung                       ist freier Schriftsteller in Ludwigs-
                                                                    hafen. Der Historiker schreibt gern
an, endlich originäre Erkenntnisse zu errei-
                                                                    Kurzgeschichten und Miniaturen.
chen und nicht nur vorhandenes Wissen zu                            Die obige Erzählung ist unver-
rezipieren. Dazu versuchte er wohl in den                           öffentlicht.

12
SCHWERPUNKT

        13
SCHWERPUNKT

Mein Lieblingsplatz
zum Schlafen
                                                        Einmal nahm ich mir vor, innerhalb von 24
                 Arndt Gysler                           Stunden mit Gepäck 100 km voranzukommen.
                  baut für die Braun’sche Stiftung 		   Das Weserbergland ist abwechslungsreich und
                 eine integrierte Hospiz- und           hat keine großen Höhenunterschiede. Dort
                 Palliatvstation in der Südpfalz auf.   machte mich gegen Mitternacht auf den Weg.
                                                        In der Kühle der Nacht kam ich gut voran. Am
                                                        neuen Tag erfreute mich die Landschaft. Am
Mein Lieblingsschlafplatz ist auf dem Wasser:           Abend war ich der 100 km-Marke näher. We-
Sei es auf dem Segelboot sanft dahingleitend,           gen meiner Müdigkeit legte ich Pausen ein. Auf
mit leichtem Wiegen in den Wellen und von               einem Feldweg fiel ich nach vorn ins Gras in
den Sonnenstrahlen auf der Haut verwöhnt,               der Mitte. Beim Einrollen in die Decke war ich
das Kreischen der Möwen im Ohr. Oder auf                eingeschlafen.
dem kleinen Motorboot bis hin zur großen
Fähre, beruhigt durch die sanfte Vibration des
Schiffsmotors verbunden mit seinen monoto-
nen einlullenden Geräuschen und durch den                                Christoph Albrecht SJ
harten Seegang hin- und hergeschaukelt, den                              seit 2009 Leiter von JRS Schweiz,
lebendigen Wind mein Gesicht streichelnd,                                seit 2016 Leiter der kath.
den Geschmack von Salzwasser auf der Zunge.                              Fahrendenseelsorge in der Schweiz.
   So überwältigt von diesen vielen starken
Eindrücken fällt es mir ganz leicht, im Hier
und Jetzt zu sein und zu schlafen.                      Da ich auf Reisen im Flugzeug verzichte, bin
                                                        ich an internationale Tagungen im Bus oder
                                                        im Zug unterwegs. Schlafen im Bus ist für
                 Christian Herwartz SJ                  mich eher anstrengend, doch die Nächte im
                 Begründer und langjähriger             Liegewagen genieße ich. Wenn ich aufwache,
                 Exerzitienbegleiter der                schaue ich aus dem Fenster. Ich sehe eine an-
                 Straßen-Exerzitien.                    dere Landschaft und frage mich: Wo sind wir
                                                        jetzt? Das weckt schöne Kindheitserinnerun-
                                                        gen. Ich weiß, nicht allen geht es so: Kälte,
Mit Freude suchte ich in einer meiner Lebens-           Hunger, Schmerzen, Angst, Ärger, Kummer,
phasen nach Schlaforten, an denen mich kei-             Mücken, Lärm, Gestank … vieles kann uns
ner vermutet, an einen Baum gelehnt oder in             hindern, gut zu schlafen. Menschen auf der
einem Gebüsch in der Nähe belebter Orte, um             Straße, unterwegs oder gar auf der Flucht,
dort mittendrin zu schlafen. Jesus schlief ein-         wünsche ich einen sicheren, warmen und ruhi-
mal in der Mitte seiner verängstigten Jünger.           gen Ort, Schutz – und Frieden mit sich selbst!

