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* Markus Fischer zur Krise der Biodiversität – 50 * Wie Migration die Emanzipation förderte – 47 * Die Zukunft der Blockchain – 44 UniPress* Nove m b e r 2 0 2 1 181 Tierversuche 25 Fragen 25 Antworten Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern
1 Was ist ein Tierversuch? Antwort: Seite 5 2 Braucht es heute noch Tierversuche? Antwort: Seite 33 3 Welche Tiere werden an der Uni Bern eingesetzt? Antwort: Seiten 8–11 Warum bringen Hundefans ihre Tiere für Versuche 4 an die Uni? Antwort: Seite 9 5 Wie läuft ein Tierversuch ab? Antwort: Seite 28 Wie verhindert man, dass ein Tier im 6 Versuch leidet? Antwort: Seite 28 Warum gilt der Berner Albrecht von Haller als Erfinder 7 des modernen Tierversuchs? Antwort: Seite 25 Wie viele Makaken mussten sterben, um 8 die Kinderlähmung auszurotten? Antwort: Seite 26 Wie wird entschieden, ob ein Versuch durchgeführt 9 werden darf? Antwort: Seiten 12, 40 Was unternimmt die Uni, um Tierleid zu 10 minimieren? Antwort: Seiten 12, 40 11 Was ist heute mit Alternativmethoden möglich? Antwort: Seite 12 12 Dürfen wir Tiere essen? Antwort: Seiten 38, 39 UniPress 181/2021 3
13 Sind Tierversuche ethisch vertretbar? Antwort: Seiten 38, 39 14 Wie ähnlich sind sich Menschen und Mäuse? Antwort: Seite 8 15 Warum sind Katzen zahm? Antwort: Seite 11 Wozu dienen Versuche mit neotropischen 16 Pfeilgiftfröschen? Antwort: Seite 11 17 Wie funktioniert eine Lunge auf Mikrochip? Antwort: Seite 21 Warum sollten mehr Versuche an Weibchen 18 stattfinden? Antwort: Seite 21 19 Was macht die Tierschutzbeauftragte der Uni? Antwort: Seite 40 Was denkt eine junge Tierpflegerin über 20 Tierversuche? Antwort: Seite 41 21 Was nützen Tierversuche einem MS-Patienten? Antwort: Seite 37 22 Wie streng ist das Schweizer Tierschutzgesetz? Antwort: Seiten 27, 33, 39 23 Was hat die Kritik an Tierleid bisher bewirkt? Antwort: Seite 12 24 Gäbe es die heutige Medizin ohne Tierversuche? Antwort: Seite 25 Was passiert, wenn die Initiative für ein Tier- und 25 Menschenversuchsverbot angenommen wird? Antwort: Seite 17 4 UniPress 181/2021
3R-Prinzip Tierethik Glossar Ethisches Prinzip, das den Teilgebiet der Bioethik, das Einsatz von Methoden in der moralische Fragen unter- biomedizinischen Forschung sucht, die sich aus dem umfasst, die Tierversuche menschlichen Umgang mit ersetzen (Replace), die Anzahl Tieren ergeben. Sie unter- der Versuchstiere (Reduce) sucht, ob der Mensch das oder die Belastung für Recht hat, Tiere für Versuche Versuchstiere (Refine) redu- oder seine Ernährung zu zieren. halten und zu töten, und inwiefern Tiere aus morali- Alternativmethoden scher Sicht über Rechte Tierversuchsfreie Ersatzme- verfügen. thoden wie der Einsatz von Zellkulturen. Im weiteren Tiergerechtheit Sinn auch weniger belastende Haltungsbedingungen, die Alternativen zu → Tierver Tiere vor Schmerzen, Leiden suchen, also → Verbesserungs- und Schäden schützen, methoden im Sinne des natürliche Verhaltensweisen TIERVERSUCHE – 25 FRAGEN, → 3R-Prinzips. ermöglichen und ihr Wohl- 25 ANTWORTEN befinden sichern. Animal Welfare Officer (AWO) Tierschutzgesetz Tierschutzbeauftragte/r resp. Schweizer Gesetz von 2005 Wenn Tiere leiden, leiden wir mit. Das ist wohl auch für Sie, Tierschutzexperte/in, der/die mit dem Zweck, die Würde auf die Einhaltung der und das Wohlergehen des liebe Leserinnen und Leser, fast schon eine Binsenwahrheit, Vorschriften, Bedingungen Tieres zu schützen. haben wir doch alle in unserem Leben enge Beziehungen und Auflagen im Interesse zu Tieren aufgebaut. Als Jugendliche hielten meine des Tierschutzes achtet. Tierversuch Freunde und ich zeitweise Mäuse und Ratten. Die Ratten Jede Handlung mit einem durften auch mal versteckt im viel zu weiten Pullover in die Belastung lebenden Tier, die dem Schule mitkommen. Dass diese Tiere zu Versuchszwecken Laut →Tierschutzgesetz wenn Wissensgewinn dient. Diese eingesetzt werden, lässt mich auch heute noch alles andere einem Tier «Schmerzen, allgemeine Definition im als kalt. Auch wenn die Schweiz seit 2005 eines der Leiden oder Schäden zuge- → Tierschutzgesetz schliesst fügt werden» oder wenn es Haltungsversuche zur strengsten Tierschutzgesetze der Welt besitzt und die «in Angst versetzt oder Verbesserung des Tierwohls Würde des Tiers im Gesetz festgeschrieben ist, stellen sich erniedrigt» wird. bei Nutztieren (z. B. Hühner) mir immer noch viele Fragen, wie und warum Tierversuche genauso mit ein wie die durchgeführt werden. Ich weiss zwar: Für Kosmetik dürfen Betäubung Erforschung von Wildtieren keine Tierversuche mehr durchgeführt werden, denn sie (Narkose, Anästhesie) (z. B. Kohlmeisen). müssen auf das unerlässliche Mass beschränkt werden und Schlafähnlicher Zustand, der der Nutzen, den die Gesellschaft aus Tierversuchen zieht, durch betäubende Mittel Tierversuchskommission bewirkt wird, um das Bewusst- Kantonale Behörde, die muss die Belastung des Tiers während des Versuchs recht- sein und die Schmerzempfin- eine Empfehlung abgibt zu fertigen. Aber was bedeutet das konkret für die Tiere und dung auszuschalten. Gesuchen für Tierversuche. für die Forschung? Könnten ganz ohne Tierversuche noch neue Methoden entwickelt werden, um kranke Menschen Güterabwägung Verbesserungsmethoden zu behandeln? Der erwartete Erkenntnisge- (Refine) winn eines → Tierversuchs Methoden im Sinne des Der Schwerpunkt dieses Hefts ist deshalb für alle, die eben- wird der → Belastung der → 3R-Prinzips, die potenzielle Tiere gegenübergestellt, um Schmerzen, Leiden und falls Fragen haben zu Tierversuchen. Forscherinnen und zu entscheiden, ob ein Ängste der Tiere lindern oder Forscher, die Tierversuche durchführen, haben sich den Tierversuch durchgeführt auf ein Minimum reduzieren Fragen gestellt. Ein Ethiker, eine Tierrechtsexpertin und ein werden darf. und das Wohl der Tiere Medizinhistoriker ordnen ein. Die Leiterin der Abteilung verbessern. Tierschutz und eine Tierpflegerin berichten von ihrer Schmerzmittel (Analgetika) Arbeit. Wir stellen unsere Fragen dem Rektor und dem Medikamente, die akute Veterinäramt Vizerektor Forschung, die sich seit Jahren intensiv mit dem oder chronische Schmerzen Kantonales Amt, das über Thema beschäftigen. Wir waren selber bei einem Tierver- behandeln. Tierversuchsanträge entscheidet. such dabei und waren beeindruckt, mit wie viel Sorgfalt Schweregrad und hoch spezialisiertem Fachwissen Tierleid verhindert Mass der Belastung der Tierwürde wird. Bei unseren Recherchen haben wir die Erfahrung Tiere bei einem Versuch, von Eigenwert des Tieres. Wird gemacht, dass es für viele Beteiligte eine Erleichterung ist, 0 (keine Belastung) bis 3 laut → Tierschutzgesetz endlich offen über dieses viel zu lange tabuisierte Thema (schwere Belastung). missachtet, wenn eine → zu sprechen. Wir werden auch nicht mehr damit aufhören: Belastung des Tieres nicht Auf der neuen Website tierversuche.unibe.ch finden Sie durch überwiegende Interessen gerechtfertigt laufend aktualisierte Informationen der Universität Bern werden kann (→ Güterab zum Thema. wägung). Timm Eugster UniPress 181/2021 5
