Unisex - der Sündenfall - aok-bw-presse.de
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2/2021 AOK BADEN-WÜRTTEMBERG GENDERMEDIZIN Unisex – der Sündenfall Alle gleich zu behandeln, ist ein Grundsatz der Menschenrechte. Doch in der Medizin muss man es differenziert angehen 22 ALTER & Für die 24-Stunden-Pflege zu Hause 29 STUTTGART Die Landarztquote aus dem Ländle kann PFLEGE gibt es endlich erste Standards & BERLIN auch ein Modell für den Bund sein
Seite 2 INHALT 08 16 20 04 TREFFPUNKT Nachrichten, Positionen, Meinungen aus dem Gesundheitswesen 08 SEISMOGRAF Gendermedizin rückt Unterschiede in den Mittelpunkt 12 GESUNDHEIT & VERSORGUNG Schauen Heranwachsende zu viel auf Bildschirme, leidet die Gesundheit Gendermedizin: Frauen sind Pandemie: Ein Forum gibt Versandhandel: Immer keine weiblichen Männer Impulse für künftige Krisen mehr Pillen kommen per Post 14 HIER & JETZT Modellprojekte und Erfahrungen aus Baden-Württemberg 16 STANDPUNKT Der Verwaltungsrat der AOK Baden- Württemberg bezieht Stellung 18 PRÄVENTION & INNOVATION Eine Coaching-App soll gesunde Gewohnheiten etablieren ZAHL DER AUSGABE 20 VERSORGUNG & IT Der Versandhandel mit Arzneimitteln boomt – dank Pandemie und E-Rezept 22 ALTER & PFLEGE Für die 24-Stunden-Pflege zu Hause braucht es klare Regeln Chefinnen im Gesundheitswesen 24 RECHT & GESUNDHEIT Reformdruck bei der Bundeszentrale Allen Forderungen nach mehr Gleichberechtigung von Frauen zum für gesundheitliche Aufklärung Trotz: Der Anteil weiblicher Führungskräfte in der Gesundheits- wirtschaft ist innerhalb der vergangenen fünf Jahre um 26 REDE & ANTWORT vier Prozent zurückgegangen. Obwohl in der Branche mehr als Ärztin Nicola Buhlinger-Göpfarth 75 Prozent der Beschäftigten weiblich sind, ist nur noch knapp jede wirbt für mehr Parität in Gremien dritte leitende Position (29 Prozent) von einer Frau besetzt, berich- tet die Studie „Frauen in der Gesundheitswirtschaft 2020“, für die 28 GESUNDHEIT & WIRTSCHAFT PricewaterhouseCoopers (PwC) die Daten von 8.000 Unternehmen, Bis zum Jahr 2030 will die Südwest- Krankenhäusern, Versicherungen und Verbänden ausgewertet hat. AOK klimaneutral werden Bei der AOK Baden-Württemberg ist der Anteil von Frauen in Führungspositionen von 29,9 Prozent im Jahr 2011 auf 30 WEBSNACKS & TERMINE aktuell 44,7 Prozent gestiegen. Der Vorstand ist zugegebenermaßen Was macht die Leopoldina und immer noch rein männlich. Auch deswegen ist dieses Thema der welche Gesundheitsapps trenden? AOK wichtig – wie diese Ausgabe unterstreicht, in der es an vielen Stellen um Geschlechtergerechtigkeit in der Gesundheit geht. 31 AUS & EINSICHT Andrea Scheiter radelt mit dem VERAHmobil zu ihren Patienten IMPRESSUM Herausgeber und verantwortlich für den Inhalt: AOK Baden-Württemberg, Presselstraße 19, 70191 Stuttgart; Verlag: KomPart Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Rosent haler Straße 31, 10178 Berlin; Geschäftsführer: Frank Schmidt, Martin Gosen; C reative D irector: Sybilla Weidinger; Redaktionelles Konzept: Robin Halm, Anne Wäschle; Koordination: Stefan Rösch; Chefredaktion: Anne W äschle (awa), Telefon: 030 22011 121; Redaktion: Caroline Friedmann (cf), Anette Frisch (af), Stephan Funk (stef), Grit Horn (gh), Ines Körver (ink), Fabian Obergföll (fob), Stefan Rösch (srö); Grafisches Konzept und Umsetzung: Katharina Doering; Nachdruck oder Weiterverwendung von Inhalten nur mit Genehmigung des Herausgebers. Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 02/2021 war der 12. März 2021. Nächster Redakt ionsschluss: 21. Mai 2021. Adressänderungen per E-Mail an agendagesundheitmagazin@bw.aok.de IDENT.-NR . 21- 0055 2/2021
S ietiet e3 3 R UEBI RN IBKLNI AC M Se KE Bild: (c) EPFL Große Andrea Ablasser ist eine von vier Forschenden, die den Deutschen Krebspreis 2021 g ewonnen haben. Die gebürtige Baden-Württembergerin hat ihre Wirkungsstätte in Lausanne, an der École Signalwirkung Polytechnique Fédérale und untersucht dort die Signalwege von Zellen, die ein Tumorwachstum fördern oder hemmen können. Ihre Arbeiten zur körpereigenen Immunabwehr von Tumorzellen haben dazu beigetragen, neuartige und vielversprechende Krebstherapien zu entwickeln. 2/2021
Seite 4 TREFFPUNKT MENSCH MIT MISSION S P Ä TA U S L E S E Guter Start ins Leben UNZENSIERTER GEDANKEN Ein Novum in der Gesundheitspolitik: Erstmalig waren Eltern an einem Runden Tisch zur geburtshilflichen Versorgung beteiligt. Nicht immer herrschte Konsens »Ein Großteil »Bessere Runde Tische werden gebildet, um mit unterschiedlichen der Beschäftig- Versorgung Akteurinnen und Akteuren drängende Probleme zu einem ten in der bestimmten Thema anzugehen. In Baden-Württemberg rund um die Geburt funk- rief Anfang 2017 Staatssekretärin Bärbl Mielich den Run- Pflege, in den Tisch Geburtshilfe ins Leben. Ihr Ziel: die Stärken und tioniert nur, Herausforderungen der Geburtshilfe im Land erfassen, ei- Krankenhäu- wenn Eltern an ne Vision entwickeln und Maßnahmen auf den Weg brin- sern, Super- gen. Lydia Abdallah vom Verein Mother Hood war als Veränderungs- prozessen Elternvertreterin dabei. Der 2015 gegründete und märkten oder deutschlandweit aktive Verein setzt sich unter anderem beteiligt für eine frauen- und familienzentrierte Versorgung wäh- im Erziehungs- werden« rend Schwangerschaft, Geburt und früher Kindheit ein. bereich ist „Eltern gehören bei solchen Gremien deshalb mit an den Lydia Abdallah Tisch“, sagt Lydia Abdallah, die über alle berufsständi- weiblich. Diese schen und politischen Interessen hinweg die Perspektive Ärztin und Interessenvertreterin der 2015 gegründeten Bundeseltern- der Eltern einbrachte und verteidigte. Frauen sind die initiative Mother Hood Nicht immer bestand Konsens – wie etwa bei der Heldinnen der Frage, ob kleinere Geburtsstationen für eine sichere Ge- burtshilfe nötig sind. Einigkeit herrschte hingegen bei Coronakrise. grundlegenden Themen. Zum Beispiel, dass eine gute Zusammenarbeit der Berufsgruppen notwendig ist, die Gleichberech- Schwangere und Gebärende begleiten. Oder, dass ei- tigung heißt ne optimale Versorgung nur mit ausreichender Perso- naldichte möglich ist. Auch besondere Konzepte für ver- auch, Berufe, sorgungsschwache Regionen begrüßten die Beteiligten die hauptsäch- einhellig. Darunter die Förderung sogenannter Lokaler Versorgungszentren (LGZ), die mittlerweile beispielhaft lich von Frauen für andere Bundesländer sind. Wenngleich viele An- Bild: Privat liegen der Elternvertretung nicht in die Beschlüsse des ausgeübt Runden Tisches aufgenommen wurden, sind die konst- werden, endlich ruktive Arbeitsatmosphäre und die beschlos- senen Maßnahmen sehr positive Schritte in angemessen zu die richtige Richtung. srö mother-hood.de bezahlen.« Lydia Abdallah Stefanie Seiler ist in der Landesgruppe des Elternvereins Mother Oberbürgermeisterin von Speyer Hood aktiv. Die Ärztin setzt sich dafür ein, dass Frau- en gut begleitet und selbstbestimmt gebären kön- nen. Vier Jahre vertrat sie die Interessen der Eltern am „Runden Tisch Geburtshilfe Baden-Württem- berg“, der inzwischen abgeschlossen ist. Zudem hat sie für Mother Hood 2019 den interdisziplinä- ren Kongress „WIR – von Anfang an“ in Stuttgart Bild: K. xxring mitorganisiert. 2/2021
