Soziale Ungleichheit und Gesundheit - Tagungsband der 9. Österreichischen Präventionstagung - Fonds Gesundes ...
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Tagungsband der 9. Österreichischen Präventionstagung Soziale Ungleichheit und Gesundheit Ein Geschäftsbereich der Gesundheit Österreich GmbH
Inhaltsverzeichnis 1 Vorwort Plenarvorträge 2 – 4 Margaret Whitehead, Gesundheitliche 42 – 45 Dr. Manuela Stötzel, Strukturelle Vorrausset- Ungleichheiten in Europa: Warum sollen wir zungen für einen verbesserten Schutz von Säug- sie reduzieren und wie kann das gelingen? lingen und Kleinkindern: „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“. 5 – 9 Frank Lehmann, Strategien und Erfahrungen zur Verminderung gesundheitlicher Ungleich- 45 Workshop 3: heit in Deutschland 45 – 46 Günther Kienast, Altern – Lernen zwischen 10 – 12 Marilena Korkodilos, Strategien und Erfah- Lebenskrisen und Lebenschancen rungen zur Verminderung von gesundheitlichen Ungleichheiten in England 46 Workshop 4: 13 – 16 Simone Weyers, Closing the (health) gap – 46 – 47 Birgit Babitsch, Geschlecht, Gesundheit und Erfahrungen und Empfehlungen aus einem soziale Benachteiligung EU-Projekt 46 – 52 Hilde Wolf, Gesundheitliche Unterschiede zwi- 16 – 18 Richard Wilkinson, Kranke Gesellschaften: Un- schen Frauen und Männern im Zusammenhang gleichheit und Gemeinwohl. Warum funktionie- mit sozialer Lage ren manche Gesellschaften besser als andere? 53 Workshop 5: Workshops 53 – 56 Gabriele und Christian Bartuska, Soziale Bar- 19 Workshop 1: rieren – emotionale Hindernisse in der Gesund- heitsförderung 19 – 21 Wolfgang Freidl, Soziale Ungleichheit und Ge- sundheit - Die Relevanz von individuellem Verhal- 56 Workshop 6: ten und gesellschaftlichen Verhältnissen 56– 59 Bernhard Heinzlmaier, Kommunikation mit 22 – 26 Christine Neuhold, Gesundheitsförderung in Angehörigen junger Zielgruppen in prekären steirischen Gesunden Gemeinden Lebenslagen 27 – 30 Rainer Possert, Wohnen am Grünanger – 60 Workshop 7: eine erfolgreiche soziale Intervention für eine „vulnerable“ Gruppe 60 – 63 Christian F. Freisleben-Teutscher, Theatermethoden in der Gesundheitsförderung 30 – 33 Willibald J. Stronegger, Gesundheitliche Ungleichheit – Verhalten oder Verhältnisse? 64 Liz King: Ein Tanzexperiment Sozial-epidemiologische Modelle und Evidenz 65 Kurze Lebensläufe 34 Workshop 2: Impressum 34 – 42 Klaus Vavrik, Pränatale und frühkindliche Entwick- lung als soziale Determinante der Gesundheit
Vorwort Mag. Christoph Hörhan Leiter Fonds Gesundes Österreich Liebe Leserin, lieber Leser! Österreich hat ein im internationalen Vergleich hervorragendes Gesundheitssystem. Dennoch gibt es auch hierzulande - wie in allen europäischen Ländern - gesundheitliche Ungleichheit aufgrund der unterschiedlichen sozialen Lage der Menschen. Personen mit einem niedrigen soziökonomischen Status – niedriger Bildung, niedriger beruflicher Stellung und niedrigem Einkommen – sterben früher, erkranken häufiger und leben ungesünder. Die Verringerung sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit zählt damit zu den vorrangigen gesundheitspolitischen Aufgaben. Besorgniserregend sind deshalb Befunde aus der Sozialepidemiologie, die auf eine weiter wachsende Kluft bei den Gesundheitschancen von ärmeren und wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen verweisen. Dieser Trend kann letztlich sogar gesamtgesellschaftliche Folgewirkungen nach sich ziehen und den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährden. Grund genug, die 9. Österreichische Präventionstagung des Fonds Gesundes Österreich der Thematik „Soziale Ungleichheit und Gesundheit“ zu widmen, die Ursachen zu analysieren und Strategien zur Schaffung gesundheitlicher Chancengleichheit zu diskutieren. Einig waren sich die Expert/innen und Teilnehmer/innen, dass die Gründe für soziale Ungleichheit vielfältig und miteinander verflochten sind. Die Initiativen der Gesundheitsförderung müssen folglich umfassend greifen – von der Stärkung des Einzelnen, über die Stärkung der Gemeinschaft, bis hin zur Verbesserung von Lebens- und Arbeitsbedingungen. Diese Herausforderung kann nicht alleine vom Gesundheitssektor bewältigt werden, sondern bedarf einer bereichsübergreifenden Gesamtstrategie aller maßgeblichen politischen Kräfte („Health in all policies“). Die Gesundheitsförderung kann kein Patentrezept anbieten, aber durch die umfassende Sicht von Gesundheit unter Einbeziehung der sozialen Wurzeln in einem fächerübergreifenden Prozess eine tragende Rolle spielen Die Maßnahmen der Gesundheitsförderung müssen ganz spezifisch auf die unterschiedlichen, sozioökonomischen Gruppen Rücksicht nehmen. Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass eine Intervention, die bei einer Gruppe wirkt, dies ohne weiteres auch bei allen anderen tut. Die große Bandbreite der Interventionsmöglichkeiten zu erkennen und daraus die wirksamsten und besten für einzelne Zielgruppen und Settings zu identifizieren, ist eine unserer großen, aktuellen Herausforderungen. Dieser Tagungsband soll durch Dokumentation der vielfältigen Praxisbeispiele und wissenschaftlichen Grundlagen dabei unterstützen. Mag. Christoph Hörhan Leiter Fonds Gesundes Österreich Tagungsband Gesundheitsförderungskonferenz 2007 1
Plenarvorträge Wie können die gesundheitlichen Ungleichheiten in Europa reduziert werden? Plenarvortrag von Margaret Whitehead, Division of Public Health, University of Liverpool (UK) In den europäischen Ländern sind nach wie vor Warum sollten wir dies ändern? große gesundheitliche Ungleichheiten vorhanden. Die Regierungen verschiedener Länder, die Europäische Der wichtigste Grund, diese zu reduzieren, lautet: Union und die Weltgesundheitsorganisation WHO sind Gesundheit ist ein Menschenrecht. Um die Unter- sich heute weitgehend darin einig, dass diese Ungleich- schiede zwischen sozialen Gruppen künftig zu ver- heiten reduziert werden sollten. Dies wird meist da- ringern, muss bei gesundheitsförderlichen Interven- mit begründet, dass so die Leistungsfähigkeit der Men- tionen jeweils überprüft werden, in welchem Ausmaß schen gesteigert oder auch der soziale Zusammenhalt sie dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen. gestärkt werden kann. Der aus meiner Sicht bei wei- tem wichtigste Grund lautet jedoch: Gesundheit ist ein In den hoch entwickelten Ländern West- und Nord Menschenrecht. Erst durch sie wird der Zugang zu wei- europas gibt es zwischen verschiedenen sozialen Grup- teren Menschenrechten möglich. Die Tatsache, dass es pen nach wie vor große gesundheitliche Unterschiede. derart große gesundheitliche Unterschiede gibt – und Je höher das Einkommen und das Bildungsniveau sind, auch große Unterschiede bei den entscheidenden De- desto besser ist tendenziell auch der Gesundheitszustand. terminanten