SYSTEMISCHES ARBEITEN MIT HARRY POTTER - PATRIZIA BOHRN
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THERAPIEPRAXIS II > PATRIZIA BOHRN SYSTEMISCHES ARBEITEN MIT HARRY POTTER DIESEM ARTIKEL liegen einige den Werken von Brandl, Schiepek und von Schlippe, gleichsam prinzipielle Annah- sowie in dem Werk Therapeutische Landkarten von Kon- men zu Grunde: zum einen die rad Grossmann, auf das ich an dieser Stelle genauer ein- Idee von Psychotherapie als be- gehe. Nach Beschreibung der behavioralen, personen- sonderes Ereignis und eine Be- zentrierten und systemischen Modellbildung der thera- gegnung auf persönlicher, in- peutischen Beziehung greift der Autor die allen Dreien haltlicher und prozessualer Ebe- eigene Metapher des Raumes auf, verleiht diesem Ge- ne, zum anderen die Möglich- stalt und macht ihn somit fassbarer und konkreter. Laut keit einer systemischen Betrachtung von Literatur im Grossmann wird der Raum therapeutischer Beziehung Allgemeinen und im Speziellen von der siebenbändigen entlang der Achsen Nähe – Ferne, Sich-Anschließen – Geschichte um Harry Potter. Führen und Problemorientierung – Lösungsorientie- Romane, Erzählungen und dergleichen lassen sich unter rung gespannt (cf. Grossmann, 2007, S. 142). Thera- einem Blickwinkel von Analogien sowohl indirekt als peutische Nähe äußert sich vor allem durch Respekt, auch direkt für therapeutische Prozesse utilisieren: So Wertschätzung und Verstehen des Erlebens von Klien- werden in der Literatur beschriebene Phänomene gleich- tInnen, drückt affektive Verbundenheit aus und mani- sam als Lehrstücke für die Therapeutin bezüglich Bezie- festiert sich unter anderem in kurzen, ein wenig umfor- hungs- und Prozessgestaltung gesehen. Weiters kann mulierten Sätzen durch die Therapeutin. Nimmt die auch das Intervenieren von ProtagonistInnen sich als Therapeutin jedoch eine entferntere Position ein, so bereichernd erweisen. Vor diesem Hintergrund werden achtet sie zum einen auf die thematischen Sinngrenzen, im zweiten Kapitel Professor Dumbledore die Rolle des und zum anderen ist die Problem-Wirklichkeit der Kli- Psychotherapeuten und Harry Potter die des Klienten entInnen Zentrum ihres momentanen Blickwinkels. zugeschrieben. Mit Sich-Anschließen ist empathisches Nachvollziehen Aus den eben beschriebenen Tatsachen und aus der An- von Erfahrungen, Bedeutungsgebungen, Hoffnungen, nahme, dass Literatur und Psychotherapie oft die glei- Sehnsüchten, Ängsten und Befürchtungen gemeint, chen Themen zum Gegenstand haben, ergab sich daher ohne dabei etwaige mögliche Übergänge anzuregen. das Experiment, die Dialoge zwischen Albus Dumble- Verwirklicht sich die therapeutische Beziehung entlang dore und Harry Potter als Exzerpte von systemischen dieses Quadranten, so gleicht sie nahezu einem Reso- Therapiedialogen vor dem Hintergrund der therapeuti- nieren auf sprachlicher und körperlicher Ebene und äu- schen Beziehung zu lesen. ßert sich in wörtlichen Wiederholungen und Zusammen- Im Anschluss daran wird die Metapher des Raumes der fassungen von KlientInnen-Äußerungen, in Spiegelungs- systemischen Therapiebeziehung laut Konrad Gross- vorgängen sowie im Bemühen von TherapeutInnen, sich mann vorgestellt, und der anschließende Teil widmet mit ihren KlientInnen zu synchronisieren – in einer An- sich dann in aller Ausführlichkeit der Erforschung sys- gleichung an ihre Gestik, ihre Mimik, ihren Atemrhyth- temischer Anteile in den regelmäßig stattfindenden Ge- mus, in Angleichungen an Sprech- bzw. Erzählweisen von sprächen zwischen dem Protagonisten Harry Potter und KlientInnen, im Anschluss von TherapeutInnen an von Albus Dumbledore, wobei die indirekte Utilisation von KlientInnen gewählte Metaphern, im Aufgreifen von Literatur innerhalb therapeutischer Prozesse illustriert Schlüsselwörtern u.a. (ibid., S. 144f.). wird. Daraus ergibt sich die Position des Führens als ein Len- ken und Strukturieren von Aufmerksamkeitsprozessen, DIE THERAPEUTISCHE BEZIEHUNG wodurch KlientInnen behutsam vorbereitet werden auf AUS SYSTEMISCHER SICHT mögliche Unterschiede im Wahrnehmen, Denken, Han- deln, Interagieren und Bewerten des inneren/äußeren Grundsätzliches zu systemischer Therapie und der the- Ereignishorizontes. Doch dazu ist es neben all dem be- rapeutischen Beziehung findet sich unter anderem in reits Erwähnten notwendig – im wahrsten Sinn des 18 SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11
Wortes – und gilt als Basis des therapeutischen Bünd- tensiv mit ihr beschäftigen. Das gilt auch umgekehrt nisses, die leidvolle Erzählung von KlientInnen zu hö- für TherapeutInnen. Durch dieses Übermaß an Nähe ren, zu verstehen, anzuerkennen, nachzuvollziehen und ist es KlientInnen nicht möglich, den Übergang von zu bezeugen, sich also am Problem zu orientieren. Und ihrem Problem zu ihrer Lösung zu verwirklichen. Ist mitunter ist dieses Zuhören der erste unterschiedsbil- die therapeutische Beziehung hingegen von zu viel Fer- dende Unterschied, den KlientInnen machen, wenn ihre ne geprägt, so ist die Therapie an sich schon kurz, die Geschichte nicht nur angehört wird, sondern dieses Ge- Dialoge werden formal auf Kosten der Thematik abge- hörtwerden auch noch mit Interesse und Wertschätzung halten, und das Zentrum der therapeutischen Kommu- einhergeht und so ein nochmaliges, wenn auch schmerz- nikation bilden kognitive, behaviorale oder soziale haftes Erleben induziert wird. Um jedoch von einer gu- Phänomene. TherapeutInnen betrachten sich zudem ten Therapieeinheit, letztendlich sogar einem geglück- nicht als Teil des Therapiekontextes, sondern bewerten ten Therapieergebnis sprechen zu können, muss der distanziertere KlientInnen nicht in Bezug auf ihr eige- Lösungsorientierung ausreichend Raum gewidmet sein. nes Verhalten. Dies zeigt sich unter anderem auch in Diese realisiert sich im Wahrnehmen aller Phänomene, sachlichen und unpersönlichen Stellungnahmen. Durch aller Ausnahmen und Unterschiede, die mit der Lö- das Fehlen an Nähe werden KlientInnen in ihrer Selbst- sungswirklichkeit in Verbindung gebracht werden. Neh- wirksamkeit eingeschränkt und können zudem noch men TherapeutInnen eine Ressourcenperspektive ein, keine, ihre Beziehungserfahrungen korrigierende, Ko- so wirkt sich diese auch nachweislich nahezu ansteckend operation erleben. auf KlientInnen aus, und sie entdecken dadurch bereits Ein Therapieprozess, dem es an Führung und Struktur bei sich verloren gewähntes Potenzial. fehlt, folgt den Vorgaben von KlientInnen, die Thera- All diese Qualitäten der therapeutischen Beziehung peutin schließt sich ausschließlich den KlientInnen an, werden selbstverständlich nicht zu gleicher Zeit und zu ohne die thematischen Sinngrenzen zu wahren, auf ver- gleichen