Seite 5 TREFFPUNKT UMFRAGE GIBT ES EIN RECHT AUF SELBSTBESTIMMTES STERBEN? Viele Menschen fürchten, an ihrem Lebensende im Stich gelassen zu werden. Seit dem vergangenen Jahr räumt das Bundesverfassungsgericht jedem das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ein – und die Freiheit, Hilfe zu suchen Ohne gesellschaftlichen Druck Keine Tötung auf Verlangen Selbstbestimmung am Lebensende ist Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten Bild: LÄK Baden-Württemberg gewahrt, wenn Menschen ohne gesell- ist es, Leben zu erhalten. Und unsere schaftlichen Druck sterben dürfen. Es Berufsordnung regelt klar, dass wir braucht dazu geschützte Orte, an de- Sterbenden unter Wahrung ihrer Bild: EKD nen man sich nicht ständig mit der Opti- Würde ihres Willens beizustehen on, sich selbst zu töten, auseinanderset- haben. Die Tötung des Patienten, auch Dr. Stefanie zen muss. Wir müssen jetzt dringend eine Dr. Wolfgang Miller wenn sie auf dessen Verlangen erfolgt, Schardien Präsident der Theologin, Sprecherin Kultur des Lebensendes entwickeln, die ist rechtlich und ethisch-moralisch Landesärztekammer Wort zum Sonntag Schutz und Freiheit zusammen denkt. Baden-Württemberg ausgeschlossen für jedermann. Am Ende selbst entscheiden Lebensbejahende Begleitung Ja. Und wenn jemand dem Sterbewilli- Das Bundesverfassungsgericht zwingt gen dabei helfen will, dann darf er das. uns zu einer Regulierung, die um gutach- So war die Rechtslage, bis der Bundestag terliche Überprüfung des Willens, im Jahr 2015 die Sterbehilfe verbot. Im Beratungspflicht und Dokumentations Bild: privat Bild: Privat Jahr 2020 hat das Bundesverfassungs- auflagen nicht herumkommen wird. gericht diesen Paragrafen für nichtig er- Ich hoffe, dass eine lebensbejahende und klärt. Diese Auffassung habe ich immer Ingrid stärkende Begleitung von Menschen, Dr. Michael Matthäus-Maier Wunder unterstützt aus juristischen und mit- Beiratsmitglied der die einen Suizidwunsch äußern, nicht Beratungszentrum menschlichen Gründen. Giordano-Bruno-Stiftung desavouiert wird. Alsterdorf, Leiter FALSCH NACHRICHTEN Beteiligt sich die PKV fair an den Coronakosten? Ja, sogar mehr als fair, sagt Florian Reuther, Verbandschef der Privaten Krankenversicherung. Zeit, einmal nachzurechnen Auf einer Pressekonferenz zur Zwischenbilanz der Coronapandemie im September verwehrte sich Florian Reuther, Verbandsdirektor der Priva- ten Krankenversicherung (PKV), gegen den Vorwurf, die PKV beteili- ge sich zu wenig an den Coronakosten. „Wir leisten zur Bewältigung der Krise sogar höhere Zahlungen an das Gesundheitssystem, als es ih- rem zehnprozentigen Versichertenanteil im Vergleich zur gesetzlichen Krankenversicherung entspricht.“ Dem widerspricht Johannes Bauern- feind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, deutlich: „Den weitaus größten Teil der Kosten stemmen bislang allein die ge- setzlich Versicherten und ihre Arbeitgeber.“ Die Finanzierung der Impf- zentren ist eines der wenigen Beispiele, an der die PKV mit 3,5 Prozent beteiligt ist. Allerdings müsste sie entsprechend ihres Versichertenan- teils mindestens fünf Prozent der Kosten tragen – von denen das Land Bild: iStock.com © Feodora Chiosea die Hälfte stemmt und die GKV 46,5 Prozent. Weitere Beispiele zeigen, dass sich die PKV ihrer Verantwortung entzieht. Darunter die Corona pflegeprämie, der Bonus für zusätzliche Intensivbetten in Kliniken oder die asymptomatischen Testungen, die die GKV über die Liquiditätsreser- ve sogar für PKV-Versicherte mitbezahlt. gh 2/2021
Seite 6 TREFFPUNKT KREUZVERHÖR TAT E N & TAT S A C H E N KREUZ VERHÖR Nach der Landtagswahl: Mobile Verwaltung Gesundheit braucht kreative Auch die Beschäftigten von und praxistaugliche Konzepte Städten und Gemeinden arbei- ten vermehrt mobil und von zu Die Wiederauflage des grün-schwarzen Regierungsbündnisses Hause aus. „Zugleich sind dem ist gesetzt. Was bringt der neue Koalitionsvertrag? Homeoffice in Rathäusern und Landratsämtern gewisse Gren- In den Sondierungs zen gesetzt“, sagt Gudrun Heu- ergebnissen von Grünen und te-Bluhm, geschäftsführendes CDU kommt Gesundheit nahezu Gudrun Vorstandsmitglied des Städte- Heute-Bluhm nicht vor – trotz Corona. Ist das tags Baden-Württemberg. „Bei Geschäftsführendes ein Fehler? Vorstandsmitglied, der Beantragung von Personal- Städtetag Baden- Sondierungsgespräche loten Ge- Württemberg ausweisen oder bei Sterbefällen meinsamkeiten und Unterschiede benötigen die Bürger unbedingt Bild: Ralf Killian zwischen den Beteiligten aus, um einen persönlichen Kontakt mit abzuschätzen, ob sich Koalitions- den Verwaltungsmitarbeitern.“ verhandlungen inhaltlich überhaupt lohnen. Es geht also um die zentra- »Ich erwarte len Ziele und Leitlinien für die kom- Gedruckte Arzneimittel von jeder neuen mende Legislaturperiode, konkret Das Ulmer Start-up Digital Health Regierung neue um diejenigen Themen, die in Poli- Systems (DiHeSys) will die medizi- tik und Öffentlichkeit als besonders nische Versorgung über die Apo- Impulse« drängend empfunden werden. Grü- theke digitalisieren und zuneh- ne und CDU haben hierbei den Kli- mend individualisieren. Die Prof. Dr. Ulrich Eith maschutz, die Transformation des digitalisierte Herstellung von Arz- Seminar für Wissenschaftliche Industriestandorts, den gesellschaft- neimitteln hält Geschäftsführer Politik, Universität Freiburg lichen Zusammenhalt und die Pan- Christian Franken für „extrem zu- demiebekämpfung besonders her- kunftsrelevant“. Mit DiHeSys will Prof. Dr. Christian ausgestellt. Das kann man aktuell so vertreten. Im Koalitionsvertrag der ehemalige DocMorris-Manager Franken Geschäftsführer müssen sich dann weitere konkrete Konzepte etwa zu Bildung, Ge- künftig mithilfe persönlicher Pati- von DiHeSys sundheit, Landwirtschaft, innerer Sicherheit oder auch zur Wahl- entendaten wie Gewicht oder rechtsänderung finden. Lebensstil Medikamente direkt in der Apotheke herstellen. Kann eine Wiederauflage der grün-schwarzen Koalition überhaupt neue Impulse setzen? Das erwarte ich von jeder neuen Regierung. Nur ein „weiter so“ wäre Stabiles Erfolgsmodell fatal. Wenn die neue Regierung es schafft, konsequent und in allen Mit Gabriele Regina Overwiening