für Gesundheit – ist mit Fairness und Ge- Diese gesundheitlichen Ungleichheiten haben wesent- rechtigkeit nicht vereinbar. liche Auswirkungen. Studiendaten aus den Niederlanden zeigen beispielsweise, Wie können wir dies ändern? dass die Mortalität und Morbidität in der Gesamtbevöl- Wer die gesundheitliche Ungleichheit verringern will, sollte kerung um 25 bis 50 Prozent reduziert werden könnte, zunächst berücksichtigen, wodurch Gesundheit bestimmt wenn Menschen mit niedrigerer Bildung denselben Ge- wird. Neben Alter, Geschlecht und konstitutionellen Fak- sundheitslevel hätten wie jene mit Hochschulbildung. Die toren gibt es Determinanten auf vier Ebenen: Lebenserwartung ist in den Niederlanden für Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status um fünf • den individuellen Lebensstil Jahre geringer als für jene mit einem hohen. Wenn die Er- wartung an gesunden Lebensjahren betrachtet wird, be- • den Einfluss der Gesellschaft und lokaler trägt dieser Unterschied sogar zwölf Jahre. Gemeinschaften Für Spanien wurde errechnet, dass es pro Jahr in den är- • die Lebens- und Arbeitsbedingungen meren Regionen 35.000 Todesfälle weniger gäbe, wenn die Mortalitätsrate dort gleich niedrig wäre wie in den • die sozioökonomischen, kulturellen und reicheren Regionen. In England wurde festgestellt, dass Umweltbedingungen. in den 1990er-Jahren in der niedrigsten von fünf sozialen Klassen rund fünfmal so viele Kinder und Jugendliche bis Die Verfahrensweisen zur Reduktion von gesundheit- zu 15 Jahren durch Unfälle und Vergiftungen starben wie lichen Ungleichheiten können in viererlei Hinsicht erfol- in der höchsten. Nicht zuletzt ist bekannt, dass in Großbri- gen: Maßnahmen, die Individuen stärken sollen, werden tannien bei einer Unterscheidung nach sieben Berufsklas- kaum erfolgreich sein, wenn sie isoliert erfolgen. Initia- sen in der untersten mehr als zweimal so viele Menschen tiven, die Gemeinschaften stärken sollen, können hori- von einem schlechten Gesundheitszustand berichten wie in zontal, also innerhalb einer Gruppe, oder vertikal erfol- der obersten (Drever F., Doran T., Whitehead M.: Exploring gen – also den Zusammenhalt zwischen unterschiedlichen the relation between class, gender, and self rated general sozialen Gruppen verbessern. Letzteres erscheint erfolg- health using the new socioeconomic classification. A study versprechender, speziell falls die Ursachen für ein Ge- using data from the 2001 census. Journal of Epidemiology sundheitsproblem im weiteren sozioökonomischen Um- and Community Health. 2004 July; 58 (7): 590-6). feld liegen. 2 Fonds Gesundes Österreich
Plenarvorträge 60 Langfristige positive Auswirkungen sind von Interventi- onen auf der Ebene der Lebens- und Arbeitsbedingungen 50 zu erwarten. Solche Maßnahmen können in zahlreichen klassischen Aufgaben des öffentlichen Gesundheitswe- 40 sens bestehen, etwa in Verbesserungen bei den Wohnbe- % smokers 30 dingungen, der Wasserversorgung, den Arbeits- und Um- weltbedingungen oder bei der Lebensmittelqualität sowie 20 durch Gesundheitsbildung. Weiters kann es hier darum 10 gehen, das psychosoziale Umfeld zu verbessern, sowie nicht zuletzt darum, den Zugang zur Gesundheitsversor- 0 gung speziell auch für benachteiligte Gruppen zu erleich- 1958 1978 1998 professional unskilled manual tern. Nachhaltige Verbesserungen sind schließlich auch von makroökonomischen, ökologischen und kulturellen Quelle: Wald & Nicolaides-Bauman, 1991; ONS, 2001 Veränderungen zu erwarten, zum Beispiel durch eine „ge- Abbildung 2: % of women smoking cigarettes in highest (professional) & lowest (unskilled manual) sündere“ Wirtschafts- oder Arbeitsmarktpolitik. socioeconomic groups, Britain, 1958-2000 nomic, cultural a s to eco nd Rauchverhalten von Frauen stehen. Dazu zählen sozi- nge tr u ctu re and acc env a s ess iro ch infra ing comm tos ale Nachteile in der Kindheit, dass die schulische Aus- ng h en me es i ngt u al nit bildung mit 16 Jahren oder jünger beendet wurde, eine tur tre hening indiv ie nta rov erv truc t Mutterschaft unter 21 Jahren sowie soziale Nachteile ic Imp id l co ng S s Making s als Erwachsene. Für jeden einzelnen dieser Einflüsse nditions Stre ua ls gilt, dass die Betroffenen mit relativ hoher Wahrschein- 1 lichkeit Raucherinnen sind und mit relativ geringer Ex- 2 Raucherinnen. 3 4 Vom letztgenannten Faktor Betroffene sind beispiels- weise zu 63 Prozent Raucherinnen und nur zu 17 Pro- Abbildung 1: Policy Levels for Tackling Inequalities in Health zent Ex-Raucherinnen. Umgekehrt sind Frauen, auf die keines der vier erwähnten Merkmale zutrifft, mit hoher Ein Fallbeispiel Wahrscheinlichkeit Ex-Raucherinnen und mit relativ ge- Der Tabakkonsum, bei dem zwischen verschiedenen so- ringer Wahrscheinlichkeit Raucherinnen. Das Verhält- zialen Gruppen große Unterschiede zu beobachten sind, nis beträgt hier 18 Prozent Raucherinnen zu 45 Prozent kann als Fallbeispiel dienen. Noch im Jahr 1958 war in Ex-Raucherinnen. Großbritannien der Anteil rauchender Frauen aus der höchsten von fünf sozioökonomischen Gruppen unge- Wie beeinflussen Interventionen Ungleichheit? fähr gleich hoch wie in der niedrigsten. Bei den Frauen Um den Tabakkonsum zu regulieren, können auf ver- aus der Gruppe mit dem höchsten Einkommen ist die- schiedenen Ebenen Maßnahmen gesetzt werden, be- ser Anteil seither kontinuierlich stark gesunken. Bei den ginnend bei der Kontrolle der Versorgungskette – vom Frauen aus der Gruppe mit dem niedrigsten Einkommen Anbau bis zum Vorgehen gegen Schmuggler/innen. hat sich der Anteil der Raucherinnen hingegen nur un- Weitere mögliche Interventionen umfassen die spezi- wesentlich verringert. Im Jahr 2000 rauchten schließ- fische Gesetzgebung im Allgemeinen, die Preisgestal- lich rund zweieinhalbmal so viele Frauen aus der ärms- tung, Einschränkungen der Werbung für Tabakkon- ten Schicht wie aus der reichsten. sum sowie Rauchverbote für öffentliche Plätze oder Aus Studien wissen wir auch, dass verschiedene ein- Gebäude. Außerdem können beispielsweise öffentliche zelne soziale Faktoren in engem Zusammenhang zum Kampagnen für Raucherentwöhnung durchgeführt und Tagungsband Soziale Ungleichheit und Gesundheit 3
