The Winds of Winter George R. R. Martin Das Lied von Eis und Feuer 11 - Random House

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The Winds of Winter George R. R. Martin Das Lied von Eis und Feuer 11 - Random House
George R. R. Martin

The Winds of Winter
 Das Lied von Eis und Feuer 11

             Vorabkapitel

    Übersetzt von Andreas Helweg

 (Deutscher Titel und Erscheinungstermin
   stehen derzeit leider noch nicht fest)
Tyrion

Irgendwo in weiter Ferne schrie ein Sterbender nach sei-
ner Mutter. »Auf die Pferde!«, brüllte jemand in Ghiscari,
drüben im Lager nördlich der Zweitgeborenen. »Auf die
Pferde! Auf die Pferde!« Hoch und schrill hallten seine Worte
durch die Morgenluft, weit über sein eigenes Lager hinaus.
Tyrion beherrschte gerade genug Ghiscari, um den Ruf zu
verstehen, doch die Furcht in dieser Stimme wäre in jeder
Sprache unüberhörbar gewesen. Ich weiß, wie der sich fühlt.
   Jetzt war es Zeit, sein eigenes Pferd zu finden. Zeit, die
Rüstung irgendeines toten Knaben anzulegen, sich Schwert
und Dolch umzuschnallen und den verbeulten Großhelm
aufzusetzen. Der Tag brach an, und hinter den Mauern und
Türmen der Stadt erschien grell der äußerste Rand der Son-
nenscheibe. Im Westen verblassten einer nach dem ande-
ren die Sterne. Überall entlang des Skahazadhan wurden
Trompeten geblasen, und von den Mauern Meereens ant-
worteten Schlachthörner. An der Flussmündung sank ein
brennendes Schiff. Leichen und Drachen flogen durch den
Himmel, während in der Sklavenbucht Kriegsschiffe ge-
geneinanderkrachten. Von hier aus konnte Tyrion das ­alles
zwar ­nicht sehen, aber gut genug hören: das Donnern, wenn
die Rümpfe zusammenstießen, die tiefen Hörner der Eisen-
männer und die schrillen Flöten von Qarth, das Splittern
von Rudern, das Gebrüll und die Schlachtrufe, das Krachen,
wenn Axt auf Rüstung und Schwert auf Schild traf, und
über allem die schrillen Schreie der Verwundeten. Viele der
Schiffe waren noch weit draußen in der Bucht, daher klang
der Lärm von dort leiser und ferner, aber dennoch war er
unverkennbar. Die Musik des Gemetzels.
  Dreihundert Schritt von ihm entfernt erhob sich die
Böse Schwester, deren Arm mit einer Ladung Leichen in
die Höhe schnellte – krach-rumms – und dann flogen sie,
nackt und aufgedunsen, bleiche tote Vögel, die wabbelnd
durch die Luft taumelten. Die Unterkünfte der Belagerer
schimmerten in rosa-goldenem Dunst, die berühmten
Stufen­pyramiden von Meereen hoben sich schwarz vor
dem Farbenmeer ab. Irgendetwas bewegte sich darüber.
Ein Drache, aber welcher? Aus dieser Entfernung gesehen,
hätte es auch ein Adler sein können. Allerdings ein sehr gro-
ßer Adler.
  Nach Tagen in den muffigen Zelten der Zweitgeborenen
genoss er den frischen Duft der klaren Luft draußen. Auch
wenn er die Bucht von seinem Standort nicht sehen konnte,
verriet ihm der Salzgeruch, wie nah sie war. Tyrion sog die
Luft tief ein. Ein guter Tag für eine Schlacht. Von Osten rollte
Trommelschlag über die ausgedörrte Ebene. Eine Kolonne
Reiter galoppierte unter dem blauen Banner der Verwehten
an der Quarre vorbei.
  Ein jüngerer Mann hätte das alles vielleicht sehr aufre-
gend gefunden. Ein dümmerer Mann hätte es für ein erha-
benes Schauspiel gehalten, allerdings nur, bis ihm einer die-
ser ungemein hässlichen yunkischen Sklavensoldaten mit
Ringen in den Brustwarzen die Axt in den Schädel gerammt
hätte. Tyrion Lennister hingegen ließ sich nicht beeindru-
cken. Die Götter haben mich nicht erschaffen, um ein Schwert zu
schwingen, dachte er, warum werfen sie mich immer wieder mit-
ten in die Schlacht?
   Niemand hörte seine Frage. Niemand antwortete ihm.
Niemand scherte sich darum.
   Tyrion dachte an seine erste Schlacht zurück. Shae war
vor ihm von den Trompeten seines Vaters aufgewacht. Die
süße Hure, die ihm die halbe Nacht Freude bereitet hatte,
lag zitternd wie ein verängstigtes Kind in seinen Armen.
Oder war das auch eine Lüge, eine Masche, damit ich mich mutig
und großartig fühlte? Was für eine Mimin sie gewesen sein muss.
Tyrion hatte nach Podrick Payne gerufen, damit er ihm in
die Rüstung half, doch der Junge hatte laut schnarchend in
tiefem Schlaf gelegen. Er war nicht gerade der Schnellste, aber
am Ende doch ein anständiger Knappe. Hoffentlich hat er einen
besseren Herrn gefunden.
   Eigenartigerweise erinnerte sich Tyrion an den Grünen
Arm viel besser als an das Schwarzwasser. Es war meine erste.
Die erste vergisst man nie. Der Nebel war in dicken Schwa-
den über den Fluss gezogen und hatte mit bleichen weißen
Fingern ins Schilf gegriffen. Und dieser wunderschöne Son-
nenaufgang, an den erinnerte er sich auch: Sterne, an ei-
nem purpurnen Himmel verstreut, Gras, das im Morgentau
glitzerte, rote Pracht im Osten. Er erinnerte sich an Shaes
Finger­, als sie Pod half, Tyrion die schlecht sitzende Rüs-
tung anzulegen. Dieser verfluchte Helm. Wie ein Eimer mit ei-
nem Stachel darauf. Allerdings hatte ihn dieser Stachel geret-
tet und ihm seinen ersten Sieg eingebracht. Trotzdem hatten
Hella und Groschen bestimmt nie auch nur halb so dumm
ausgesehen wie er an diesem Tag. Shae hatte ihn immerhin
»Furcht einflößend« genannt, als sie ihn in Stahl sah. Wie