Bereichen den Klimaschutz umzusetzen, hat das auch über Deutsch- steht seit Anfang 2021 zum ers- land hinaus Signalwirkung. Immerhin ist Baden-Württemberg als ten Mal eine Frau an der Spitze „Autoland“ ein zentraler Industriestandort mitten in Europa. der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA). Die Welche gesundheitspolitischen Baustellen müssten in 58-jährige Präsidentin aus Re- Baden-Württemberg sofort oder prioritär angegangen ken in Nordrhein-Westfalen will werden? die Apotheke vor Ort stabilisieren Zwei Dinge erscheinen mir gerade besonders wichtig: Zum einen Gabriele und zukunftsfest machen. „Das Regina bereitet die ärztliche Versorgung im ländlichen Raum zunehmend Overwiening wird nur gelingen, wenn wir die Präsidentin der Probleme. Für Haus- und Fachärzte muss die Eröffnung einer Bundesvereinigung Digitalisierung im Gesundheits- Bilder: Städtetag BW; DiHeSys; ABDA Praxis auch jenseits der größeren Städte attraktiv sein. Dasselbe Deutscher wesen aktiv mitgestalten und Apothekerverbände gilt für Hebammen. Es braucht kreative Konzepte und praxistaugli- (ABDA) dafür sorgen, dass die pharma- che Umsetzungen. Darüber hinaus ist die Situation in der Pflege ein zeutischen Dienstleistungen ein Dauerthema. Ausbildung und Bezahlung sind hierbei wichtige Stell- Erfolgsmodell werden.“ schrauben. awa 2/2021
Seite 7 TREFFPUNKT ZEITSPRUNG Kleine Karte, große Tat: Der Organspendeausweis wird 50 Glaubt man dem Hamburger Organe nach dem Hirntod ent- Abendblatt, dann wurde der nommen werden dürfen und erste Organspendeausweis welche nicht. Auch die Anga- 1971 in der Stadt an der Elbe be, gar kein Organ spenden zu ausgestellt. Zuvor musste das wollen, ist legitim und für Uniklinikum Hamburg-Eppen- Angehörige im Fall des Falles Bild: iStock.com © Praneat dorf die Erfahrung machen, eine Erleichterung. dass von jährlich neun trans- Die Bereitschaft, diese Ent- plantierten Nieren lediglich eine scheidung zu treffen, steigt. aus der Region kam, während In einer repräsentativen Befra- die restlichen aus Skandinavien gung der Bundeszentrale für eingeflogen wurden. gesundheitliche Aufklärung gegenüber steht allerdings die die über das Thema informie- Die Niere ist bis heute das (BZgA) aus dem Jahr 2020 ga- Tatsache, dass 2020 bei der ren, konnten nicht stattfinden. am meisten transplantierte ben 62 Prozent an, über eine BZgA lediglich 3,46 Millionen Keinen Einfluss hatte die Organ. 1954 gelang die ers- Organspende befunden zu ha- Bestellungen für Organspen- Pandemie im Übrigen auf die te Verpflanzung des blutfiltern- ben – sechs Prozent mehr als deausweise eingingen – und Zahl der gespendeten Organe. den Körperteils. Seitdem hat im Jahr 2018. Von 39 auf 44 damit rund eine halbe Million Waren es 2019 genau 932 die Transplantationsmedizin ei- Prozent ist auch der Anteil de- weniger als im Vorjahr, wie die Organspender, zählte die ne rasante Entwicklung erlebt rer gestiegen, die ihre Ent- BZgA auf Anfrage des Bran- Deutsche Stiftung Organtrans- und der Spendeausweis hat scheidung schriftlich in einem chendienst Business Insider plantation im vergangenen dazu beigetragen. Darin steht, Organspendeausweis, einer Pa- mitteilte. Die Ursache sieht die Jahr 913 Menschen, die nach wozu Trägerin oder Träger be- tientenverfügung oder in bei- Bundeszentrale in der Corona- dem Tod Organe zur Verfü- reit ist beziehungsweise welche dem festgehalten haben. Dem- krise. Viele Veranstaltungen, gung stellten. awa PRO KONTRA Spitzensport: Sponsoring von Mark Schober Prof. Gerd Glaeske Vorstandsvorsitzender des Wissenschaftlicher Leiter Deutschen Handballbundes des Instituts „Länger Krankenkassen? besser leben“ an der Universität Bremen Bild: Uni Bremen Bild: DHB »Partnerschaft mit Konzept« »Im Breitensport sinnvoller« Das Engagement der Krankenkassen muss auf allen Ebenen des Spitzensport braucht kein Krankenkassen-Sponsoring. Je- Sports weiter erlaubt werden. Was die seit 2014 bestehende Ko- der Euro, der unnötig ausgegeben wird, fehlt an anderer operation mit dem Deutschen Handballbund und der AOK be- Stelle. Unnötig sind Ausgaben, die nicht der Gesundheit trifft, ist das für uns auch kein Sponsoring im klassischen Sin- zugutekommen. Die Krankenkassen sollten im Sinne des ne, sondern eine Gesundheitspartnerschaft mit klarem Konzept. Präventionsziels „Mehr Bewegung“ investieren, die viele Sichtbar wird das über das Logo auf den Trikots unserer Natio- Menschen erreichen – insbesondere aus sozial schwachen nalmannschaften. Die Gesundheitsvorsorge bildet den Kern die- Schichten. Der Breitensport braucht die finanzielle Unter- ser gemeinsamen Geschichte, die wir mit unseren Handballstars stützung, denn Hallen, Bäder und Sportplätze müssten in die Breite tragen. Jüngstes Beispiel ist die Kampagne „Imp- instand gehalten und gemietet sowie Trainer verpflichtet fen rettet Leben!“. Die Partnerschaft leben wir über alle Ebe- werden. Die Einrichtung von Bewegungsparcours, das Be- nen des Verbandes. Dazu zählen unsere Nationalmannschaften schaffen von Sportgeräten oder die Initiierung von nach- jeder Altersklasse, unsere Angebote in der Trainerausbildung haltigen Sportprogrammen ist wichtig. Hier ist das Geld oder dem Amateur- und Breitensport. Mit dem AOK-Grund- sinnvoller angelegt. schulaktionstag erreichen wir jährlich über 1.000 Schulen. Quelle: Presse-Info des Instituts „Länger besser leben“ der Universität Bremen 2/2021
Seite 9 SEISMOGRAF Frauen sind keine weiblichen Männer. Sie leiden an anderen Erkrankungen und Symptomen als männliche Patienten. Gesundheitsversorgung darf deshalb nicht unisex sein. Die Erkenntnisse der Gendermedizin müssen in Lehre und Forschung, in Praxis und Politik ein Umdenken anstoßen D ie biologischen Unterschie- betrachtet. Dabei sind auch häufig Frauen Schwäche, Übelkeit, Schmerzen in den de zwischen Mann und Frau betroffen – nur auf etwas andere Art. Schultern und im Oberbauch.