14
SCHWERPUNKT

                  Cornelia Jansen                     Schlafplatz. Es ist nicht so, dass ich mir einen
                  seit 10 Jahren Leiterin des         solchen wünschen würde – aber das Einfache
                  Wohnheimes im Katholischen          und Natürliche ist ein guter Gegenpol zu mo-
                  Studentenhaus Basel.                dernen Schlafstellen. So findet sich bei mir an-
                                                      stelle eines Steins ein Hirsekissen und das höl-
                                                      zerne Bett ist mit etwas weichem belegt. Auf
Mein erster Gedanke jeweils am Morgen beim            Gadgets wie „Schlaf-Apps“ verzichte ich, dafür
Aufwachen ist: „Schön, heute Abend darf ich           wacht eine kleine gotische Madonna über mei-
wieder in mein Bett“, womit mein Lieblings-           nen Schlaf.
schlafplatz bereits erwähnt ist: ganz simpel
– mein eigenes Bett. Ich habe grundsätzlich
einen sehr guten Schlaf und schlafe auch vor
dem Fernseher oder im Kino bestens. Und                                 Paula-Jane Martin
nun lüfte ich ein Geheimnis: Mein Lieblings-                            Dolmetscherin und Sprecherin,
schlafplatz im Wohnheim ist der „Ökonomat“                              freischaffend seit 2011, lebt mit
im 2. Untergeschoss – bei über 30 Grad im                               ihrer Familie in Bern.
Sommer der einzige kühle Ort im Haus. Zwi-
schen Putzmittellager, Matratzen und zu re-
parierenden Stühlen lässt sich wunderbar ein          Der Schlaf und ich teilen eine lange und
Mittagsschlaf machen – und niemand kann               komplexe Geschichte. Je nachdem mochte
einen erreichen.                                      ich ihn nicht, oder er verweigerte sich mir…
                                                      somit spielen wir seit Jahrzehnten ein Katz-
                                                      und Mausspiel. Manchmal erwischt er mich,
                  Michael Wirz                        manchmal ich ihn. Manchmal kämpfen wir
                  seit 2021 Geschäftsführer der ECE   zusammen, manchmal vermeiden wir uns
                  Regionalverwaltung Schweiz.         auch.

                                                      Aber dann gab es die Nacht, wo wir uns ei-
                                                      nig wurden und gemeinsam wach blieben um
Wie magisch zog sie mich schon als Kind an,           zu wachen, Schlaf und ich. Die Nacht, wo wir
die Klause vom Heiligen Niklaus von der Flüe.         einen kleinen 3kg-Menschen anstaunten, der
In einer dunklen Ecke, lediglich beleuchtet von       knapp vorher noch fussballerisch in meinem
einem Lichtschimmer aus der Kapelle, findet           Bauch tätig gewesen war. Wir bestaunten ihn,
sich eine Pritsche aus Holz mit einem Stein als       und dann haben Schlaf und ich uns zugenickt.
Kopfkissen. Noch heute fasziniert mich dieser         Das schaffen wir schon irgendwie.

                                                                                                            15
SCHWERPUNKT

Mein Nickerchen
Zwischen 12 und 15 Uhr ist Mittagsruhe. Menschen gehen in der
Pause zum Essen, und vielerorts herrscht qua Hausordnung
Mittagsruhe. Für Clemens Kascholke SJ gibt es in dieser Zeit
einen obligatorischen Termin: das Nickerchen.

In meinem Smartphone gibt es zwei Zeittimer:     geschehen sind, mit anderen Gedanken und
einmal mit 30 Minuten mit dem Titel „Beten“      Gefühlen zurück. Ich bin freier geworden, ge-
und einmal „Nickerchen“ mit 20 Minuten. Viel-    rade wenn es unangenehme Gespräche oder
leicht schmunzeln Sie jetzt über diese Zusam-    herausfordernde Unterrichtsstunden gewesen
menstellung, doch für mich verbinden sich        sind. Auch wenn es jetzt etwas pathetisch
beide Elemente sehr eng. Denn durch diese        klingt, so fühle ich mich doch zukunftsoffener
beiden reservierten Zeiten in meinem Alltag      auf das hin, was an diesem Tag noch kommen
habe ich mir selbst einen Rhythmus gegeben,      mag. Dies hängt mit der mir sehr charmanten
der positive Auswirkungen auf mich, meine        Interpretation des Schlafes als kleinem Bruder
Tätigkeiten und den Umgang mit anderen           des Todes zusammen. Denn tatsächlich lasse
Menschen schafft. Bewusst spreche ich nicht      ich mich in den Schlaf – zur Nacht oder zum
vom Mittagsschlaf, da ich manchmal mein          Nickerchen – immer auch mit dem Gedanken
Nickerchen auch erst am Abend kurz vor der       gleiten, dass ich nicht weiß, ob ich daraus wie-
Tagesschau mache.                                der in diesem Leben erwachen werde.
   Was beim Gebet naheliegend scheint, er-          Zum Schluss noch ein praktisches Wort ge-
schließt sich hinsichtlich des Nickerchens       gen Ihre möglichen Einwände, dass die Sorge
vielleicht nicht sofort. Deshalb möchte ich      groß ist, in den Tiefschlaf zu fallen und danach
Sie an dieser Stelle an meinen Erfahrungen       gänzlich gerädert zu sein. Ähnlich wie das Ge-
teilhaben lassen. An erster Stelle steht – im    bet braucht auch das Nickerchen eine Übung.
besten Wortsinn – natürlich die körperliche      Über die Jahre musste ich meine Zeit – von 30
Erholung von einer lähmenden Müdigkeit, die      über 25 zu 20 Minuten – herausfinden und von
sich bei mir zuverlässig nach dem Mittages-      mir selbst die Konsequenz einfordern, dass ich
sen einstellt. Dann genieße ich einen Kaffee,    nach dem Klingeln des Weckers sofort wieder
lege mich im Idealfall ins Bett oder setze ich   aufstehe. Probieren Sie es einfach aus!
mich zur Not mit dem Kopf an die Wand ge-
lehnt auf einen Stuhl.
   Mit den Jahren konnte ich bei mir auch
                                                                    Clemens Kascholke SJ
                                                                    Geboren 1988 in Meiningen, ist
eine innere, ja geistliche Veränderung durch
                                                                    nach seinem Theologiestudium in
mein Nickern feststellen. Ich steige aus dem                        Erfurt 2011 in die Gesellschaft Jesu
Tagestrott aus. Ich signalisiere meinem Kör-                        eingetreten. Seine Zeit als Jesuit ist
per nicht nur, dass er zur Ruhe kommen darf,                        vor allem mit der Jugendarbeit ver-
sondern auch dass es nichts Wichtiges zu tun                        bunden. Nach seinem Lehramtsstu-
                                                                    dium mit den Fächern Deutsch und
gibt. Die Welt dreht sich für 20 Minuten wei-
                                                                    Religion hat er nun sein Zweites
ter – aber ich nicht. Oft sehe ich danach auf                       Staatsexamen am Aloisiuskolleg in
die Begegnungen und Tätigkeiten, die davor                          Bonn absolviert.