24. August 2021 – 5. März 2023 Eine Ausstellung von focus Terra Sie malen den Regenbogen in den Himmel, lassen unser Lieblingslied erklingen und wärmen uns an kalten Tagen: Wellen! Sie sind überall und ein grund- legender Bestandteil unseres Lebens. Welche Eigen- schaften haben Wellen und wie nutzen wir diese in unserem Alltag – natürlich und technologisch? Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt der Wellen – in Natur, Alltag, Kunst und Forschung. Weitere Informationen: www.focusterra.ethz.ch/wellen Werbung IHRE KRYPTOS SOFORT BEREIT Traden Sie mehr als 20 verschiedene Kryptos ganz einfach mit Swissquote. swissquote.com/crypto
Für UniPress im Gespräch mit Rektor Christian Leumann (rechts) und Vizerektor Daniel Candinas (sitzend): Christian Degen und Isabelle Aeschlimann. TIERVERSUCHE 5 Glossar FORSCHUNG UND RUBRIKEN 8 Tiere bringen die Forschung voran Von Timm Eugster 13 «Wir haben auch einen ethischen Auftrag» Forschung Interview: Christian Degen und Isabelle Aeschlimann 42 «Eintopf, pfui» – Samuel Beckett in Nazi-Deutschland Berner Forschung Von Oliver Lubrich 18 Zeitgemässe Mäusezucht 44 Architekt der Krypto-Demokratie 20 Die Vielfalt der Versuche Von Isabelle Aeschlimann 22 Forschen für den idealen Hühnerstall 47 Migration führte zu Emanzipation Von Franziska Rogger 25 Grundpfeiler der westlichen Medizin Von Hubert Steinke Rubriken 28 «Sie alle verdienen einen Namen» Von Nathalie Matter 5 Editorial 33 Unverzichtbar für neue Therapien 50 Gespräch Von Ori Schipper Markus Fischer – «Für die biologische Vielfalt ist es fünf vor zwölf» 35 «Das kann ich mit meinem Gewissen vereinbaren» Interview: Martin Zimmermann Die Sicht eines MS-Betroffenen 54 Begegnung 38 Welche Rechte haben Tiere? Charlotte Laufkötter – Das grosse Ganze der Interviews: Timm Eugster Weltmeere im Blick Von Kaspar Meuli 40 Tierschutzbeauftragte Isabelle Desbaillets: «Tierwohl verbessern» 56 Meinung Aufgezeichnet von Chantal Britt Nachhaltigkeit muss auch im Weltraum gelten Von Thomas Schildknecht 41 Tierpflegerin Maria Erhardt: «Am liebsten arbeite ich mit Ratten» 57 Bücher Aufgezeichnet von Chantal Britt 58 Impressum UniPress 181/2021 7
Tiere bringen die Forschung voran Alle hier vorgestellten Tiere kommen an der Universität Bern als Versuchstiere zum Einsatz. Dies für die Gesundheit und das Wohlergehen von Menschen und Tieren. Von Timm Eugster etwa in der For- schung gegen Krebs, A neurodegenerative Am häufigsten eingesetzte Tiere 2020 Erkrankungen, Herz- Maus Kreislauf-Erkrankun- gen und Infektions- Mäuse 55 % Menschen und krankheiten. Mäuse verbindet eine Fische 15,5 % lange Geschichte: Ursprünglich vom indischen Subkonti- B Geflügel 12,8 % nent stammend, hat sich die Hausmaus Fisch Hunde 7,3 % mit den Landwirt- schaft treibenden Fische sind an der Ratten 3,7 % Menschen über den Universität Bern das ganzen Globus aus- zweithäufigste Ver- Andere 5,7 % gebreitet. Im 18. Jahr- suchstier (2020: hundert begann die 16 %) und werden Zähmung und die sehr unterschiedlich Zucht verschiedener eingesetzt. So sind Farbvarianten als die auch in Aquarien mischen Grundlagen- Hobby im Kaiserreich sehr beliebten tro- forschung zur Genex- China. pischen Zebrafische pression eingesetzt. wichtig in der bio- Genetisch sind sich medizinischen Grund- Andere Versuche be- Menschen und Mäu- lagenforschung: Sie schäftigen sich mit se mit einer Überein- sind klein, vermehren der Gesundheit was- ten. Das langfristige Lebens besser zu stimmung von über sich rasch und sind serlebender Tiere. Sie Ziel ist, die Gesund- verstehen und diese 90 Prozent sehr ähn- optisch transparent, untersuchen den Ein- heit von frei leben- zu schützen. lich. Viele Erkrankun- sodass Forschende fluss von Zucht- und den Populationen zu gen von Mäusen und die Entwicklung der Herkunftsbedingun- überwachen, ohne Menschen haben die- Zellen und Organe gen auf die Krank- Tiere für Diagnostik selbe genetische Ur- heitsanfälligkeit von fangen oder töten zu C gut beobachten kön- sache. Zudem können nen. Und sie besitzen Bachforellen, doku- müssen. Mäuse in der Zucht Selbstheilungskräfte: mentieren genera- Geflügel genetisch modifiziert Bei Zebrafischen tionenübergreifende Mit Fischen – vom werden, so dass sie wachsen etwa abge- Effekte von Stress bei Cichlidenfisch über Legehennen begin- heute das am häu- trennte Flossen nach, Zebrafischen oder den Buntbarsch bis nen im Alter von et- figsten eingesetzte aber auch ein beschä- testen gesundheits- zum Dreistachligen wa fünf Monaten, Tiermodell sind, um digtes Herz vermag fördernde Fütte- Stichling – wird auch Eier zu legen. Die menschliche Krank- sich selbst zu reparie- rungsmethoden für Verhaltensforschung Mehrheit der Hennen heiten besser zu ver- ren (siehe Seite 20). Zucht-Egli. Ein beson- betrieben und es legt ein knappes Jahr stehen und Therapien An der Universität derer Fokus liegt auf werden genetische lang Eier, insgesamt zu entwickeln. 55 Bern werden Zebra- den 3R mit der Ent- und ökologische durchschnittlich 320 Prozent der an der fische vor allem in der wicklung von alter- Fragestellungen Stück. Konventionelle Universität Bern ein- Anatomie, Pharmako- nativen Diagnostik- untersucht, um die Mastpoulets werden gesetzten Tiere wa- logie, Infektiologie methoden für Fisch- Evolution der heu- innert 36 Tagen vom ren 2020 Mäuse, und in der bioche- und Krebskrankhei- tigen Vielfalt des Eintagesküken auf 8 UniPress 181/2021 Schwerpunkt
etwas mehr als zwei Nest Legehennen zur werden Hunde für Beispiel um die Frage E Kilogramm Lebend- Eiablage bevorzugen spezifische Zwecke zu beantworten, was gewicht gemästet. oder wie Sitzstangen gezüchtet und erzo- man tun kann, damit Ratte 10,7 Kilo Geflügel- angeordnet werden gen, z. B. als Jagd- Hunde beim Silvester- fleisch – das ent- müssen, damit sich hund, Wachhund, feuerwerk weniger Ratten waren die spricht 90 Poulet- die Hennen unfallfrei Spürhund oder Be- leiden. Diese Studien erste Säugetierspe- schnitzeln – und fortbewegen können gleithund. An der werden mit Hunden zies, die extra für 200 Eier assen die (siehe Seite 22). Universität Bern wer- von privaten Besitze- Laborzwecke do- Einwohnerinnen den Erbkrankheiten rinnen und Besitzern mestiziert wurde. und Einwohner der von Hunden erforscht durchgeführt. 2020 Forschende verwen- Schweiz 2019, Ten- und klinische Studien waren an der Univer- den manchmal auch denz steigend. Der D durchgeführt, damit sität Bern 99,6 Pro- Ratten anstelle von Tierbestand erreichte künftig weniger kran- zent der Hunde im Mäusen, weil sie 2019 mit 11,8 Millio- Hund ke Tiere geboren wer- Versuch keiner Belas- grösser sind, was die nen Hühnern einen den und um neue Er- tung ausgesetzt Verfahren und in eini- Rekord. Berner For- Der Haushund kenntnisse zu Dia- (Schweregrad 0), gen Fällen die Probe- schende führen Tier- stammt vom Wolf gnostik und Behand- 0,4 Prozent einer entnahme erleichtert. versuche mit Geflügel ab und wurde von lung in der Veterinär- leichten Belastung Ratten können trai- durch, um das Tier- Menschen als erstes und Humanmedizin (Schweregrad 1, z. B. niert werden, sodass wohl zu verbessern. Tier vor etwa 50 000 zu gewinnen. Zudem Injektion durch eine eine Blutentnahme Sie untersuchen et- bis 30 000 Jahren do- findet Verhaltensfor- Spritze). weniger Stress ver- wa, welche Art von mestiziert. Seither schung statt, zum ursacht, und sie sind Schwerpunkt UniPress 181/2021 9