“ Der sind so alt wie die Mensch- „Bei einem Herzinfarkt zeigen Frauen und Schmerzauslöser sei bei Frauen oft unklar. heit. Vergleichsweise jung Männer oft unterschiedliche Symptome. Deshalb werde ein Herzinfarkt nicht im- ist die Disziplin der Gender- Bei Männern ist es meist ein Engegefühl in mer gleich als solcher erkannt. medizin, die sich mit dem Einfluss von Ge- der Brust, bei dem die Beschwerden vor Außerdem hat ein Herzinfarkt bei schlecht auf Krankheit und Gesundheit allem in den linken Arm ausstrahlen“, er- weiblichen Betroffenen oft eine andere beschäftigt. Frauen und Männer können klärt die Kardiologin „Frauen haben oft Ursache. Auch in puncto Häufigkeit und bei derselben Erkrankung auch andere ein bunteres Symptombild mit unter- Altersverteilung gibt es Unterschiede. So Symptome zeigen. Außerdem können Me- schiedlichen Beschwerden wie starker trifft der klassische Herzinfarkt, der infol- dikamente im weiblichen Organismus eine ge eines Arterienverschlusses auftritt, andere Wirkung haben als im männlichen. »Bei Frauen werden Männer im Durchschnitt zehn Jahre frü- Trotzdem findet das Geschlecht in medi- Symptome für Herz- her. Daher bringen Frauen weitere Risiko- zinischen Studien, Lehrbüchern, in der Di- faktoren und Erkrankungen älterer Men- agnostik und Gesundheitsversorgung bis erkrankungen oft schen mit, die eine Prognose nach dem heute nur wenig Berücksichtigung. nicht verstanden« Infarkt verschlechtern. Zudem kommen Zu wenig, meint Vera Regitz-Zagrosek, bei Frauen häufiger unbekanntere Formen Professorin an der Berliner Charité. Schon Prof. Dr. Vera vor, etwa ein Herzinfarkt, der durch einen Regitz-Zagrosek als junge Kardiologin fiel ihr auf, dass Kardiologin und Riss in der Innenwand der Herzkranzgefä- Herzerkrankungen bei Frauen eine andere Gendermedizinerin ße entsteht. „Und ein solcher Infarkt kann Herangehensweise erfordern. „In meiner Zeit als Oberärztin merkte ich, dass bei Frauen Symptome oft nicht verstanden HERZINFARKT: STERBEFÄLLE IN DEUTSCHLAND wurden, dass die Frauen bestimmte Medi- kamente nicht vertragen haben oder die 42.549 Frauen Dosierungen nicht passten“, erklärt sie. Männer 36.803 „So habe ich angefangen, mich vermehrt 34.412 33.563 mit dem Thema zu beschäftigen.“ Die 30.346 28.503 Kardiologin untersucht den Einfluss des 26.590 25.921 21.601 Geschlechts auf die Prävention, Entste 18.361 hung, Diagnose, Therapie und Erfor- schung von Krankheiten. Von 2007 bis 2019 leitete sie das Institut für Geschlech- terforschung in der Medizin an der Chari- té in Berlin, den bis heute einzigen Lehr- Quelle: Destatis stuhl für Gendermedizin in Deutschland. 1999 2004 2009 2014 2019 Entsprechend weiß Regitz-Zagrosek ge- nau, wie unterschiedlich sich manche Er- Unterschätztes Risiko: Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die häufigste Todesursache bei Frauen und Männern in Deutschland. Etwa 40 Prozent aller Todesfälle bei Frauen sind darauf zurückzufüh- krankungen äußern können. ren. Das bedeutet, dass Frauen häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben als an Brustkrebs. Ein Herzinfarkt zum Beispiel wird im- Trotzdem gelten diese Erkrankungen weiterhin als typisch männlich und ärztliches Personal, aber mer noch von vielen als Männerkrankheit auch Frauen selbst unterschätzen häufig das Erkrankungsrisiko. 2/2021
Seite 10 SEISMOGRAF entscheide man sich oft nur für männliche tätsklinikum Tübingen, kritisiert das fehlen- Probanden, kritisiert Regitz-Zagrosek. Eine de Bewusstsein für geschlechtsspezifische systematische Untersuchung beider Ge- Unterschiede in der Medizin. Innerhalb des schlechter gebe es häufig nicht. „Weniger Forschungsprojekts „Frauengesundheit und als zehn Prozent der Tierversuche werden Präventionsmedizin“ haben Joos und ihr an beiden Geschlechtern durchgeführt“, Team um Professorin Stephanie Wallwiener so die Professorin. Grund dafür sei, dass von der Unifrauenklinik Heidelberg, dem man lange geglaubt habe, dass es bei Forschungsinstitut für Frauengesundheit weiblichen Mäusen zu starke hormonelle des Uniklinikums Tübingen und der AOK Schwankungen gebe, um in Tierversuchen Baden-Württemberg die anonymisierten aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen. Daten von knapp vier Millionen AOK-Ver- sicherten analysiert und nach geschlechts- »Frauen spezifischen Gesichtspunkten ausgewertet. Dabei untersuchten sie auch den Verlauf bekommen verschiedener Erkrankungen bei Männern Arzneimittel, die und Frauen. Auf Basis ihrer Auswertungen kaum an ihrem wollen die Wissenschaftlerinnen und Wis- Geschlecht senschaftler herausfinden, ob Männer und Bild: Privat getestet wurden« Frauen eine spezifische Versorgung oder Herz für Frauen: Die Kardiologin Vera Regitz- spezielle Präventionsangebote brauchen. Zagrosek vom Institut für Geschlechterforschung Prof. Dr. Vera „Neben den gynäkologischen und uro- in der Medizin an der Charité in Berlin Regitz-Zagrosek logischen Besonderheiten, die für beide Gendermedizinerin Geschlechter spezifisch sind, gibt es eine Frauen durchaus schon in jüngerem Alter ganze Menge weiterer Aspekte, die bei treffen“, so Regitz-Zagrosek. „Manche Forscher geben das Geschlecht der gendersensiblen Gesundheit eine Rolle Depressionen und Autoimmunerkran- der Versuchstiere gar nicht an“, so Regitz- spielen“, sagt Joos. So sei etwa bekannt, kungen wie Rheuma oder Multiple Sklero- Zagrosek. Es sei jedoch wichtig, in Studien dass einige Arzneistoffe bei Männern und se werden ebenfalls häufiger bei Frauen di- beide Geschlechter zu betrachten – sowohl Frauen unterschiedlich wirken. „Östrogen agnostiziert. Gleichzeitig sind Mädchen in Tierversuchen als auch bei Medikamen- beeinflusst zum Beispiel die Reizleitung und Frauen in der Kindheit und als Erwach- tentests am Menschen. „In der ersten Pha- am Herzen, weshalb sogenannte QT-ver- sene gesünder als Jungen und Männer. In se von Arzneimittelstudien am Menschen längernde Medikamente, also etwa Anti- der Jugendzeit ist es umgekehrt. Denn in werden oft nur Männer genommen, weil depressiva, möglicherweise bei Frauen der Pubertät leiden Mädchen vergleichs- bei Frauen erst eine mögliche Schwanger- häufiger Nebenwirkungen am Herzen aus- weise häufiger unter Schmerzen, Schlaf- schaft ausgeschlossen werden müsste“, er- lösen können“, so die Medizinerin. Das oder Essstörungen und unter Depressio- klärt die Wissenschaftlerin. Frauen nähmen weibliche Geschlecht könne aber auch ein nen. Das zeigt auch der erste Bericht zum häufig erst in einer sehr späten Phase an Risikofaktor für zu spät gestellte Diagno- Thema „Gesundheitliche Lage der Frauen Medikamentenstudien teil. „Das heißt also, sen sein, zum Beispiel im Falle eines Herz- in Deutschland“ des Robert Koch-Instituts sie bekommen Arzneimittel, die kaum an infarkts oder bei einer HIV-Infektion, da und des Statistischen Bundesamtes, der im ihrem Geschlecht getestet wurden.“ diese Erkrankungen als „untypisch“ für Dezember 2020 veröffentlicht wurde. Frauen eingeordnet würden. Trotz der teils großen Unterschiede BIOLOGISCHE UND SOZIALE FAKTOREN Auch am Thema Corona gehe die Ge- zwischen den Geschlechtern kommen Auch Stefanie Joos, Ärztliche Direkto- schlechterfrage nicht vorbei, meint Joos. Frauen in der medizinischen Forschung oft rin des Instituts für Allgemeinmedizin und „Männer haben bei einer Covid-Erkran- zu kurz. In Studien und bei Tierversuchen Interprofessionelle Versorgung am Universi- kung je nach Altersgruppe ein drei- bis Quelle: RKI, Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland, Berlin 2020 Die geschlechtsspezifische Medizin Die Gendermedizin ist ein Teilgebiet der Humanmedizin. Sie turelle Geschlecht („gender“), etwa im Hinblick auf Geschlech- beschäftigt sich mit dem Einfluss von Geschlecht auf die Prä- terrollen und Lebensstile. Ziel ist eine Verbesserung der Qualität vention, Entstehung, Diagnose, Therapie und Erforschung von der medizinischen Versorgung durch mehr Gendersensibilität. Erkrankungen. Dabei werden sowohl Fragen thematisiert, die Die Gründung der ersten Gendermedizin-Institute erfolgte im das biologische Geschlecht („sex“) betreffen, beispielsweise die Jahr 2001 in New York, 2002 am Karolinska-Institut in Stock- Genetik und den Hormonstoffwechsel, als auch das soziokul- holm und 2003 an der Charité in Berlin. 2/2021