16
SCHWERPUNKT

Im Erwachen Christus erwarten
Was bedeutet es in der heutigen Zeit, wachsam zu sein? Andreas
Schalbetter SJ versucht sich an einer spirituellen Antwort.

Wachsam zu sein, bedeutet, den gesellschaft-       nen und die Herrlichkeit des Herrn umstrahlte
lichen Entwicklungen mit wachem Blick zu           sie und sie fürchteten sich sehr. Der Engel sag-
begegnen: Wohin steuern wir? Wie gelingt es        te zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn siehe,
uns, die derzeitigen Herausforderungen wie         ich verkünde euch eine große Freude, die dem
die schwindende Biodiversität, Migration, den      ganzen Volk zuteilwerden soll: Heute ist euch
Klimawandel, den Verlust des Glaubens und          in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist
die weltweite soziale Ungerechtigkeit anzuge-      der Christus, der Herr.“ (Lk 2,8-11) Gerade die
hen? Erkennen wir die Zeichen der Zeit und         Hirten als einfache Menschen sind ganz Ohr
suchen gemeinsam nach angemessenen Ant-            für das Geheimnis des unbegreiflichen Got-
worten und Lösungen!                               tes, der in einem Kind Mensch wird. — Oder in
   Diese Haltung der Wachsamkeit können            Getsemani bittet Jesus die Jünger im Zugehen
wir Tag für Tag einüben. Wir gehen derzeit auf     auf seine letzten Stunden: „Wacht und betet,
die längste Nacht des Jahres zu. Die Tage wer-     damit ihr nicht in Versuchung geratet!“ Als
den kürzer, die Nächte länger. Diese Stimmung      Christinnen und Christen erwarten wir wach-
hilft, das Licht der Welt wachend zu erwarten:     sam das endgültige Kommen Christi. Denn er
Jesus Christus, der die Finsternis überwindet.     kommt wie „ein Dieb in der Nacht“; er kommt
Die Nacht ist aus spiritueller Sicht mit dem       plötzlich wie „die Wehen über eine schwange-
Tod vergleichbar. Einschlafen und schlafen ist     re Frau.“ (vgl. 1 Thess 5,1-3)
ein Loslassen und gleicht dem Sterben. Das            Seien wir also wachsam! Gehen wir mit wa-
Aufwachen hingegen steht für einen Neube-          chem Blick durch die Straßen der Stadt und
ginn. In der Nacht ist Jesus geboren worden        Welt und setzen, im Vertrauen auf Gott, Zei-
(vgl. Lk 2). Früh morgens hat sich Jesus für das   chen des Hoffens als Antwort auf die Zeichen
Gebet zurückgezogen: „In aller Frühe, als es       der Zeit.
noch dunkel war, stand er auf und ging an ei-
nen einsamen Ort, um zu beten.“ (Mk 1,35) In
der Morgendämmerung auferstand Jesus von
den Toten und erschien den Jüngern am Ufer
des Sees von Tiberias: „Als es schon Morgen
wurde, stand Jesus am Ufer. Doch die Jünger
wussten nicht, dass es Jesus war.“ (Joh 21,4)
                                                                      Andreas Schalbetter SJ
                                                                      1965 im Wallis geboren und auf-
– Im Schutz der Dämmerung lässt es sich bes-
                                                                      gewachsen. Fasziniert von der
ser meditierend beten. Die letzten Traumbilder                        ignatianischen Spiritualität und
der Nacht verfliegen, und ich darf mich aus-                          den Exerzitien, begleitet er gerne
richten auf Christus, die aufgehende Sonne.                           Menschen auf ihrer Suche nach
   Ein weiterer Gedanke ist der des erwarten-                         Sinn und Orientierung. Die Liebe
                                                                      zur Natur und zur Musik ist ihm in
den Wachens: „In dieser Gegend lagerten Hir-
                                                                      die Wiege gelegt worden. Er ist
ten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei                        derzeit Leiter der katholischen
ihrer Herde. Da trat ein Engel des Herrn zu ih-                       Uni-Gemeinde Basel