Anteilen entfaltet. In jeder therapeutischen Be- einbarte Ziele zu achten, Zwischenevaluationen zu täti- ziehung geht es um ein variierendes Wechselspiel zwi- gen oder beispielsweise Therapiekontrakte zu verhan- schen Nähe und Distanz, Sich-Anschließen und Führen deln. Wird KlientInnen wiederum ihr ExpertInnenda- sowie Problem- und Lösungsfokussierung. Entschei- sein bezüglich ihres Problems abgesprochen, und maßen dend über das Vorherrschen der jeweiligen Qualitäten TherapeutInnen sich an, über die Lösungen bereits Be- sind die jeweiligen Phasen des therapeutischen Prozes- scheid zu wissen, so äußert sich dies in einem Übermaß ses, die Thematik der Erzählung von KlientInnen und an Führung, worauf KlientInnen einerseits mit Bemü- das Setting. hen um Anpassung reagieren, andererseits die Thera- Besteht ein Missverhältnis zwischen den einzelnen peutin provozieren oder kritisieren, Empfehlungen und/ Qualitäten, kommt es, wie bereits erwähnt, zu Missver- oder Therapiedialoge vergessen und Termine oft ver- ständnissen und Brüchen in der therapeutischen Bezie- schieben beziehungsweise vergessen. hung. Um bei der Metapher des Raumes zu bleiben, so Kreist der therapeutische Dialog vorrangig oder aus- wird die therapeutische Beziehung enger, sobald ein schließlich um das Problem, so tritt die Lösungsorien- „Zuviel an“ bzw. ein „Zuwenig von“ besteht. Zuviel tierung in den Hintergrund und wird kaum noch wahr- Nähe bedeutet beispielsweise, dass einzig das Erleben genommen, gedacht oder im Handlungsbereich gese- von KlientInnen im Zentrum des Therapiedialoges hen. Bleibt es bei der Aktivierung von Problemerfah- steht, dass Zeit und Dauer nicht eingehalten werden, rungen gleichsam als Reinigungsritual, so fehlt der As- es zu Kontakten außerhalb der vereinbarten Termine pekt des Potenzials als Übergang zu einer Lösung. Im kommt, sowie körperliche Grenzen nicht gewahrt wer- umgekehrten Fall, einem Zuviel an Lösungsorientie- den. Zuviel Nähe äußert sich auch dann, wenn Klien- rung, bleiben schwierige, leidvolle Erfahrungen uner- tInnen das Verhalten der Therapeutin ausschließlich zählt, weil KlientInnen sie nicht benennen oder ver- auf sich beziehen, sie als Person aufwerten oder sich in- harmlosen oder aber weil TherapeutInnen zu schnell SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11 19
BOHRN > mit positiven Umformulierungen reagieren und die Per- Nichts würde ihn davon abhalten, die ganze Nacht über spektive der Veränderung einnehmen, ohne auf etwaige bei seiner Familie zu bleiben – nichts in der Welt. Hindernisse auf dem Weg zur Lösung zu achten (cf. Außer – ibid., S. 130–155). „Nun, wieder da, Harry?“ Harry kam sich vor, als ob sein Inneres zu Eis erstarrt HARRY POTTER IM THERAPEUTISCHEN RAUM wäre. Er wandte sich um. Auf einem der Tische an der Wand saß niemand anderer als Albus Dumbledore. Harry Nun soll im Folgenden die indirekte Utilisation von Li- musste einfach an ihm vorbeigelaufen sein, so begierig, teratur für die therapeutische Arbeit anhand von Dia- zum Spiegel zu gelangen, dass er ihn nicht bemerkt hatte. logexzerpten zwischen Albus Dumbledore und Harry „Ich – ich hab Sie nicht gesehen, Sir.“ Potter veranschaulicht werden, welche vor dem Hinter- „Merkwürdig, wie kurzsichtig man werden kann, wenn grund des Konzeptes des therapeutischen Raumes gele- man unsichtbar ist“, sagte Dumbledore, und Harry war sen werden können. erleichtert, als er ihn lächeln sah. „Nun“, sagte Dumbledore und glitt vom Tisch herunter, 1. ENTSTEHUNG DES THERAPIESYSTEMS, DIE um sich neben Harry auf den Boden zu setzen, „wie hun- THERAPEUTISCHE BEZIEHUNG IM ERSTGESPRÄCH: derte Menschen vor dir hast du die Freuden des Spiegels HARRY POTTER UND DER STEIN DER WEISEN Nerhegeb entdeckt.“ „Ich wusste nicht, dass er so heißt, Sir.“ Im ersten der insgesamt sieben Romane um Harry Pot- „Aber ich denke, du hast inzwischen erkannt, was er tut?“ ter tauchen die LeserInnen gemeinsam mit dem Prota- „Er – na ja – er zeigt mir meine Familie - “ gonisten in die fantastische Welt von Hogwarts, der „Und er hat deinen Freund Ron als Schulsprecher ge- Schule für Hexerei und Zauberei, wo Harry mit seinem zeigt.“ elften Geburtstag aufgenommen wird. Als Waisenkind „Woher wissen Sie –?“ bei der Familie seiner Tante aufgewachsen, erfährt er „Ich brauche keinen Umhang, um unsichtbar zu werden“, erst mit Schuleintritt immer mehr über seine Eltern, de- sagte Dumbledore sanft. „Nun, kannst du dir denken, was ren tatsächliche Todesursache und über seine Verbin- der Spiegel Nerhegeb uns allen zeigt?“ dung zu dem zauberweltweit gefürchteten Lord Volde- Harry schüttelte den Kopf. mort. Gemeinsam mit seinen beiden Freunden Ron und „Dann lass es mich erklären. Der glücklichste Mensch auf Hermine gerät Harry von Abenteuer zu Abenteuer, und der Erde könnte den Spiegel Nerhegeb wie einen ganz nor- er kann diesmal noch verhindern, dass der schwarze malen Spiegel verwenden, das heißt, er würde in den Spie- Magier an die Macht gelangt. gel schauen und sich genau so sehen, wie er ist. Hilft dir In folgendem Textausschnitt befindet sich Harry in ei- das weiter?“ nem der unzähligen Räume des Schlosses Hogwarts und Harry dachte nach. Dann sagte er langsam: „Er zeigt uns, versucht, seine verstorbenen Eltern im Spiegel Nerge- was wir wollen … was immer wir wollen …“ heb zu sehen und ihnen so nahe zu sein. Dabei trifft er „Ja und nein“, sagte Dumbledore leise. „Er zeigt uns nicht erstmals auf den Schulleiter, Albus Dumbledore. Wird mehr und nicht weniger als unseren tiefsten, verzweifelts- dieser als Therapeut und Harry Potter als Klient be- ten Herzenswunsch. Du, der du deine Familie nie kennen trachtet, so lässt sich – systemisch gelesen – diese Passa- gelernt hast, siehst sie hier alle um dich versammelt. Ro- ge auch als Ausschnitt eines Therapiegespräches be- nald Weasley, der immer im Schatten seiner Brüder gestan- trachten. den hat, sieht sich ganz alleine, als bester von allen. Aller- dings gibt uns dieser Spiegel weder Wissen noch Wahrheit. Und da waren seine Mutter und sein Vater wieder. Sie lä- Es gab Menschen, die vor dem Spiegel dahingeschmolzen chelten ihn an und einer seiner Großväter nickte glücklich sind, verzückt von dem, was sie sahen, und andere sind mit dem Kopf. Harry sank vor dem Spiegel auf den Boden. wahnsinnig geworden, weil sie nicht wussten, ob ihnen der 20 SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11