Seite 11 SEISMOGRAF vierfach höheres Risiko als Frauen für ei- wusstsein für die Relevanz von geschlech- S TA N D P U N K T nen schweren Verlauf. Die Ursachen sind tersensiblen Aspekten angekommen“, zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht geklärt, heißt es. Es sei aber auch „sehr deutlich“, ebenso wenig wie die Frage, ob sich die dass die Integration von geschlechtersen- Wirkung und Nebenwirkungen der Impf- siblen Aspekten in die Lehre „noch nicht stoffe in Abhängigkeit des Geschlechts genügend vorangeschritten ist“. PD Dr. Sabine Knapstein Bild: AOK unterscheiden.“ Stefanie Joos fordert deshalb ein stär- Medizinische Expertin bei der AOK Baden-Württemberg Bei der Betrachtung geschlechtsspezifi- keres Bewusstsein für das Thema in der scher Unterschiede müssten aber nicht nur Lehre, der Versorgung und der öffentli- anatomische und physiologische Beson- chen Wahrnehmung sowie ein „generelles derheiten von Mann und Frau berücksich- tigt werden, sondern auch das soziale und Umdenken“ in der Forschung. „Es ist wichtig, dass die gendersensible Medizin Großer kleiner kulturelle Umfeld sowie der persönliche mehr Aufmerksamkeit bekommt, dass Unterschied Lebensstil der Geschlechter, meint Joos. weitere Forschungsprojekte spezifisch „Denn auch diese Aspekte wirken sich auf gefördert werden, dass aber auch – und Die Pandemie hat auch das bewirkt: Erkrankungshäufigkeiten, Selbstmanage- das halte ich für elementar – in allen an- Durch die unterschiedlichen Krank- mentkompetenzen und die Inanspruch- deren Forschungsprojekten, die nicht heitsverläufe von Covid-19 bei Frau- nahme medizinischer Leistungen aus.“ speziell auf das Thema ausgelegt sind, im- en und Männern rückt das Thema mer auch geschlechtersensible Analysen Gendermedizin stärker in den Blick. FEHLENDE VERMITTLUNG IM STUDIUM mitberücksichtigt und dann auch publi- Der vermeintlich kleine Unterschied Schon bei der Ausbildung von Ärztinnen ziert werden“, so Joos. „Das ist kein so hat medizinisch oft gravierende Fol- und Ärzten zeigt sich Handlungsbedarf. großer Aufwand und würde unser bisher gen. Trotz dieses Wissens sind die Ver- Denn in der Lehre ist gendermedizinisches noch sehr löchriges Bild der Geschlechter- schiedenheiten nicht ausreichend er- Wissen nicht weit verbreitet. Ein Gutach- unterschiede im Bereich der Medizin forscht, geschweige denn werden sie ten der Charité Berlin, des Deutschen Ärz- vervollständigen.“ in der Praxis berücksichtigt. Das Ziel tinnenbundes und der Deutschen Gesell- Auch Vera Regitz-Zagrosek sieht gro- der Gendermedizin ist eine bedarfs- schaft für Geschlechtsspezifische Medizin ßen Nachholbedarf – in Lehre, Forschung gerechte Versorgung von Frauen und aus dem Jahr 2020 zeigt, dass Medizinstu- und Politik. „Wir müssen bei heranwach- Männern. In der Kardiologie ist das dierende zu wenig darüber lernen, wie senden Ärztinnen und Ärzten ein Bewusst- angekommen. In vielen anderen Dis- sich das Geschlecht auf Krankheiten und sein für das Problem schaffen und die ziplinen nicht. Das muss sich ändern. Therapien auswirkt. Zwar sei an den meis- Gendermedizin in der Lehre fördern“, sagt Frauen dürfen nicht erst in der al- ten Medizinischen Fakultäten „ein Be- sie. „Und die Politik sollte vor allem die lerletzten Runde in Testreihen ein- bezogen werden. Auch wenn das »Das weibliche vielleicht teurer ist. Geschlechtsspezi- fische Faktoren müssen in der Diag- Geschlecht ist ein nostik, bei der Entwicklung von The- Risikofaktor für zu rapien und auch in der Prävention spät gestellte von Beginn an mitgedacht werden. Diagnosen« Genauso wie es selbstverständlich sein muss, dass die Gendermedizin in die medizinischen Lehrpläne ge- Prof. Dr. Stefanie Joos hört. Alles was wir heute wissen, Ärztliche Direktorin am muss auch gelehrt werden. Und das Uniklinikum Tübingen Wissen muss sich vermehren. Dafür Arzneimittelforschung dazu verpflichten, braucht es Forschung. Daran arbei- statistisch zu testen, also Daten zu Män- ten die Teams um Stefanie Joos und nern und Frauen zu erheben und offenzu- Stephanie Wallwiener in engem Aus- legen.“ Zwar sei das Bewusstsein für gen- tausch mit dem Team medizinischer dermedizinische Fragen in den letzten Expertinnen der AOK Baden-Würt- Jahren schon etwas gewachsen, dennoch temberg. Mit unserem Engagement sei die Medizin in Deutschland immer noch in Kooperationsprojekten wie diesem Bild: Privat sehr geschlechterblind, meint Vera Re- stehen wir für den Anspruch ein, Ver- gitz-Zagrosek. „Es gibt zwar Tropfen auf sorgung weiterzuentwickeln. Mehr Aufmerksamkeit: Allgemeinmedizinerin Stefanie Joos wirkt mit im Forschungsprojekt Frau- den heißen Stein, aber die reichen noch engesundheit und Präventionsmedizin in Tübingen lange nicht, um den Stein zu kühlen.“ cf 2/2021
Seite 12 GESUNDHEIT & VERSORGUNG Bild: Adobestock.com © New Africa Bildschirm bevorzugt: Das frisst viel Zeit und ist nicht gesund Hoher Medienkonsum schadet der Entwicklung Kinder und Jugendliche sitzen zu viel vor Handy, Fernseher und PC. Die gesundheitlichen Folgen können erheblich sein D die Coronapandemie Zipp, Kinder- und Jugendarzt bei der AOK Knapp die Hälfte der befragten Eltern hinterlässt bei Kin- Baden-Württemberg, und bezieht sich da- (44 Prozent) bemerken laut Forsa-Be- dern und Jugendli- bei auf die 40 Prozent der 15- bis 18-Jähri- fragung bei ihrem Kind mindestens ei- chen Spuren – so- gen, die sich laut Forsa-Studie täglich ne der folgenden Beschwerden oder Ver- wohl in seelischer als 3 Stunden oder länger mit Medien be- haltensweisen: Konzentrationsprobleme auch in körperlicher Hinsicht. Kontakte zu (14 Prozent), ungesunde Ernährung oder Gleichaltrigen sind eingeschränkt. Schul- »Täglich etwa zwei unregelmäßiges Essen (13 Prozent), Schlaf- und Vereinssport finden nicht statt. Dass probleme (11 Prozent) und Kurzsichtig- Medien dann eine noch wichtigere Rolle Stunden raus an die keit (10 Prozent). Für den AOK-Experten spielen, verwundert nicht. 