                                                                                                      17
SCHWERPUNKT

Na, dann mal gute Nacht …
Schlafen auf dem Boden hat eine lange Tradition. „Paleo-Schlaf“
nennt man diese Gewohnheit. Wilfried Dettling SJ über
die lange biblische Tradition des Schlafens.

18
SCHWERPUNKT

                                       Schlafen wie in der Steinzeit. Kein Zweifel,          zuvor nicht einmal gewagt hätte. Dies alles ge-
                                       „Paleo“ ist heute ein Markenzeichen. Menschen          schieht, als er nichts tut und nichts denkt –
                                       in der Steinzeit, so die Vermutung, wussten            eben gut schläft. Gelerntes und Erlebtes wird
                                       genau, was es braucht, um gut schlafen zu              dabei besonders gut verarbeitet, beste Voraus-
                                       können. Es heißt: Schlafen auf dem Boden               setzungen, um gute Entscheidungen zu treffen.
                                       ist gesund, es ist einfach, beruhigt und ent-         Jakob kann das bestätigen. Ein Rat des heili-
                                        spricht der menschlichen Natur viel mehr, als        gen Bruno, dem Gründer des Kartäuserordens,
                                        das Schlafen auf einer künstlichen Matratze.          der sich in leicht veränderter Form auch in den
                                       Wissenschaftliche Belege gibt es dazu nicht.          „Geistlichen Übungen“ des Ignatius von Loyo-
                                       Warum diese Sicht heute dennoch immer                 la findet, hilft mir zu einem gesunden Schlaf:
                                       mehr Sympatisant*innen findet, hat einen              vor dem Einschlafen lasse ich den vergange-
                                        einfachen Grund. Menschen brauchen einen             nen Tag wie ein Film an mir vorüberziehen. Ich
                                       guten und gesunden Schlaf. „Die Deutschen             vergegenwärtige mir zwei, drei Begebenheiten,
                                        schlafen schlecht“, titelte vor einiger Zeit eine    für die ich besonders dankbar bin. Die damit
                                       große Tageszeitung. Demnach leiden 80 Pro-            verbundenen Empfindungen lasse ich noch
                                       zent der deutschen Berufstätigen zwischen              einmal in mir aufsteigen. Ich „verkoste“ und
                                       35 bis 65 Jahren heute unter Schlafstörungen.         „verweile“ und beende auf diese Weise den Tag.
                                       80 Prozent! Psychologen und Ärzte schlagen            Das Sprichwort sagt: „Wie man/frau sich bet-
                                       Alarm. Unsere Gesellschaft ist zu laut und            tet, so schläft man/frau“. Wie wahr! Am nächs-
                                       zu hektisch. Immer online sein raubt uns              ten Morgen erinnere ich mich an das, wofür
                                        den Schlaf, überfordert, macht innerlich hart        ich am Vortag dankbar war und schaue, was
                                       und krank. Wer längere Zeit keinen gesun-             mir im Schlaf geschenkt wurde. Manchmal
                                        den Schlaf findet, ist deutlich krankheits­           spüre ich, dass sich etwas verändert hat. Weite,
                                        an­fälliger, neigt häufiger zu Depression,           Gelassenheit, Zuversicht, neue Perspektiven,
                                       Sucht­­verhalten, Sprunghaftigkeit und Konzen­        Klarheit, Ermutigung oder Freude stellen sich
                                       trationslosigkeit als jemand, der einen ge-            ein. Könnte dies nicht etwas mit der Begeg-
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                                        sunden Schlaf hat. Mit all dem scheint Jakob,        nung, mit dem zu tun haben, von dem der
                                        der jüngere Zwillingsbruder Esaus keine Pro-         Psalmist sagt: Gott ist „dein Hüter … siehe, er
                                       bleme gehabt zu haben. Nachdem er Bruder               schlummert nicht ein und schläft nicht“ (Ps
                                       und Vater hintergangen hat, flieht er zu seinem       121,3-4)? Im Schlaf können Dinge aufsteigen,
                                       Onkel nach Haran. Müde und erschöpft sucht            können sich vertiefen und verändern. Hierfür
                                        er sich vor Einbruch der Dunkelheit einen            braucht es einen Rahmen, der auf Dauer einen
                                       Schlafplatz. Er legt sich auf den Boden und           guten und gesunden Schlaf ermöglicht, sei es
                                        schläft ein. Wie, frage ich mich, soll man da ent-    der steinharte Boden, sei es eine moderne, be-
                                        spannen und Ruhe finden? Bei Jakob scheint            queme Matratze.
                                        das alles zu funktionieren. „Dann mal gute
                                       Nacht…“! Gott, heißt es in einem Kommentar,
                                       ließ nun die Sonne untergehen, weil er mit Ja-                          Wilfried Dettling SJ
                                       kob im Verborgenen sprechen wollte. Tatsäch-
                                                                                                               1989 in den Jesuitenorden ein-
                                       lich hat Jakob im Schlaf einen wunderbaren                              getreten. Nach Studien der Philo-
                                       Traum. Gott begegnet ihm, verheißt ihm eine                             sophie und Theologie war er vor
                                       rosige Zukunft und ermutigt ihn für seinen                              allem Referent in Bildungshäusern.
                                                                                                               Von 2012 bis 2019 war er im Exer-
                                       Weg. Im Schlaf findet Jakob Abstand zum All-
                                                                                                               zitienhaus HohenEichen tätig, zu-
                                       tag. Er bekommt den Kopf frei und kann die                              nächst als Exerzitienbegleiter und
                                       Dinge in einem größeren Zusammenhang se-                                seit 2012 als Leiter. Seit 2020 ist
                                       hen. Während des Schlafens erschließen sich                             er Bildungsleiter und stellvertreten-
                                       ihm Perspektiven, von denen zu träumen er                               der Direktor des Lassalle-Hauses.

