"Unternehmen Barbarossa" - Von Cassino bis Maleme - Volksbund Deutsche ...
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01/2021 Zeitschrift des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge NEUE AUSSTELLUNGEN Von Cassino bis Maleme AUSGESCHRIEBEN FÜR 2022 Friedenspreis: So sieht er aus SCHWERPUNKT „Unternehmen Barbarossa“ Angriff auf die Sowjetunion vor 80 Jahren GASTAUTOREN: Irina Sherbakova, Dr. Jörg Morré, Dr. Berthold Seewald
01 / 2021 VOLKSBUND 4 Editorial 5 In eigener Sache SCHWERPUNKT SOWJETUNION 6 „Unternehmen Barbarossa“ Zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die SU 9 Archive können sprechen 14 Deutsche und sowjetische Kriegsgefangene 12 Der bittere Preis des Sieges 22. Juni 1941 aus russischer Sicht Kriegsgräberstätten in der früheren Sowjet- 14 Ein Band zwischen den Völkern union im Fokus – hier Kriegsgräberstätten in der ehemaligen SU die Namenwürfel im 18 Erinnerungen statt Gräber russischen Rossoschka. Vladimir Pismenski Meine Familie an den Weltkriegs-Fronten AKTUELL 21 Mehr Präsenz bitte! Redakteurin rückt Ehrenmale ins Bewusstsein 22 Archäologie einer „Erbfeindschaft“ Krieg 1870/71 im Spiegel von Publikationen 24 Die Toten im Winterbergtunnel Sondierungsarbeiten am Winterbergtunnel 24 Spurensuche zwischen Sand und Sprengstoff in Nordfrankreich. 26 „Omas gegen Rechts“ Diane Tempel- Bürgerinitiative verschafft sich Gehör Bornett 28 Eine Taube für den Friedenspreis Wettbewerb entschieden, Jury gründet sich
JUGENDARBEIT 30 Wenn Not kreativ macht Jugendarbeit setzt auf neue digitale Formate 32 Geschichte verstehen Beispiele für internationale Workcamps 2021 GEDENKKULTUR 33 Rigas dunkle Zeiten Mehrfacher Blick: Deportation und Holocaust 34 Geschichte lebendig machen Neue Ausstellungen von Cassino bis Maleme 33 KOOPERATION 36 Vom Hörsaal auf die Kriegsgräberstätte Bundeswehr-Studierende engagieren sich Eine neue Ausstellung VOLKSBUND plant der Volksbund für 38 Auf die andere Tour die Gedenkstätte Riga- Bikernieki. Sammlung mit Abstand und Ideen Volksbund 39 Altartuch mit Eisernem Kreuz Fundstück: Der Koffer eines Kriegspfarrers 40 Alles, was möglich war Live-Führung online Rückblick auf ein Jahr im Ausnahmezustand über die Kriegsgräber- 30 stätte Niederbronn – ein Beispiel für neue AUS DEN LÄNDERN digitale Formate. 42 Kurzmeldungen Volksbund Namen und Nachrichten 45 Waffen zu Glocken Titelfoto: in Leningrad zur Zeit Stiftung unterstützte Projekte der Blockade während des Zweiten Weltkrieges. Museum Berlin-Karlshorst / Nikolaj Chandogin DIALOG Rückseite: auf der russischen Kriegsgräberstätte Duchowschtschina. 46 Leserbriefe Uwe Zucchi 46 Impressum
VOLKSBUND EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, vermutlich geht es Ihnen in dieser vorösterlichen Zeit wie mir: der Wunsch nach dem Ende des Aus- nahmezustandes mit seinen Lasten für jeden von uns persönlich, für unsere Gesellschaft und auch Kriegsgräberstätte in für unseren Volksbund wird schier übermächtig. Salla in Lappland nahe der russisch-finnischen Im Gräberdienst, in der Angehörigenbetreuung, Grenze. bei der Jugend- und Bildungsarbeit, bei der Bear- Volksbund beitung von Suchanfragen, in der Zusammenar- beit mit nationalen und internationalen Partnern – überall hat sich Arbeit aufgestaut, die wir ent- schlossen und tatkräftig gemeinsam anpacken Auf deutscher Seite wurden Millionen von Solda- müssen. ten in diesem verbrecherischen Angriffskrieg in den Tod geschickt. Die meisten von ihnen liegen In dieser Ausgabe unserer Zeitung berichten wir in der Erde der von ihnen überfallenen Länder be- Ihnen anhand einiger Beispiele, wie wir das an- graben. gehen werden. Die Betreuung und Pflege der 832 Kriegsgräberstätten im Ausland geht weiter. Daraus ergibt sich eine ganz besondere Verant- Längst noch nicht alle Kriegstoten haben ein wür- wortung unseres Landes und des Volksbundes diges Grab gefunden. Weitere Suchen und Um- für eine respektvolle und empathische Gedenkar- bettungsarbeiten bleiben die herausfordernde beit, der wir durch unsere Aktivitäten besonders Kernaufgabe. So führt uns zum Beispiel der aktu- gerecht werden wollen. Dazu dient unter ande- elle Bericht zum Winterbergtunnel in Frankreich rem eine mit den Landesverbänden entwickelte bis zum Ersten Weltkrieg zurück. Zusammen mit Panoramaausstellung, die wir in allen