allgemein sehr ge- es zu essen, zu mel- sollen die Tiergesund- gegen Allergien und lehrig, weshalb sie oft ken und als Zugtier G heit und das Wohler- chronische Schmerzen in der Verhaltensfor- einzusetzen. Die Se- gehen verbessern entwickelt werden. schung zum Einsatz lektion der jeweils Pferd sowie neue Thera- kommen. 2020 waren umgänglichsten und pien ermöglichen, 3,7 Prozent aller an ertragreichsten Tiere Vor rund 5000 Jahren etwa in den Berei- der Universität Bern führte dazu, dass der wurde das Wildpferd chen Lungenkrank- H genutzten Tiere Rat- Rumpf der Rinder in Zentralasien zum heiten (Pferdeasthma ten. Sie werden etwa länger und massiger Hauspferd domesti- wegen Stallhaltung), Kaninchen in der Chirurgie und wurde, die Beine ziert. Dank dem Pferd allergische Reak- der Covid-19-For- kürzer und das Euter waren weite Strecken tionen wie Sommer- Hauskaninchen wer- schung eingesetzt. grösser und oft haar- viel schneller über- ekzem, Stoffwechsel- den zur Fleisch- und los. Tierversuche mit windbar, was das krankheiten, Haut- Pelzproduktion und Rindern an der Uni- Aufrechterhalten tumore, computer- als Haustier gehalten. versität Bern zielen grosser Reiche ver- assistierte chirurgi- Kaninchen waren F darauf ab, die Tier- einfachte und neue sche Eingriffe, Sport- aber auch wichtig bei gesundheit und Angriffs- und Kriegs- medizin und Repro- der Erforschung von Rind das Tierwohl in der techniken ermöglich- duktion. Ausserdem Herz-Kreislauf-Erkran- Fleisch- und Milchpro- te. Heute werden die konnte in nationalen kungen, Bluthoch- Vor rund 10 000 Jah- duktion zu fördern, meisten Pferde als und internationalen druck und Arterien- ren hat der Mensch den Antibiotikaein- Sport- und Freizeit- Kooperationen das verkalkung und wa- den eurasischen Au- satz einzudämmen tiere gehalten. Ver- Erbgut des Pferdes ren die ersten Tiere, erochsen zum Haus- und die Umweltbelas- suche mit Pferden an entschlüsselt und ein die durch Tumorzellen rind domestiziert, um tung zu reduzieren. der Universität Bern verbesserter Impfstoff mit Krebs infiziert 10 UniPress 181/2021 Schwerpunkt
wurden, um die fen an der Universi- Forschungsthemen gung. Ein grosser Teil Krankheit zu erfor- tät Bern unterstützt an der Universität der gewonnenen schen und Therapien etwa die Bestrebun- Bern sind etwa Vor- Proben wird zum Schweregrad der Versuche 2020 zu entwickeln. 2020 gen zur Bekämpfung und Nachteile unter- Aufbau einer Bio- wurden an der Uni- der weitverbreiteten schiedlicher Brut- bank verwendet. Die Schweregrad 0 = keine Belastung 46 % versität Bern 33 Ka- Moderhinke, einer pflege- und Fortpflan- Proben können für ninchen in Versuchen bakteriellen Klauen- zungsstrategien, die mehrere Forschungs- eingesetzt, 27 wur- krankheit, die zu damit verbundenen projekte verwendet Schweregrad 1 = leichte Belastung 30 % den dabei nicht einer schmerzhaften kognitiven Fähigkei- werden. Damit oder leicht belastet, eitrigen Entzündung ten, Netzwerke in der sollten künftig we- Schweregrad 2 = mittlere Belastung 20 % 6 einer mittleren Be- führt. Dazu wurde Kommunikation und niger Probenentnah- lastung ausgesetzt. auch eine App für die inwieweit individuelle men nötig sein. Schweregrad 3 = schwere Belastung 3 % Dies in den Bereichen Praxis entwickelt. Unterschiede im Kardiologie, Neurolo- Verhalten das Über- gie (Hirnschlag) und leben und den Fort- Zahnmedizin. pflanzungserfolg K eines Tieres beein- flussen. Daraus lassen Ziege sich auch generelle I Schlüsse ziehen, Beispiele und weitere Infos: Vor mindestens welche Strategien www.tierversuche.unibe.ch Schwein 13 000 Jahren wurde Organismen in der die Bezoarziege im Konkurrenz um Das Hausschwein Vorderen Orient do- Ressourcen erfolg- wurde in der Jung- mestiziert. Die Haus- reich machen. steinzeit vor rund ziege ist damit wie 9000 Jahren in ver- das Schaf vermutlich schiedenen Weltre- eines der ersten wirt- gionen unabhängig schaftlich genutzten M voneinander dome- Haustiere. stiziert, um Fleisch Katze zu produzieren. Ihr An der Universität Suhlen in feuchtem Bern wird etwa zur Als die Menschen Schlamm ist eine an- Coxiellose geforscht, sesshaft wurden, geborene Verhaltens- einer zoonotischen, schlossen sich die weise, die der Reini- bakteriellen und Katzen ihnen an und gung dient, bei ho- meldepflichtigen frassen Mäuse und hen Temperaturen Krankheit, die sich Speisereste. Das nütz- ihre Körpertempera- bei Ziegen und Scha- te beiden – vermut- tur senkt und sie vor fen in Aborten und lich kam es deshalb Sonnenbrand schützt. Totgeburten äussert. allmählich zur Selbst- Schweine sind intelli- Das Bakterium kann domestikation der gent. Sie können auch auf den Men- Tiere. Die Zucht von beispielsweise ler- schen übertragen Rassekatzen hinge- nen, Videospiele mit werden, wo es gen ist ein junges Joysticks zu spielen. Q-Fieber verursacht, Phänomen. An der Chirurgische Metho- eine Krankheit mit Universität Bern wer- den werden oft am potenziell schwerem den die genetischen Schwein getestet Verlauf, die bei Ursachen von Erb- und entwickelt, weil Schwangeren das krankheiten erforscht Organe von Schwei- ungeborene Kind und klinische Studien nen und Menschen schädigen kann. mit Katzen durchge- fast die gleiche Grös- führt, um die Dia- se haben (siehe gnostik und Behand- Seite 28). lung von Katzen- L krankheiten zu ver- bessern. Amphibien und J Reptilien 2020 waren an der Universität Bern Schaf Neotropische Pfeil- über 96 Prozent der giftfrösche und Glas- Katzen im Versuch Vor rund 10 000 Jah- frösche, aber auch keiner Belastung ren domestizierte der Tokay-Geckos: Wer ausgesetzt, knapp Mensch das arme- das enorme Reper- 4 Prozent einer leich- nische Mufflon zum toire an Verhaltens- ten Belastung (z. B. Hausschaf, um Milch, weisen im Tierreich Injektion). Alle diese Wolle und Fleisch zu erforschen will, das Tierversuche wurden gewinnen. Schafe die Evolution in mit privat gehaltenen können sich über 50 unterschiedlichen Katzen durchgeführt. Gesichter von Artge- Lebensräumen ge- Dies nach genauer nossen über zwei formt hat, darf nicht Aufklärung der Be- Jahre lang merken. bei Fuchs und Kohl- sitzer und mit deren Forschung mit Scha- meise aufhören. schriftlicher Einwilli- Schwerpunkt UniPress 181/2021 11
«Wir haben auch einen ethischen Auftrag» Die Universität Bern will dazu beitragen, Kranken die bestmög- liche Art von Unterstützung zu bieten, sagen Rektor Christian Leumann und Vizerektor Forschung Daniel Candinas im Gespräch. Dort, wo keine anderen Methoden zum Ziel führen, seien deshalb auch Tierversuche ethisch verantwortbar. 12 UniPress 181/2021 Schwerpunkt