                                                                                                                                                 19
SCHWERPUNKT

Abenteuer Schlaf
Der Schlaf als „Assistent" im Exerzitienprozess
Im Schlaf kann viel passieren. Das zeigt die Ge-    weisungen für den Abstieg. Die Außenwand
schichte von Josef der die schwangere Maria         des Gebäudes ist glatt, es fehlen Haltegriffe.
verlassen wollte (Mt 1,18-24). Er hatte gründ-      Der Mann hat Angst vor diesem steilen Ab-
lich nachgedacht und kam zu dem Schluss,            stieg. Die Frau ermutigt ihn dennoch und der
dass es für alle Beteiligten besser sei zu gehen.   Mann wagt es. Im Abstieg realisiert er, dass es
Soweit – so gut. Vernunft hat ihren berechtig-      doch einzelne Halterungen gibt und er gelangt
ten Platz im Leben – bei Tag! Nur leuchtet sie      schließlich sicher auf den Boden.
nicht alles aus, was wir Menschen brauchen,            Während der Exerzitien konnte das hohe
um fundierte Entscheidungen zu treffen. Und         Dach als ein inneres Thema identifiziert wer-
wenn der Verstand zu viel Macht hat, bleibt         den. In Stille, Gebet und Mitteilung in der
dem Heiligen Geist manchmal nichts anderes          geistlichen Begleitung kam der Exerzitant wie-
übrig, als den Menschen im Schlaf zu über-          der auf dem Boden seiner Realität an. Dieser
raschen und ihm seine Weisungen im Traum            Abstieg befreite ihn und ließ ihn das Funda-
kundzutun! So hat er Josef im Traum die Wei-        ment seines Lebens, das Christus ist, wieder
sung gegeben, bei Maria zu bleiben. Was wäre        entdecken. Der Traum stärkte ihn, sich seinen
geschehen, wenn er diesen Traum nicht ernst         Ängsten zu stellen und mit Vertrauen auf die-
genommen hätte?                                     ses Fundament eine andere Richtung einzu-
   Was damals galt, das gilt auch heute. Oft        schlagen. Es stimmt: „Den Seinen gibt‘s der
staunen wir in der Begleitung unserer Exer-         Herr im Schlaf.“ (Ps 127,2).
zitanten, wie der Heilige Geist nachts in den          Es gibt den Schlaf auch in einer Schatten-
Träumen durch Exerzitien führt. So erinnere         variante. Viel Schlafen oder Dösen während
ich (Annette Clara) mich an einen Traum eines       der Exerzitien kann auch auf innere Wider-
Exerzitanten, den ich als Schlüsseltraum für        stände gegenüber schmerzlichen Realitäten
den damaligen Exerzitienprozess kennzeich-          hinweisen. Zum Beispiel werden fällige Ent-
nen möchte.                                         scheidungen auf diese Weise aus dem Be-
   Ein Mann steht auf dem Dach eines riesi-         wusstsein verbannt, um sie nicht umsetzen zu
gen Hochhauses. An der Basis des Wolken-            müssen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht
kratzers befindet sich eine Frau. Sie gibt An-      heiß. Hier ist die Unterscheidung der Geister