51 Prozent der frische Luft senkt Hans-Peter Zipp ist diese Rückmeldung Kinder in Baden-Württemberg schauen an das Risiko für eine Anlass zur Besorgnis, da auch häufige Me- einem durchschnittlichen Tag mindestens Kurzsichtigkeit« diennutzung gerade im Kindesalter die all- eine Stunde auf einen Fernsehbildschirm, gemeine Entwicklung gefährden kann. Monitor oder auf ein Smartphonedisplay. Um die Kinder und Jugendlichen vom Dr. Hans-Peter Zipp Am Wochenende ist es sogar noch mehr. Kinder- und Jugendarzt bei der Bildschirm fernzuhalten und beispielswei- Jeder Dritte gibt an, dass sein Kind mehr- AOK Baden-Württemberg se einer Kurzsichtigkeit vorzubeugen, hat mals pro Woche fragt, ob es länger vor Hans-Peter Zipp deshalb einen Tipp: Täg- den Bildschirm darf. schäftigen. Vor allem ältere Kinder ver- lich etwa zwei Stunden raus an die frische An erster Stelle steht der Fernseher bringen hierzulande damit viel Zeit. Luft. Das senkt das Risiko, dass eine Kurz- (78 Prozent). Das ergab eine Umfrage des Die Mehrheit der befragten Eltern (67 sichtigkeit entsteht oder sich stark aus- Meinungsforschungsinstituts Forsa unter Prozent) gibt an, dass ihr Kind an einem prägt. 507 Eltern von Kindern zwischen einem durchschnittlichen Samstag beziehungs- Die Initiative „Schau hin! Was Dein und 18 Jahren, die im Auftrag der AOK weise Sonntag mindestens eine Stunde Kind mit Medien macht“ unterstützt El- Baden-Württemberg im Herbst durchge- auf einen Bildschirm schaut – darunter tern mit Kindern bis 13 Jahren dabei, ih- führt wurde. Heranwachsende verbringen 27 Prozent, die schätzen, dass es sogar ren Nachwuchs im Umgang mit inzwischen ebenso viel Zeit vor dem Bild- mindestens drei Stunden sind, was vor al- Medien stark zu machen. srö schirm wie in der Schule, sagt Hans-Peter lem Jungen betrifft. schau-hin.info 2/2021
Seite 13 GESUNDHEIT & VERSORGUNG Trampolin macht stark S TA N D P U N K T Sucht isoliert nicht nur die Süchtigen, sondern auch ihre Kinder. Die AOK stärkt Letztere deshalb im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts Bild: privat Alexander Kölle B Kinderpräventionsexperte der estimmt ist Papa so unglück- Die AOK übernimmt seit 2017 die Kos- AOK Baden-Württemberg lich und trinkt, weil ich ihn ten für die rund 20 von zertifizierten enttäuscht habe.“ Für Außen- Kräften geleiteten Gruppen, für die Pro- stehende kaum nachvollziehbar, aber jektorganisation, die Koordinationsge- SUCHTPRÄVENTION viele Kinder halten sich für schuldig oder spräche und vieles mehr. „Andere Bun- zumindest für mitschuldig an den Sucht- desländer neiden uns diese einzigartige problemen ihrer Eltern – ganz gleich, ob AOK-Förderung des so hochwertigen Raus aus der es um Alkohol, Tabletten oder andere Programms“, so Niemeier. Trampolin Drogen geht. Daher kommen sie auch wurde vom Uniklinikum Eppendorf und Isolation nicht auf die Idee, dass es noch andere der Katholischen Hochschule Köln ent- Kinder in der gleichen Situation gibt. wickelt, erprobt und evaluiert. Wir wissen alle, wie bedeutend für Oft haben sie zudem nicht die Zeit, sich Kinder von Suchtkranken entwickeln uns die Worte von Vater und Mutter auf die Suche nach Leidensgenossen zu Studien zufolge zu einem Drittel eine waren und wie wir uns an ihrem Le- machen, müssen sie sich doch neben Abhängigkeitserkrankung, ein weiteres bensmodell orientiert oder abgear- der Schule noch um den Haushalt, Ge- Drittel psychische oder psychiatrische Er- beitet haben. Eltern prägen bis ins schwister und das Aufrechterhalten der krankungen – außerdem fallen 32 Pro- eigene hohe Alter. Was aber, wenn Fassade kümmern. zent höhere Gesundheitskosten an. Nie- der Vater oder die Mutter nicht klar- „Dabei kann der Austausch mit Lei- meier mahnt, Kinder suchtkranker Eltern kommt mit der eigenen Existenz, densgenossen viel bewirken. Wenn man auch in Pandemiezeiten nicht zu verges- überfordert zur Flasche greift und erkennt, dass ein anderes Kind nichts sen: „Von vielen Standorten habe ich dem Nachwuchs kein gutes Vorbild für die Probleme seiner Eltern kann, hat gehört, dass man sich dort große Sor- sein kann? Solche Kinder leiden oft man schon fast verstanden, dass man gen um die Schützlinge macht.“ Rund still und werden nicht selten selbst selbst auch nicht für die Lage des ei- jedes sechste Kind ist nach Schätzungen krank. Sehr lange wurden sie als genen Vaters oder Mutter verantwort- betroffen, in Baden-Württemberg rund mögliches Ziel wirkungsvoller Inter- lich ist“, weiß Christa Niemeier von der 150.000 Kinder bis 15 Jahre. ink vention völlig übersehen. Immerhin Landesstelle für Suchtfragen. Sie ist Teil hat sie die aktuelle Stellungnahme des in Deutschland einmaligen Projekts der Bundesregierung zum Präventi- Trampolin. Es kümmert sich pro onsbericht der nationalen Präventi- Gruppe um fünf bis acht Kin- onskonferenz nun als Bevölkerungs- der suchtkranker Eltern gruppe identifiziert, der man mehr im Alter von acht bis Unterstützung angedeihen lassen zwölf Jahren. Für die sollte. Ich bin stolz, dass die AOK und Bild: iStock.com © shapecharge Eltern findet zum Start die Landesstelle für Suchtfragen be- und Abschluss jeweils reits seit 2017 solche Kinder fördern. ein 90-minütiger Eltern- Wir wären nicht die AOK, wenn wir abend statt. nicht auch hier auf bewährte regio- nale Netzwerkstrukturen setzen wür- den, deren Partner ein echtes Inte resse haben und sich mit dem Thema Mehr Selbstbewusstsein lernen und den lokalen Gegebenheiten sehr gut auskennen. Bislang konnten wir Um die Kinder suchtkranker Eltern zu unterstützen und ihnen zu helfen, mehr als 70 Gruppen von Kindern nicht zu erkranken, wurde das modulare Gruppenprogramm entwickelt. In suchtkranker Eltern unterstützen. Je neun Terminen à 90 Minuten können sie sich austauschen. Jede Woche geht gesünder und stabiler Kinder in der es um ein anderes Thema. Dazu gehören: Wie wirken Drogen? Wie kann ich Jugend sind, desto größer sind die mit der schwierigen Situation umgehen? Was kann ich für mich selbst tun, Chancen, dass sie als Erwachsene gut um stabil zu bleiben? Wo bekomme ich Hilfe? So werden gesundheitsförder- durchs Leben kommen. liche Verhaltensweisen eingeübt und das Selbstbewusstsein gestärkt. 2/2021