Interview: Christian Degen und Isabelle Aeschlimann Herr Leumann, Herr Candinas, was sagen miker hatte ich zuvor noch nie mit Tieren Sie den Menschen, die Tierversuchen gearbeitet und auch kein Training vor Ort kritisch gegenüberstehen? erhalten. Für mich war das eine grosse Be- Daniel Candinas: Es ist sogar wichtig, lastung. Heute ist diese Art von Tierversu- dass die Gesellschaft periodisch alle system- chen nicht mehr erlaubt, und zum Glück ist relevanten Grundlagen kritisch hinterfragt. es auch nicht mehr möglich, dass junge In diesem Zusammenhang sei darauf hin- Forschende ohne Ausbildung Tierversuche gewiesen, dass sich die Möglichkeiten der durchführen. Das zeigt mir auch, wie viele Medizin in den letzten Jahrzehnten stark Fortschritte wir gemacht haben. erweitert haben. Davon profitieren Indivi- Daniel Candinas: In meinem Fachge- duen, Familien und die gesamte Gesell- biet, der Tumorchirurgie und der Transplan- schaft. Die meisten Errungenschaften der tationschirurgie, konnten dank Tierversu- heutigen Medizin sind aber nur unter chen wichtige Meilensteine erreicht werden Einbezug von Tierversuchen ermöglicht und es versteht sich, dass ich daran beteiligt worden. bin und war. Dabei geht es zum Beispiel um Man kann also die Haltung annehmen, die Abstossungsmechanismen bei Trans- dass wir mittlerweile genug wissen und plantationen, die man im komplexen Sys- hier bewusst einen Punkt machen wollen. tem eines lebenden Organismus untersu- Aber wir haben nach wie vor schwere chen muss. Ein anderes Thema ist die Rege- Erkrankungen wie beispielsweise Krebs, neration der Leber – faszinierenderweise Kreislauferkrankungen, Infektionen, das einzige Organ, das nachwachsen kann, Demenz oder Diabetes, die immer noch wenn Gewebe fehlt. Da gibt es noch ganz viel Leid verursachen – will man sich hier viele offene Fragen und Potenzial für einfach mit dem Status quo zufrieden- Verbesserung und Entwicklung von scho- geben? Oder wollen wir als Gesellschaft nenderen Verfahren. Im Gegensatz zu einen Beitrag leisten zur Entwicklung von Christian Leumann wurde ich sehr fach- effizienteren, schonenderen und günsti- gerecht vorbereitet. Ich war in den frühen geren Therapien mit weniger Nebenwir- 1990er-Jahren in England, wo im Vergleich kungen? Das ist eine Grundsatzfrage, die zu den USA schon damals ein behutsamer sich die Gesellschaft stellen muss. Umgang mit Tierschutzthemen bestand. Christian Leumann: Als Universität Ich wurde sehr gut eingeführt und musste haben wir auch einen ethischen Auftrag. In erst verschiedene Kurse absolvieren und der Medizin ist das derjenige, den Kranken Prüfungen bestehen, um mehr über die die bestmögliche Art von Unterstützung zu Hintergründe und die Haltung der Tiere zu bieten, sei es in Form von neuen Medika- lernen. menten, neuen Verfahren oder Operations- techniken oder anderen Therapieformen. Also wie heute in der Schweiz. Ganz konkret heisst das: Dort, wo unersetz- Daniel Candinas: Ja, ich bin der bar durch andere Methoden, sind Tierver- Meinung, dass die nötigen Tierversuche suche auch ethisch verantwortbar. Man heute in einem gut kontrollierten Umfeld macht sie ja nicht aus Eigeninteresse, son- geschehen sollen, wie wir es hier in der dern mit dem Ziel, die Gesundheitssituation Schweiz haben. Anderswo gibt es diesbe- der Gesamtbevölkerung zu verbessern. züglich weniger Sensibilität, das habe ich im Austausch mit Forschenden aus anderen Haben Sie denn selbst schon Kulturen mehrfach erlebt. Es gibt auf der Tierversuche gemacht? Welt immer noch grosse Unterschiede im Christian Leumann: Während meines Umgang mit Tieren, wie auch die Men- Postdocs in den USA musste ich einmal zur schenrechte nicht überall zuoberst auf der Gewinnung von monoklonalen Antikörpern Prioritätenliste stehen. Für die Schweiz als Versuche an Mäusen durchführen. Als Che- Wissensnation ist es meines Erachtens Schwerpunkt UniPress 181/2021 13
«Einzelne Gebiete können sicher zunehmend mit alternativen Methoden abgedeckt werden», sagt Daniel Candinas, «was aber nicht heisst, dass wir komplett auf Tier versuche verzichten können.» wichtig, dass wir das Feld nicht einfach schon schwierige Schicksale von Patien- räumen und jenen überlassen, die weniger tinnen und Patienten erlebt hatte, war hohe Qualitätsansprüche haben. meine Motivation klar und ging über die Perspektive des einzelnen konkreten Was empfanden Sie denn, als Sie diese Projektes hinaus. Versuche durchgeführt haben? Christian Leumann: Für mich war das Eine professionelle Einführung in das etwa so, als wäre ich als Chemiker plötzlich Gebiet ist also ein wichtiges Element. in einen Operationssaal gestellt worden Daniel Candinas: Es gibt in meinem mit dem Auftrag, einer Person den Blind- Beruf viele Dinge, die emotional sehr darm zu entfernen. Ich bin mit enormer stressig sind. Man muss immer wieder Vorsicht und Zurückhaltung an die Tier- einsehen, dass unsere Möglichkeiten trotz versuche herangegangen. Ich wusste nicht laufender Fortschritte beschränkt sind, einmal, wie ich eine Maus vernünftig in und mit einer gewissen Demut Grenzen die Hand nehmen sollte. Damals war das annehmen, ohne fatalistisch oder zynisch gesetzlich nicht verboten, aber im Grunde zu werden. Darauf muss man professionell genommen ethisch nicht vertretbar. hingeführt werden und lernen, offen zu Daniel Candinas: Als ich zum ersten Mal bleiben. Das ist auch bei den Tierversuchen Tierversuche gemacht habe, war ich bereits so. Klar lässt es kein schönes Gefühl zurück. Facharzt für Chirurgie und wurde auch sehr Aber viele Tätigkeiten sind nicht zur eige- gut eingeführt. Ich kannte die Zusammen- nen Erfüllung da, sondern sind in einen hänge, dadurch konnte ich meine Emo- grösseren Kontext eingebettet. Dann ist es tionen von Beginn an in einen professio- eben eine verantwortungsvolle Aufgabe, nellen Kontext einordnen. Weil ich damals der man sich stellen muss. 14 UniPress 181/2021 Schwerpunkt