Bundeslän- unseren französischen Partnern prüfen wir aktu- dern zeigen werden – ein Dokument unseres En- ell die Möglichkeiten, die dort vermuteten Toten gagements für Erinnern, Gedenken, Versöhnen, zu bergen. Begegnung und Frieden. Kriegsgräberpflege geht auch 2021 einher mit Aus diesem Verständnis unserer Aufgabe heraus dem Gedenken an die Opfer von Krieg und Ge- freuen wir uns, dass diese unbeirrte Fortsetzung waltherrschaft. Eine ganze Reihe von Veranstal- unserer Versöhnungsarbeit angesichts der be- tungen zu unserem Drei-Jahres-Thema „Helden – dauerlichen Abkühlung des deutsch-russischen Täter – Opfer“ belegt erneut, wie wir Erinnerung, Verhältnisses sowohl von der Bundesregierung Gedenken und Lernen zu einer Einheit zusam- als auch von der russischen Seite ausdrücklich menführen. So leben wir zugleich die Verantwor- und mit Dank anerkannt wird. tung für unsere Geschichte und unsere Zukunft. Dafür, dass Sie uns durch Ihre Mitgliedschaft, In diesem Jahr gibt es dazu einen ganz besonde- Spenden und persönliches Mitwirken in unserer ren Grund: Im Juni jährt sich der deutsche Über- Arbeit unterstützen, danke ich Ihnen im Namen fall auf die Sowjetunion zum 80. Mal. Die sowjeti- des gesamten Volksbundes, vor allem aber per- sche Seite hat unter dieser Aggression entsetzlich sönlich von ganzem Herzen. WOLFGANG gelitten. Heute unvorstellbar ist die systemati- SCHNEIDERHAN sche Vernichtung von Teilen der Zivilbevölke- Ihr Präsident des rung, vor allem der Bürger jüdischen Glaubens Volksbundes in den besetzten Gebieten, durch die dicht auf die Uwe Zucchi Wehrmacht folgenden Einsatzgruppen der SS. 4 FRIEDEN 01•2021
VOLKSBUND EDITORIAL In eigener Sache Liebe Freunde und Mitglieder die Relevanz der Bildungs- und Gedenkarbeit des Volksbundes, auf Kriegsgräberstätten anerkannt und in die Förderung einbezogen. Und: Der Volksbund kann heute wende ich mich in eigener Sache an Sie, nun mit drei gleichberechtigt nebeneinander denn nach sechs Jahren als Generalsekretärin stehenden Aufgabenfeldern zu einer zeitgemä- werde ich zum 1. August 2021 eine neue spannen- ßen Erinnerungskultur beitragen: Bildung, Ge- de berufliche Herausforderung annehmen. denken, Fürsorge. Sie sind die tragfähigen Säulen dieser Arbeit, die das Kriegsgrab miteinander Beim Volksbund habe ich Länder und Menschen verbindet. Das Kriegsgrab im Mittelpunkt aller kennengelernt, mit denen unser Verein im engen Aktivitäten bekommt damit einen Sinn, der weit Austausch steht. Fasziniert und bewegt hat mich über die Trauer hinausgeht und aktiv zur „Frie- bei dieser Arbeit, wie stark familiäre und nationa- densvorsorge“ beiträgt. le Geschichten und Geschichte noch heute und in die Zukunft hinein wirken. Es hat mich berührt, Dennoch werden uns Suche und Umbettung von wie tief Kriege und Gewalterfahrung uns Men- Kriegstoten noch lange begleiten, wissen wir schen auch nach Jahrzehnten noch verletzen. doch von mehr als 800.000 Kriegstoten in Osteu- Und es hat mich motiviert, dass wir im Verein Im- ropa, die der Volksbund noch finden und würdig pulse setzen können, die aus der schmerzlichen beisetzen möchte. Dass diese Arbeit und die da- Erfahrung zur Mahnung, Bildung und Gestaltung mit verbundene Schicksalsklärung weitergeführt einer freien und friedlichen Zukunft beitragen. werden können, ist ein wichtiges Zeichen der Versöhnung. Auch dies gelingt nur dank Ihres Durch die Ausgestaltung der Kriegsgräberstätten steten Engagements und Ihrer großartigen Un- zu Lernorten, durch die Aufarbeitung von Kriegs- terstützung! Dafür sind wir Ihnen sehr dankbar. biographien und durch weitere Projekte der Be- gegnung und Bildung setzen wir Akzente, mit Versöhnung und Verständigung zu fördern, sich denen der Volksbund auch den nachfolgenden für- und miteinander einzusetzen, um für Frei- Generationen vermittelt, welche Auswirkungen heit, Toleranz und Respekt in einer demokrati Kriege und Gewalt haben. In Schulen, Jugendbe- schen Gesellschaft einzustehen, gehört zum Auf- gegnungsstätten, bei Workcamps und nun auch trag des Volksbundes, an den er durch die Mah- mit dem neuen PEACE LINE-Format ermöglicht nung des Kriegsgrabes stets erinnert. Mit mei- der Volksbund jungen Menschen aus vielen Län- nem Nachfolger Dirk Backen, der von August an dern, gemeinsam die Geschichte unseres Konti- die Stelle des Generalsekretärs