20
SCHWERPUNKT

 im Begleitprozess gefragt. Wenn wir diese             ersten zwei bis drei Tagen, sich auszuruhen.
 Art von Schlaf als eine verstehen, die uns           Viele Menschen kommen aus einem hoch ge-
wecken will, um genauer hinzuschauen, haben           takteten Alltag. Nicht wenige überfordern sich
wir viel gewonnen. Dann kann aus dem Schat-            chronisch, ohne dies wahrzunehmen. Man-
ten ans Licht kommen, was dran ist. Das dient          chen rauben die Sorgen des Alltags sogar den
 der Selbstwahrnehmung und der Wahrneh-               Schlaf. Wenn im Rahmen der Exerzitien nichts
 mung der Gegenwart Gottes.                           zu tun und äußere Stille gegeben ist, entsteht
 Der Epheserbrief beschreibt das so:                   auf einmal wieder Raum, sich wahrzunehmen.
„Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den          In den Austauschrunden unserer Kurse hört
Toten und Christus wird dein Licht sein.“              sich das so an: „Ich bin völlig erstaunt, dass
(Eph 5,14)                                            ich so müde bin, das habe ich vorher über-
    Der Schlaf gehört zu den Grundbedürfnis-          haupt nicht gemerkt.“ Oder: „Das kann doch
 sen des Menschen. Nicht umsonst hat Franz            gar nicht wahr sein. Ich habe 10 Stunden ge-
Jalics SJ, der Gründer von Haus Gries, den             schlafen und noch zwei am Nachmittag.“
 Schlaf an Platz 1 seiner Prioritätenliste gesetzt.   Unter Zeitdruck fällt es schwer, sich Zeit für
 Das überrascht und erheitert Exerzitanten,            den Schlaf zu gönnen. Daher sind die zehn-
 die sich am liebsten sofort den Gebetszeiten         tägigen Exerzitien in Gries unser Kernformat.
widmen wollen. Mit Vollgas in die Kapelle, mit        Der Zeitgeist würde kürzere Exerzitien fordern.
 dem Grieser Credo: Hellwach, interessiert und        Der kontemplative Weg bürstet den Zeitgeist
 dranbleiben. Und dann kommt der Ärger, weil          gegen den Strich. Der Mensch braucht Ruhe,
 nicht Wachheit, sondern Müdigkeit da ist: die        um mit wachem Interesse im Gebet und in sei-
 Augen fallen zu, aber man versucht sich mit          nem Leben gegenwärtig zu sein. Unser Körper
 Disziplin auf dem Meditationshocker zu hal-           assistiert uns in den Exerzitien und der Körper
ten. Franz pflegte zu sagen: „Schlaft lieber im       lügt nicht. Wenn wir auf seine Signale achten,
 Bett als auf dem Meditationshocker.“                 führt er uns in Kontakt mit uns selbst, mit Gott
    Der erste mühsame Schritt für viele ist ihre      und dem Nächsten. Dann können wir sagen:
 Müdigkeit anzuerkennen, als sei Müdigkeit            „Ich erwachte und blickte umher und mein
 ein Tabu. Daher ermutigen wir gerade in den          Schlaf war süß gewesen.“ (Jer 31,26).

                                                      Annette Clara Unkelhäußer &
                                                      Joachim Hartmann SJ
                                                      leiten zusammen das Exerzitienhaus Gries
                                                      in Wilhelmsthal.