Plenarvorträge Beratungs- und Kursangebote gemacht werden. Margaret Whitehead lehrt Public Health an der Univer- sität Liverpool in Großbritannien. Sie ist dort auch Direk- Um den erwünschten Effekt zu erzielen, ist bei jeder torin des „Collaborating Centre for Policy Research on einzelnen Maßnahme zu überprüfen, ob und inwieweit Social Determinants of Health“ der Weltgesundheitsor- sie auf verschiedene sozioökonomische Gruppen einen ganisation WHO. Der Schwerpunkt ihrer wissenschaft- unterschiedlichen Einfluss hat. Letztlich kann so fest- lichen Arbeit liegt seit rund 20 Jahren im Bereich so- gestellt werden, mit welcher Kombination von Maß- ziale Ungleichheiten und Gesundheit. Die Expertin aus nahmen soziale Ungleichheiten mit der höchsten Wahr- Großbritannien war maßgeblich an zahlreichen natio- scheinlichkeit reduziert werden können. nalen und internationalen Projekten beteiligt, die eine Verbesserung der Gesundheitschancen für die Gesamt- Was insgesamt zu beachten ist bevölkerung zum Ziel hatten. Außerdem hat Margaret Wenn gesundheitliche Ungleichheiten verringert wer- Whitehead mehrere wichtige Publikationen zu diesem den sollen, so sind insgesamt vor allem folgende drei Thema verfasst. Punkte zu beachten: • Die Gründe für soziale Ungleichheiten sind vielfäl- tig und miteinander verflochten. Daraus folgt, dass auch Maßnahmen zur Reduzierung dieser Unter- schiede ineinander greifen müssen – und zwar über alle gesellschaftlichen Sektoren und Ebenen der In- tervention hinweg. • Es ist notwendig, die gesamte Bandbreite an mög- lichen Interventionen zu kennen und zu wissen, wie effizient sie soziale Ungleichheiten verringern. • Schließlich müssen wir Strategien zur Gesundheits- förderung entwickeln, die auf die spezifischen Struk- turen und Bedürfnisse der unterschiedlichen sozio- ökonomischen Gruppen Rücksicht nehmen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Inter- vention, die bei einer Gruppe wirkt, das auch bei al- len anderen tut. 4 Fonds Gesundes Österreich
Plenarvorträge Strategien und Erfahrungen zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit in Deutschland Frank Lehmann, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln 1. Ausgangslage und strategischer Ansatz Bevölkerungsgruppen mit besonders großem Interventi- in Deutschland onsbedarf sind: Personen mit sehr niedrigem Einkommen, beruflichem Status und/oder Schulbildung, Personen, die Wie in allen europäischen Ländern gibt es auch in in sozial benachteiligten Gebieten wohnen, Langzeitar- Deutschland gesundheitliche Ungleichheit auf Grund beitslose, Alleinerziehende, Erwachsene und Kinder in der unterschiedlichen sozialen Lage der Menschen. Eine kinderreichen Familien, Menschen mit Migrationshinter- aktuelle Auswertung auf der Grundlage des sozioöko- grund und Wohnungslose (Mielck 2003). Die konkrete nomischen Panels (1995 bis 2005, N=32.500) kommt Situation in Deutschland ist gekennzeichnet durch eine zu dem Ergebnis, dass die Lebenserwartung von Män- Bevölkerung von ca. 82 Mio. Bewohnerinnen und Be- nern (Frauen) zwischen der untersten und der obersten wohnern in 16 Bundesländern mit 12.300 Kommunen. Einkommensgruppe um 11 Jahre (8 Jahre) zu unguns- Seit dem Jahr 2000 besteht eine Zuständigkeit auch der ten der untersten Einkommensgruppe differiert. Frauen gesetzlichen Krankenversicherung für Prävention/Ge- (Männer) haben in der untersten Einkommensgruppe sundheitsförderung (§ 20 Sozialgesetzbuch V). Es gibt eine eine Lebenserwartung in Gesundheit von 61 (57) Jah- Vielzahl staatlicher und nicht staatlicher Akteure/innen. ren, in der obersten Einkommensgruppe eine Lebenser- wartung in Gesundheit von 71 (71) Jahren (Lampert et Um die in den Erklärungsmodellen dargestellten kom- al. 2007). Ein sozialer Schichtgradient gesundheitlicher plexen Einflussfaktoren sowie die Vielfalt der Ak- Ungleichheit wurde ebenso für Kinder und Jugendliche teure/innen in Deutschland adäquat zu berücksichtigen, in allen Altersgruppen und für fast alle gesundheitsre- wurde als Interventionsstrategie zur Lösung des Pro- levanten Themen (z.B. Rauchen, sportliche Inaktivität, blems gesundheitlicher Ungleichheit im ersten Schritt Fernsehen/Video länger als 3 Stunden pro Tag, Adipo- der Netzwerkansatz gewählt. Die Bundeszentrale für ge- sitas und psychische Auffälligkeiten) nachgewiesen (zu- sundheitliche Aufklärung initiierte daher den Koopera- sammengefasst in einer Sonderausgabe des Bundesge- tionsverbund „Gesundheitsförderung bei sozial Benach- sundheitsblattes Mai/Juni 2007). teiligten“, dem die Spitzenverbände der Krankenkassen Dahlgren und Whitehead (1991) erklären diese Ungleich- und der Wohlfahrt (Caritas, Diakonie, Arbeiterwohl- heit durch ein Zusammenwirken von generellen sozioö- fahrt, Deutsches Rotes Kreuz), Ärzteverbände und wis- konomischen, kulturellen und Umweltbedingungen, di- senschaftliche Institute auf Bundesebene angehören. rekt einwirkenden Lebens- und Arbeitssituationen (z.B. Auf der Länderebene arbeiten alle Landesvereinigungen unmittelbares Arbeits- und Wohnumfeld), sozialen und für Gesundheit, mehrere Länderministerien und weitere gemeindlichen Netzwerken, individuellen Lebensstil- Krankenkassen zusammen in diesem Kooperationsver- sowie konstitutionellen Faktoren (sog. Schalenmodell). bund. Insgesamt haben sich inzwischen 50 Organisati- Mielk (2000) hat ein Erklärungsmodell vorgelegt, wel- onen bereit erklärt, im Bereich Gesundheitsforderung ches Wirkungspfade ausgehend von sozialer Ungleich- bei sozial Benachteiligten zusammenzuwirken. Auf der heit (Unterschiede in Wissen, Macht, Geld und Prestige) kommunalen Ebene haben sich bisher ca. 1.400 Projekte über Unterschiede in gesundheitlichen Belastungen gemeldet, die die Gesundheit von Menschen in schwie- und/oder Bewältigungsressourcen und Erholungsmög- rigen sozialen Lagen unterstützen (zusammenfassend lichkeiten sowie Unterschieden in der gesundheitlichen dargestellt bei Lehmann (2006), aktueller Stand unter Versorgung über Unterschiede im Gesundheitsverhal- www.gesundheitliche-chancengleichheit.de). Sowohl ten hin zur gesundheitlichen Ungleichheit (Unterschiede die Gesundheitsministerkonferenz als auch die Arbeits- in Morbidität und Mortalität) aufzeigt. Gesundheitliche gemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen Ungleichheit wiederum wirkt sich auf soziale Ungleich- haben offiziell den Netzwerkansatz der Gesundheits- heit aus. förderung bei sozial Benachteiligten befürwortet. Tagungsband Soziale Ungleichheit und Gesundheit 5