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konnte ich nur so blind und blöd und taub sein? Ich hätte wissen
müssen, dass man nicht mit dem Schwanz denken soll.
   Die Zweitgeborenen sattelten ihre Pferde. Geschickt, ge-
lassen und gewandt erledigten sie ihre Arbeit wie schon
hundert Mal zuvor. Ein Schlauch ging von Hand zu Hand,
aber Tyrion konnte nicht sagen, ob Wasser oder Wein darin
war. Bokkoko küsste schamlos seinen Geliebten und knetete
dem Knaben mit der einen Hand den Po, während er ihm
mit der anderen durchs Haar strich. Hinter ihm bürstete
Ser Garibald seinem großen Wallach die Mähne. Kem saß
auf einem Stein und starrte auf den Boden … und dachte
vielleicht an seinen toten Bruder oder träumte von diesem
Freund in Königsmund. Hammer und Nagel gingen von
Mann zu Mann, begutachteten Speere und Schwerter, rück-
ten Rüstungen zurecht und wetzten alle Klingen, die es nö-
tig hatten. Schnapp kaute Bitterblatt, machte Scherze und
kratzte sich mit der Hakenhand im Schritt. Sein Gebaren er-
innerte Tyrion an Bronn. Ser Bronn vom Schwarzwasser, wenn
ihn meine Schwester nicht schon umgebracht hat. Was sich bei
ihm als nicht ganz so einfach erweisen dürfte, wie sie es sich vor-
stellt. Er fragte sich, in wie viele Schlachten diese Zweitge-
borenen schon gezogen waren. Wie viele Gefechte, wie viele
Raubzüge? Wie viele Städte haben sie erstürmt, wie viele Brüder
haben sie begraben oder verwesend liegen gelassen? Verglichen
mit ihnen war Tyrion ein Grünschnabel, obwohl er mehr
Jahre als die halbe Kompanie auf dem Buckel hatte.
   Dies würde seine dritte Schlacht werden. Kampferfahren
und schlachterprobt, gestempelt und besiegelt, ein erprobter Krie-
ger. Ich habe Männer getötet und andere verwundet, ich wurde
selbst verwundet, und ich lebe noch. Ich habe Angriffe geführt
und gehört, wie Männer meinen Namen schrien, ich habe größere,