Seite 14 HIER & JETZT MELDUNGEN MODELLPROJEKTE & ERFAHRUNGEN Erfolgskonzept wird weiter ausgebaut Entlastungsassistentin. Seit 2014 fördern die AOK Baden-Württemberg und die Bosch BKK die besondere Tätigkeit der Entlastungs- assistentin in der Facharztpraxis (EFA). Mitt- lerweile sind im gemeinsamen FacharztPro- gramm bereits mehr als 600 EFAs in den Fach- gebieten Gastroenterologie, Kardiologie, Neu- rologie, Orthopädie, Rheumatologie und Uro- logie aktiv. Sie unterstützen die Ärztin oder den Arzt durch die Übernahme delegations- fähiger Aufgaben und tragen so zu höherer Versorgungssicherung und -qualität bei. Nun Bild: Adobestock.com © coldwaterman sind zwei weitere Ausbildungsprogramme für die Fachbereiche Nephrologie und Pneumolo- gie in Vorbereitung. Außerdem wird zukünftig rund ein Viertel des 80-stündigen EFA-Lehr- programms durch Online-Schulungen auf dem Mediverbund Campus angeboten – einer In der Praxis: Entlastungsassistentinnen im vergangenen Herbst gestarteten digitalen übernehmen Aufgaben von Ärztinnen und Ärzten Fortbildungs- und Vernetzungsplattform. Unternehmen Mehr Gesundheit und rücken zusammen Jobzufriedenheit in der Pflege Mitarbeitergesundheit. Gemeinsam die Modellprojekt. Ziel einer guten Pflege ist es, die Mobilität und Unabhängigkeit Gesundheit in den Blick nehmen, das haben von Pflegebedürftigen bestmöglich zu erhalten. „Gleichzeitig ist es für die Versor- sich die beiden Betriebsnachbarschaften vor- gung von Pflegebedürftigen wesentlich, dass die Pflegekräfte selbst gesund blei- genommen, zu denen sich Unternehmen in ben und mit ihrer Arbeit zufrieden sind“, sagt Andreas Hoffmann, Vorstand der Oberkirch und in Freiburg auf Initiative der Caritas Konstanz. Beide Aspekte stehen im Mittelpunkt des neuen Modellpro- AOK-Bezirksdirektion Südlicher Oberrhein jekts „Kinästhetik“, das die Caritas mit Unterstützung der AOK Baden-Württem- zusammengeschlossen haben. In vielen Un- berg realisiert. Alle Beschäftigten werden dabei in die Lage versetzt, die Mobilität ternehmen ist die Betriebliche Gesundheits- der Pflegebedürftigen positiv zu beeinflussen. Das soll helfen, die Arbeit der Pfle- förderung als Thema angekommen, aber gekräfte zu erleichtern und deren körperliche und psychische Belastungen zu oft scheitern die Vorhaben an der Umset- reduzieren. Die wissenschaftliche Begleitung des bisher einmaligen Modellpro- zung, zum Beispiel mangels geeigneter Räu- jekts hat die Universität Konstanz übernommen. me oder entsprechend geschultem Personal. Dabei gibt es viele mögliche Synergieeffekte: Das eine Unternehmen hat vielleicht einen Noch mehr Vorteile für Chroniker Sportplatz, das andere eigene Gymnastik- HausarztProgramm. Auch die vierte Evaluation des Vertrags zur Hausarztzentrier- räume und wieder ein drittes eine geeignete ten Versorgung (HZV) bestätigt eine umfassend bessere Versorgungssteuerung für Küche. Im Verbund profitieren die Unterneh- die aktuell 1,73 Millionen teilnehmenden AOK-Versicherten. So ermittelte Professor men von vielfältigen Aktivitäten, die sie fi- Ferdinand Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Uni Frankfurt, nanziell und personell alleine nicht umsetzen bei HZV-Patientinnen und -Patienten mit koronaren Herzerkrankungen und Herzin- können. Im Rahmen der Betriebsnachbar- suffizienz einen signifikanten Rückgang der Klinikaufenthalte: „Im Jahr 2018 wa- schaft stellt die AOK ein breites und flexib- ren das allein bei Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz fast 3.000 weni- les Angebot an Kursen, Seminaren und Vor- ger als in der Regelversorgung.“ Speziell bei chronisch Kranken werden die Vorteile trägen bereit. Sie geht dabei stark auf die in- stetig größer, wie Analysen zeigen. Die Wissenschaftsteam führt das auf dividuellen Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen die besser koordinierte und intensivere Versorgung durch die Hausärztin und Mitarbeiter ein. oder den Hausarzt zurück. aok.de/bw/hausarztprogramm 2/2021
Seite 15 HIER & JETZT Mit Luft nach oben Ein neuer Bericht zeigt, wie sich die medizinische Versorgung in Deutschland im europäischen Vergleich schlägt. Wir geben viel Geld aus, aber nicht alles läuft optimal Ländervergleich: Wie gesund sind die EU-Bürgerinnen und braucht, wird versorgt. Aber es ist bekanntlich nicht alles Gold, -Bürger und was leisten die Gesundheitssysteme der EU-Län- was glänzt. Bei der Lebenserwartung sind die Deutschen nur im der? Das analysiert alle zwei Jahre der Bericht „State of Health Mittelfeld. Auch werden in Deutschland noch viel zu häufig Pa- in the EU“, den die Organisation für wirtschaftliche Zusammen- tientinnen und Patienten ins Krankenhaus eingewiesen, die auch arbeit und Entwicklung (OECD) gemeinsam mit der EU-Kom- ambulant behandelt werden könnten. mission veröffentlicht. Deutschland ist in gewisser Hinsicht Spit- Fazit: Durch eine Stärkung der Primärversorgung – wie sie die ze, denn kein anderes Land gibt prozentual so viel Geld für die AOK Baden-Württemberg vorantreibt – ließe sich die Versorgung Gesundheit seiner Bürger aus. Den Menschen hierzulande steht verbessern und Kosten senken. Die hohe Zahl der Klinikaufnah- vergleichsweise viel medizinisches Personal zur Seite. Wer Hilfe men könnte man durch bessere Koordination senken. GESUNDHEITSAUSGABEN PRO-KOPF-AUSGABEN LEBENSERWARTUNG 11,7 % 8,3 % des BIP des BIP 4.504 pro Kopf 2.572 pro Kopf 81 81Jahre Jahre Im Vergleich zu anderen Ländern in Die Pro-Kopf-Ausgaben sind die Die Lebenserwartung entspricht dem EU- der EU sind die Gesundheitsausgaben höchsten in der EU und liegen deutlich Durchschnitt, ist allerdings niedriger als in in Deutschland hoch. über dem EU-Durchschnitt. den meisten westeuropäischen Ländern. ÄRZTLICHE UNGEDECKTER MEDIZINISCHER KRANKENHAUSBETTEN VERSORGUNGSDICHTE BEHANDLUNGSBEDARF 4,3 3,6 Ärztinnen & Ärzte 13,2 Ärztinnen & Ärzte 8,2 8 5 Quelle: Health at a Glance: Europe 2020, OECD/European Union 2020 Kranken- Kranken- Krankenhaus- Krankenhaus- 0,2 % 1,8 % der Gesamt- der Gesamt- pflegekräfte pro pflegekräfte pro betten pro betten pro 1.000 Einwohner 1.000 Einwohner 1.000 Einwohner 1.000 Einwohner bevölkerung bevölkerung Deutschland weist im europäischen Deutschland hat die höchste Deutschland verzeichnet ein äußerst Vergleich eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Krankenhausbetten niedriges Niveau an ungedecktem ärztliche Versorgungsdichte auf. in Europa. medizinischen Behandlungsbedarf. DEUTSCHLAND EU-DURCHSCHNITT 1/2021