Plenarvorträge Die BZgA nimmt neben ihrer Koordinierungsfunktion • Seit dem Jahr 2000 ist im § 20 des Sozialgesetzbuches für die Partner im Kooperationsverbund ebenso ihre V der Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Un- Funktion der bundesweiten Realisierung von Präven- gleichheit von Gesundheitschancen als Aufgabe der tions- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen wahr. gesetzlichen Krankenversicherung formuliert und ein Sie führt ihre Angebote insbesondere in sozial benach- nationaler Gesundheitszieleprozess begonnen worden. teiligten Gebieten durch (Bund-Länder-Programm „So- Soziale Ungleichheit wird im nationalen Gesundheits- ziale Stadt“, www.sozialestadt.de). Dies betrifft bei- zieleprozess als Querschnittsthema aufgegriffen. spielsweise die Jugendaktion „Gut drauf“, die primäre Suchtpräventionskampagne „Kinder stark machen“, das • Seit 2001 hat die BZgA ihren Netzwerkansatz zur Ge- Programm zum Aufbau von Lebensperspektiven für Ju- sundheitsförderung bei sozial Benachteiligten begon- gendliche „Komm auf Tour“ und die Aktion zur Steige- nen und 2003 den genannten Kooperationsverbund rung der Früherkennungsuntersuchungen „Ich geh zur gegründet. In den Jahren 2004 bis 2007 wurden in al- U! und Du?“. Das seit Juli 2007 bei der BZgA einge- len 16 Bundesländern gemeinsam von BZgA, Ländern richtete Nationale Zentrum Frühe Hilfen (Trägerschaft und Krankenkassen in der Trägerschaft der Landes- BZgA und Deutsches Jugendinstitut (DJI)) richtet sich vereinigungen für Gesundheit regionale Netzwerke an Multiplikator/innen, die in verstärkter Zusammen- der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten arbeit zwischen der Jugendhilfe und dem Gesundheits- („Regionale Knoten“) aufgebaut. wesen werdende Eltern sowie Eltern von Säuglingen und Kleinkindern unterstützen, um Vernachlässigung • 2007 hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung und Misshandlung zu verhindern. Zum überwiegenden der Entwicklung im Gesundheitswesen ein Gutachten Teil sind auch hier sozial Benachteiligte angesprochen erstellt, in dem er die Strategien zur Primärpräven- (weitere Informationen über die verschiedenen Maß- tion in vulnerablen Gruppen beschreibt und den An- nahmen der BZgA unter www.BZgA.de ). satz des Kooperationsverbundes als einen von zwei gangbaren Wegen der Primärprävention für sozial Be- nachteiligte beschreibt. 2. Entwicklung des Themas 3. Good Practice als Kern des Es ist nicht selbstverständlich, dass gesundheitliche Un- Netzwerkansatzes gleichheit als gesellschaftliches Problem wahrgenommen wird, obwohl es vorhanden ist. So wurde in Deutsch- Im Gutachten des Sachverständigenrates (2007) wird land lange Zeit davon ausgegangen, dass auf Grund des zwischen einem deduktiven Ansatz und einem induk- bestehenden Sozialversicherungssystems jeder Mensch tiven Ansatz als wirksame Strategien zur Primärprä- einen guten Zugang zur medizinischen Versorgung hat vention bei vulnerablen Gruppen unterschieden. Der und daher keine gesundheitliche Ungleichheit besteht. deduktive Ansatz setzt bei der Identifizierung von Le- Seit Mitte der 1990er-Jahre hat eine Neuorientierung benswelten (Stadtteile, Quartiere, Schulen, Freizeit- stattgefunden: einrichtungen usw. ) an, in denen mit erhöhter Wahr- scheinlichkeit überproportional viele Menschen aus • Die Landesvereinigungen für Gesundheit haben das vulnerablen Gruppen erreicht werden können. In die- Thema als erste ab 1995 aufgegriffen, z.B. durch die sen Settings werden Interventionen organisiert, die er- jährliche Durchführung des Kongresses „Armut und fahrungsgestütztes Lernen erlauben mit dem Ziel der Gesundheit“ mit über 1.000 Teilnehmerinnen und Gesundheitsförderung (z.B. Projekte der Spitzenver- Teilnehmern in Berlin. bände der Krankenkassen zur Gesundheitsförderung in Schulen). Im Gegensatz hierzu besteht die Möglich- • Seit 1998/99 gibt es darüber hinaus die Armuts- keit, an der Praxis der vielen tausend Sozialprojekte an- und Reichtumsberichterstattung des Bundes (aktu- zuknüpfen, die von einer Vielzahl öffentlicher und ka- ell wurde der 3. Armuts- und Reichtumsbericht ver- ritativer Träger in Deutschland betrieben werden, und öffentlicht unter www.bmas.de ). mit diesen gemeinsam gesundheitsförderliche Interven- 6 Fonds Gesundes Österreich
Plenarvorträge tionen zu stärken und weiterzuentwickeln. Der induk- tion/Evaluation und/oder eine günstige Kosten-Nutzen tive Ansatz nutzt die gegebenen Zugänge zu Menschen Ration. Diese Good Practice Kriterien haben mittlerweile in schwierigen Lebenslagen für gezielte Angebote und in Deutschland zur Ausbildung eines praxisrelevanten Maßnahmen der Gesundheitsförderung ohne die sozio Standards der Gesundheitsförderung bei sozial Benach- kulturelle Authentizität der Projekte zu zerstören. In teiligten geführt. Sie wurden als Förderkriterien im Leitfa- einem gemeinsamen Prozess der partizipativen Qualitäts den Prävention der Spitzenverbände der Krankenkassen entwicklung werden Erfahrung und Wissen für die Ver- aufgenommen. Sie dienen sowohl als Orientierungsmar- besserung von Zugängen und Interventionen in einem ken im Prozess der partizipativen Entwicklung der Ak- Austausch zwischen Akteure/innen der Gesundheits- teur/innen des Gesundheits- und Wohlfahrtsbereichs förderung und des Wohlfahrtsbereichs vermehrt. als auch zur Auswahl von Good Practice Projekten der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten. Bisher Konkret wurde wie folgt vorgegangen: Im beratenden wurden über 70 Good Practice Projekte in einem diffe- Arbeitskreis „Gesundheitsförderung bei sozial Benach- renzierten Auswahlverfahren identifiziert und auf der teiligten“ des Kooperationsverbundes, in dem führende Plattform www.gesundheitliche-chancengleichheit.de Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Praxis vertre- veröffentlicht. ten sind, wurden Good Practice Kriterien der Gesund- heitsförderung bei sozial Benachteiligten konsentiert. 4. Beispiel für die Arbeit mit dem induktiven Grundlage war der Forschungsstand zur Gesundheitsför- Ansatz (Good Practice) am Kriterium derung und die Good Practice Kriterien des Bund-Län- Partizipation der-Programms „Soziale Stadt“ (dargestellt in Lehmann et al. (2007)). Good Practice Projekte sollten auf jeden Die Partizipation ist eins von zwölf Kriterien der Guten Fall einen klaren Zielbezug (Gesundheitsförderung, Prä- Praxis in der Gesundheitsförderung bei sozial Benach- vention) aufweisen und nachweislich die Gruppe so- teiligten. Über die Steigerung von Partizipation wird zial Benachteiligter erreichen. Darüber hinaus sollten Selbstwirksamkeit und soziale Einbindung erhöht. Durch weitere Kriterien guter Praxis erfüllt sein: Innovation die Steigerung von Selbstwirksamkeit und sozialer Ein- und Nachhaltigkeit, ein wirksames Multiplikatorenkon- bindung wird die Gesundheit gefördert (z.B. Schwar- zept, eine niedrigschwellige Arbeitsweise, die Partizipa- zer (2004) für den Bereich der Gesundheitspsycholo- tion der Zielgruppe, Empowerment, ein Settingansatz, gie). Was Partizipation in der konkreten Realisierung ein integriertes Handlungskonzept/Vernetzung, Quali- bedeutet, kann in neun Stufen operationalisiert wer- tätsmanagement und Qualitätsentwicklung, Dokumenta- den (siehe Tabelle). Weit über Partizipation Stufe 9 Selbstständige Organisation hinaus Stufe 8 Entscheidungsmacht Stufe 7 Teilweise Entscheidungskompetenz Partizipation Stufe 6 Mitbestimmung Stufe 5 Einbeziehung Stufe 4 Anhörung Vorstufe der Partizipation Stufe 3 Information Stufe 2 Erziehen und Behandeln Nicht-Partizipation Stufe 1 Instrumentalisierung Quelle: Wright, Unger (2007); siehe auch: BZgA 2003 Abbildung 3: Operationalisierung: Partizipation in der Gesundheitsförderung Tagungsband Soziale Ungleichheit und Gesundheit 7