Spiegel etwas Wirkliches oder auch nur etwas Mögliches Der Beginn des Gespräches erfolgt für Harry unvermu- zeigte. tet und abrupt, da Dumbledore ihn bereits erwartet, Der Spiegel kommt morgen an einen neuen Platz, Harry, womit Harry jedoch nicht gerechnet hat. Das Herstel- und ich bitte dich, nicht mehr nach ihm zu suchen. Du len von Beziehung geschieht eingangs eher über die kennst dich jetzt aus, falls du jemals auf ihn stoßen solltest. Aufdeckung eines Vergehens im Schulkontext: das Ver- Es ist nicht gut, wenn wir unseren Träumen nachhängen lassen des Schlafzimmers und Gehen an einen verbote- und vergessen zu leben, glaub mir. Und nun, wie wär’s, nen Ort. Weiters wird die übergeordnete Position Dum- wenn du diesen beeindruckenden Umhang wieder anziehst bledores auch noch durch seinen Platz auf dem Tisch und ins Bett verschwindest?“ betont, den er jedoch rasch verlässt und sich zu dem Harry stand auf. Jungen auf den Boden setzt. „Sir, Professor Dumbledore? Darf ich Sie etwas fragen?“ In der Gleichsetzung des literarischen Dialogs mit ei- „Nun hast du ja eine Frage schon gestellt“, sagte Dumble- nem Therapiedialog könnte die Analogie dahin gehend dore lächelnd. „Du darfst mich aber noch etwas fragen.“ gezogen werden, dass Zugangs- und Lebenskontext des „Was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel schauen?“ Klienten als bekannt gelten; ebenso sein Problem, das „Ich? Ich sehe mich dastehen, ein Paar dicke Wollsocken in der Therapeut nicht explizit erkundet. Weiters bleiben der Hand haltend.“ Erwartungen, Ziel und Kontrakt ausständig, und die Harry starrte ihn an. Regeln der Zusammenkünfte sind eher durch die Funk- tion Dumbledores auch als IN DER GLEICHSETZUNG DES LITERARISCHEN Schulleiter vorgegeben. Ohne sich genau nach dem Pro- DIALOGS MIT EINEM THERAPIEDIALOG KÖNN- blem zu erkundigen, würdigt TE DIE ANALOGIE DAHIN GEHEND GEZOGEN der Therapeut den Lösungsver- WERDEN, DASS ZUGANGS- UND LEBENSKON- such des Klienten und führt an dieser Stelle auch andere Perso- TEXT DES KLIENTEN ALS BEKANNT GELTEN; nen ein („wie hunderte Men- EBENSO SEIN PROBLEM, DAS DER THERAPEUT schen vor dir …“, S. 232). So- NICHT EXPLIZIT ERKUNDET. WEITERS BLEIBEN mit pendelt er von einer Positi- on der anfänglichen Nähe zu ei- ERWARTUNGEN, ZIEL UND KONTRAKT AUS- ner entfernteren. Bemerkenswert STÄNDIG, UND DIE REGELN DER ZUSAMMEN- ist an dieser Stelle auch die Ba- lance zwischen Sich-Anschließen KÜNFTE SIND EHER DURCH DIE FUNKTION und Führen: Harrys Zwischen- DUMBLEDORES AUCH ALS SCHULLEITER VOR- frage („Woher wissen Sie -?“ GEGEBEN. ibid.) beantwortet er gerne, um aber im folgenden Satz bereits „Man kann nie genug Socken haben“, sagte Dumbledore. zu seiner Absicht zu gelangen: die Aufmerksamkeit des „Wieder einmal ist ein Weihnachtsfest vergangen, ohne Klienten hin zur Bedeutung des Spiegels zu lenken. dass ich ein einziges Paar Socken bekommen habe. Die Durch kurze Erklärungssequenzen kann der Klient von Leute meinen dauernd, sie müssten mir Bücher schenken.“ der Bedeutung und schließlich auch etwas von der Ge- Erst als Harry wieder im Bett lag, kam ihm der Gedanke, fährlichkeit des Spiegels erahnen. Weiters würdigt und dass Dumbledore vielleicht nicht ganz die Wahrheit gesagt respektiert Dumbledore noch einmal den Lösungsver- hatte. Doch, zugegeben, dachte er (…), es war doch eine such als verständlich und nachvollziehbar, wenn er auf recht persönliche Frage. (Harry Potter und der Stein der Harrys Freund Ron und dessen Not hinweist. Nahezu Weisen 1998, S. 232–234) im selben Atemzug gibt er sein Verständnis des Prob- SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11 21
BOHRN > lems wieder („Du, der du deine Familie nie kennen ge- gegnung, in der Dumbledore unvermutet an die Sequenz lernt hast, …“, ibid.) und bekundet auch seine Betrof- mit dem Spiegel anknüpft und den Jungen sowohl für fenheit, wodurch wiederum Nähe entsteht. Durch die seinen sportlichen Erfolg als auch für das Befolgen seiner Information, dass Menschen ob des Spiegels auch schon Anweisungen lobt: „Gut gemacht“, sagte Dumbledore wahnsinnig wurden, ist der Therapeut um Transparenz leise, sodass nur Harry es hören konnte. „Schön, dass du und Nachvollziehbarkeit seiner Handlung bemüht, nicht diesem Spiegel nachhängst … hattest was Besseres denn schließlich kündigt er an, dass der Spiegel an ei- zu tun … vortrefflich …“ (ibid., S. 245). An dieser Stelle nen anderen Platz gebracht wird, zum Wohle des Klien- nimmt der Mann gleichsam zwei Rollen gleichzeitig ein, ten. Dieses Vorgehen lässt sich zum einen als sehr direk- die des Schuldirektors und die des Therapeuten, eventu- tiv bewerten, da der Therapeut in keiner Weise auf den ell im Zuge eines Reflecting Team/Man. Anschluss seines Klienten wartet, andererseits hingegen Dass sich der Klient ernst und in seiner Not wahrge- verlässt er die distanzierte Position zugleich, als er eine nommen und verstanden fühlt, zeigt eine kurze Sequenz sehr persönliche Frage zulässt. Eine offene Antwort auf im Krankenhaus, wo sich der Bub nach einem Kampf die Frage „Was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel mit dem schwarzen Magier erholen muss: Von Dumble- schauen?“ (ibid., S. 233) wäre ein entscheidendes Zu- dore beauftragt, bringt einer der Lehrer von Hogwarts viel an Nähe für den Klienten, woraufhin Dumbledore Harry ein Fotoalbum mit unzähligen Abbildungen sei- es bei einer humorvollen Aussage belässt. Diese wieder- ner Eltern ans Krankenbett. Systemisch gesehen kann um scheint dem Klienten durchwegs gerecht zu werden, diese Handlung als Teil der saying-hullo Metapher von er fühlt sich dennoch gehört und realisiert kurze Zeit Michael White verstanden werden, die er dem oftmals später, dass die Frage ohnehin zu persönlich war. Ähn- geforderten saying good-bye zu Verstorbenen entgegen- lich abrupt wie der Einstieg erfolgt auch die Beendigung setzt (White 2005). Im bewussten Verabschieden, und des Gespräches, jedoch ohne den Klienten verstört oder dann im ebenso bewussten Hereinholen der verstorbe- verwirrt gehen zu lassen. nen Personen gelingt es KlientInnen mitunter, diese in Was die Unterschiedsbildung betrifft, so erfolgt diese ihr Selbst einzugliedern, sich ihrer also zu erinnern und direktiv durch den Therapeuten, indem er den konst- sie wieder zu einem Mitglied (member) ihres aktuellen ruktiven Lösungsversuch des Klienten zwar würdigt, Lebens zu machen (re-member). aber auch auf die Gefahren des Spiegels hinweist, diese konkretisiert und daraus Handlungsimplikationen, so- 2. AUF DEM WEG ZU EINER THICK STORY wohl für sich als auch für den Klienten, ableitet: Den Begriffen Wissen, Wahrheit, Wirkliches und Mögliches Als der einjährige Harry nach dem Tod seiner Eltern zur (ibid.) stellt er die Eigenschaft wahnsinnig gegenüber Schwester seiner Mutter und deren Familie gebracht und beschließt, den Spiegel wegräumen zu lassen. Für wurde, war er sowohl real als auch in seinem Erinnern den Klienten ergibt sich daraus: nicht mehr danach zu an sie von ihnen getrennt worden. Seine Verwandten