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bessere Männer niedergemacht und sogar ein paar Mal am Ruhm
geleckt … und hat mir dieser Wein für Helden nicht geschmeckt,
würde ich nicht gern noch einen Schluck davon nehmen? Und
doch, trotz allem, was er getan und gesehen hatte, wurde
ihm bei der Aussicht auf eine weitere Schlacht kalt ums
Herz. Er war mit Sänfte, Stakboot und per Schwein, auf
Sklavenschiffen und Handelsgaleeren, auf Huren und auf
Pferden um die halbe Welt gereist und hatte sich die ganze
Zeit eingeredet, dass es ihm gleichgültig war, ob er lebte
oder starb … nur, um am Ende festzustellen, dass es ihm
überhaupt nicht gleichgültig war.
   Der Fremde hatte seine weiße Stute bestiegen und ritt mit
dem Schwert in der Hand auf sie zu, aber Tyrion Lennis-
ter legte keinen Wert darauf, ihm zu begegnen. Nicht jetzt.
Noch nicht. Nicht heute. Wie verblendet bist du eigentlich,
Gnom? Du hast dein Weib von hundert Soldaten vergewaltigen
lassen, deinem Vater einen Bolzen in den Bauch geschossen, deine
Geliebte mit einer goldenen Kette gewürgt, bis ihr Gesicht blau
wurde, und trotzdem glaubst du immer noch, du hättest ein Recht
darauf, zu leben.
   Hella hatte bereits ihre Rüstung angelegt, als Tyrion in
ihr gemeinsames Zelt zurückkehrte. In ihrer Zeit als Mimin
hatte sie jahrelang eine Rüstung aus Holz getragen. Hatte
man die Riemen und Schnallen einmal im Griff, war es
gleich, ob der Panzer aus Stahl oder aus Holz war. Und ob
der Stahl der Kompanie verbeult und verrostet, verkratzt
und fleckig und verfärbt war, spielte ebenfalls keine Rolle.
Ein Schwert würde er allemal abwehren.
   Nur den Helm hatte sie noch nicht aufgesetzt. Als er ein-
trat, sah sie auf. »Ihr tragt keine Rüstung. Was geht da drau-
ßen vor?«

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»Das Übliche. Schlamm und Blut und Heldentaten, Tod
und Sterben. In der Bucht findet die eine Schlacht statt,
die andere vor den Mauern der Stadt. Wohin sich die Yun-
kischen auch wenden, hinter ihnen steht ein Feind. Die
Kämpfe sind noch eine Wegstunde entfernt, aber bald wer-
den sie hier sein.« Von der einen oder der anderen Seite her.
Die Zweitgeborenen waren reif dafür, wieder einmal den
Herrn zu wechseln, dessen war sich Tyrion fast sicher …
obwohl der Unterschied zwischen »sicher« und »fast si-
cher« himmelweit war. Wenn ich meinen Mann falsch einge-
schätzt habe, sind wir alle dem Tode geweiht. »Setz den Helm
auf und schließ die Schnallen richtig. Ich habe meinen da-
mals abgenommen, damit ich nicht ertrinke, und ich habe
mit meiner Nase dafür bezahlt.« Tyrion zupfte an seiner
Narbe.
   »Zuerst müsst Ihr Eure Rüstung anlegen.«
   »Wenn du möchtest. Das Wams als Erstes. Dann das ge-
sottene Leder mit den Nieten. Darüber das Kettenhemd
und zum Schluss die Halsberge.« Er blickte sich im Zelt um.
»Haben wir Wein?«
   »Nein.«
   »Wir hatten doch noch einen halben Krug vom Abend-
essen.«
   »Einen Viertelkrug, und den habt Ihr getrunken.«
   Er seufzte. »Ich würde meine Schwester für einen Becher
Wein verkaufen.«
   »Ihr würdet Eure Schwester auch für einen Becher Pfer-
depisse verkaufen.«
   Das kam so überraschend, dass er lachen musste. »Ist
 meine Vorliebe für Pferdepisse so bekannt oder bist du
­meiner Schwester schon einmal begegnet?«

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»Ich habe sie nur einmal gesehen, als wir für den Kna-
benkönig tjostiert haben. Groschen fand sie wunderschön.«
   Groschen war ein verkrüppelter kleiner Speichellecker mit einem­
törichten Namen. »Nur Narren reiten nüchtern in die Schlacht.
Pflum hat bestimmt Wein. Was, wenn er in der Schlacht fällt?
Es wäre doch ein Verbrechen, den Wein zu verschwenden.«
   »Ach, haltet den Mund. Ich muss das Wams schnüren.«
   Tyrion gab sich allergrößte Mühe, aber angesichts des
lauter werdenden Lärms des Gemetzels konnte er den
Mund einfach nicht halten. »Mondgesicht möchte die Eisen­
männer wieder zurück aufs Meer treiben«, hörte er sich
Hella erklären, während sie ihm die Rüstung anlegt. »Statt-
dessen hätte er den Eunuchen lieber seine gesamte Reiterei
entgegenwerfen sollen, ehe sie zehn Fuß aus den Toren he-
rauswaren. Die Katzen hätte er von links und die Verweh-
ten von rechts schicken sollen, damit sie beide Flanken aus-
einandernehmen. Mann gegen Mann sind die Unbefleckten
nicht besser oder schlechter als jeder andere Speerträger.
Ihre Disziplin macht sie gefährlich, aber wenn sie mit ihren
Speeren keinen Wall bilden können …«
   »Arme hoch«, verlangte Hella. »So, das ist besser. Viel-
leicht solltet Ihr den Befehl über die Yunkischen überneh-
men.«
   »Sie setzen Sklavensoldaten ein, warum nicht auch Skla-
venkommandanten? Das würde allerdings das Spiel ruinie-
ren. Für die Weisen Herren ist es schließlich nur eine Partie
Cyvasse. Wir sind die Steine.« Tyrion legte den Kopf schief
und dachte nach. »Darin sind diese Sklavenhalter meinem
hohen Vater doch recht ähnlich.«
   »Eurem Vater? Was meint ihr?«
   »Ich habe mich eben an meine erste Schlacht erinnert. Am