Plenarvorträge 18 von 75 identifizierten Good Practice Projekten auf die Gesundheit bei sozial Benachteiligten kann in der der Internetplattform www.gesundheitliche-chancen- Regel nicht auf Wirksamkeitsnachweise auf der Basis gleichheit.de wurden als vorbildlich in Bezug auf das von randomisiert kontrollierten Studien (so genannte Kriterium Partizipation beschrieben. So unterstützt das „proven“ Evidenz) zurückgegriffen werden. Hier hält Good Practice Projekt Eltern AG aus Sachsen-Anhalt El- das Institut of Medicine, Washington, USA, eine Pro- tern von Kleinkindern, die z.B. in Supermärkten von so mising-Evidenz für ausreichend (Smedley, Syme 2001). genannten Mentor/innen angesprochen wurden, in der Es sollte eine theoretische Fundierung (im genannten Entwicklung ihrer Erziehungskompetenz. Elemente der Beispiel: Erfüllung des Good Practice Kriteriums Parti- Partizipation bestehen darin, dass die Eltern ihre Treffen zipation; Partizipation auf einer höheren Stufe ist ge- zunehmend selbst organisieren, die Treffen selbständig sundheitsförderlich) und eine empirische Evidenz (im durchführen („Mentoren werden zu Paten“) und das El- genannten Beispiel hat die Evaluation ergeben, dass ternfeedback einbezogen wird in die Veränderung der die Eltern tatsächlich profitiert haben) bestehen. Es ist Gesamtprojektgestaltung. Das Projekt führt im Idealfall daher immer kritisch zu hinterfragen, auf der Grund- zur Bildung von selbständigen Nachbarschaftsnetzwer- lage welcher Evidenz die Maßnahmen gerade im Be- ken. Eltern, die zuvor keine sozialen Netzwerke mit an- reich der Gesundheitsförderung bei sozial Benachtei- deren Eltern hatten, können sich selbständig im Rahmen ligten wirksam sind. ihrer neuen sozialen Kontakte austauschen (Stufe 9 der Partizipation: selbständige Organisation). Die Anwendung des Netzwerkansatzes auf sozial Be- Ein weiteres Beispiel ist das Good Practice Projekt „Kietz- nachteiligte in Deutschland hat Vor- und Nachteile: detektive“. Kinder werden am Stadtentwicklungspro- Vorteile sind, dass die Aufmerksamkeit der Akteur/in- zess beteiligt, gehen auf Erkundung, wo gesundheits- nen für diese sonst vernachlässigten Zielgruppen ge- fördernde oder gesundheitsschädliche Einflussfaktoren schärft wird, dass Mittel verstärkt eingesetzt werden im Stadtteil sind, analysieren den Handlungsbedarf und und dass für die Gesundheitsförderung dieser schwie- erarbeiten Lösungsvorschläge, die mit dem Stadtteilpar- rigen Zielgruppen die Fähigkeiten der Akteur/innen und lament diskutiert werden (Stufe 7 der Partizipation: teil- der Netzwerke ausgebaut werden (Capacity building). weise Entscheidungskompetenz). Die Nachteile bestehen in der Gefahr eines „blaming“ der Zielgruppen und darin, dass der soziale Schichtgradient Durch den induktiven Ansatz kommt die Praxis der Ge- in der Gesamtbevölkerung durch Konzentrierung auf sundheitsförderung bei sozial Benachteiligten zur Gel- die untere Schicht aus dem Blick gerät. So gibt es nicht tung. Partizipation als wichtiges theoretisch fundiertes nur einen sozial bedingten gesundheitlichen Schichtgra- Kriterium der Gesundheitsförderung bei sozial Benach- dienten zwischen Hauptschulen und Gymnasien, son- teiligten wird aus der Praxis heraus anschaulich, wird in dern auch einen zwischen Haupt- und Real- sowie zwi- der Praxis auch für andere Projekte besser realisierbar schen Realschulen und Gymnasien. Außerdem könnte und verbreitet sich als machbarer Standard. der Anreiz für eine „Health in all (HIA)-policy“ mögli- Ein erster Erfolg in Deutschland wurde durch das cherweise verringert werden, weil das „Kümmern“ um Good Practice Projekt „Schutzengel“ (u.a. aufsuchende sozial Benachteiligte als Alibi benutzt wird, um erfor- Hebammenhilfe) erreicht. Das Good Practice Projekt derliche politische Entscheidungen zur positiven Beein- „Schutzengel“ wurde in den Kinder- und Jugendakti- flussung von Gesundheitsdeterminanten z. B. in der Ar- onsplan des Landes Schleswig Holstein aufgenommen beitsmarkt- oder Wirtschaftspolitik nicht zu fällen. und ist nun empfohlen und gefördert in allen Landkrei- sen und kreisfreien Städten dieses Bundeslandes. Insgesamt wird jedoch die Netzwerkstrategie in Deutschland national und international sehr aner- 5. Kritische Bewertung der Netzwerkstrategie kannt, wie z.B. innerhalb des von der EU-Kommission in Deutschland unterstützten Projektes „Closing the gap“ mit 21 Part- nerländern (Nachfolgeprojekt „DETERMINE“) (www. Auf Grund der Komplexität von Einflussfaktoren auf health-inequalities.eu). 8 Fonds Gesundes Österreich
Plenarvorträge Literaturverzeichnis Smedley, B.D.; Syme, S.L. (2001): Promoting health. In- tervention strategies from social and behavioral re- Bundesgesundheitsblatt, Band 50, Heft 5/6, Mai/Juni search. Washington D.C.: National Academy Press 2007 Wright, M.; Unger, H. (2007): Stufen der Partizipation in Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) der Gesundheitsförderung - ein Modell zur Beurteilung (Hrsg.) (2003): Leitbegriffe der Gesundheitsförderung - von Beteiligung. In: Gesundheit Berlin e. V. (Hrsg.): Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden in der Info-Dienst für Gesundheitsförderung. 7. Jahrgang, Gesundheitsförderung. 4. erweiterte und überarbeitete 3. Ausgabe Auflage. Schwabenheim: Verlag Peter Sabo Dahlgren, G.; Whitehead, M. (1991): Policies and Strate- gies to Promote Social Equity in Health. Stockholm: Ins- titute for Future Studies Lampert, T. et al. (2007): Soziale Ungleichheit der Le- benserwartung in Deutschland. In: Aus Politik und Zeit- geschichte, 42/2007, S. 11-18 Lehmann, F. (2006): Kooperationsverbund zur Realisie- rung der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteilig- ten in Deutschland. In: Richter, M.; Hurrelmann, K. (Hrsg.): Gesundheitliche Ungleichheit - Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Wiesbaden: Verlag für Sozial- wissenschaften Lehmann, F. et al. (2007): Kriterien guter Praxis in der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten. Ansatz - Beispiele - Weiterführende Informationen. 3. erwei- terte und überarbeitete Auflage. Reihe Gesundheitsför- derung KONKRET Band 5. Köln: Bundeszentrale für ge- sundheitliche Aufklärung Mielck, A. (2000): Soziale Ungleichheit und Gesundheit - Empirische Ergebnisse, Erklärungsansätze, Interventi- onsmöglichkeiten. Bern u. a.: Verlag Hans Huber Mielck, A. (2003): Projekte für mehr gesundheitliche Chancengleichheit: Bei welchen Bevölkerungsgruppen ist der Bedarf besonders groß? In: Lehmann, F. et al. (2003): Gesundheitsförderung für sozial Benachteiligte - Aufbau einer Internetplattform zur Stärkung der Vernet- zung der Akteure. Reihe Forschung und Praxis der Ge- sundheitsförderung Band 22. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2007): Kooperation und Verant- wortung - Voraussetzungen einer zielorientierten Ge- sundheitsversorgung (www.SVR-gesundheit.de) Lang- fassung, S. 777 - 804 Schwarzer, R. (2004): Psychologie des Gesundheitsverhal- tens. 3. überarbeitete Auflage. Göttingen u. a.: Hogrefe Tagungsband Soziale Ungleichheit und Gesundheit 9