im Volksbund ein- nents buchstäblich zu „erfahren“. Damit hat der nehmen wird, finden Sie einen erfahrenen und Volksbund eine ganz eigene „Impfkampagne“ engagierten Ansprechpartner, der dieses und alle eingeleitet, um Menschen gegen Nationalismus anderen Volksbund-Anliegen motiviert verfolgt. und Rassismus zu immunisieren. Meine neue Aufgabe besteht in der Leitung der Gleichzeitig haben diese Projekte sowie das Enga- Würth-Repräsentanzen in Berlin und Brüssel. Auch gement in europäischen Kooperationen und zeit- hier wird das Engagement für ein freies, demo- gemäßen erinnerungskulturellen Diskussionen kratisches und friedliches Europa, in dem die unserer Gedenk- und Bildungsarbeit internatio- Vergangenheit nicht vergessen und die Zukunft nal, politisch und öffentlich eine große positive aktiv gestaltet wird, zentral sein. Ich nehme die Wahrnehmung verschafft. Bei unseren Gedenk- vielen Eindrücke und Erfahrungen, die ich durch veranstaltungen haben wir Traditionen auf den die Arbeit, aber vor allem auch im Austausch und Prüfstand gestellt und mit interessanten Rednern in der Begegnung mit Ihnen, den Partnern und und innovativen Beiträgen neue Impulse aufge- Kollegen des Volksbundes sammeln konnte, sehr nommen. dankbar dahin mit. Öffentliche Träger und Abgeordnete im Bundes Herzlichst DANIELA SCHILY tag haben darauf reagiert und 2019 den inhalt- Generalsekretärin lichen und finanziellen Rahmen des staatlichen Ihre des Volksbundes Volksbund-Auftrags weiter gefasst. Damit ist Simone Schmid FRIEDEN 01•2021 5
SCHWERPUNKT SOWJETUNION RÜCKBLICK AUS DEUTSCHER SICHT „Unternehmen Barbarossa“ Juni 1941 – Gedanken zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion VON DR. JÖRG MORRÉ Vor 80 Jahren liefen die Vorbereitungen für das „Unternehmen Barbarossa“, den Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion, auf Hochtouren. Der Historiker Dr. Jörg Morré, Direktor des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst, analysiert Hitlers Pläne, den europäischen Teil Russlands in einem Blitzkrieg niederzuwerfen und das Riesenreich wirtschaftlich auszubeuten. D er Krieg gegen die Sowjetunion, der am fügung stehen („Lebensraum“). Zynisch nahmen 22. Juni 1941 begann, war ein deutscher die Planer den Tod von 30 Millionen sowjetischen Eroberungskrieg. Die nationalsozialisti- Zivilpersonen an, wobei ein kleiner, vermutlich sche Regierung unter Adolf Hitler wollte Boden- überlebender Teil zur Zwangsarbeit heranzuzie- schätze, landwirtschaftliche Erträge, und sie woll- hen sei. Während des Krieges aber – planerisch te den ganzen europäischen Teil der Sowjetunion waren das nicht mehr als vier Monate – sollte sich als Siedlungsgebiet für deutsche Kolonisten. die Wehrmacht aus dem Lande ernähren. Bereits ein Jahr zuvor hatte Hitler die Wehr- Der Wehrmacht-Führung war von Anbeginn an machtsführung über die Erfolgsaussichten eines klar, dass dieser Krieg außerhalb der völkerrecht- Feldzuges nachdenken lassen. Sie schätzte die lichen Normen geführt werden würde. Ende März Rote Armee als schwachen Gegner ein. Es sollte 1941 erläuterte Hitler den Generalen seine Absich- DR. JÖRG MORRÉ ein schneller Militärschlag, ein Blitzkrieg wer- ten und sprach vom „Kampf zweier Weltanschau- studierte Geschichts- den. Darauf baute Hitlers Weisung „Barbarossa“ ungen gegeneinander“. Er verlangte: „Wir müssen wissenschaften, Rus- vom 18. Dezember 1940 auf: Bis zum Winter 1941 vom Standpunkt des soldatischen Kameraden- sistik und Erziehungs- sollte die Wehrmacht den europäischen Teil der tums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein wissenschaften und Sowjetunion erobert haben. Parallel dazu sollten Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt promovierte in osteuro- diverse Reichsbehörden die vollkommene wirt- sich um einen Vernichtungskampf.