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Grünen Arm. Wir haben zwischen einem Fluss und einer
Straße gekämpft. Als ich sah, wie das Heer meines Vaters
in Stellung ging, dachte ich, wie schön es doch aussah. Wie
eine Blüte, die sich der Sonne öffnet. Eine blutrote Rose mit
eisernen Dornen. Und mein Vater hatte noch nie so präch-
tig ausgesehen. Er trug eine rote Rüstung und diesen riesi-
gen Mantel aus Goldtuch. Auf seiner Schulter und seinem
Helm saßen goldene Löwen. Sein Hengst war ein herrli-
ches Tier. Der Lord beobachtete die ganze Schlacht von sei-
nem Pferd aus und kam den Kämpfen nie näher als hundert
Schritt. Er regte sich nicht, er lächelte nicht, er brach nicht in
Schweiß aus. Und unter ihm starben sie zu Tausenden. Stell
dir mich vor, wie ich auf einem Feldhocker sitze und ein
Cyvasse-Brett betrachte. Man könnte uns für Zwillinge hal-
ten … wenn ich ein Pferd und eine rote Rüstung und einen
Mantel aus Goldtuch hätte. Allerdings war er größer als ich.
Aber ich habe volleres Haar.«
   Hella küsste ihn.
   Sie war so schnell, dass ihm keine Zeit zum Ausweichen
blieb. Sie schoss wie ein Vogel heran und drückte ihre Lip-
pen auf seine. Genauso schnell war es vorbei. Womit habe
ich das verdient?, hätte er beinahe gefragt, aber er wusste
es schon. Danke schön, hätte er sagen können, doch das
hätte sie vielleicht als Erlaubnis zur Wiederholung aufge-
fasst. Kind, ich will dir nicht wehtun, hätte er sagen können,
doch Hella war kein Kind mehr, und egal, was er wollte, es
würde den Schmerz nicht lindern. Zum ersten Mal, seit er
denken konnte, fehlten Tyrion Lennister die Worte.
   Sie sieht so jung aus, dachte er. Sie ist noch ein Mädchen,
mehr nicht. Ein fast schönes Mädchen, wenn man ihren Zwer-
genwuchs vergisst. Ihr warmbraunes Haar lockte sich dick,

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ihre großen Augen blickten vertrauensselig in die Welt. Zu
vertrauensselig.
   »Hörst du das?«, fragte Tyrion.
   Sie lauschte. »Was ist das?«, fragte sie, während sie ihm
zwei unterschiedliche Beinschienen an die krummen Schen-
kel schnallte.
   »Krieg. Überall um uns herum, keine Wegstunde entfernt.
Eine Schlacht, Hella. Männer, denen die Gedärme aus dem
Bauch hängen, wanken durch den Schlamm. Abgehackte
Gliedmaßen, gebrochene Knochen und Blutlachen. Du weißt
doch, dass die Würmer aus dem Boden kommen, wenn es
heftig regnet. Das gleiche habe ich in der Schlacht gesehen,
wenn ausreichend Blut fließt. Der Fremde ist unterwegs zu
uns, Hella. Die Schwarze Ziege, das Bleiche Kind, Er mit den
Vielen Gesichtern. Nenn ihn wie du willst. Es bleibt der Tod.«
   »Ihr macht mir Angst.«
   »Ach, ja? Du solltest auch Angst haben. Eisenmänner
 branden an die Ufer, und Ser Barristan strömt mit seinen
 Unbefleckten aus den Stadttoren. Wir sitzen mitten zwi-
 schen ihnen auf der verfluchten falschen Seite. Ich habe
selbst Angst.«
   »Das sagt ihr und macht trotzdem Scherze.«
   »Scherze sind eine Möglichkeit, die Angst zu bewältigen.
Wein ist eine andere.«
   »Ihr seid tapfer. Kleine Menschen können tapfer sein.«
   Mein Riese von Lennister, hörte er im Kopf jemanden
­sagen. Sie verspottet mich. Beinahe hätte er ihr wieder eine
 Ohrfeige versetzt. Sein Kopf dröhnte.
   »Ich wollte Euch nicht wütend machen«, sagte Hella.
 »Verzeiht mir. Ich habe einfach nur solche Angst, mehr
 nicht.« Sie berührte seine Hand.