An welchen Tieren wird denn an der beit im Operationssaal fällt zum Beispiel viel Universität Bern überhaupt geforscht? Gewebe an, das wir – natürlich reguliert Christian Leumann: Wir führen Tier- und mit Einverständnis der Patientinnen versuche für die Grundlagenforschung und Patienten – im Labor verwenden respektive für die biomedizinische For- können. Aus dem Gewebe gewonnene schung durch. Die eher belastenden Ver- Zellen kann man beispielsweise in organ- suche finden grösstenteils mit Mäusen oder artigen Strukturen, sogenannten Organo- Ratten und zu einem kleinen Teil auch mit iden, weiter züchten und so biologische Kaninchen statt. Im Zusammenhang mit Mechanismen erforschen oder Medika- der Forschung an neuen medizinischen mente testen. Sobald man aber ein kom- Implantaten oder veterinärmedizinischer plexes biologisches System untersuchen Forschung gibt es aber auch Versuche an will, in dem es um Interaktionen und Steue- Nutztieren. Was eher wenig bekannt ist, rungsmechanismen geht, muss man dies in ist, dass nicht oder sehr wenig belastende einem intakten Organismus tun. Versuche auch Tierversuche sind. Solche Natürlich gibt es auch dort Entwick- führen wir zum Beispiel an Hühnern durch lungen, zum Beispiel dank künstlicher Intel- im Zusammenhang mit der Verbesserung ligenz und mathematischen Modellen, die ihrer Haltungsbedingungen oder mit man für gewisse Simulationen einsetzen Fischen, um ihr soziales Verhalten zu kann. Man beobachtet, dass in vielen Ge- erforschen. bieten alternative Methoden entwickelt und genutzt werden, was aber nicht heisst, Wer entscheidet denn, ob ein Tierversuch dass wir komplett auf Tierversuche ver- durchgeführt werden darf, und nach zichten können. Ich würde es beispielsweise welchen Kriterien geschieht das? problematisch finden, wenn eine Herz- Daniel Candinas: Es gibt ein sehr klappe direkt im Menschen getestet wird, strenges und aufwendiges Bewilligungs- bevor nicht entsprechende Daten aus Tier- verfahren: Die Forschenden formulieren versuchen vorliegen. zuerst eine Fragestellung und reichen diese in einem Gesuch an das Animal Welfare Also sind gerade «stark belastende» Office (AWO; Abteilung Tierschutz) ein. Tierversuche schwierig zu ersetzen? Dort werden Kernelemente des geplanten Daniel Candinas: Bei einem gewissen Versuchs wie zum Beispiel die Anästhesie- Prozentsatz ist es selbstverständlich schwie- prozeduren oder die Euthanasie genau rig, darauf zu verzichten. Aber der Aus- geprüft, das heisst, es wird kontrolliert, ob druck «stark belastend» suggeriert Dinge die Versuchsanlage den Schmerz und das aus dem Gruselkabinett, die überhaupt Leiden eines Tiers so gering wie möglich nicht darunter zu verstehen sind. Was bei- hält. Weiter muss belegt werden, wie viele spielsweise darunter laufen würde, wäre Tiere effektiv notwendig sind, um eine die Implantation eines künstlichen Knie- wissenschaftlich fundierte Aussage zu gelenks in ein Schaf. Es lohnt sich meines erzielen. Wenn die Gesuche fachlich auf Erachtens, die Einteilung der Schweregrade einem hohen Standard sind, werden sie genau zu studieren, damit man sich vom AWO an die kantonale Ethikkommis- darunter etwas vorstellen und das differen- sion weitergegeben. ziert betrachten kann (siehe Seite 11). Christian Leumann: Diese prüft jedes Christian Leumann: Nehmen wir das Projekt, das einen Tierversuch beinhaltet, Beispiel der Medikamentenentwicklung. und führt eine Güterabwägung durch: Im Wie ein Therapeutikum überhaupt an den Wesentlichen betrifft dies die Frage, ob der richtigen Wirkungsort im Körper gelangt, Nutzen des Versuchs das Leid, das dem Tier wie viele andere Organe wie stark be- zugefügt wird, rechtfertigt. Erst wenn diese troffen sind und welche potenzielle Neben- Kommission zur Überzeugung kommt, dass wirkungen ein Medikament hat – das alles das der Fall ist, kann der Tierversuch ins können wir heute noch nicht modellieren. Projekt integriert werden. Wer Tierversuche In diesem Bereich wird es auch weiterhin durchführen will, kann das in der Schweiz Tierversuche brauchen. zudem nur tun, wenn es keine tierversuchs- freie Alternative gibt und die Personen, die Wenn diese nicht ersetzbaren Tierver die Versuche durchführen, eine entspre- suche durchgeführt werden: Was gibt es «Man macht Tier- chende Ausbildung vorweisen können. dort bereits für Verbesserungen, die der Forschung nicht in die Quere kommen? versuche ja nicht aus Die Uni Bern engagiert sich ja auch stark Christian Leumann: Der Hauptfokus für Alternativmethoden. Was ist denn liegt natürlich darauf, so viel Tierversuche Eigeninteresse.» heute alles an Alternativen möglich? wie möglich zu ersetzen. Ein zweites Thema Daniel Candinas: Ich arbeite selbst oft ist, die Tierhaltungsmethoden zu verbes- Christian Leumann mit alternativen Methoden. In unserer Ar- sern, damit die durchgeführten Versuche Schwerpunkt UniPress 181/2021 15
aussagekräftiger sind und keine Resultate Forschung selbst. Am 3R-Zentrum werden verfälscht werden. Ein dritter Punkt sind unter anderem auch Projekte unterstützt, neue Technologien, wie beispielsweise das die häufig nicht im Zentrum der wissen- Einfrieren von Embryonen und deren schaftlichen Fragestellungen stehen und Ausbrüten bei Bedarf. Damit müssen deut- deshalb auch oft finanziell zu wenig unter- lich weniger Tiere in der Zucht gehalten stützt werden. Dazu gehören beispiels- werden, und man kann sich auf diejenigen weise Forschungsprojekte, die der Verbes- konzentrieren, die später auch wirklich für serung der Haltung von Versuchstieren Versuche gebraucht werden. dienen. Daniel Candinas: Wie in jedem Prozess kann man die Qualität laufend optimieren. Kritische Stimmen sagen, es fliesse zu Hier gibt es auch die Möglichkeit, aus den wenig Geld in diese Forschung. Tierversuchen dank neuen Technologien Christian Leumann: Das 3R-Zentrum noch mehr Informationen rauszuholen. hier in Bern ist ja nicht die einzige Diese Datenmengen muss man dann natür- Institution in der Schweiz, die Forschung lich auch verwerten können. Langfristig zu diesen 3R-Prinzipien unterstützt. wird man so aber sicher mit weniger Tier- Der Schweizerische Nationalfonds versuchen auskommen. beispielsweise fördert mit der normalen Projektförderung, aber auch mit speziellen Sie sprechen die 3R-Prinzipien (Replace, Gefässen wie etwa dem nationalen Reduce, Refine) an: Tierversuche zu Forschungsprogramm «Advancing 3R» sehr ersetzen, zu verringern und zu ver- viel Forschung in diesem Bereich. bessern. Herr Leumann, Sie sind Vize- Daniel Candinas: Genau, letztlich muss präsident des 3R-Kompetenzzentrums man auch dort gewissen qualitativen (3RCC), das an der Universität Bern Anforderungen genügen. Es ist wichtig, angesiedelt ist. Was verfolgt man mit dass man eine gut reflektierte und solide diesem Zentrum ganz konkret? Projektkultur fördert. Häufig kommt ja aus Christian Leumann: Im 3RCC sitzen alle den einzelnen Wissensgebieten heraus Organisationen in der Schweiz, die mit Tier- selbst das Bedürfnis, alternative Methoden versuchen oder Alternativen dazu zu tun zu Tierversuchen zu finden, weil diese haben, an einem Tisch. In diesem Gremium oft weniger aufwendig und am Schluss sind nicht nur akademische Institutionen günstiger sind. Solche Bottom-up-Ent- vertreten, sondern auch der schweizerische wicklungen sind meines Erachtens zu Tierschutz und die pharmazeutische Indus- unterstützen. trie. So können wir die 3R-Prinzipien institu- tionsübergreifend implementieren und Das heisst, die Resultate fliessen auto- laufend verbessern. matisch wieder in die Forschung ein? Dabei gibt es drei zentrale Aufgaben: Daniel Candinas: Irgendwann wird Die erste ist die Kommunikation über Tier- eine Methode derart etabliert, dass für versuche und Alternativmethoden an alle diese Art der Forschung keine Tierversuche Anspruchsgruppen (Forschende, Politik, mehr nötig sind. Wieso sollten Forschende Schulen, Bevölkerung) mit dem Zweck, die ein kompliziertes