                                                                                                   21
Geistlicher
Geistlich –                                                                     Impuls

herzlich – praktisch
Christian Marte SJ über die Kurzformel der Jesuiten
für das wirkliche Leben

Gute Werbeslogans prägen sich ein: „Quadra-             Diese Erinnerungszeichen helfen uns, be-
tisch, praktisch, gut“; gleich wissen wir: es geht   wusst eine geistliche Zugangsweise zu wählen:
um Schokolade. Von Jerónimo Nadal, einem             im Betrieb, im Büro, in der Familie, im Ver-
engen Mitarbeiter des Hl. Ignatius, kennen           ein. Letztlich geht es darum zu schauen und zu
wir die lateinische Kurzformel: Spiritu, corde,      spüren, was Jesus jetzt tun würde.
practice. Geistlich, herzlich, praktisch: so sol-       Herzlich: ein zweiter Zugang zur Wirklich-
len Jesuiten sein. Diese Kurzformel kann für         keit. Herzlich ist mehr als nur nett sein.
alle Getauften eine Inspiration sein.                   Herzlich hat stark mit Empathie zu tun. Ein
   Bei Aufzählungen schaue ich immer zuerst          herzlicher Mensch spürt, wie es dem anderen
auf die Reihenfolge. Was kommt als erstes? Wir       geht. Wie können wir herzliche, empathische
kennen das: Wenn wir das Hemd oder die Bluse         Menschen werden?
zuknöpfen, dann kommt es auf den ersten                 Wenn ich Beichte höre, dann frage ich
Knopf an. Wenn der richtig zugemacht ist,            manchmal: „Mögen Sie Cremeschnitten?“ Das
dann passt es auch bei allen anderen. Wenn           überrascht mein Gegenüber. Aber mir ist es
nicht, dann schaut alles                                                    ernst mit dieser Fra-
schräg aus. Pater Nadal                                                     ge. Zuerst muss ich mir
beginnt nicht mit „prak-          Geistlich, herzlich,                      selbst etwas Gutes tun.
tisch“, sondern mit „geist­                                                 Mich selbst mögen. Dann
lich“. In dieser Reihenfolge      praktisch. Mit die-                       geht es viel leichter, an-
steckt die Erfahrung, dass
sich die geistliche Zugangs-
                                  sem Dreischritt auf                       dere Menschen zu mögen.
                                                                               Wenn ich um mei-
weise nicht von selbst er-        den Tag schauen.                          ne eigenen Schwächen
gibt. Von selbst ergibt sich                                               weiß, dann kann ich die
das praktisch Notwendige.         Vielleicht wollen Sie                     Schwächen der anderen
Das Geistliche müssen wir                                                   besser ertragen. Der erste
bewusst als Sichtweise auf        es einmal versuchen.                      Lernort dafür ist unsere
die Wirklichkeit wählen.                                                    Familie. Dann kommen
   Darum haben wir in der christlichen               Freunde dazu, Menschen in der Schule, am
                                                                                                         © Gorlov-KV shutterstock.com

Tradition sehr viele Zeichen, die uns da-            Arbeitsplatz und in den Vereinen, in denen wir
ran erinnern, dass wir auch geist­           liche   uns engagieren. Überall dort gibt es Erwartun-
Menschen sind: den Sonntag mit dem                   gen, auch Spannungen und Enttäuschungen.
Gottesdienst, die Kirchenglocken, das                Das sollte uns nicht überraschen. Entschei-
Kreuz an der Halskette, der Rosenkranz in der        dend für unsere Seele ist, wie wir damit um-
Hosentasche.                                         gehen.

22
GEISTLICHER IMPULS

   Mir selbst fehlt manchmal die Souveräni-       nander arbeitet, wie man ein Vorhaben voran-
tät, die ich mir wünsche. Aber oft gelingt es     bringt. Im praktischen Tun merken wir, welche
mir, die Perspektive des anderen zu verstehen.    Spielräume wir haben: Ermessens-Spielräume,
Dem anderen gut sein, dem anderen Gutes           Handlungs-Spielräume. Spielraum: das ist ein
wollen, den anderen das auch spüren lassen:       Lieblingswort von mir! Unsere Spielräume zu
das meint es, wenn wir von einem herzlichen       sehen und für andere zu nützen: das ist
Menschen sprechen.                                manchmal anstrengend, aber es bringt uns
   Und schließlich: Praktisch! Manche kennen      immer wieder die schöne Erfahrung, etwas er-
die Geschichte von den drei Menschen, die         reicht zu haben.
mit einem Heißluftballon unterwegs sind und          Geistlich, herzlich, praktisch. Mit diesem
durch den starken Wind in ein unbekanntes         Dreischritt auf den Tag schauen. Vielleicht
Gebiet kommen. Sie landen in einer Baumkro-       wollen Sie es einmal versuchen
ne und fragen die Leute, die sich gleich ver-
sammeln: Wo sind wir? Die Antwort von unten:
In einem Heißluftballon. Die Antwort ist rich-                    Christian Marte SJ
tig, aber unbrauchbar :-).                                        ist Delegat des Provinzials für
   Wir brauchen praktische Anleitungen. Hand­                     Bildungs- und Exerzitienhäuser.
                                                                  Er leitet das Jesuitenkolleg in
lungsmodelle. Youtube-Videos, die uns erklären,
                                                                  Innsbruck und arbeitet auch
wie man tanzt, kocht, musiziert, wie man mitei-                   als Gefängniskaplan.