suchen – falls er zufällig auf den Spiegel treffen sollte, gaben vor, dass Lily und James bei einem Autounfall weiß er um die Möglichkeiten sowie um die Gefahren ums Leben gekommen waren. Sooft Harry versuchte, und kann daher frei über seinen Umgang damit ent- Informationen über seine Eltern zu bekommen, stieß er scheiden. Negativ und allgemein formuliert („… wenn bestenfalls auf taube Ohren, mehrheitlich jedoch ver- wir … vergessen zu leben“, ibid.) gibt der Therapeut mittelten ihm sein Onkel und seine Tante, dass Lily und dem Klienten eine Empfehlung mit auf den Weg, ohne James wenig ehrbare Menschen waren. Seine Geschich- sich jedoch der Passungsfähigkeit dieser Unterschiede te mit seinen und über seine Eltern ist eine dürftige, vergewissert zu haben. karge Erzählung. Es gibt darin keine Erinnerungen an Wochen später, anlässlich eines Quidditch-Matches Erlebtes, Gefühltes oder Gemeinsames. Umso verständ- (Sport in Hogwarts), das Harry zu Gunsten seiner Mann- licher sind daher der Wunsch und auch der Versuch des schaft entscheiden kann, kommt es zu einer kurzen Be- Jungen, seinen Eltern durch den geheimnisvollen Spie- 22 SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11
gel näher zu sein, sie zu sehen und öfter zu entdecken, „Nein, Harry, das ist er nicht. Er ist immer noch irgendwo dass ihm durchwegs freundliche Menschen entgegenbli- da draußen, vielleicht auf der Suche nach einem anderen cken. Wie bereits erwähnt, nimmt sich Dumbledore, in Körper, der ihn aufnimmt … weil er nicht wirklich leben- seiner Rolle als Therapeut, dieses Anliegens mehrfach dig ist, kann er nicht getötet werden. Quirrell hat er dem an. In dem folgenden Exzerpt eines Dialogs wird jedoch Tod überlassen; seinen Gefolgsleuten erweist er genauso we- auch die Idee über die Komplexität der Geschichte ahn- nig Gnade wie seinen Feinden. Wie auch immer, Harry, und auch ein wenig sichtbar. War der thematische vielleicht hast du nur seine Rückkehr an die Macht hin- Schwerpunkt in der ersten Sequenz eher die Bewälti- ausgezögert; er braucht nur jemand anderen, der bereit ist, gung der Tatsache, dass der Klient seine Eltern vermisst, eine neue Schlacht zu schlagen, bei der er wohl verlieren wird – und wenn er immer WAR DER THEMATISCHE SCHWERPUNKT IN DER wieder abgewehrt wird, wie- der und wieder, vielleicht ERSTEN SEQUENZ EHER DIE BEWÄLTIGUNG DER kehrt er dann nie an die TATSACHE, DASS DER KLIENT SEINE ELTERN Macht zurück.“ (…) „Sir, es gibt einige ande- VERMISST, SO WEITET SICH DER THEMATISCHE re Dinge, die ich gern wissen BOGEN DES NÄCHSTEN LÄNGEREN GESPRÄCHES möchte, falls Sie es mir erklä- ZWISCHEN DUMBLEDORE UND HARRY VON VER- ren können … Dinge, über die ich die Wahrheit wissen LUSTBEWÄLTIGUNG ZU INDIVIDUATION UND will …“ BEWÄLTIGUNG VON ANGST VOR DEM BÖSEN. „Die Wahrheit.“ Dumbledore seufzte. „Das ist etwas Schö- so weitet sich der thematische Bogen des nächsten län- nes und Schreckliches und sollte daher mit großer Umsicht geren Gespräches zwischen Dumbledore und Harry von behandelt werden. Allerdings werde ich deine Fragen be- Verlustbewältigung zu Individuation und Bewältigung antworten, außer wenn ich einen sehr guten Grund habe, von Angst vor dem Bösen. Diese beiden Stränge sind der dagegen spricht, und in diesem Falle bitte ich dich um zudem noch miteinander verwoben, da Voldemort Har- Nachsicht. Ich werde natürlich nicht lügen.“ rys Eltern getötet hat und ihm nach dem Leben trach- „Gut … Voldemort sagte, er hätte meine Mutter nur getö- tet, was die Komplexität und bedrohliche Dichte zu- tet, weil sie ihn daran hindern wollte, mich zu töten. Aber sätzlich noch erhöht. Systemisch gesehen weist folgen- warum wollte er mich überhaupt töten?“ des Exzerpt des Gespräches im Krankenhaus nach dem Dumbledore seufzte diesmal sehr tief. einstweiligen Sieg über den schwarzen Magier durchaus „Herrje, gleich das Erste, was du mich fragst, kann ich dir wieder Ähnlichkeiten mit einem Therapiegespräch auf. nicht sagen. Nicht heute. Nicht jetzt. Eines Tages wirst du es erfahren … schlag es dir erst einmal aus dem Kopf, Har- (…) ry. Wenn du älter bist … Ich weiß, das hörst du gar nicht „Sir?“, sagte Harry. „Ich habe nachgedacht … Selbst wenn gern … wenn du bereit bist, wirst du es erfahren.“ der Stein weg ist, wird Vol-, ich meine, Du-weißt-schon- Und Harry wusste, dass es keinen Zweck hatte zu streiten. wer-“ „Aber warum konnte Quirrell mich nicht berühren?“ „Nenn ihn Voldemort, Harry. Nenn die Dinge immer beim „Deine Mutter ist gestorben, um dich zu retten. Wenn es richtigen Namen. Die Angst vor einem Namen steigert nur etwas gibt, was Voldemort nicht versteht, dann ist es Liebe. die Angst vor der Sache selbst.“ Er wusste nicht, dass eine Liebe, die so mächtig ist wie die „Ja, Sir. Nun, Voldemort wird versuchen auf anderem Wege deiner Mutter zu dir, ihren Stempel hinterlässt. Keine zurückzukommen. Ich meine, er ist nicht für immer auf Narbe, kein sicheres Zeichen … so tief geliebt worden zu und davon, oder?“ sein, selbst wenn der Mensch, der uns geliebt hat, nicht SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11 23
BOHRN > mehr da ist, wird uns immer ein wenig schützen. Es ist wenig anreichert. Durch die dreimalige Verwendung des deine bloße Haut, die dich schützt. Quirrell, voll Hass, Wortes „vielleicht“ impliziert der Therapeut, dass er Gier und Ehrgeiz, der seine Seele mit der Voldemorts teilt, selbst nicht alles weiß, jedoch bereit ist, dem Klienten konnte dich aus diesem Grunde nicht anrühren. Für ihn seinen Erfahrungs- und Wissensvorsprung zur Verfü- war es eine tödliche Qual, jemanden zu berühren, dem et- gung zu stellen und sein Bedürfnis, seinen Wunsch ge- was so Wunderbares widerfahren ist.“ hört und verstanden zu haben. Für den Klienten scheint Dumbledore fand nun großen Gefallen an einem Vogel, der diese Information vorerst ausreichend, und er über- draußen auf dem Fenstersims hockte, und Harry hatte nimmt die Führung des Gespräches, indem er sein Zeit, seine Augen an der Bettdecke zu trocknen. (ibid., S. nächstes Anliegen vorbringt („Dinge, über die ich die 323–325) Wahrheit wissen will …“ (ibid., S. 324). Die vorige Se- quenz wird nicht abgerundet, und diesmal ist es der Im Unterschied zur vorher besprochenen Sequenz ist in Therapeut, der sich für einen Moment führen lässt. diesem Exzerpt auffallend, dass der Klient, natürlich Man könnte meinen, er wolle Zeit gewinnen oder die auch durch extratherapeutische Ereignisse bedingt, dem Geschwindigkeit des Dialogs reduzieren, denn er ant- Therapeuten mehr Fragen stellt und An- liegen formuliert, was OFFENBAR DÜRFTEN DIE POSITIVEN ERFAHRUNGEN den Rückschluss auf IN DIESER BEZIEHUNG, WIE AUCH EVENTUELL eine respekt- und ver- trauensvolle Bezie- MIMIK, GESTIK UND TONFALL DES THERAPEUTEN IN hung zulassen kann. DIESEM FALL AUSREICHEND GEWESEN SEIN, UND Am Anfang dieses Ex- DER KLIENT TRITT NICHT IN VERHANDLUNG, SON- zerpts zeigt sich der Klient unschlüssig, DERN STELLT DIE LETZTE FRAGE. DIESE LEITET DEN welchen Namen er THERAPEUTEN EIN WENIG IN DIE PROBLEMWIRK- für Voldemort ver- wenden soll, denn ob LICHKEIT DES KLIENTEN (VERLUST DER ELTERN, IN seiner Schrecklichkeit DIESEM FALL DER MUTTER IM BESONDEREN), DIE traut sich niemand ER BEHUTSAM AUFGREIFT. mehr ihn so zu be- zeichnen, und stattdessen ist dann immer von Du- wortet nicht sofort direkt mit einer Zusage, einem Ver- weißt-schon-wer die Rede. Diese Konfusion unterbricht sprechen, dies zu tun, sondern erwidert mit einer allge- der Therapeut direktiv und fordert ihn auf, den Namen meinen Feststellung zum Begriff Wahrheit. Weiters zu benützen („Nenn ihn Voldemort ...