“ päischer Geschichte. schaftliche Ausbeutung vorbereiten. Dabei ge- 1996 bis 2008 arbeitete riet es fast schon zur Nebensache, dass ein ganzes Mit 80 Jahren Abstand wissen wir, dass der er in den Gedenkstätten Land in seiner staatlichen, gesellschaftlichen und deutsch-sowjetische Krieg ganz anders verlief, als Sachsenhausen und kulturellen Verfasstheit zerstört werden sollte. damals geplant. Am Ende war er für viele deut- Bautzen. Seit 2009 sche Soldaten und ihre Familienangehörigen ein ist er Direktor des Hitlers Weisung setzte ein verbrecherisches Debakel. Er zog sich knapp vier Jahre hin bis zur Deutsch-Russischen Großunternehmen in Gang, das wir heute als Ver- bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945. Museums Berlin- nichtungskrieg bezeichnen. Ein „Hungerplan“ Ungefähr die Hälfte der gefallenen Soldaten der Karlshorst und gehört sah vor, den europäischen Teil der Sowjetunion Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg starb an der dem Wissenschaft zu entvölkern, indem die Einwohner entweder Ostfront (2,74 Millionen). Hinzuaddieren müs- lichen Beirat des nicht ernährt oder aber weit nach Osten vertrie- sen wir eine weitere halbe Million, die nicht aus Volksbundes an. ben würden. Zukünftig sollte das Land deutschen der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurück- Volksbund Siedlern zum Aufbau eines neuen Lebens zur Ver- kehrte. Strittig ist zudem die Zahl der Vermissten, 6 FRIEDEN 01•2021
SCHWERPUNKT SOWJETUNION RÜCKBLICK AUS DEUTSCHER SICHT die auf bis zu eine Million geschätzt wird. Aus deutscher Sicht gibt es viel zu betrauern. Und aus sowjetischer Sicht? Die Sowjetunion verlor in diesem Krieg rund 27 Millionen Sowjetische Kriegsgefangene in einem Lager bei Gshatsk im Menschen. Auf 8,4 Millionen werden die Gefallenen der Roten Dezember 1941. Armee beziffert. Weitere 3,3 Millionen Rotarmisten starben in deutscher Kriegsgefangenschaft. Die sowjetische Kriegs- führung war rücksichtslos gegenüber ihren Soldaten. Und Kolonne sowjetischer Kriegsgefangener bei Gshatsk im November doch kämpften sie mit dem Mut der Verzweiflung ebenfalls 1941. Fotos: Museum Berlin-Karlshorst / Albert Dieckman ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben. So gelang es der Roten Armee noch Anfang Dezember 1941, die übermächtig erschei- nende Wehrmacht vor Moskau zu stoppen. Die 1942 folgende Frühjahrsoffensive rückte die Rote Armee abermals an den konventionen wurzelte tief in der nationalsozialistischen Ideo- Abgrund. Und doch gewann sie Anfang 1943 in Stalingrad. logie des Vernichtungskrieges, die sich leider nur allzu viele Zögerlich begann sie, nun auch Siege zu feiern. Doch es waren Deutsche der damaligen Zeit zu eigen machten. noch zwei lange Jahre, bis der Krieg zu Ende war. Denn auf der deutschen Seite klammerten sich viele bis zum Schluss an das Der Krieg gegen die Sowjetunion war ein Weltanschauungs- Trugbild vom „Endsieg“ – und kämpften weiter. krieg. Von den 27 Millionen sowjetischen Opfern waren 15 bis 16 Millionen Zivilpersonen – exakte Zahlen werden nach wie In die unmittelbare Verantwortung der Wehrmacht fällt der vor wissenschaftlich diskutiert. Die sozialistische Geschichts- millionenfache Tod sowjetischer Kriegsgefangener. Traurige schreibung prägte dafür den Topos von den „friedlichen So- Berühmtheit erlangte der „Kommissarbefehl“, wonach Polit- wjetbürgern“. Das stimmt. Diese Menschen nahmen nicht an kommissare der Roten Armee sofort zu erschießen waren. Sie Kampfhandlungen teil. Aber millionenfach verursachten die galten als Träger des sowjetischen („bolschewistischen“) Sys- deutschen Eroberer ihren Tod. tems, das ausgerottet werden sollte. Rund 10.000 Kriegsge- fangene fielen diesem rechtswidrigen Befehl zum Opfer. Rund In dem Krieg gegen die Sowjetunion hatte die Wehrmacht drei Millionen Rotarmisten aber kamen in deutscher Gefan- ihren Soldaten grundsätzlich Straffreiheit zugesichert, sollten genschaft ums Leben, weil sie nicht angemessen versorgt wur- ihre Kampfhandlungen oder Besatzungsmaßnahmen den Tod den. Die Wehrmacht ließ sie arbeiten und die deutsche Rüs- von Zivilpersonen zur Folge haben („Kriegsgerichtsbarkeitser- tungsindustrie beutete sie aus, aber niemals ging es dabei um lass“). Es war die systematische Aushebelung gültiger Völker- den Erhalt ihres Lebens. Dieser eklatante Bruch aller Kriegs- rechtsnormen. FRIEDEN 01•2021 7