Plenarvorträge Strategien und Erfahrungen zur Verminderung von gesundheitlichen Ungleichheiten in England Marilena Korkodilos, Beraterin für Public Health Medicine, Health Inequalities Unit, Department of Health, London (UK) Schon im „Black Report“ von 1980 wurden die ge- wurde auch angemerkt, dass ein großer Teil des Problems sundheitlichen Ungleichheiten in England doku- nicht innerhalb des Gesundheitssystems zu bewältigen sei. mentiert. In der Regierungspolitik wurde dieses Vielmehr handle es sich um eine Herausforderung für die Thema jedoch erst 17 Jahre später berücksich- gesamte Gesellschaft, speziell in den Bereichen Ökono- tigt. 2001 wurde dann ein nationales Aktionspro- mie, Ökologie und Bildung. Die in dem Bericht gegebenen gramm zur Reduktion bestimmter Unterschiede bis Empfehlungen wurden jedoch auf politischer Ebene weit- 2010 beschlossen. Bei ersten Evaluationen zeigten gehend nicht berücksichtigt. sich keine messbaren Erfolge. Vor allem auf loka- ler Ebene sind noch bessere Umsetzungsstruktu- Vom „Black Report“ zum „Acheson Bericht“ ren notwendig. Neue Interventionsstrategien wur- Nach dem Regierungswechsel in Großbritannien im Jahr den entwickelt. 1997 wurde die Beseitigung von gesundheitlichen Un- gleichheiten zu einer nationalen Aufgabe erklärt. Sir Do- Das Interesse daran, wie sich soziale Unterschiede auf die nald Acheson, der vormalige Chief Medical Officer der Gesundheit auswirken, ist in England keineswegs neu. englischen Regierung, wurde als Leiter einer unabhän- Schon im Jahr 1980 wurde im „Black Report“ festgestellt, gigen Untersuchungskommission eingesetzt. Der unter dass das Ausmaß der gesundheitlichen Ungleichheiten der Leitung des Mediziners und Epidemiologen heraus- besorgniserregend sei. Das Dokument weist zudem dar- gegebene Bericht kam im Kern zu ähnlichen Schlussfol- auf hin, dass die unteren Klassen während sämtlicher Le- gerungen wie bereits der Black Report: Armut ist eine be- bensphasen einen im Durchschnitt schlechteren Gesund- deutende Determinante von Gesundheit, und es bestehen heitszustand hätten. wesentliche gesundheitliche Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Schichten. Der grundlegende Bericht ist nach seinem Herausgeber, dem Arzt Sir Douglas Black (1913 bis 2002), benannt. Im Der Acheson Bericht beeinflusste in der Folge wesent- Detail wurde darin unter anderem hervorgehoben, dass lich die Entstehung des Weißbuches „Saving Lives: Our zwischen 1970 und 1972 in England geschätzte 74.000 To- Healthier Nation“. In dieser Publikation aus dem Jahr 1999 desfälle von Unter-75-Jährigen hätten vermieden werden wurden Vorschläge zur Reduktion gesundheitlicher Un- können, wenn die Mortalitätsrate in den unteren sozialen gleichheiten gesammelt. Weiters wurden die Gesundheits- Klassen V und IV ebenso niedrig gewesen wäre wie in der institutionen auf lokaler Ebene aufgefordert, Pläne zu de- Klasse I. Von der genannten Zahl betrafen allein 10.000 ren Umsetzung auszuarbeiten. 2001 wurde schließlich ein vermeidbare Todesfälle Kinder und weitere 32.000 Män- „Public Service Agreement (PSA) Target“ beschlossen – ner zwischen 15 und 64 Jahren. Bei der Differenzierung also eine konkrete Zielsetzung der Regierung in England. nach sozialen Klassen wurden in den beiden untersten die Diese bestand darin, dass bis 2010 gesundheitliche Un- ungelernten und angelernten Arbeiter/innen erfasst. Die gleichheiten um zehn Prozent reduziert werden sollten, oberste Klasse umfasste „Fachleute“ wie etwa Ärzte/in- und zwar in zwei messbaren Teilbereichen. nen, Anwälte/innen oder auch Buchhalter/innen. Zwei konkrete Teilziele Herausforderung für die Gesellschaft Das erste Teilziel betraf die sozialen Unterschiede bei der Im Black Report wurde bereits gefordert, dass es in einem Sterblichkeit von Kindern unter einem Jahr. Zwischen dem Land mit so großen Ressourcen wie Großbritannien eines Durchschnitt der Bevölkerung und den sozialen Schichten der wesentlichsten gesellschaftlichen Ziele sein sollte, die der ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter hatte es bei gesundheitlichen Ungleichheiten zu verringern. Dabei diesem Messwert für die Dreijahresperiode von 1997 bis 10 Fonds Gesundes Österreich
Plenarvorträge 7 R&M socio-economic group 6.5 6.3 Rate per 1,000 live births, 3year average 6 Gap 5.9 13% 5,5 5.6 Gap 19% All* deaths Target 5 10% 4.9 minimum reduction Gap in relative 4.5 12% gab from Health inequality 1997-99 target baseline baseline 4 1994- 1995- 1996- 1997- 1998- 1999- 2000- 2001- 2002- 2003- 2004- 2005- 2006- 2007- 2008- 2009- 96 97 98 99 2000 2001 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 NS SEC 90 NS SEC 2001 Projection of infant mortality in R&M socio-economic group Difference in rate Target Projection of infant mortality among all* deaths Target Reduction Relativ gap (Ratio of „Routine and Manuala“/all deatchs) *All relates to inside marriage and joint registrations outside marriage, not including „social class not specified“ for 1995 and 1999. Sole registration and unlinked births are excluded. Information on the father‘s occupation is not collected for births outside marriage if the father does not attend the registration of the baby‘s birth. Figures for live births are a 10% sample coded for father‘s occupation. Abbildung 4: Infant Mortality 1999 eine Differenz von rund 13 Prozent gegeben. Diese programm sieht unter anderem eine ressortübergreifende Zahl wurde als Ausgangspunkt gewählt, und es wurde an- Zusammenarbeit innerhalb der Regierung vor. Dadurch gestrebt, sie um ein Zehntel zu reduzieren. sollen auch Maßnahmen ermöglicht werden, die mit der Gesundheit in Zusammenhang stehen, aber nicht direkt Das zweite Teilziel bezog sich auf die durchschnittliche in den Aufgabenbereich des Gesundheitssystems fallen. Lebenserwartung in jenem Fünftel an Regionen mit den Das Programm beinhaltet auch, dass Entwicklungen und schlechtesten sozialen Indikatoren. Diese war in der Drei- Fortschritte kontinuierlich beobachtet und in regelmä- jahresperiode 1995, 1996 und 1997 für Männer um 2,57 ßigen Abständen festgehalten werden sollen. Schließlich Prozent niedriger als in der Gesamtbevölkerung, für Frauen soll für beide Teilziele ein umfassender wissenschaftlicher um 1,77 Prozent. Dieser Unterschied sollte ebenfalls bis Rückblick erfolgen. 2010 um zehn Prozent reduziert werden. Ein erster Zwischenbericht hat 2005 festgehalten, dass die Das Problem anpacken soziale Ungleichheit bei der Säuglingssterblichkeit von 13 Dafür wurde ein nationales Aktionsprogramm entwickelt, Prozent für den Zeitraum 1997 bis 1999 auf 19 Prozent das im Jahr 2003 in Form einer 74-seitigen Broschüre ver- für den Zeitraum 2002 bis 2004 gestiegen ist. Ähnlich ver- öffentlicht wurde. Deren Titel lautet: „Tackling Health hält es sich mit dem zweiten Teilziel. Für Frauen aus so- Inequalities“ – frei übersetzt also: „Das Problem der ge- zial benachteiligten Regionen ist die Differenz ihrer Le- sundheitlichen Ungleichheiten anpacken“. Das Aktions- benserwartung zum Bevölkerungsdurchschnitt von 1,77 Tagungsband Soziale Ungleichheit und Gesundheit 11