“ ibid., S. 323). räumt er ein, dabei auf ein Maß an Nähe und Distanz Als Erklärung eines Experten fügt er noch hinzu, dass achtend, dass er gerne bereit sei, seinem Klienten in bereits vor einem Namen Angst zu haben die Angst vor dieser Form zur Verfügung zu stehen, jedoch nur, solan- dem Eigentlichen erhöht. Diese Handlungsaufforde- ge es seinerseits keine Gründe gibt, die dagegen spre- rung erlebt der Klient eventuell als entlastend und an- chen. Seine Glaubhaftigkeit unterstützt die Reaktion schlussfähig und greift sie in seiner Frage unmittelbar auf die folgende und sehr gut begreifliche Frage, warum auf, wodurch die Formulierung klarer wird und leichter Voldemort Harry damals töten wollte: Genau diesen zu gelingen scheint. An dieser Stelle handelt es sich of- Teil der Geschichte kann und will der Therapeut ihm fenbar um ein ausgewogenes Verhältnis von Führen – nicht zumuten, nimmt gleichsam wieder seine Exper- Sich-Anschließen. Es folgt nun eine informative Passa- tenposition ein, ohne jedoch die Bedürfnislage des Kli- ge, die das Bild des Klienten von Lord Voldemort ein enten außer Acht zu lassen („Ich weiß, das hörst du gar 24 SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11
nicht gern …“. ibid.). Offenbar dürften die positiven Fall noch heftiger, konfrontiert, findet er sich nach dem Erfahrungen in dieser Beziehung, wie auch eventuell Sieg über Voldemort Dumbledore gegenüber, dessen Mimik, Gestik und Tonfall des Therapeuten in diesem Hilfe er für den nächsten klärenden Schritt bedarf. Es Fall ausreichend gewesen sein, und der Klient tritt nicht geht zum einen um Harrys außergewöhnliche Fähigkei- in Verhandlung, sondern stellt die (in diesem zitierten ten, zum anderen beschäftigt ihn die Frage, ob er im Exzerpt) letzte Frage. Diese leitet den Therapeuten ein richtigen Trakt von Hogwarts wohnt. Das Thema des wenig in die Problemwirklichkeit des Klienten (Verlust folgenden Gesprächsausschnittes – die Frage nach der der Eltern, in diesem Fall der Mutter im Besonderen), eigenen Identität – stellt auch für viele KlientInnen ein die er behutsam aufgreift, vor allem jedoch eine Res- klärungswürdiges Anliegen in der Therapie dar. sourcenerzählung einführt („…, selbst wenn der Mensch, der uns geliebt hat, nicht mehr da ist, wird er „Setz dich, Harry“, sagte er, und Harry, der sich unerklär- uns immer ein wenig schützen.“ ibid.). Diese knüpft licherweise nervös fühlte, folgte der Aufforderung. auch sprachlich wiederum an das Thema der Angst vor „Zunächst einmal möchte ich dir danken, Harry“, sagte dem Bösen an, kann aber auch möglicherweise die Be- Dumbledore und seine Augen blinkten wieder. „Du musst deutungsgebung des Klienten, schuld am Tod der Mut- mir dort unten in der Kammer wirklich Treue bewiesen ter zu sein, dahin gehend verändern, dass er sich als lie- haben. Sonst wäre Fawkes nämlich nicht erschienen.“ benswert und beschützt wahrnehmen kann. Dadurch (…) wird seine Selbstwahrnehmung von einem ungeliebten „Und du hast also Tom Riddle getroffen“, sagte Dumbledo- Kind dubioser Eltern um Affekte, Kognitionen, Inhalte re nachdenklich. „Ich kann mir vorstellen, dass er an dir erweitert und angereichert. höchst interessiert war …“ Nach einem weiteren, hier nicht angeführten, Abschnitt Plötzlich kam Harry etwas, was ihm auf dem Herzen lag, beendet der Therapeut das Gespräch ähnlich abrupt aus dem Mund gekullert. und führt den Klienten zurück in die momentane Situ- „Professor Dumbledore … Riddle sagte, ich sei wie er, selt- ation, in diesem Fall lenkt er angenehmerweise die Auf- same Ähnlichkeit, sagte er …“ merksamkeit zu den zahlreichen Süßigkeiten, die Freun- „Ach, hat er?“, sagte Dumbledore und blickte Harry unter de an das Krankenbett gebracht haben. seinen dicken silbernen Augenbrauen nachdenklich an. „Und was denkst du, Harry?“ 3. ZUVIEL NÄHE: HARRY POTTER „Ich denke nicht, dass ich wie er bin!“, sagte Harry unwill- UND DIE KAMMER DES SCHRECKENS kürlich laut. „Ich meine, ich bin … ich bin ein Gryffin- dor, ich bin …“ Doch er verstummte, denn ein unauslösch- Am Ende des zweiten Schuljahres, in Buchform des licher Zweifel tauchte abermals in seinen Gedanken auf. zweiten Bandes, begegnet Harry Potter Lord Voldemort [Gryffindor, Slytherin, Hufflepuff und Ravenclaw sind die in Gestalt seiner Jugend als Tom Riddle in der Kammer vier Häuser in Hogwarts, der Zauberschule. Am ersten des Schreckens. Der Junge überlebt, unter anderem Schultag teilt der Sprechende Hut jedes Kind einem Haus dank des Sprechenden Huts, eines Schwertes und dank zu; Anm. d. Verf.] Fawkes, dem Phönix von Dumbledore. Dieser schickte „Professor“, hob er nach einer Weile wieder an, „der Spre- die Gegenstände gerade noch rechtzeitig in die Kam- chende Hut hat mir gesagt, dass ich – dass ich in Slytherin mer, und so kann Harry ein Mädchen retten, dessen gut gewesen wäre. Alle dachten eine Zeit lang, ich wäre sich Lord Voldemort mittels Tagebuch bemächtigt hat- Slytherins Erbe … weil ich Parsel sprechen kann …“ te. Doch ein Teil der schwierigen Aufgabe beginnt für „Du kannst Parsel, Harry“, sagte Dumbledore ruhig, „weil Harry bereits während des Schuljahres, als er die Spra- Lord Voldemort, der tatsächlich der letzte Nachfahre von che der Schlangen (Parsel) hören kann und verdächtigt Salazar Slytherin ist, Parsel sprechen kann. Und wenn ich wird, der Unheil bringende „Erbe Slytherins“ zu sein. mich nicht irre, hat er in jener Nacht, als er dir die Narbe Erneut mit der Frage nach seiner Identität, in diesem zugefügt hat, einige seiner eigenen Kräfte auf dich übertra- SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11 25