Verfahren in einem Tier Transparenz über Tierversuche zu verbes- durchführen, wenn es ganz einfach in sern und Alternativmethoden aufzuzeigen. einem Reagenzglas geht? Technologisch Die zweite ist die Schulung und Weitergabe ist das teilweise jedoch anspruchsvoller, der Prinzipien der 3R an Studierende und aber darum müssen wir auch in Wissen und Forschende, die später mit Tierversuchen in die nötige Infrastruktur investieren. Kontakt kommen. Die dritte Aufgabe ist die Christian Leumann: Es gibt ja viele Bereiche, in denen das bereits Realität ist. Die klassische Toxikologie läuft heute tier- versuchsfrei, und bei der Entwicklung von neuen Kosmetikartikeln für den Markt «Ich fände es proble- sind Tierversuche ebenfalls verboten. Daniel Candinas: Aber es gibt sicher matisch, wenn eine noch Dinge, die bisher vernachlässigt wurden. Wie kommuniziert man zum Bei- Herzklappe direkt im spiel Forschungsresultate, die vielleicht nicht im klassischen Sinne publizierbar Menschen getestet sind? Das sind nämlich auch hilfreiche In- formationen, die letztendlich dazu führen wird.» könnten, weniger Tierversuche durchzu- führen. Im Moment gibt es in der Art, wie Daniel Candinas man publiziert, eine fehlende Verknüpfung. 16 UniPress 181/2021 Schwerpunkt
«Zum Glück ist es nicht mehr möglich, dass junge Forschende ohne Ausbildung Tierversuche durchführen», sagt Rektor Christian Leumann, an seine eigenen Erfahrungen zurückdenkend. Könnten wir nicht zum Beispiel eine Daten- Leiden eine in anderen Ländern erfolg- einzelne Schritte der Wissensproduktion bank aufbauen für Tierversuche, die eben reiche Behandlung bei uns zu verbieten. ausgelagert oder in Kooperationen er- nicht zum Ziel geführt haben? Daniel Candinas: Die Universität Bern arbeitet werden. Fortschritt in der Wissen- und alle anderen Universitäten stehen ja im schaft ist ein globaler Effort. Was bringt das Am 13. Februar 2022 werden wir Dienst der Gesellschaft. Wir haben keinen der Schweiz, sich diesem Netzwerk zu über eine Volksinitiative zum Verbot Eigenzweck. Aber das Wissen und Innova entziehen? von Tier- und Menschenversuchen tionspotenzial, das die Universität der abstimmen. Welche Folgen hätte eine Gesellschaft zurückgeben kann, wäre bei der Annahme der Initiative? Annahme der Initiative deutlich reduziert. Christian Leumann: Man muss sich be- Das heisst, die Konsequenzen sind gesell- wusst werden, was diese Initiative eigent- schaftlicher Natur. Die Universität Bern wird lich will. Sämtliche Tierversuche sollen in das machen, was die gesellschaftlichen der Bundesverfassung verboten werden. Rahmenbedingungen vorgeben. Zusätzlich untersagt die Initiative auch den Christian Leumann: Konkret heisst das Import von pharmazeutischen Produkten, für die Universität Bern, die sehr stark enga- die im Ausland auf der Basis von Tierver- giert ist in biomedizinischer Forschung und suchen entwickelt und zugelassen wurden. Grundlagenforschung, dass wir dort letzt- Kontakte Viele Patientinnen und Patienten, die endlich unsere Leaderstellung verlieren auf neue Therapien angewiesen wären, würden. Für die betroffenen Bereiche ist es Prof. Dr. Christian Leumann, Rektor müssten sich dann zur medizinischen Be- de facto eine Forschungsverbotsinitiative. christian.leumann@unibe.ch handlung ins Ausland begeben. Es stellt Daniel Candinas: Man muss auch sehen, sich dabei mit aller Macht die Frage, ob es wie international der Fortschritt in der Prof. Dr. Daniel Candinas, ethisch vertretbar ist, Schweizer Patien- biomedizinischen Forschung geworden ist. Vizerektor Forschung tinnen und Patienten mit einem schweren Das ist ein riesiges Netzwerk, in das auch daniel.candinas@unibe.ch Schwerpunkt UniPress 181/2021 17
BERNER FORSCHUNG Zeitgemässe Mäusezucht Im neuen Laborgebäude an der Murtenstrasse 24–28 ist alles bereit für den Einzug der Mäuse. Künftig werden hier bei hohen Hygieneanforderungen alle Mäuse zentral aufgezogen. Dies erlaubt es, die Anzahl benötigter Tiere für ein aussagekräftiges Forschungsresultat weiter zu reduzieren. A B Käfig Umsetzstation Mehr Tierwohl, Die Mäuse leben als Wenn ein Mauskäfig bessere Forschung Paare, Trios und in verschmutzt ist, wer- Die moderne Infra- Gruppen zu maximal den die Tiere in einen struktur in der neuen sechs Tieren. Pro Tier sauberen Käfig umge- Tierhaltung an der steht möglichst etwas setzt. Bevor die Tier- Murtenstrasse ermöglicht mehr Fläche zur Verfü- pflegerinnen einen optimale Haltungs- gung als gesetzlich Käfig öffnen, bringen bedingungen unter vorgeschrieben. Die sie diesen in die Um- hohen Hygieneanfor- Mäuse haben neben setzstation, sodass derungen. Dadurch dem Einstreu aus keine Kontamination sind die Tierbestände Pappelholz und Zell- von aussen entsteht. besser vor äusserlichen stoff für den Nestbau Das schmutzige Mate- Kontaminationen sowie Nagehölzern rial geht in die auto- geschützt. Dies ver- auch ein Haus und matische Waschanlage meidet Krankheiten, eine Röhre als Rück- und wird anschlies- was das Tierwohl und zugsmöglichkeiten send mit Dampf sterili- die Qualität der For- oder andere Bereiche- siert. schung erhöht. Eine rungselemente. qualitativ hochwertige Tierhaltung ist die Vor- aussetzung für wissen- C D schaftlich aussagekräf- tige und reproduzier- bare Resultate. Ausserdem ermöglicht die Zentralisierung der Zucht, exakt so viele Mäuse mit bestimmten Eigenschaften zu züch- ten, wie die Forschen- Lüftung Licht den zu einem be- Jeder Käfig wird indivi- Mit dem An- und stimmten Zeitpunkt duell belüftet, sodass Abschalten des Lichts effektiv benötigen. keine Keime ausge- wird den Mäusen Diese Verbesserungen tauscht werden kön- signalisiert, ob Tag ermöglichen es, die nen. Auch beim Zu- oder Nacht ist, sodass Anzahl benötigter gang zur Anlage gel- sie ihren Tagesrhyth- Tiere für ein aussage- ten höchste Hygiene- mus leben können. kräftiges Forschungsre- standards: Menschen Das rote Licht erlaubt sultat weiter zu redu- müssen Kleider zwei es Menschen, in der zieren. Mal wechseln und im «Nacht» im Tierraum Schutzanzug durch sehen zu können, eine Luftdusche, Mäu- ohne die Tiere zu se den Käfig wechseln stören – für die Mäuse und anschliessend ist rotes Licht gleichbe- in einen speziellen deutend mit Dunkel- Quarantäneraum. heit. 18 UniPress 181/2021 Schwerpunkt
D B C A Schwerpunkt UniPress 181/2021 19