Seite 16 STANDPUNKT REGIONALE VERSORGUNG Neue Wege braucht das Land Ein Pandemiepapier des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg gibt wichtige Impulse für künftige Krisen. Bestehende Strukturen müssen gestärkt werden Kosten zur Verfügung stehen fahrungen lernen und in Zukunft müssen. Sie sind für die Akut- unabhängiger von Importeuren behandlung – etwa im Bereich werden. Deshalb ist es wichtig, der Intensivmedizin – der an Co- den relevanten Bedarf im Bereich vid-19 Erkrankten essenziell. Zu- Medizintechnik und Wirkstoffe künftig wird es entscheidend zu bestimmen und dann zu ent- sein, ob der Gesundheitsstand- scheiden, ob der Aufbau bezie- ort gegen Krisen widerstandsfä- hungsweise die Erweiterung von hig aufgestellt und gestärkt wer- Produktionskapazitäten oder ei- den kann. Es ist deshalb wichtig, ne entsprechende Bevorratung die Versorgung mit den notwen- sinnvoll und finanziell leistbar ist. digen Produkten und Techniken Im Zusammenspiel mit der na- abzusichern. tionalen und der europäischen Ein wichtiger Baustein da- Ebene geht es dann darum, die bei ist eine aktive Standortpoli- Lieferketten im Hinblick auf Di- tik. Baden-Württemberg belegt versifizierung und Robustheit zu bundesweit im Bereich von Phar- überprüfen und den Produkti- Bilder: (c) Matthias Schmiedel ma- und Medizinprodukten den onsstandort Baden-Württemberg ersten Rang. Im Bereich Chemie gegebenenfalls entsprechend zu steht das Land an dritter Stelle. stärken. Gemeinsames Ziel aller Akteure Auch bei den regulatorischen muss es daher sein, diese Bedeu- Rahmenbedingungen besteht D er Gesundheits- tung noch stärker zu vermitteln Handlungsbedarf. Beispielswei- standort Baden- und bekannt zu machen. Wir se, wenn es um Anreize für die »Nötig ist Württemberg muss brauchen eine aktive Standort- heimische wirtschaftliche Pro- eine aktive den Schutz der Bevölkerung politik, um qualifizierte Fachkräf- duktion von Wirkstoffen geht. Standort- auch bei künftigen Pandemien te für Wissenschaft, Wirtschaft Hier ist es wichtig, zukünftig bewältigen können. Darüber und Versorgung zu sichern und Wege für mehr Produktionssi- politik, um besteht Konsens zwischen innovative Produkte und Dienst- cherheit zu finden. Die AOK Ba- uns auf den Ministerpräsident Winfried leistungen, die für eine Pande- den-Württemberg hat mit ihren regionalen, Kretschmann und der Themen- mievorsorge wichtig sind, er- jüngsten Ausschreibungen für nationalen sprechergruppe des Forums Ge- folgreich auf den regionalen, Arzneimittelrabattverträge wich- sundheitsstandort Baden-Würt- nationalen und internationalen tige Impulse gesetzt und die und inter- temberg. Dieses vereint rund Märkten zu platzieren. Versorgungssicherheit gestärkt. nationalen 500 Akteure aus den Bereichen Zu guter Letzt sollten der Dia- NETZWERKARBEIT STÄRKEN Märkten zu Gesundheitsforschung, -wirt- log und die Netzwerkarbeit zwi- schaft und -versorgung. Die Coronapandemie hat auch schen Wissenschaft, Wirtschaft platzieren« Corona hat eindrücklich ge- gezeigt, dass Wirtschaft und und Versorgung einschließlich zeigt, dass für den Schutz der Versorgung in einer globalisier- der Leistungsträger noch mehr Peer-Michael Dick Bevölkerung Arzneimittel, insbe- ten Welt abhängig von Kompo- gefördert werden. Das Denken Alternierender Vorsitzender sondere Impfstoffe, Medizinpro- nenten und Materialien aus dem in Fachdisziplinen und Zustän- des Verwaltungsrates der AOK Baden-Württemberg, dukte, Desinfektionsmittel und Ausland sind. Und sie hat ver- digkeiten muss aufgebrochen Arbeitgeberseite Labordiagnostik zu jedem Zeit- deutlicht, wie fragil Lieferketten werden. Baden-Württemberg ist punkt und zu verantwortbaren sind. Wir müssen aus diesen Er- da auf einem guten Weg. 2/2021
Seite 17 STANDPUNKT S E L B S T V E R WA LT U N G Zeit zum Umdenken Die Digitalisierung hat dank Corona einen Schub erlebt, der solidarische Wettbewerb eine Schlappe. Die Veranstaltung #AgendaGesundheit Forum gab Lösungsimpulse Z wischenbilanzen sind zur Kostendämpfung, beispiels- Umso wichtiger ist es, dass die in der Politik eine weise bei der Pharmaindustrie. Politik die Finanzautonomie der wichtige Sache. Auf Allein in Baden-Württemberg Kassen achtet und mehr Spiel- »Wir der einen Seite spiegeln sie die werden Versicherte und Arbeit- raum für eine verantwortungs- brauchen im konkrete Lage zu einem be- geber in diesem Jahr mit mehr volle und weitsichtige Finanz- Interesse der stimmten Zeitpunkt wider. Auf als 600 Millionen Euro belas- planung oder für regionale der anderen Seite verschaffen tet. Gepaart mit der Regional- Gestaltungsmöglichkeiten der Versicherten sie einen guten Ausblick für komponente im Krankenkassen- Gesundheitsversorgung zulässt. wieder mehr künftige Entwicklungen. Fakt Finanzausgleich fließt allein 2021 Es ist Zeit für eine zielgerichte- Spielraum ist: In der Gesundheitspolitik mehr als eine Milliarde Euro aus te und in vielen Bereichen um- besteht dringender Handlungs- dem baden-württembergischen fassende Reform, die die Struk- für eine bedarf. Die Coronapandemie hat Gesundheitswesen ab. Zweifel- turen weiter verbessert, zugleich um- und uns gelehrt, dass vieles auf den los haben die Strukturen des Ge- aber auch auf die Kosten achtet weitsichtige Prüfstand gehört. Das wurde und Effizienzpotenziale hebt, et- Finanz- beim ersten digitalen Forum »Die GKV muss wa durch Digitalisierung. Außer- der AOK Baden-Württemberg dem müssen Leistungen, die den planung« den Anforde- deutlich. Wenn der renommierte Menschen nicht (mehr) wirklich Gesundheitsökonom Jürgen rungen des nützen, auf den Prüfstand. Die Wasem von der Universität Duis- 21. Jahrunderts Änderungen sollten so gestaltet Monika Lersmacher Alternierende Vorsitzende des burg-Essen bei seinem State- gerecht werden werden, dass die GKV den An- Verwaltungsrates der AOK Baden-Württemberg, ment zum Ausdruck bringt, dass können« forderungen des 21. Jahrhun- Versichertenseite die „fetten“ Jahre vorbei sind, derts gerecht werden kann. lässt das aufhorchen. sundheitswesens angesichts einer Verantwortlich für die Mise- zehnjährigen Phase weitgehen- re sind neben den spezifischen der wirtschaftlicher Hochkon- Mehrausgaben durch Covid-19 junktur Auswüchse erfahren, die vor allem die zahlreichen Geset- die GKV und ihre Versicherten in ze, die vor der Coronapandemie schwächeren Konjunkturphasen auf den Weg gebracht wurden. nur schwer stemmen können. Wasems These: Der Finanzbedarf in der gesetzlichen Krankenver- EFFIZIENZPOTENZIALE HEBEN sicherung (GKV) wird im nächs- Lange war es so, dass hohe Bei- ten Jahr enorm steigen und sei- tragseinnahmen in den Gesund- ner Meinung nach zwischen 15 heitsfonds flossen, aus dem die bis 20 Milliarden Euro liegen. Die Krankenkassen die Mittel für jetzt vorgenommene Plünderung die Versorgung ihrer Versicher- der Rücklagen erfolgreicher und ten erhalten. Bereits Ende 2020 gut wirtschaftender Krankenkas- zeichnete sich jedoch eine Trend- sen sei im nächsten Jahr nicht wende ab. Erstmals gaben die nochmals möglich – ein struktu- Krankenkassen wieder mehr aus, relles Defizit unausweichlich. Die als sie aus dem Fonds erhielten. Alternativen, um diese Misere Dass die GKV aktuell enorm be- abzufedern, wären Beitragssatz- lastet wird, kommt also nicht erhöhungen oder Maßnahmen ganz überraschend. 2/2021
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