BOHRN > gen … nicht, dass er es beabsichtigt hätte, da bin ich mir der Therapeut seinem Klienten beim Erkennen von sicher …“ Identität stiftenden Zusammenhängen behilflich („Du „Voldemort hat etwas von sich selbst auf mich übertra- kannst Parsel, weil ...“. ibid.). Er schließt sich auch gen?“, sagte Harry wie vom Donner gerührt. sprachlich dem Problemverstehen des Klienten an (Ich „Es sieht ganz danach aus.“ weiß nicht, wer ich bin), wenn von „jener Nacht, als er „Also sollte ich tatsächlich in Slytherin sein“, sagte Harry und dir die Narbe zugefügt hat“ (ibid.) die Rede ist und sah Dumbledore verzweifelt in die Augen. „Der sprechende nicht von beispielsweise der Nacht, in der deine Eltern Hut hat die Macht Slytherins in mir gespürt und er –“ getötet wurden. Auf das zunehmende Maß an Verzweif- „Hat dich nach Gryffindor gesteckt“, sagte Dumbledore ge- lung und Verwirrung des Klienten reagiert Dumbledo- lassen. „Hör mir zu, Harry. Du hast nun einmal viele der re klärend und reduziert deren Komplexität, indem er Begabungen, die Salazar Slytherin bei seinen handverlese- den begonnenen Satz des Klienten einfach hilfreich nen Schülern schätzte. Seine eigene, sehr seltene Gabe, die führend beendet („Hat dich nach Gryffindor gesteckt.“, Schlangensprache, sowie Entschlossenheit, Findigkeit und ibid.). Weiters gelingt es ihm auch, den Jungen schritt- eine gewisse Neigung, Regeln zu missachten“, fügte er hin- weise zu beruhigen, indem er dessen logische Folgerung zu und wieder zitterte sein Schnurrbart. „Doch der Sprechende Hut hat WAS DIE THERAPEUTISCHE BEZIEHUNG BETRIFFT, dich nach Gryffindor ge- SO KANN BEHAUPTET WERDEN, DASS SIE VOM steckt. „Du weißt, warum. KLIENTEN DURCHWEGS ALS TRAGFÄHIG UND STA- Denk nach.“ „Er hat mich nur nach BIL ERLEBT WIRD: ER IST SICHER, DASS ER SICH Gryffindor gesteckt“, sagte MIT SEINEN SELBST IHM NOCH SO ABSURD Harry mit gedrückter Stimme, „weil ich nicht SCHEINENDEN ERFAHRUNGEN VERTRAUENSVOLL nach Slytherin wollte …“ AN DEN THERAPEUTEN WENDEN KANN, OHNE „Genau“, sagte Dumble- AUSGELACHT ODER NICHT GEHÖRT ZU WERDEN. dore und strahlte aber- mals. „Und das heißt, du bist ganz anders als Tom Riddle, (Ich bin Slytherin ähnlich, also wohne ich im falschen Harry. Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Haus) bis zu dem Punkt der gemeinsamen Fähigkeiten Entscheidungen, Harry, die zeigen, wer wir wirklich und Talente aufgreift, sich jedoch der Idee des Klienten sind.“ Harry saß reglos und verblüfft auf seinem Stuhl. nicht anschließt, sondern eine alternative Bedeutungs- (Harry Potter und die Kammer des Schreckens 1999, gebung anregt. Dieser Absatz lässt sich als sehr dichte S. 342 f.) und anschlussfähige Ressourcen- und Lösungserzäh- lung verstehen: Einzig der freie Wille des Klienten Gleich zu Beginn jedoch auffallend ist der Satz des The- („weil ich nicht nach Slytherin wollte …“. ibid.) war rapeuten: „Du musst mir (…) wirklich Treue bewiesen entscheidend, um eine andere Entwicklung als der haben.“ (ibid.), woraus sich ablesen lassen kann, dass dunkle Magier zu nehmen. Der Therapeut verdichtet die Balance zwischen Nähe – Distanz in einem beträcht- den Unterschied zum einen verbal („Viel mehr als un- lichen Missverhältnis steht. Meiner Meinung nach über- sere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, Harry, schreitet der Therapeut kurz die Grenzen des Bezie- die zeigen, wer wir wirklich sind.“ ibid.), zum anderen hungsraumes und begibt sich in einen anderen Verbin- erfolgt die Sicherung durch Anschauungsmaterial oder dung stiftenden Bereich, der Kampf gegen das Böse, an mittels Zeugenschaft durch Dritte: Das Schwert, das dem auch er aktiv beteiligt ist. Harry im Kampf verwenden konnte, wird nur einem Ähnlich wie im ersten Exzerpt, nur weniger direktiv, ist echten Gryffindor zuteil. 26 SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11
4. RE-MEMBERING – COMPLETED, DIE AUFLÖSUNG deren Ufer gesehen habe … dachte ich, ich würde ihn se- DES THERAPIESYSTEMS: HARRY POTTER UND DER hen.“ GEFANGENE VON ASKABAN „Ein solches Versehen passiert leicht“, sagte Dumbledore sanft. „Es ist nichts Neues für dich, aber du siehst James Im dritten Schuljahr – beziehungsweise Roman – lauern verblüffend ähnlich. Nur deine Augen … die Augen hast noch mehr Gefahren auf Harry: Unter anderem ist der du von deiner Mutter.“ Massenmörder Sirius Black aus dem Gefängnis Askaban Harry schüttelte den Kopf. ausgebrochen und trachtet ihm nach dem Leben. Des- „Das war dumm von mir, zu denken, es wäre mein Dad“, wegen herrschen verstärkte Sicherheitsvorkehrungen an murmelte er. „Ich weiß doch, dass er tot ist.“ der Schule in Form von Dementoren, die die schlimms- „Glaubst du, die Toten, die wir liebten, verlassen uns je ten Erinnerungen der Menschen in ihrer Umgebung ganz? Glaubst du, es ist Zufall, dass wir uns in größter Not hervorrufen. Angesichts dieser Wesen hört Harry jedes am deutlichsten an sie erinnern? Du weißt, er lebt in dir Mal den Todeskampf seiner Eltern und bricht ohnmäch- weiter, Harry, und zeigt sich am deutlichsten, wenn du fest tig zusammen. Zudem erfährt er noch, dass Sirius sein an ihn denkst. Wie sonst konntest du gerade diesen Patro- Pate ist und seine Eltern an Voldemort verraten haben nus erschaffen? Krone ist letzte Nacht zurückgekehrt.“ soll, was sich schließlich als Verleumdung herausstellt, Harry brauchte eine Weile, um Dumbledores Worte zu be- denn der wahre Verräter ist Peter Pettigrew, ehemaliger greifen. Freund von Harrys Vater, Sirius und Professor Remus „Sirius hat mir letzte Nacht erzählt, wie sie Animagi wur- Lupin. Sirius will nicht Harry, sondern Peter töten, was den“, sagte Dumbledore lächelnd. „Eine ungeheure Leis- Harry wiederum verhindert, um die Rehabilitation Siri- tung – und nicht zuletzt, dass sie es vor mir geheim gehal- us’ zu erreichen. Doch Pettigrew kann fliehen, und Siri- ten haben. Und dann fiel mir ein, welch ungewöhnliche us wird vom Ministerium zum Tode verurteilt. Bevor er Gestalt dein Patronus annahm, als er Mr. Malfoy beim jedoch nach Askaban gebracht wird, kann er mit Harrys Quidditch-Spiel gegen Ravenclaw so zusetzte. Weißt du, und Hermines Hilfe entkommen. Nachdem Harry den Harry, in gewisser Weise hast du deinen Vater letzte Nacht Verräter seiner Eltern verschont hat, hadert er mit die- wieder gesehen … du hast ihn in dir selbst gefunden.