Zebrafische Keimfreie Mäuse Herz repariert Mikroorganismen im Darm sind wichtig für Immunsystem sich selbst Andrew Macpherson vom meinschaften bilden und Department for BioMedical sich vermehren – und Research (DBMR) ist ein welche Erkrankungen sie Experte für das mensch- auslösen oder begünstigen. liche Mikrobiom, also die Für diese komplexen Frage- 39 Billionen von Bakterien stellungen hat sein Team und anderen Mikroorganis- Methoden entwickelt, um men wie Viren, Pilzen und Darmbesiedelung, Immun- Einzellern, die den unteren reaktionen und das Wech- Darmbereich gesunder selspiel zwischen Wirt und Menschen und Tiere besie- Mikroben zu untersuchen. deln. Diese Kleinstlebewe- Die Forschenden verwen- sen helfen, Energie aus der den keimfreie Mäuse, also Nach einem akuten Herzin- Nahrung aufzunehmen, Tiere, deren Darm vor dem farkt sterben Millionen von den Körper mit Vitaminen Versuch nicht bereits von Herzmuskelzellen ab und zu versorgen, giftige Bakterien besiedelt ist. werden durch eine Narbe Chemikalien abzubauen Mithilfe dieser Versuche ersetzt. Bei Menschen und und zu verhindern, dass «Im Darm leben konnte das Team zum Bei- anderen Säugetieren kann sich der Herzmuskel nach pathogene Bakterien Krankheiten verursachen. 39 Billionen spiel zeigen, dass gewisse von Darmbakterien produ- einer Verletzung nur Das Mikrobiom beeinflusst Mikroorganismen.» zierte Stoffe auf Nervenzel- schlecht erholen. Andere die Entwicklung und den len einwirken, die wieder- Wirbeltiere hingegen Stoffwechsel, kann Men- um für die Darmbewegung können Herzmuskelzellen schen krank, aber auch zuständig sind. Dank seiner wiederaufbauen und ihr gesund machen und spielt Untersuchungen konnte Herz nach einer Verwun- eine Rolle bei Übergewicht, Rolle spielen könnte. Macpherson beweisen, dung vollständig regenerie- Diabetes, entzündlichen Macphersons Team unter- dass Mikroorganismen ren. So auch der Zebrafisch, Darmkrankheiten und für sucht zum Beispiel die nicht nur für die Ver- der die meisten seiner Ge- die psychische Gesundheit. friedliche Koexistenz von dauung zuständig sind, ne mit dem Menschen teilt. Auch bei neurologischen Darmbakterien im Darm. Er sondern auch eine wichtige Deshalb gehen Forschende Erkrankungen wie Parkin- führt Versuche durch, um Rolle in unserem Immun- davon aus, dass Erkennt- son, Autismus oder Multip- zu sehen, wie Mikroben in system spielen und für ein nisse über Entwicklung und ler Sklerose vermutet man, das Gewebe des Körpers gesundes Abwehrsystem Regeneration im Zebrafisch dass das Mikrobiom eine eindringen, Wachstumsge- unerlässlich sind. auch von direkter Relevanz sein können für den Men- schen. Die Berner Entwick- lungsbiologin Nadia Merca- BERNER FORSCHUNG der konnte zeigen, dass nach einer Verwundung Die Vielfalt der beim Zebrafisch ebenfalls Narbengewebe entsteht, dieses aber wieder abge- baut wird. Eine Narbenbil- dung per se wirkt sich dem- Versuche nach nicht negativ aus auf die Fähigkeit zur Regenera- tion. Überraschenderweise ist eine gewisse Narben- bildung sogar von Vorteil, um die Zellteilung und den Mit Tierversuchen werden biologische Prozesse in Lebewesen erforscht, Wiederaufbau von Herz- um Krankheiten zu verstehen und Therapien zu entwickeln. Andere muskelzellen zu beschleu- Versuche verbessern das Tierwohl. Und nicht zuletzt forscht die Uni Bern nigen. Die gewonnenen an Alternativmethoden. Eine kleine Auswahl an Projekten. Erkenntnisse könnten dazu dienen, im menschlichen Herzen einen ähnlichen Reparaturprozess anzu- stossen. 20 UniPress 181/2021 Schwerpunkt
Lunge auf Mikrochip Blutproben von Hunden Vielversprechende Alternative zum Tierversuch Gentest gegen Welpensterblichkeit Ein spezialisiertes Labor des ARTORG Center unter der Lei- «Menschliche Patientenrelevantere In-vitro-Modelle helfen Grundla- tung von Olivier Guenat befasst Zellen werden genforschenden, die Physiologie sich seit über zehn Jahren mit der Entwicklung hochspeziali- auf einem Mikro- und Pathologie der Lunge besser zu verstehen und neue sierter In-vitro-Modelle, den chip kultiviert.» Signalwege zu identifizieren. sogenannten Organs-on-Chip. Forscherinnen und Klinikern soll Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf die neue Technologie erlauben, der Modellierung der Lunge und experimentelle Lungen-Medika- ihrer Erkrankungen. Nach einem mente direkt an gesunden und ersten erfolgreichen Lunge-auf- kultiviert werden. Dadurch er- krankhaften menschlichen Chip-System, das wesentliche hoffen sich Forschende klinische Zellen zu testen und für den Merkmale der Lunge aufweist, Informationen über Vernar- einzelnen Patienten oder die arbeitet ARTORG nun mit dem bungsprozesse beim Menschen. einzelne Patientin die beste Helmholtz-Zentrum für Infekti- Damit sollen Untersuchungen an Therapie zu identifizieren. Ein Forschungsteam um onsforschung München und den lebenden Mäusen ersetzt wer- Corinne Gurtner, Petra Hug Universitätskliniken für Thorax- den, mit denen zum Beispiel und Tosso Leeb hat beim chirurgie und Pneumologie des die idiopathische Lungen- Belgischen Schäferhund Inselspitals an einem rein biolo- fibrose (IPF) erforscht wird, eine einen Gendefekt aufge- gischen Modell der nächsten schwere chronische Lungen- klärt, der dazu führt, dass Generation. Dieses enthält erkrankung, die zu einer Ver- Welpen mit wenigen lebensgrosse Lungenbläschen narbung der Lunge führt. Wochen sterben. Dank in einer rein biologischen, dehn- Forschende verursachen heut- den neuen Erkenntnissen baren Membran und bildet so- zutage durch Verabreichung konnte ein Gentest ent- mit das Lungengewebe viel gewisser Substanzen gezielt wickelt werden, mit dem lebensnaher nach als bisherige Entzündungen und Fibrosen in Anlageträger erkannt und Modelle. Die Lunge ist aus rund den Lungen von Mäusen, um Paarungen nun so geplant 400 Millionen Lungenbläschen damit die Mechanismen der werden können, dass keine aufgebaut, die für den Gasaus- Krankheit besser zu verstehen betroffenen Welpen mehr tausch zwischen Blut und Luft und bessere und personalisierte geboren werden. Für diese zuständig sind. Aufgrund dieser Therapien zu entwickeln. Viele Studie brauchte es auch komplexen Struktur und Zusam- Arzneimittelkandidaten, die im einige Blutproben von mensetzung sowie ihrer Schlüs- Maus-Modell vielversprechende gesunden Hunden als selrolle bei der Sauerstoffversor- Resultate erzielen, scheitern Kontrollen. Die Entnahme gung ist sie nur schwer nachzu- jedoch bei entsprechenden Tests dieser Proben bei privat bilden. am Menschen, da Lungener- gehaltenen Haushunden Die Lunge-auf-Chip-Techno- krankungen bei verschiedenen sind Tierversuche mit logie verwendet menschliche Spezies meist unterschiedliche Schweregrad 0, also ohne Zellen, die auf einem Mikrochip Ausprägungen haben. Belastung der Tiere. Mehr weibliche Tiere Aussagekraft der Ergebnisse. Für aussagekräftigere Dabei stellen sich logistische Fragen von grosser Tierschutz- Ergebnisse relevanz. Sollen Männchen und Weibchen gemeinsam oder ge- trennt gehalten und getestet Forschende verwenden mehr- werden? Wie wirkt sich dies auf heitlich männliche Tiere, was aggressive Auseinandersetzun- dazu führen kann, dass Ergeb- gen zwischen Männchen oder nisse nicht schlüssig sind, weil den Zyklus der Weibchen aus? mögliche Geschlechtsunter- Mit experimentellen Studien an schiede unerkannt bleiben. Da Mäusen wollen Hanno Würbel dies alle Bereiche der Tier- das biologische Geschlecht nun und Ivana Jaric von der Vet- forschung betrifft, und Mäuse vermehrt als Variable in Tierver- suisse-Fakultät einen Leitfaden «Grosser über 70 Prozent aller Versuchs- suchen miteinbezogen werden entwickeln, wie Forschende bei- Einfluss auf tiere ausmachen, werden die soll, suchen Forschende nach de Geschlechter berücksichtigen Ergebnisse grossen Einfluss auf einem optimalen Ausgleich können, ohne die Zahl der Ver- das Tierwohl.» die künftige Versuchsplanung, zwischen minimaler Anzahl suchstiere zu erhöhen oder das die 3R und damit auf das Tier- Versuchstiere und maximaler Tierwohl zu beeinträchtigen. Da wohl haben. Schwerpunkt UniPress 181/2021 21