Plenarvorträge Prozent für den Zeitraum 1995, 1996 und 1997 auf 1,91 zen ist von zentraler Bedeutung. Auf Ebene des nationalen Prozent für den Zeitraum 2003, 2004 und 2005 angestie- Gesundheitssystems wurden deshalb in England meh- gen. Bei Männern hat sich der Unterschied von 2,57 auf rere Werkzeuge und Unterstützungssysteme für lokale 2,61 Prozent erhöht. Akteur/innen entwickelt. Das umfasst beispielsweise ein Online-Tool mit dem Interventionen zur Beseitigung von Was ist falsch gelaufen? gesundheitlichen Ungleichheiten detailliert geplant wer- Eine Überprüfung auf der Ebene der lokalen Gesundheits- den können. Weiters wurde das „National Support Team einrichtungen zeigte, dass die meisten keine gezielten Stra- (NST) for Health Inequalities“ geschaffen. Dessen Mit- tegien zur Umsetzung des Programmes entwickelt hatten. glieder sollen dafür sorgen, dass Best Practice Modelle Außerdem zeigten sich Mängel bei der Erhebung der Da- in den einzelnen Zielregionen bekannt und genutzt wer- ten, die Fortschritte oder Rückschritte auf dem Weg zu den. Außerdem sollen sie bei Bedarf auch intensivere den angestrebten Zielen hätten dokumentieren können. Unterstützung bei der praktischen Arbeit geben. Weiters fehlte es auch an Personen, die bei den geplanten Aufgaben eine Führungsrolle übernommen hätten, sowie „National Health System (NHS) Health Trainers“ sol- an externer Unterstützung. len künftig ebenfalls dazu beitragen, gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern. Sie sollen mit den Men- Was könnte man anders machen? schen vor Ort arbeiten und am besten selbst aus der je- Was sollte also verändert werden? Zunächst sollte der weiligen lokalen Gemeinschaft stammen oder diese gut Schwerpunkt darauf gesetzt werden, die Zahl der vorzei- kennen. Die Health Trainer sollen sichtbar und für alle tigen Todesfälle bei Erwachsenen in den sozial besonders leicht zugänglich sein. Ihre Aufgabe besteht darin, mit benachteiligten Regionen zu reduzieren. In den Jahren den Menschen gemeinsam Gesundheitsziele festzule- 2003 bis 2005 gab es dort in der Altersgruppe der 30- bis gen, zu motivieren, zu unterstützen und dabei zu helfen, 59-Jährigen 13.700 Todesfälle, die auf die im Vergleich Barrieren zu überwinden. Eine weitere unserer aktuellen zum Landesdurchschnitt höhere Mortalität zurückgeführt Maßnahmen ist das Online-Quiz „Teen Life Check“, das werden können. Teenager dazu motivieren soll, sich mit ihrer Gesund- Diese erschreckend hohe Zahl an vermeidbaren Todesfäl- heit auseinanderzusetzen. In ähnlicher Weise wurde len sollte fast zwingend für eine hohe Motivation zur Re- auch ein „Early Years Life Check“ sowie ein „Mid-Life duktion gesundheitlicher Ungleichheiten sorgen. Konkret Check“ entwickelt. kann das beispielsweise bedeuten, dass in den benachtei- ligten Regionen die Angebote zur Raucherentwöhnung Fortschritte in der Ursachenforschung verdoppelt werden, dass der Umfang der Prävention von Gesundheitliche Ungleichheiten sind das Ergebnis eines Herz-Kreislauf-Krankheiten erweitert und dass die Krebs- komplexen Zusammenspiels von persönlichen Entschei- Früherkennung verbessert wird. dungen und seit langem bestehenden strukturellen Pro- Maßnahmen für das überregionale Ziel der Reduzierung blemen. In England wurden entscheidende Fortschritte der sozialen Unterschiede bei der Säuglingssterblichkeit in der Erforschung der Ursachen für diese sozialen Un- tragen zusätzlich zur Verringerung der Differenzen bei der terschiede gemacht. Weiters wurden wirksame neue Lebenserwartung bei. Das kann im Detail zum Beispiel eine Formen der Intervention entwickelt, die dazu beitragen Verringerung der Zahl der Schwangerschaften von Un- sollen, die Gesundheitsdeterminanten generell positiv zu ter-18-Jährigen durch präventive Arbeit mit Teenagern beeinflussen und die festgesetzten Ziele zu erreichen. aus Risikogruppen umfassen. Weiters sollten Schwan- geren aus den unteren sozialen Gruppen ebenfalls ver- Marilena Korkodilos hat 1994 ihren Abschluss an der mehrt Maßnahmen zur Raucherentwöhnung sowie zur London Medical School gemacht. Anschließend war sie im Gewichtsreduktion angeboten werden. Bereich der Pädiatrie tätig und wurde Mitglied einer Kom- mission zur Erforschung der Ursachen für Totgeburten Lokale Partner/innen einbinden und frühkindliche Todesfälle. Seit 2005 arbeitet sie als Be- Engagierte Partner/innen auf lokaler Ebene einzubinden raterin für Public Health Medicine der Health Inequalities und gemeinsam Modellprojekte zu planen und umzuset- Unit des britischen Gesundheitsministeriums in London. 12 Fonds Gesundes Österreich
Plenarvorträge Closing the (health) gap – Erfahrungen und Empfehlungen aus einem EU Projekt Simone Weyers, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln Einleitung nationalen Fachebene einnehmen und (3) das Thema ge- sundheitlicher Ungleichheiten durch die Zusammenar- Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind viele Länder Eu- beit mit Organisationen und Institutionen aus anderen ropas reicher und gesünder als je zuvor. Und doch ha- gesellschaftlichen Bereichen vor Ort positionieren und ben alle diese Länder innerhalb ihrer Bevölkerungen anwaltschaftlich begleiten. mit beträchtlichen Unterschieden im Gesundheitsbe- reich zu kämpfen. Menschen mit niedrigerem Bildungs- Ziel von ‚Closing the Gap’ war es, Strategien zur Reduzie- stand, niedrigerem beruflichen Status oder geringerem rung gesundheitlicher Ungleichheit zu identifizieren bzw. Einkommen sterben tendenziell früher und sind auch zu entwickeln und eine europäische Datenbank mit fun- anfälliger für die meisten Gesundheitsprobleme. Die dierten Informationen und vorbildlichen Projekten zu er- Sterblichkeits- und Erkrankungsraten sind unter Men- stellen. Im Einzelnen beinhaltete dies folgende Module, schen mit niedrigerem sozioökonomischem Status fast die nachfolgend erläutert werden: immer erhöht. 