                                                                                                    23
Was macht
                                         eigentlich …?

                         Niklaus
                         Brantschen SJ

                                                                           Bilder: © SJ-Bild

     „Wenn Zen dich      Aber nein, er sei nicht als frustrierter Christ
                         nach Japan gegangen, um dort Zen zu prak-
     nicht liebesfähi-   tizieren, sagt Niklaus Brantschen. Der Aus-
                         löser sei eine Bemerkung des damaligen
     ger und liebens-    Ordensobern gewesen: „Du könntest ei­­gent­
                         lich in Japan den Abschluss der spi­rituellen
     würdiger macht,     Ausbildung machen, das so ge­nannte Tertiat.“
     dann lasse es –     Brantschen folgte aufs Wort und reiste 1976
                         zum ersten Mal zu Pater Lassalle nach Japan.
     besser heute als    Unter seiner Leitung machte er 30-tägige
                         Exerzitien und meditierte am Boden sitzend
     morgen“.            stundenlang. Die Regel war: Wenn beten, dann

24
WAS MACHT EIGENTLICH...?

Niklaus Brantschen SJ (links) mit Giovanni Molinari
und Hans Schaller SJ beim aki in Zürich

beten, wenn sitzen im Zen (Za-Zen) dann eben          schweigen scheint? Muss dann nicht auch der
sitzen und stille sein. Natürlich hat er auch Pa-     Mensch schweigen? Und wie ist es mit dem
rallelen festgestellt zwischen Zen und Exerzi-        Wort von Meister Eckart, man solle Gott um
tien. Allein schon vom Übungscharakter her:           Gottes willen lassen? Es sei ein „weises Buch“
feste Zeiten, klare Anweisungen, ein bestimm-         bestätigt ihm seine Lektorin beim Patmos-Ver-
ter äußerer Rahmen… Aber es geht um mehr:             lag. Und Brantschen schreibt im Buch, was am
Ignatius, seines Zeichens tief mystisch begabt,       Ende zähle, sei die Liebe.
machte Erfahrungen, die der Zen-Erfahrung                „Wenn Zen dich nicht liebesfähiger und lie-
nicht unähnlich sind. Er schaute am Fluss Car-        benswürdiger macht, dann lasse es – besser
doner – vor genau 500 Jahren – tief in sein           heute als morgen“.
eigenes Wesen und das aller Dinge. Es ist dies           Nicht selten treten Menschen mit der Bit-
eine mystische Erfahrung, die allen Menschen          te an Pater Brantschen heran, ob sie ein paar
möglich ist. „Auf dieser Ebene versuche ich           Stunden oder gar einen Tag mit ihm verbrin-
den Dialog zwischen Zen und Christentum“,             gen dürften – gegen Bezahlung. Solche Anfra-
hält Brantschen fest. Er hat die Bildungsstät-        gen freuen ihn. Natürlich nimmt er kein Ho-
te Bad Schönbrunn zweimal zehn Jahre lang             norar. „Ich bin unbezahlbar“, sagt er und lacht
geleitet und sie 1993 neu positioniert als Las-       übers ganze Gesicht.
salle-Haus, Zentrum für Dialog und sozial-po-
litische Verantwortung. In diesem Haus lebt er        Theres Pepe Bachmann
nach wie vor. Auf die Frage, was er eigentlich
mache, antwortet der 84-jährige prompt: „Ich
bin in der Noch-Phase“. Er hält „noch“ Vorträ-
ge und gibt „noch“ Zen-Kurse. Dabei ist es ihm
wichtig, Zen wie er es bei P. Lassalle und vor al-
lem bei seinem Meister Yamada in vielen Som-
meraufenthalten in Japan gelernt hat, nicht
billig mit anderen Meditationsweisen zu ver-
mischen und es als „Bircher-Müsli“ anzubie-
ten. „Wenn alles Zen ist, dann ist nichts mehr
Zen“. Und ja, er schreibt noch Bücher. Sein
letztes Buch, mit dem er zurzeit in deutsch-
sprachigen Landen zwischen Frankfurt, Frei-
burg, Stuttgart, Ulm, München, Innsbruck und
Zürich unterwegs ist, lautet „Gottlos beten“.
Es ist eine spirituelle Wegsuche entlang den
Fragen: Kann ein ungläubiger Mensch meditie-
ren? Wie geht „Beten“ in eine Zeit, da Gott zu

                                                                                                  25
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