“ ser Entscheidung und fragt sich, ob er dadurch seinen Dumbledore ging hinaus und überließ Harry seinen arg Eltern gerecht wurde. Verstörend ist für ihn auch die verwirrten Gedanken. (Harry Potter und der Gefangene Erfahrung, dass sein Schutzgeist, sein Patronus, im von Askaban 2008, S. 628f ) Kampf gegen die Dementoren die Tiergestalt seines Va- ters annahm, in die sich jener zu Lebzeiten verwandeln Was die therapeutische Beziehung betrifft, so kann be- konnte. hauptet werden, dass sie vom Klienten durchwegs als Folgender Ausschnitt ist das Ende des Gespräches zwi- tragfähig und stabil erlebt wird: Er ist sicher, dass er schen Dumbledore und Harry, und die Interpretation sich mit seinen selbst ihm noch so absurd scheinenden Dumbledores lässt sich gleichsam als Lösungserzählung Erfahrungen vertrauensvoll an den Therapeuten wen- und teilweise als Abschlussgespräch lesen: re-membering den kann, ohne ausgelacht oder nicht gehört zu werden – completed. („… würde nicht lachen - …“ S. 628). Der nicht zitier- te Teil des Gesprächs verläuft den anderen Exzerpten „Ich kannte deinen Vater sehr gut, Harry, sowohl in Hog- ähnlich, der Therapeut driftet navigierend innerhalb warts als auch später“, sagte er leise. „Auch er hätte Petti- des Beziehungsraumes, erklärt dabei vordergründig wie- grew das Leben gerettet, da bin ich sicher.“ der zahlreiche Zusammenhänge und entlastet den Kli- Harry sah zu ihm auf. Dumbledore würde nicht lachen – enten, indem er dessen Handeln als richtig bestätigt. ihm konnte er es sagen … Weiters versichert er ihm die Gegenwart seiner Eltern in „Letzte Nacht … ich dachte, es wäre mein Dad, der den Notsituationen. Der Klient braucht den Spiegel nicht Patronus heraufbeschworen hat. Als ich mich selbst am an- mehr, um ihnen nahe zu sein, vielmehr vermag er Kraft SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11 27
BOHRN > seiner Gedanken seine Eltern zu imaginieren. Er sieht auf der Suche nach weiteren Informationen über seine ihnen nicht nur äußerlich ähnlich, sondern es gelingt Eltern, Leidensdruck und Einschränkungen werden je- ihm auch, sie zu verinnerlichen. Dies manifestiert sich doch bedeutend geringer erlebt. Bei der laufenden Ver- in den Tatsachen, dass die Liebe seiner Mutter ihn vor vollständigung des Bildes und Integration der verstor- dem Bösen beschützt und dass er Anteile seine Vaters in benen Eltern in sein Selbst sind sein Pate Sirius, der Form eines Patronus externalisieren kann. Um seinen Halbriese Hagrid und Erinnerungen des Lehrers Snape Worten Wirkung zu verleihen, verlässt Dumbledore den hilfreich und tragen zur Individuation bei. Das anlass- (therapeutischen) Raum, ohne diesmal auf die Verwir- bezogene Anliegen, der Schutz vor den Dementoren, rung des Klienten einzugehen. Die Auflösung des The- gilt ebenso als erfolgreich bearbeitet und wirkt sich so- rapiesystems erfolgt somit abrupt, ohne Passung der gar noch positiv auf vorher besprochenes Thema aus. Unterschiede und ohne Verabschiedung. Sicherlich war die Nutzung des gesamten Beziehungs- 5. EIN VERÄNDERTER RAHMEN – NEUE MÖGLICHKEITEN raumes relevant für die Erweiterung der erlebten Wirk- lichkeit des Klienten. Das Verstehen und Respektieren Die Bewältigung der Angst vor dem Bösen, personifi- der Person und des Anliegens, das Vermitteln von aus- ziert durch Voldemort, wird jedoch von Jahr zu Jahr reichender Nähe und Sicherheit, sowie das Einlassen des (Roman zu Roman) mehr zu einem universellen, die ge- Therapeuten auf die Tragweite der schmerzhaften Er- samte Zauberwelt betreffenden Anliegen. In diesem Fall fahrung sind nur einige Bestandteile des geglückten erweist sich die systemische Lesart der weiteren Dialoge Therapieprozesses. Dabei wirkte wahrscheinlich vorran- und Zusammenkünfte zwischen Harry und Dumbledo- gige, wenn auch nicht vorschnell eingenommene Res- re nicht mehr passend, denn der Therapeut würde dann sourcenperspektive auf den Klienten nahezu ansteckend, nahezu ausschließlich sowohl zu einem Teil der Prob- er wurde aktiv, unternahm selbstständige Suchprozesse, lem- als auch der Lösungswirklichkeit, wodurch die machte sich im wahrsten Sinn des Wortes kundig und Sinngrenzen von Therapie überschritten sind. holte sich beispielsweise in weiterer Folge Unterstüt- Die Rollen, denen zufolge Dumbledore und Harry in zung und Anleitung bei Remus Lupin im Kampf gegen den Bänden vier, fünf und sechs interagieren, können die Dementoren. Dieser lehrte ihn, eventuell in Form vielmehr als Mentor und Protégé beschrieben werden. einer Kurzzeittherapie, wie er einen Schutzgeist erschaf- Die Gestalt des Mentors, ein erfahrener Ratgeber, geht fen könne. Es ist also nicht ausreichend, viel zu wissen auf den Namen eines griechischen Mannes zurück, „in und zu verstehen, wenn die Gefahr akut ist. Auch in dessen Gestalt Athene als Ratgeber von Telemachos diesem Fall ist der Strang der Verlustbewältigung mit wirkte und Odysseus gegen die Freier unterstützte.“ dem des persönlichen Schutzes eng verbunden, denn (Kluge, 1989, S. 474). Immer intensiver und nach- die Dementoren evozierten die Erinnerung an die Er- drücklicher unterweist Dumbledore Harry angesichts mordung seiner Eltern. Es kann also von der Idee ausge- der Bedrohung durch Voldemort mittels schrittweisen gangen werden, dass ein mögliches, wenn auch nie ex- Preisgebens von Informationen und Zusammenhängen, plizit formuliertes Therapieziel der Umgang mit dem wodurch sich so der bestehende Unterschied an Wissen Tod der Eltern war, das wiederum mit dem Ziel der kontinuierlich verringert. Im fünften Roman Harry Pot- Angstbewältigung vor dem Bösen verwoben ist. Der ter und der Orden des Phönix kommt es zu einem defini- Umgang mit dem Verlust der Eltern scheint in weiten tiven Bruch in der Beziehung: Harry fühlt sich vernach- Teilen gelungen zu sein: Gestaltlose Wesen, die verab- lässigt und von Dumbledore nicht ernst genommen, da schiedet, versteckt bleiben sollten, konnte der Klient als er meint, durch den Tod eines Freundes und den Ver- Mitglieder seines Lebens willkommen heißen und inte- lust seines Paten Sirius genug erlitten zu haben und kei- grieren. Mittlerweile wurde wieder Raum für ein weite- ner falschen Schonung mehr zu bedürfen. Nach einem res (Lebens-) Thema. In den folgenden Abschnitten Eklat in Dumbledores Büro enthüllt der alte Zauberer (Romanen) befindet sich der Klient zwar immer noch auch die geheime Prophezeiung und entschuldigt sich 28 SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11