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Tyrion zog sie zurück. »Ich habe Angst.« Die gleichen
Worte hatte Shae benutzt. Ihre Augen waren groß wie Eier, und
ich habe ihr alles abgenommen. Ich wusste, was für eine sie war.
Ich habe Bronn befohlen, mir eine Frau zu suchen, und er hat
mir Shae gebracht. Er ballte die Hände, und Shaes Gesicht
schwebte ihm grinsend vor Augen. Dann zog sich die Kette
um ihren Hals zusammen und die goldenen Hände gru-
ben sich tief in ihre Haut, während ihre eigenen Hände mit
der Kraft von Schmetterlingen gegen sein Gesicht flatter-
ten. Hätte er eine Kette zur Hand gehabt … oder eine Arm-
brust, einen Dolch, irgendetwas, dann hätte er … er hätte
vielleicht … er …
   Plötzlich hörte Tyrion die Schreie. Er verlor sich in
schwarzem Zorn und ertrank im Meer der Erinnerung, aber
das Geschrei riss ihn augenblicklich zurück in die Welt.
Er öffnete die Hände, holte tief Luft und wandte sich von
Hella ab. »Da geschieht etwas.« Er ging hinaus um nachzu-
schauen. Drachen.
   Das grüne Untier kreiste über der Bucht und über den
Langschiffen und Galeeren, die unter ihm gegeneinander
krachten oder ausbrannten, doch es war der weiße ­Drache,
zu dem die Söldner aufschauten. Tausend Fuß entfernt
schwang die Böse Schwester ihren Arm, krach-rumms, und
sechs neue Leichen tanzten durch den Himmel. Sie stiegen
höher und höher und höher hinauf. Dann gingen zwei von
ihnen in lodernde Flammen auf.
   Der Drache fing eine der brennenden Leichen auf, als sie
gerade zu fallen begann, und zermalmte sie mit den Kie-
fern, während helles Feuer über seine Zähne wallte. Weiße
Flügel knatterten in der Morgenluft, und das Untier gewann
an Höhe. Die zweite brennende Leiche prallte von der aus-

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gestreckten Kralle ab, fiel senkrecht in die Tiefe und landete
zwischen yunkischen Reitern. Einige fingen ebenfalls Feuer.
Ein Pferd bäumte sich auf und warf seinen Reiter ab. Tyrion
Lennister konnte die Panik fast schmecken, die wie in Wel-
len durch die Lager rollte.
   Der vertraute scharfe Gestank von Urin stieg dem Zwerg
in die Nase. Er blickte sich um und stellte erleichtert fest,
dass es Tintenfass war, der sich eingenässt hatte, nicht er
selbst. »Du solltest lieber die Hosen wechseln«, forderte
Tyrion ihn auf. »Und wenn du schon beim Wechseln bist,
wechsle auch gleich die Seiten.« Der Zahlmeister erbleichte,
rührte sich jedoch nicht.
   Er stand noch da und beobachtete, wie der Drache Lei-
chen aus der Luft fing, als der Bote herangeprescht kam.
Ein verfluchter Offizier, erkannte Tyrion sofort. Er trug eine
goldene Rüstung und saß auf einem goldenen Ross. Laut
verkündete er, er käme vom obersten Kommandanten der
Yunkai’i, dem edlen und mächtigen Gorzhak zo Eraz. »Lord
Gorzhak übermittelt Hauptmann Pflum Grüße und bittet
darum, er möge seine Kompanie zur Bucht führen. Unsere
Schiffe werden angegriffen.«
   Eure Schiffe sinken, brennen, fliehen, dachte Tyrion. Eure
Schiffe werden gekapert, eure Männer sterben durch das Schwert.
Er war ein Lennister von Casterlystein, und das lag nicht
weit von den Eiseninseln entfernt. Räuberische Eisenmän-
ner waren an dieser Küste keine Fremden. Über die Jahr-
hunderte hinweg hatten sie Lennishort wenigstens drei
Mal niedergebrannt und zwei Dutzend Mal geplündert.
Die Westermänner wussten, zu welchen Grausamkeiten die
Eisenmänner fähig waren. Diesen Sklavenhändlern stand
diese Erfahrung noch bevor.