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BERNER FORSCHUNG Forschen für den idealen Hühnerstall Wie sollen Legehennen gehalten werden, damit das Tierwohl trotz hoher Produktivität gewährleistet ist? Daran forscht das Team um Michael Toscano und Tierschutzprofessor Hanno Würbel am Zentrum für tiergerechte Haltung in Zollikofen. Im Versuch auf diesem Bild wird untersucht, wie es E Hennen in Grossgruppen im Vergleich zu kleinen Gruppen geht. A B C D C Untergruppen Bewegungsmuster Individuum Interaktionen In der kommerziellen Wenn eine Henne mit Um Verhaltensmuster In jedem Stall werden käfigfreien Haltung ihrem am Bein befes- jedes einzelnen Tiers Videoaufzeichnungen werden Hühner zu tigten Sensor über zu erkennen und dabei gemacht und später Tausenden in Gross- das Tracking Pad in Verwechslungen aus- ausgewertet. So gruppen gehalten. Die einen anderen der fünf zuschliessen, ist jede werden etwa aggres- stark hierarchische Stallsektoren spaziert, Henne mit einer indivi- sive Interaktionen Hackordnung, die wird dies registriert. duellen Markierung protokolliert und Hühner in Kleingrup- So lassen sich Bewe- ausgestattet. einzelnen Tieren zuge- pen etablieren, funk- gungs- und Standort- ordnet. Frühere tioniert hier nicht. Wie muster erstellen und Forschung deutet reagieren die Tiere vergleichen, was Rück- darauf hin, dass die darauf? Hier wird schlüsse auf individu- Aggression in Gross- erforscht, ob sich in elle Verhaltensmuster gruppen abnimmt, Grossgruppen Unter- und die soziale Organi- gleichzeitig aber stress- gruppen bilden und sation ermöglicht. und angstbedingte wie stabil diese sind. Verhaltensprobleme zunehmen. E den neue Ansätze und Methoden zur Verbesserung des Tier- wohls entwickelt. Die Uni Bern ist Teil des European Training Networks «Chicken- Stress» der EU zur Verbesserung der Produktivität National und inter- Haltungsbedingungen Die unterschiedlichen national vernetzt von Legehennen. Haltungssysteme, die Michael Toscano arbei- Die Forschungs- in den verschiedenen tet als Gruppenleiter resultate dienen als Versuchsställen ge- am Zentrum für tierge- Grundlagen für die testet werden, sollen rechte Haltung von Ge- Bewilligung von neuen nicht nur das Tierwohl flügel und Kaninchen Haltungssystemen und verbessern, sondern (ZTHZ), einer gemein- Stalleinrichtungen im auch eine hohe Pro- samen Forschungsstelle Rahmen der Tierschutz- duktivität garantieren. des Bundesamts für gesetzgebung sowie Deshalb wird jedes Lebensmittelsicherheit zur Information und gelegte Ei registriert, und Veterinärwesen Beratung von Halte- das selbstständig aus (BLV) und der Universi- rinnen und Haltern dem Stall rollt. tät Bern. In den Ver- von Geflügel. suchsställen am Avifo- rum in Zollikofen wer- www.chickenstress.eu Schwerpunkt UniPress 181/2021 23
oben Der Berner Mediziner Albrecht von Haller und seine Schüler führten im 18. Jahrhundert zahlreiche Tierversuche durch. unten links Tierquälerei führt zur Verrohung bis zum Mord: Frühe Kritik aus England. Ausschnitt aus der Kupferstich- Serie «Four Stages of Cruelty» von William Hogarth. unten rechts Der Klassiker der Tierrechtsdiskussion von 1975 veränderte die Debatte. 24 UniPress 181/2021 Schwerpunkt
Grundpfeiler der westlichen Medizin Seit der Antike werden Tiere eingesetzt, um biologische Prozesse in Lebe- wesen besser zu verstehen und Krankheiten zu heilen. Der moderne Tier- versuch geht auf den Berner Mediziner Albrecht von Haller zurück. Doch auch die Kritik an Tierleid hat eine lange Geschichte und verändert die Forschungspraxis. Von Hubert Steinke Der Tierversuch ist so alt wie unsere west- mente Hinweise, die gleichberechtigt Katzen und Kaninchen –, um die funda- liche Medizin. Schon im alten Griechenland neben theoretischen Überlegungen stehen. mentale Frage nach der Funktion von wurde vereinzelt experimentiert; das Die Tierversuche sind kein Beweis, sondern Nerven und Muskeln zu beantworten. Seine eigentliche Vorbild für spätere Jahrhun- Teil eines ganzen Argumentationsstrangs, Erkenntnis, dass nur Nerven Empfindung derte war aber der im 2. Jahrhundert in der auf die Feststellung hinausläuft, dass vermitteln und nur Muskeln zur Bewegung Rom tätige Arzt Galen. Er beabsichtigte, der Blutkreislauf die wahrscheinlichste fähig sind, war bahnbrechend – und gleich- dadurch die Grundprinzipien von Atmung Erklärung ist. zeitig umstritten. Dutzende Forscher in und Herztätigkeit zu entdecken. Doch auch ganz Europa wiederholten Hallers Versuche Galens Versuche nahmen nur einen kleinen Bahnbrechend, aber umstritten und kamen teilweise zum abweichenden Platz in seinem grossen Werk ein, das vor Der erste, der systematisch und in grossem Schluss, dass alle Körperteile zur Empfin- allem auf anatomischen Beobachtungen, Umfang Tierversuche durchführte und dung und Bewegung fähig seien. Der theoretischen Überlegungen und der diese im Sinne einer experimentellen Über- Grund für die widersprüchlichen Resultate Beschreibung von Krankheiten beruht. prüfung einer Hypothese einsetzte, war der lag in der fehlenden Standardisierung der Der experimentelle Ansatz trat danach Berner Mediziner, Botaniker und Dichter mit sehr einfachen Mitteln durchgeführten für Jahrhunderte vollständig in den Hinter- Albrecht von Haller (1708–1777). Er opferte Versuche, deren Anordnung und Interpre- grund. Erst mit der Renaissance und Francis Hunderte von Tieren – vor allem Hunde, tation von Vorannahmen mitbestimmt Bacons Aufruf zur experimentellen und wurde. Das paradoxale Resultat dieser induktiven Forschung zu Beginn des ersten grossen Welle von Tierversuchen 17. Jahrhunderts erhielt der Tierversuch war, dass sie sich entgegen Hallers Hoff- wieder eine gewisse Beachtung. Am be- «Galen beabsichtigte, nung nicht als zentrale Forschungsmethode kanntesten sind die Versuche William etablieren konnten. Harveys, die 1628 zur Entdeckung des Blut- die Grundprinzipien von Erst 100 Jahre später, in der Mitte des kreislaufs beitrugen. Die Bedeutung dieser 19. Jahrhunderts, hatten sich die Bedin- Experimente für die damalige Forschung ist Atmung und Herztätig- gungen so weit verändert, dass sich der aber ganz anders zu verstehen als heute. Tierversuch zunehmend etablierte. Die Sie sind Bestandteil einer aristotelischen keit zu entdecken.» nach Haller aufkommenden naturphiloso- Untersuchung, die das «Wesen» der Organe phischen Strömungen waren wieder im zu ergründen versucht. Dabei sind Experi- Hubert Steinke Rückgang, Entdeckungen auf mikrosko- Schwerpunkt UniPress 181/2021 25
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