SCHWERPUNKT SOWJETUNION RÜCKBLICK AUS DEUTSCHER SICHT Alles war erlaubt, wenn es den Zielen der Wehrmacht diente. macht kümmerten sich um die Logistik des Massenmords. Bedrohungsängste der deutschen Soldaten wie beispielsweise Babi Jar stand in einer Reihe zahlreicher, ähnlich organisier- vor Angriffen aus dem Hinterhalt wurden geschürt. ter Massaker an der sowjetischen Zivilbevölkerung, die sich im ausgehenden Sommer 1941 mehr und mehr gezielt gegen Der unerbittliche Partisanenkrieg, den die sowjetische Füh- Juden richteten. Es ging nicht um die Absicherung eines Be- rung ausrief, tat in dieser Hinsicht ein Übriges. „Vergeltungs- satzungsregimes. Jetzt ging es um Völkermord. Anfang 1942 maßnahmen“ – und waren sie noch so überzogen oder gar kon- koordinierte die „Wannsee-Konferenz“ das Morden europa- struiert – waren prinzipiell erlaubt. Denn am Ende sollten die weit. Der Holocaust war eine mittelbare Folge des deutschen eroberten Gebiete ja deutsches Siedlungsgebiet ohne einhei- Überfalls auf die Sowjetunion. mische Bevölkerung werden. Die Belagerung Leningrads über 900 Tage mit bis zu einer Million verhungerter und erfrore- Im Nachkriegsdeutschland hat es Jahrzehnte gedauert, bis die ner Einwohner folgte der gleichen Logik. Das rücksichtslose Geschehnisse dieses deutsch-sowjetischen Krieges systema- Vorgehen gegen die sowjetische Zivilbevölkerung dauerte so tisch dokumentiert, erforscht und in ihrer Dimension ganz lange an, wie sich deutsche erfasst wurden. Einen ersten Soldaten auf sowjetischem publikumswirksamen Ver- Boden befanden. Selbst ihr such in diese Richtung mach- Rückzug 1943/44 kostete »Es ging nicht um die Absicherung te die Ausstellung „Der Krieg noch einmal hunderttausen- gegen die Sowjetunion“ der de Sowjetbürger das Leben. eines Besatzungsregimes. Stiftung Topographie des Ter- rors in Berlin zum 50. Jahres- Jetzt ging es um Völkermord.« Im Rücken der kämpfenden tag des deutschen Überfalls. Wehrmacht folgten Hitlers DR. JÖRG MORRÉ Vier Jahre später griff das „Truppen des Weltanschau- Hamburger Institut für So- ungskrieges“ (Helmut Kraus- zialforschung das Thema auf. nick) – die Einsatzgruppen. Um dessen „Wehrmachts- Das waren eigens gebildete Kommandos aus SS und Sicher- ausstellung“ entbrannte ein erbitterter Streit, weil viele da- heitspolizei, die eng mit der Wehrmacht kooperierten. Bereits mals noch lebende Wehrmachtssoldaten sich als Mörder diffa- beim Überfall auf Polen 1939 hatten sie eine Rolle dabei ge- miert sahen. spielt, widerständige Gruppen im Lande gewaltsam zu unter- drücken beziehungsweise gezielt zu verfolgen. Wissentlich Zur selben Zeit aber legte die Berliner Ausstellung das Funda- ließ die Wehrmacht in ihrem Rücken die Sonderkommandos ment zu der deutsch-russischen Dauerausstellung im Museum der Einsatzgruppen Massaker an der sowjetischen Bevölke- Berlin-Karlshorst, dem ehemaligen sowjetischen Militärmu- rung verüben. Sie half sogar dabei. seum am historischen Ort der Kapitulation der Wehrmacht. Während die „Wehrmachtsausstellung“ trotz oder eben gerade Ein prominentes Beispiel ist „Babi Jar (Babin Yar)“. Im Sep- wegen der heftigen Polemiken viele Impulse für weitere For- tember 1941 erschoss das Sonderkommando 4a in Kiew knapp schungen gab, trug die Ausstellung in Karlshorst zu einer bis 33.800 jüdische Einwohner als Vergeltungs- und damit quasi heute andauernden deutsch-russischen Verständigung bei. Es als Besatzungsmaßnahme. Einheiten der 6. Armee der Wehr- ist wichtig, dass wir uns der Vergangenheit stellen. DAUER- UND SONDERAUSSTELLUNGEN Das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst Der große Saal ist das geschichtsträchtige Herzstück des „Deutschland und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg Museums: Dort unterzeichneten die Oberbefehlshaber der 1941-45“ und regelmäßige Sonderausstellungen lohnen Wehrmacht in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 vor Ver- den Besuch. Auch das Außengelände ist sehenswert. Das tretern der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Museum bietet Sammlungen von Objekten, Dokumenten, Frankreichs die bedingungslose Kapitulation der deut- Fotografien und zwei Datenbanken sowie Raum für Bil- schen Wehrmacht. dungsveranstaltungen. Sein Leiter, Dr. Jörg Morré, ist Mit- glied im Wissenschaftlichen Beirat des Volksbundes. Nach einer wechselvollen (Nutzungs-)Geschichte wurde 1994 der Verein Museum Berlin-Karlshorst gegründet. Anschrift: Zwieseler Straße 4, 10318 Berlin Und am 10. Mai 1995 öffnete das Deutsch-Russische Mu- Kontakt: 030 / 50150810, Mail: kontakt@museum- seum Berlin-Karlshorst seine Türen. Die Dauerausstellung karlshorst.de, www.museum-karlshorst.de 8 FRIEDEN 01•2021