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»Der Hauptmann ist gerade nicht hier«, erwiderte Tinten-
fass dem Boten. »Er ist unterwegs zum Mädchen.«
   Der Reiter zeigte zur Sonne. »Lady Malazzas Befehl en-
dete mit Sonnenaufgang. Tut, was Lord Gorzhak verlangt.«
   »Die Schiffe der Tintenfische angreifen, meint Ihr? Die
draußen auf dem Wasser?« Der Zahlmeister runzelte die
Stirn. »Ich wüsste nicht, wie ich das machen soll, aber wenn
der Braune Ben zurückkehrt, werde ich ihm mitteilen, was
Gorzhak wünscht.«
   »Ich habe einen Befehl erteilt. Ihr werdet ihn sofort aus-
führen.«
   »Wir nehmen Befehle von unserem Hauptmann ent­
gegen«, erwiderte Tintenfass so ruhig wie gewohnt. »Er ist
nicht hier. Das habe ich doch schon gesagt.«
   Der Bote verlor die Geduld. »Die Schlacht hat begonnen.
Euer Kommandant sollte hier sein.«
   »Sollte. Ist er aber nicht. Das Mädchen hat nach ihm geru-
fen. Er ist hingegangen.«
   Der Bote wurde rot. »Dann müsst Ihr den Befehl ausführen!«
   Schnapp spuckte einen Klumpen gut durchgekautes
Bitter­blatt aus. »Bitte um Vergebung«, sagte er zu dem yun-
kischen Reiter, »aber wir sind Reiter, genau wie M’lord.
Also, ein gut abgerichtetes Streitross kann eine Mauer aus
Speeren angreifen. Andere springen auch über einen Feuer­
graben. Aber ein Pferd, das über Wasser läuft, habe ich noch
nie gesehen.«
   »Von den Schiffen gehen Männer an Land«, kreischte der
yunkische Lord. »Sie haben die Mündung des Skahazadhan
mit einem Feuerschiff blockiert, und in jedem Augenblick,
den ihr hier steht und plaudert, kommen hundert weitere
Schwerter durchs seichte Wasser an Land. Versammelt Eure

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Männer und werft die Angreifer zurück ins Meer! Sofort!
Gorzhak befiehlt es!«
   »Welcher war nochmal Gorzhak?«, fragte Kem. »Das Kar-
nickel?«
   »Mondgesicht«, antwortete Tintenfass. »Das Karnickel
ist nicht so blöd, leichte Reiterei gegen Langschiffe zu schi-
cken.«
   Der Reiter hatte genug gehört. »Ich werde Gorzhak zo
Eraz davon in Kenntnis setzen, dass Ihr seinen Befehl ver-
weigert«, sagte er steif. Dann riss er sein goldenes Pferd
herum und galoppierte, vom Gelächter der Söldner getrie-
ben, dorthin zurück, woher er gekommen war.
   Tintenfass hörte als Erster auf zu lachen. »Das reicht«,
sagte er, plötzlich streng. »Weitermachen. Sattelt die Pferde.
Ich möchte, dass alle Mann fertig sind, wenn Ben mit ver-
nünftigen Befehlen zurückkehrt. Und löscht das Feuer. Ihr
könnt nach dem Kampf frühstücken, falls ihr dann noch am
Leben seid.« Sein Blick fiel auf Tyrion. »Was grinst Ihr so? In
dieser Rüstung seht Ihr aus wie ein Idiot, Halbmann.«
   »Besser wie ein Idiot aussehen als einer sein«, gab der
Zwerg zurück. »Wir stehen auf der Verliererseite.«
   »Der Halbmann hat recht«, stimmte Ser Jorah Mormont
zu. »Wir wollen doch nicht wirklich für die Sklavenhänd-
ler gekämpft haben, wenn Daenerys zurückkehrt … und
das wird sie, ganz ohne Zweifel. Schlagt jetzt zu und zwar
hart, dann wird es die Königin nicht vergessen. Sucht ihre
­Geiseln und befreit sie. Und ich schwöre bei der Ehre mei-
 nes Hauses und meiner Heimat, dass der Braune Ben es von
 Anfang an so geplant hatte.«
   Draußen in der Sklavenbucht loderte wieder eine Galeere
 aus Qarth auf. Im Osten hörte Tyrion Elefanten trompeten.