1. Konsens und Definition, was Reduzierung Gesundheitliche Ungleichheiten abzubauen, stellt für die gesundheitlicher Ungleichheiten für den Gesundheitssysteme der europäischen Länder eine der Bereich von Gesundheitsförderung und größten Herausforderungen dar. Es ist jedoch bisher un- Prävention bedeutet. zureichend beschrieben, ob und welche Strategien und Maßnahmen in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Zu Beginn unserer Zusammenarbeit musste man sich Union zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten zunächst auf ein einheitliches Verständnis einigen. Was durchgeführt werden, wie soziale und politische Entwick- meinen wir eigentlich, wenn wir von Ungleichheiten lungen die gesundheitliche Schere beeinflussen und wie sprechen, wie kommen Ungleichheiten in der Gesund- Strategien konzipiert sind, die diese erfolgreich verklei- heit zustande und welche Interventionschancen beste- nern. hen? Was bedeutet Abbau gesundheitlicher Ungleich- heiten in der Praxis? Zwischen 2003 und 2007 koordinierte die deutsche Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Hierbei ist ein gemeinsames Positionspapier entstanden, daher in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Europäischer dass die folgenden Kernpunkte als Analyse- und Hand- Gesundheitsförderungsorganisationen ’EuroHealthNet’ lungsgrundlage definiert: das EU-Projekt ‚Closing the Gap: Strategies for Action to Tackle Health Inequalities in Europe’ – Die gesundheitliche • der soziale Gradient beschreibt eine Systematik im Zu- Schere verkleinern: Handlungsstrategien zur Verringe- sammenhang von sozialer Lage und Gesundheit: je rung gesundheitlicher Ungleichheiten in Europa. Nationale größer das Ausmaß gesellschaftlicher Benachteiligung Gesundheitsförderungsinstitutionen aus 22 europäischen (gemessen an Bildung, beruflicher Stellung oder Ein- Ländern leisteten dazu im Rahmen des dreijährigen Pro- kommen), umso schlechter die Gesundheit; jektes einen Beitrag. • neben dem eigenen Verhalten bestimmen soziale Die nationalen Organisationen für Gesundheitsförde- Bedingungsfaktoren (= Determinanten) die Gesund- rung und Prävention sind besonders hierfür geeignet, da heit und Lebenserwartung der Menschen, wie z.B. sie (1) in der europäischen Zusammenarbeit den Blick Bildung, Arbeits- oder Wohnumfeld. Diese sozialen über den Tellerrand, also zu ihren europäischen Nach- Bedingungsfaktoren sind auch entsprechende An- barn und zur Europapolitik werfen können, (2) eine satzpunkte für Interventionen zum Abbau gesund- fachliche Mittlerposition zwischen der europäischen und heitlicher Ungleichheiten; Tagungsband Soziale Ungleichheit und Gesundheit 13
Plenarvorträge • effektive Interventionen sollten sich an den sozialen • Informationen zu vier Kernbereichen der EU-Politik: Determinanten orientieren, idealerweise als Kombina- gemeinschaftliche Landwirtschafts-, Strukturfonds-, tion gesamtgesellschaftlicher und individueller, auf das Binnenmarkt- und Sozialpolitik. Verhalten der Menschen abzielender Maßnahmen. • Links zu weiteren wichtigen Politikfeldern, die Auswir- 2. Analyse, wie sich Europapolitik auf die kungen auf gesundheitliche Ungleichheiten in den EU- gesundheitliche Schere auswirkt Mitgliedstaaten haben könnten. Ein gemeinsamer Markt mit 450 Millionen Menschen • Beispielen dafür, wie ausgewählte Politikbereiche ge- kann durch vermehrte Mobilität, höheres Wirtschafts- sundheitliche Ungleichheiten auf nationaler und loka- wachstum, niedrigere Preise, neue Beschäftigungschan- ler Ebene beeinflussen. cen und damit einem höheren allgemeinen Lebensstan- dard zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten Diejenigen, die mit den Institutionen und Gesetzge- beitragen. Umgekehrt kann hierdurch die gesundheit- bungsverfahren der EU nicht vertraut sind, finden in liche Schere aber auch noch weiter auseinanderklaffen. dieser Rubrik außerdem eine Schlagwortliste sowie Dann nämlich, wenn Menschen aus sozioökonomisch eine kurze Einführung in die politischen Entschei- benachteiligten Bevölkerungsgruppen von den Vortei- dungsprozesse der EU. len dieses Markts (etwa dem Zugang zu Waren und Dienstleistungen im Gesundheits- und Sozialwesen) we- 3. Analyse nationaler Strategien zum Abbau niger profitieren oder durch marktbedingte Preissteige- von gesundheitlichen Ungleichheiten; Ent- rungen oder Zugangsbeschränkungen von bestimmten wicklung nationaler Handlungsstrategien Dienst- und Versorgungsleistungen (Gas, Strom, Was- ser) abgekoppelt werden. Auch die Harmonisierung der In Closing the Gap haben die 21 Projektpartner die Zollsätze oder die Vereinheitlichung technischer und nationalen Programme und Strategien zur Vermin- regulierungsbehördlicher Standards kann sich sowohl derung gesundheitlicher Ungleichheiten jeweils zu- positiv als auch negativ auf gesundheitliche Ungleich- sammengetragen. Dies wurde von interdisziplinär heiten auswirken. In einzelnen EU-Mitgliedstaaten ha- zusammengesetzten Expertengruppen in den Part- ben EU-Verordnungen etwa zur Festlegung der Größe nerländern unterstützt. Als Ergebnis kann festge- von Gesundheitshinweisen auf Zigarettenpackungen halten werden, dass die Regierungen der EU-Länder oder in der Tabakwaren- und Lebensmittelwerbung zu die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit gesund- höheren Standards im Gesundheitswesen geführt. In an- heitlichen Ungleichheiten anerkennen, zu den von deren Ländern hingegen, waren die durch die EU-Ver- der WHO formulierten Gerechtigkeitsprinzipien und ordnungen festgeschriebenen Standards niedriger als die Werten stehen und sich das Ziel der gesundheitlichen bisherigen nationalen Standards. Dies könnte die nati- Chancengleichheit politisch zu eigen gemacht haben. onalen Maßnahmen zum Schutz der menschlichen Ge- In vielen Ländern zählt der Abbau gesundheitlicher sundheit in Frage stellen. Ungleichheiten zu den Hauptzielen in der Gesund- heitspolitik. Die nationalen Gesundheitsbehörden und andere Ak- teur/innen mit einem Interesse an der Förderung der Allerdings wird die Frage, wie dieses Ziel zu verste- gesundheitlichen und sozialen Gerechtigkeit sollten die hen und mit welchen Maßnahmen und Strategien es politische Entwicklung auf nationaler und EU-Ebene im zu erreichen ist, von den einzelnen Ländern sehr un- Auge behalten, und dafür Sorge tragen, dass die Gerech- terschiedlich beantwortet. Es zeigt sich, dass es kein tigkeit in Gesundheitsfragen nicht in den Hintergrund Einheitsrezept für eine erfolgreiche gesundheitspoli- rückt und alle Chancen zur Verringerung gesundheit- tische Strategie zur Verminderung gesundheitlicher licher Ungleichheiten genutzt werden. Das Portal unter- Ungleichheiten gibt. Schwerpunkte und Inhalte va- stützt diese Zielsetzung in der Rubrik EU-Politik durch riieren mit den Besonderheiten der einzelnen Länder, die Bereitstellung von: die sich außerdem in sehr unterschiedlichen Phasen 14 Fonds Gesundes Österreich
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