schließlich sogar bei seinem Schüler: „(…) Verstehst du, nicht nur hinreichend gewürdigt und verstanden, son- indem ich Distanz zu dir hielt, versuchte ich dich zu dern er bedient sich gleichsam der Intervention des re- schützen, Harry. Der Fehler eines alten Mannes …“ membering. Die Eltern des Klienten werden zum einen (ibid., S. 971), wodurch er letztlich die Beziehungsge- verabschiedet: Er darf nicht mehr in den Spiegel Nerhe- staltung des nächsten Jahres (Bandes) aufbereitet. In re- geb blicken, um ihnen nahe zu sein, er muss erkennen, gelmäßigen Abständen unternehmen Harry und Dumb- dass sie tatsächlich tot sind und auch nicht wiederkeh- ledore Reisen in dessen Erinnerungen, um gemeinsam ren. Zum anderen jedoch werden sie als neue Mitglieder als einander ergänzende Partner die abgespaltenen See- (members) seines aktuellen Lebens willkommen gehei- lenteile Voldemorts (Horcruxe) zu finden und zu zerstö- ßen (saying hullo). Der Klient erhält ein Fotoalbum mit ren. Der sechste Band Harry Potter und der Halbblut- zahlreichen Bildern seiner Verwandtschaft, und Dumb- prinz kann sowohl für jeweils Harry und Dumbledore ledore erklärt ihm den Grund der Narbe auf seiner als auch für die Entwicklung der Geschichte als Schwel- Stirn: Sie ist in jener Nacht entstanden, als Lily Potter le gelesen werden: Harry befindet sich am Übergang zur sich schützend vor ihren Sohn stellte, um ihn vor Lord Erfüllung der Aufgabe und zum Sieg über das Böse, und Voldemort zu retten. Ihre starke Liebe bewirkte, dass der Tötungszauber für ih- DA JEDOCH, BEDINGT DURCH EXTRA-THERAPEU- ren Sohn zu schwach war. Der Klient wird jedoch TISCHE EINFLÜSSE (DIE BEDROHUNG DURCH DAS nicht nur durch die Ge- BÖSE WIRD UNIVERSELLER), DER THERAPEUT wissheit der Liebe seiner AUS EIGENER BETROFFENHEIT IMMER MEHR ZU Mutter beschützt, sondern es gelingt ihm auch, Antei- EINEM TEIL DER PROBLEM- UND LÖSUNGSWIRK- le seines Vaters als Schutz- LICHKEIT DES KLIENTEN WIRD, ERWEIST SICH geist (Patronus) zu externa- lisieren. EINE SYSTEMISCHE LESART DER WEITEREN Durch die Nutzung und DIALOGE ALS NICHT MEHR MÖGLICH, DA DIE Gestaltung des Therapie- SINNGRENZEN VON THERAPIE ÜBERSCHRITTEN raumes entlang der Achsen Nähe – Ferne, Sich-An- SIND. IN WEITERER FOLGE STEHT DUMBLEDORE schließen – Führen und HARRY POTTER ALS MENTOR ZUR SEITE. Problemorientierung – Lö- sungsorientierung konnte Dumbledore überschreitet die Schwelle vom Leben zum der Klient sicherlich seine erlebte Wirklichkeit erwei- Tod, woraufhin im siebenten Band Harry Potter und tern. Auch als er bei einem anderen Therapeuten lernt, die Heiligtümer des Todes alle Erzählstränge zusam- einen Schutzgeist zu erschaffen, ist der Strang der Ver- menfließen und ein kohärentes Ganzes ergeben. lustbewältigung mit dem des persönlichen Schutzes eng Was nun die Erforschung systemischer Anteile in den verbunden, und das erfolgreiche Erlernen des Patronus- Dialogen zwischen Albus Dumbledore und Harry Pot- Zaubers stellt wiederum einen weiteren Schritt bei der ter in der Rolle des Therapeuten respektive des Klienten Vervollständigung des Bildes seiner Eltern dar. betrifft, so gilt zusammenfassend festzuhalten, dass das Da jedoch, bedingt durch extra-therapeutische Einflüs- Ziel des Klienten, wenn auch nicht explizit formuliert, se (die Bedrohung durch das Böse wird universeller), schließlich im dritten Schuljahr beziehungsweise im der Therapeut aus eigener Betroffenheit immer mehr zu dritten Band erreicht wird. Der dramatische Verlust sei- einem Teil der Problem- und Lösungswirklichkeit des ner Eltern und die dadurch entstandene und verstärkte Klienten wird, erweist sich eine systemische Lesart der Suche nach Informationen werden von Dumbledore weiteren Dialoge als nicht mehr möglich, da die Sinn- SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11 29
BOHRN > grenzen von Therapie überschritten sind. In weiterer Rowling J (2000) Harry Potter und der Feuerkelch. Carlsen, Hamburg Folge steht Dumbledore Harry Potter als Mentor zur Rowling J (2003) Harry Potter und der Orden des Phönix. Carlsen, Seite. Hamburg Rowling J (2005) Harry Potter und der Halbblutprinz. Carlsen, Hamburg Doch nicht nur ausgewählte Dialoge können durch sys- Rowling J (2007) Harry Potter und die Heiligtümer des Todes. Carlsen, temische Lesart nutzbar gemacht werden, sondern die Hamburg Romane um Harry Potter sind auch reich an einzelnen Passagen, Themen und Metaphern, kraft derer der the- Sekundärliteratur, weiterführende Literatur: rapeutische Raum gestaltet werden kann. Dazu jedoch Brandl-Nebehay A, Rauscher-Gföhler B, Kleibel-Arbeithuber J (1998) Systemische Familientherapie. Facultas Universtätsverlag, Wien mehr an anderer Stelle. Grossmann K P (2003; 2) Der Fluss des Erzählens: Narrative Formen der Obwohl die Romane um Harry Potter als Kinder- und Therapie. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg Jugendbücher konzipiert wurden, so eignen sie sich, wie Grossmann K P (2007) Therapeutische Landkarten. Carl-Auer-Systeme unter anderem das Fallbeispiel illustrieren soll, auch für Verlag, Heidelberg die therapeutische Arbeit mit erwachsenen KlientInnen. Hubble M, Duncan, B, Miller, S (2001) So wirkt Psychotherapie: Empiri- Was nun die Verwendung von Geschichten und Litera- sche Ergebnisse und praktische Folgerungen. Systemische Studien: Band 21. Verlag Modernes Lernen, Dortmund tur im therapeutischen Setting betrifft, und wodurch Kluge F (1989, 22) Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. der Beziehungsraum angereichert und gestaltet wird, Walter de Gruyter, Berlin, New York sodass Therapie als einzigartige Begegnung auf inhaltli- Schiepek G (1999) Die Grundlagen der Systemischen Therapie: Theorie cher, prozessualer und persönlicher Ebene erlebbar wird, – Praxis – Forschung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen liegt zum einen natürlich an Interesse und Eignung der Schlippe A von, Schweitzer, J (2007, 10) Lehrbuch systemischer Therapie und Beratung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen KlientInnen und zum anderen am persönlichen Zugang White M, Epston D (2006, 5) Die Zähmung der Monster: Der narrative der Therapeutin zu Literatur. Letztendlich gilt es nicht Ansatz in der Familientherapie. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidel- nur, die Person der Klientin wertzuschätzen und ihr berg empathisch zu begegnen, sondern ihr großteils in Spra- White M (2005) Das Wiedereingliedern der verlorenen Beziehung bei che ausgedrücktes Anliegen zu hören und ihren Worten, erfolgreicher Trauerarbeit. In: systhema 1/2005, S. 5–15 einem (literarischen) Text gleich, respektvoll zu begeg- nen: Therapie gleichsam als (literarische) Begegnung, Literatur als (therapeutische) Begegnung. Zwecks Lesbarkeit wird bei allgemeinen Formulierungen im Singular stets die weibliche Form der Nomen verwendet (Klientin, Therapeutin, Leserin und dergleichen), in der Pluralform beide Genera mittels Binnen-I, wie beispielsweise KlientInnen oder TherapeutInnen. UNIV.-LEKT. MAG.A DR. PATRICIA BOHRN ist Pädagogin, AHS-Lehrerin, Psychotherapeutin (SF) in Ausbildung unter Supervision; Beraterin an der Beratungsstelle Courage, Studierende im LG 19 BIBLIOGRAFIE Primärliteratur: Rowling J (1998) Harry Potter und der Stein der Weisen. Carlsen, Hamburg Rowling J (1999) Harry Potter und die Kammer des Schreckens. Carlsen, Hamburg Rowling J (2008) Harry Potter und der Gefangene von Askaban. (Groß- druck) Carl Ueberreuter, Wien 30 SYSTEMISCHE NOTIZEN 01/11
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