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Die Arme der sechs Schwestern hoben und senkten sich
und schleuderten Leichen. Schilde rammten gegen Schilde,
als zwei Wälle aus Speeren unter den Mauern von Meereen
aufeinandertrafen. Und über allem kreisten die Drachen
und ließen ihre Schatten über die nach oben gewandten Ge-
sichter von Freund und Feind huschen.
   Tintenfass warf die Arme hoch. »Ich führe die Bücher. Ich
bewache unser Gold. Ich setzte Verträge auf, nehme unseren
Sold ein und sorge dafür, dass in der Kasse genug M ­ ünzen
für Proviant sind. Aber ich entscheide nicht, für oder gegen
wen wir kämpfen. Das ist Sache des Braunen Ben. Redet mit
ihm, wenn er zurückkehrt.«
   Als Pflum und seine Gefährten schließlich aus dem L ­ ager
des Mädchens angaloppiert kamen, war der weiße Drache
bereits zu seiner Höhle mit Blick über Meereen zurück-
geflogen. Der Grüne jagte weiter und kreiste auf riesigen
Schwingen über der Stadt und der Bucht.
   Der Braune Ben Pflum trug Panzer und Kettenhemd
über gekochtem Leder. Von seinen Schultern hing der Sei-
denmantel, das einzige Zugeständnis an seine Eitelkeit: Der
Stoff wallte, sobald er sich bewegte, und die Farbe chan-
gierte von hellem Veilchenblau bis zu tiefdunklem Violett.
Pflum schwang sich vom Pferd und reichte die Zügel einem
Burschen, ehe er Schnapp befahl, seine Hauptleute zusam-
menzurufen.
   »Sie sollen sich beeilen«, fügte der Gewitzte Kasporio
hinzu.
   Tyrion war nicht einmal Feldwebel, aber nach ihren
­Cyvasse-Spielen war man an seine Anwesenheit im Zelt des
 Braunen Ben gewöhnt, daher hinderte ihn niemand daran,
 mit den anderen einzutreten. Außer Kasporio und Tinten-

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fass gehörten Uhlan und Bokkoko zu denen, die gerufen
wurden. Der Zwerg war überrascht, als er auch Ser Jorah
erblickte.
   »Wir haben Befehl, die Böse Schwester zu verteidigen«,
teilte der Braune Ben ihnen mit.
   Die anderen wechselten unbehagliche Blicke. Niemand
wollte etwas sagen, bis Ser Jorah fragte: »Und wer hat den
Befehl erteilt?«
   »Das Mädchen. Ser Großvater ist zur Quarre unterwegs,
aber sie fürchtet, er wird sich als Nächstes gegen die Böse
Schwester wenden. Der Geist ist bereits zerstört. Marselens
Befreite haben die Langen Lanzen niedergemacht wie mor-
sche Stöcke und den Tribock mit Ketten umgerissen. Das
Mädchen glaubt, dass Selmy alle Katapulte zerstören will.«
   »An seiner Stelle würde ich genau das tun«, warf Ser
Jorah ein. »Nur hätte ich früher damit angefangen.«
   »Warum erteilt das Mädchen noch Befehle?« Tintenfass
 klang verblüfft. »Die Dämmerung ist gekommen und ge-
gangen. Kann sie die Sonne nicht sehen? Sie benimmt sich,
als wäre sie immer noch Oberbefehlshaber.«
   »An ihrer Stelle würdet Ihr doch auch weiterhin Befehle
erteilen, wenn ihr wüsstet, dass Mondgesicht das Kom-
mando an sich reißen will«, sagte Mormont.
   »Da ist doch einer ist nicht besser als der andere«, hielt
Kasporio dagegen.
   »Wohl wahr«, meinte Tyrion, »aber Malazza hat hübschere
Titten.«
   »Die Böse Schwester könnte man mit Armbrüsten hal-
 ten«, sagte Tintenfass. »Mit Skorpionen. Und Mangonel-
len. Die bräuchte man dafür. Zur Verteidigung einer festen
­Stellung setzt man keine Reiter ein. Will uns das Mädchen

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ohne Pferde kämpfen lassen? Warum nimmt sie nicht die
Speere oder die Schleuderer?«
   Kem steckte den hellblonden Kopf zur Zelttür herein.
»Ich störe nur ungern, M’lords, aber es ist wieder ein Rei-
ter gekommen. Er sagt, er habe neue Befehle vom Oberbe-
fehlshaber.«
   Der Braune Ben blickte Tyrion an und zuckte mit den
Schultern. »Schickt ihn herein.«
   »Hier herein?«, fragte Kem verwirrt.
   »Hier bin ich schließlich«, erwiderte Pflum ohne im min-
desten gereizt zu wirken. »Woanders wird er mich wohl
schwerlich finden.«
   Kem ging hinaus. Als er zurückkehrte, hielt er einem
yunkischen Edelmann in einem Mantel aus gelber Seide
und passenden Pluderhosen die Zeltklappe auf. Das geölte
schwarze Haar des Mannes war schwer malträtiert, ver-
dreht und lackiert worden, bis es aussah, als würden ihm
hundert Rosen aus dem Kopf sprießen. Auf seinem Brust-
panzer war eine solch wundervoll lasterhafte Szene dar­
gestellt, dass Tyrion eine verwandte Seele ahnte.
   »Die Unbefleckten nähern sich der Tochter der Harpyie«,
verkündete der Bote. »Blutbart und zwei Legionen Ghiscari
stehen ihnen gegenüber. Während sie die Stellung halten,
werdet ihr hinter die Eunuchen vordringen und ihnen in
den Rücken fallen. Gewährt keine Gnade. Das ist der Befehl
des edlen und mächtigen Morghar zo Zherzyn, des Ober­
befehlshabers der Yunkai’i.«
   »Morghar?« Kasporio runzelte die Stirn. »Nein, heute hat
Gorzhak den Befehl.«
   »Gorzhak zo Eraz liegt tot am Boden, erschlagen von ver-
räterischen Pentoshi. Der Überläufer, der sich Flickenprinz