SCHWERPUNKT SOWJETUNION KRIEGSGEFANGENEN-PROJEKT Archive können sprechen Schicksale deutscher und 75 Jahre nach Kriegsen- de in Moskau: Der deut- sowjetischer Kriegsgefangener sche Botschafter, Dr. Géza Andreas von Geyr, übergibt Dokumente VON DIANE TEMPEL-BORNETT aus dem Bundesarchiv an den Sonderbeauf- tragten des Präsidenten der Russischen Födera- 76 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ist das Schicksal von unzähligen Ge- tion für internationale fangenen noch ungeklärt. Deutsche und russische Wissenschaftlerinnen und Wis- kulturelle Zusammenar- beit, Michail Schwydkoj. senschaftlicher recherchieren im Rahmen eines Projekts in Archiven – und machen Deutsche Botschaft erstaunliche Entdeckungen. Projektkoordinatorin Dr. Heike Winkel gibt Auskunft. Moskau D as Projekt zu sowjetischen und deutschen Kriegsgefangenen und Internierten, für das der Volksbund in staatlichem Auftrag ver- antwortlich zeichnet, gibt es erst seit 2016. Der Zwei- te Weltkrieg ging 1945 zu Ende. Warum dauerte es so lange, bis es ins Leben gerufen wurde? Dazu muss man sagen, dass das laufende Projekt eine Vorgeschichte hat. Von 2000 bis 2014 hat die Bundesregierung bereits ein Projekt zur Klärung der Schicksale von Kriegsgefangenen gefördert – Projektträger war damals die Stiftung Sächsische Gedenkstätten. Zum Ende der Projektlaufzeit stellte man fest, dass viel, aber längst nicht alles erreicht worden war. Man muss die Dimensionen sehen: Mindestens fünf Millionen sowjetische Soldatinnen und Soldaten gerieten in deutsche Gefangenschaft, über drei Millionen überlebten schen Angriffs- und Vernichtungskrieg begonnen. sie nicht. Nur für rund 760.000 Personen ließen Die systematischen Verbrechen, die an den sow- sich bis dahin biographische Informationen re- jetischen Gefangenen begangen worden waren, cherchieren. fanden lange kaum öffentliche Aufmerksamkeit. Riesige Dokumentenbestände warten noch dar- Warum wurde das nicht wahrgenommen? auf, ausgewertet zu werden. Auch zu deutschen Der „Kalte Krieg“ hat sicher stark dazu beige- Soldaten, die in sowjetische Gefangenschaft ge- tragen, dass man sich in Deutschland kaum mit rieten, lagern gerade in russischen Archiven noch sowjetischen Soldaten als Opfern beschäftigen wichtige Bestände. Deshalb haben 2016 Frank- wollte. Das Schicksal der eigenen Landsleute in DR. HEIKE WINKEL Walter Steinmeier als deutscher Außenminister Gefangenschaft war den Menschen näher. In studierte Slawistik und und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow der Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld hat über Stalinismus vereinbart, die gemeinsamen Anstrengungen stand dann eher die Vernichtung der europäi- in der Vorkriegszeit zur Schicksalsklärung wieder aufzunehmen. Der schen Juden im Vordergrund. In der Sowjetunion promoviert. Sie war Volksbund übernahm die Trägerschaft des neuen passten Soldaten, die gefangengenommen wur- an der FU Berlin tätig Projekts. Deutschland hatte mit dem Überfall auf den, auch nicht so richtig in das Bild des heroi- und arbeitet jetzt beim die Sowjetunion vor 80 Jahren einen verbrecheri schen Kämpfers. Volksbund. privat FRIEDEN 01•2021 9
SCHWERPUNKT SOWJETUNION KRIEGSGEFANGENEN-PROJEKT Wer beteiligt sich an dem Projekt? Direkter Partner auf russischer Seite ist das Verteidigungs- ministerium der Russischen Föderation. Der Leiter der dort angesiedelten Abteilung für die Wahrung des Andenkens an die gefallenen Vaterlandsverteidiger, Generalmajor Walerij Kudinskij, ist Projektleiter auf russischer Seite. Auf deutscher Seite ist es der Präsident des Volksbundes, Wolfgang Schnei- derhan. Die Abteilung koordiniert gemeinsam mit dem Volks- bund alle Aktivitäten. Für die Recherchen zu sowjetischen Gefangenen ist das Deut- sche Historische Institut Moskau zuständig, das viel Erfahrung mit Kooperationsprojekten in Russland hat. Auf russischer Seite ist die Aktiengesellschaft Elektronische Archive mit der technischen Durchführung betraut. Dazu gehört insbesondere auch die Verwaltung der russischen Datenbank OBD Memori- al, in der die Materialien zu sowjetischen Gefangenen zugäng- lich gemacht werden. In Deutschland erteilt das Bundesarchiv auf Anfrage Auskünfte zu sowjetischen Gefangenen. Die ent- sprechenden Dokumente und Daten werden im Auftrag des Bundesarchivs von der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in der Forschungsplattform Memorial Archives bereitgestellt. Für die Recherche, Dokumentation und Auskünfte zu deutschen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten ist der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes zuständig. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit konkret? Zu Beginn verständigten sich die Partner darüber, welche Archi- ve in jedem Fall bearbeitet werden müssen. Dies sind viele Ar chive in Russland, in Deutschland, aber auch in zahlreichen an- deren Ländern. Die Vorgehensweise vereinbaren wir jeweils mit Sterbefallnachweis für einen Gefangenen, ausgestellt von der Blick auf die Umstände. In vielen Fällen müssen große Bestän- Lagerverwaltung. Bundesarchiv Abteilung Personenbezogene de von Fachkräften gründlich gesichtet werden. Wir arbeiten Auskünfte B 563/Schriftwechsel Sowjets 1000 117 immer in enger bilateraler Absprache, einigen uns auf die Rei- henfolge der zu bearbeitenden Archive, suchen gemeinsam das Personal für die Recherchen aus, sichten die Arbeitsergebnisse. Die öffentliche Erinnerung an diese Gruppe hat sich deshalb nur schwach entwickelt. Dann muss die Digitalisierung organisiert werden. Das über- nehmen externe Dienstleister oder Archivdienste. Damit die Was ist das Ziel des Ganzen? Informationen in Datenbanken recherchiert werden können, Grundlegend ist ein biographischer Ansatz. Wir wollen den Opfern ihre Namen und ihre Biographien wiedergeben. Bei den sowjetischen Gefangenen versuchen wir, möglichst viele Personalkarte eines sowjetischen Gefangenen. personenbezogene Informationen zu erfassen. Im idealen Fall Bundesarchiv Abteilung Personenbezogene Auskünfte B 563/ lassen sich dann die Verläufe der Gefangenschaft komplett Schriftwechsel Sowjets 1000 86 nachvollziehen: von der Gefangennahme über den Weg durch verschiedene Lager, den viele gehen mussten, bis zum Tod – oder auch der Rückkehr in die Heimat nach dem Krieg. Die breite Datenbasis ermöglicht umfassende humanitäre Schicksalsklärung. Sie dient als Grundlage für wissenschaft- liche Forschung und wird für gedenkkulturelle Aktivitäten genutzt. Der DRK-Suchdienst wiederum erschließt im Rahmen seines Mandats für die Schicksalsklärung im Zweiten Welt- krieg neue Unterlagen aus russischen Archiven. Für den Volks- bund sind Archivdokumente eine wichtige Quelle für die sys- tematische Suche nach Grablagen deutscher Toter in Russland. 10
SCHWERPUNKT SOWJETUNION KRIEGSGEFANGENEN-PROJEKT müssen Daten erfasst werden – in den allermeisten Fällen ma- zur Erfahrungsgeschichte von Kriegsgefangenschaft. Am nuell. Die Mitarbeitenden müssen sehr genau arbeiten, um die 22. Juni wird im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karls- Fehlerquote so gering wie möglich zu halten. Die technischen horst eine große Sonderausstellung eröffnet – auch hier sind Anforderungen der unterschiedlichen Datenbanken müssen wir neben weiteren Partnern beteiligt. In Moskau planen wir berücksichtigt werden. Jeder Datensatz, der in unseren Daten- derzeit mit unseren russischen Partnern eine Veranstaltung banken erscheint, ist ein kleiner Teilerfolg. zum 80. Jahrestag des Überfalls. Kriegsgefangenschaft wird in den kommenden Jahren in der Erinnerungskultur eine wichti- Gibt es schon Erfolge? ge Rolle spielen – sowohl in Russland, als auch in Deutschland. Viele: kleine und große. Im Bundesarchiv werden die Bestände Eine möglichst breite und qualitativ gute Datengrundlage ist des deutschen Kriegsgefangenenwesens verwaltet, die früher dafür unverzichtbar. Und unsere Aufgabe ist erst getan, wenn bei der Deutschen Dienststelle (Wehrmachts-Auskunfts-Stelle) die Lücken, die sich noch schließen lassen, wirklich geschlos- geführt wurden. Im Rahmen des Projekts können diese Bestän- sen sind. de nun erfasst werden. Das haben wir der guten Partnerschaft mit dem Bundesarchiv zu verdanken. Eine erste Übergabe an die russischen Partner hat zu 75 Jahren Kriegsende im Mai 2020 in Moskau stattgefunden – trotz der Pandemie. Das war HINTERGRUND ein historischer Erfolg. Sowjetische Kriegsgräber Im russischen Militärarchiv in Moskau wurde die Kartothek des Lagers Mühlberg gefunden, außerdem Dokumente der Grenz- in Deutschland truppen des NKWD, der sowjetischen Geheimpolizei – ein be- merkenswertes Ergebnis hartnäckiger Archivrecherchen. Bei unseren Archivbesuchen bekommen wir auch immer wieder In der