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nennt, wird mit einem grausamen Tod für diese Nieder-
tracht büßen, so schwört der edle Morghar.«
   Der Braune Ben kratzte sich den Bart. »Ach, die Verweh-
ten sind übergelaufen?«, fragte er mit mildem Interesse.
   Tyrion kicherte. »Und wir haben statt Mondgesicht nun
den Besoffenen Eroberer bekommen. Ein Wunder, dass er
lange genug aus seiner Flasche gekrabbelt ist, um einen
halbwegs vernünftigen Befehl zu erteilen.«
   Der Yunkische starrte den Zwerg an. »Hütet Eure Zunge,
Ihr widerlicher kleiner …« Er stockte. »Dieser ungehörige
Zwerg ist Eigentum des edlen Yezzan zo Qaggaz, geheiligt
sei sein Andenken.«
   »Ihr irrt. Er ist mein Waffenbruder. Ein freier Mann, ein
Zweitgeborener. Yezzans Sklaven tragen goldene Halsringe.«
Der Braune Ben hatte sein liebenswürdigstes Lächeln aufge-
setzt. »Goldene Halsringe mit kleinen Glöckchen. Hört Ihr
Glöckchen? Ich nicht.«
   »Halsringe kann man abnehmen. Ich fordere die sofortige
Übergabe des Zwergs, damit er seiner Bestrafung zugeführt
werden kann.«
   »Das klingt aber streng. Jorah, was denkt ihr darüber?«
   »Das hier.« Mormont hielt sein Langschwert in der Hand.
Als sich der Bote umdrehte, stach ihm Ser Jorah durch die
Kehle. Rot und nass trat die Schwertspitze aus dem Nacken
des Yunkischen hervor. Blutige Blasen rannen über Lip-
pen und Kinn des Boten. Der Mann machte zwei schwan-
kende Schritte, krachte auf den Cyvasse-Tisch und verstreute
die hölzernen Armeen auf dem Boden. Zuckend packte er
mit einer Hand die Klinge von Mormonts Schwert, wäh-
rend er sich mit der anderen schwach an den umgekippten
Tisch klammerte. Erst da schien er zu begreifen, dass er tot

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war. Mit dem Gesicht nach unten blieb er in einem Durch-
einander aus rotem Blut und schwarzen, öligen Rosen auf
dem Teppich liegen. Ser Jorah riss sein Schwert aus dem
Hals des Toten. Blut lief die Hohlkehlen entlang.
   Der weiße Cyvasse-Drache landete vor Tyrions Füßen. Er
hob ihn auf und wischte ihn mit dem Ärmel ab, doch in
den feinen Rillen der Schnitzarbeit hatte sich das Blut des
Yunkischen gesammelt, so dass das helle Holz aussah wie
mit Äderchen durchzogen. »Heil unserer geliebten Königin
Daenerys.« Ob sie nun lebt oder nicht. Er warf den blutigen
Drachen in die Luft, fing ihn auf und grinste.
   »Wir waren stets die Männer der Königin«, verkündete
der Braune Ben Pflum. »Es war nur eine List, uns wieder
den Yunkai’i anzuschließen.«
   »Und was für eine kluge List.« Tyrion verpasste dem To-
ten einen Tritt. »Diesen Brustpanzer hätte ich gern, voraus-
gesetzt er passt mir.«

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Leider ist weder für die Originalausgabe noch für die
  deutsche Ausgabe bekannt, wann Winds of Winter
 erscheinen wird. Aber George R. R. Martin ist nicht
    nur der Herausgeber, sondern auch einer der
              Autoren der Wild Cards.

     Martin G., Wild Cards. Spiel der Spiele 01
                Das Spiel der Spiele
            544 Seiten, Klappenbrosch.
              ISBN 978-3-7645-3127-0
      15,00 € [D] / 15,50 € [A] / 21,90 CHF*
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