Bundesrepublik sind bis heute 640.000 Gräber Hinweise auf interessante Bestände zu deutschen Gefangenen, sowjetischer Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft die wir registrieren. auf 4.122 Grabstätten verzeichnet. Nur von etwa einem Viertel ist die Identität bekannt. Dazu gehören Gräber Gibt es besonders beeindruckende Fälle? russischer und sowjetischer Kriegsgefangener des Ers- Wenn man mit der Erweiterung der Datengrundlagen beschäf- ten und Zweiten Weltkrieges, Gräber von Zwangsarbei- tigt ist, hört sich das alles ziemlich abstrakt an – gerade wenn terinnen und Zwangsarbeitern und ihrer Kinder sowie man die riesigen Mengen sieht, die wir bearbeiten. Aber am von Angehörigen der nach Kriegsende in Deutschland Ende geht es immer um einen Menschen und sein Schicksal. stationierten sowjetischen Truppen. Jede Personalkarte enthält einen Namen. Eine solche Personal- karte wurde für jeden Gefangenen im Lager angelegt mit den Auf der Seite www.sowjetische-memoriale.de sind wichtigsten persönlichen Daten, Erkennungsmarken- und La- auf einer interaktiven Karte die Grabstätten für jedes gernummer, Informationen zu Gefangennahme, Überstellun- Bundesland verzeichnet. Die Dokumentation hat das gen in andere Lager, Angaben zu Todesfällen oder auch Entlas- Deutsch-Russische Mu seum Berlin-Karlshorst in Ko- sungen. Die Personalkarte und andere Registraturdokumente operation mit dem Büro für Kriegsgräberfürsorge und sind Spuren menschlicher Schicksale. Gedenkarbeit der Botschaft der Russischen Föderation in Berlin erarbeitet. Der große Vorteil des Projekts ist es, dass wir Unterlagen aus vielen Archiven zusammenbringen können. Wir führen sozu- Verzeichnet sind Einzel- und Sammelgräber auf kom- sagen die Puzzleteile einer Gefangenenbiographie zusammen. munalen Friedhöfen in Deutschland, aber auch auf Ich habe schon erlebt, dass Dokumente, die wir recherchiert Garnisonsfriedhöfen und Kriegsgräberstätten. Die haben, nachweisen, dass eine Person, die als verstorben regist- Bandbreite ist groß: So sind auf dem Gelände des Sow- riert war, den Krieg überlebt hat. jetischen Ehrenmals auf der Schönholzer Heide in Ber- lin 13.000 Soldaten und auf dem Garnisonsfriedhof in Wie sehen die Perspektiven aus? Potsdam zwischen 5.000 und 6.000 Kriegs- und Nach- Wir haben noch viel vor. Die Corona-Pandemie hat auch un- kriegstote beigesetzt. Auf dem Kriegsgefangenenfried- sere Arbeit beeinflusst. Viele Archive blieben geschlossen. hof in Herleshausen in Nordhessen ruhen 1.593 meist Gerade in den russischen Regionen war Arbeit kaum möglich, sowjetische Kriegsgefangene, während es auf dem so- – das wollen wir wieder angehen, sobald es geht. In Deutsch- wjetischen Ehrenfriedhof Stukenbrock 65.000 Kriegs- land steht neben der Arbeit im Bundesarchiv und Koopera- gefangene und Zwangsarbeiter sind. Auch Einzelgräber tionen mit den Arolsen Archives verstärkt auch Arbeit in den sind dokumentiert: Auf dem Friedhof in Kassel-Wehl- Regionen an. heiden etwa ist ein sowjetischer Kriegsgefangener bei- gesetzt, der am 30. März 1945 von der SS erschossen Wir wollen das Thema Kriegsgefangenschaft auch ins gesell- worden war. schaftliche Bewusstsein bringen. Im Juli veranstaltet das Pro- jekt gemeinsam mit der Universität Heidelberg eine Tagung FRIEDEN 01•2021 11
SCHWERPUNKT SOWJETUNION RÜCKBLICK AUS RUSSISCHER SICHT Der bittere Preis des Sieges 22. Juni 1941 – erlernte Fremdsprache, galt noch jahrelang nach Erinnerung und Mahnung Kriegsende als „hässlich“ – bestehend aus den ge- bellten Kommandos, die in den Kriegsfilmen er- klangen, die in Kinos und im Fernsehen liefen. VON IRINA SHERBAKOVA Man konnte oft Kriegsinvaliden sehen, gewöhn- lich auf Krücken (um Prothesen war es damals in der Sowjetunion schlecht bestellt). Auch die Ver- stümmelungen meines eigenen Vaters, der 1943 Die russische Historikerin und Bürgerrechtlerin Irina Sherba bei Stalingrad schwer verwundet worden war und kowa war 1988 Gründungsmitglied der ersten sowjetischen für sein ganzes Leben Invalide blieb, erinnerten mich andauernd an den Krieg. Nichtregierungsorganisation „Memorial“, die für den Schutz der Menschenrechte kämpft und seit 2016 in Russland auf der Selbstverständlich wusste ich während mei- ner Kindheit sehr wenig über den Krieg, aber Liste „ausländischer Agenten“ steht. Die 72-jährige Moskaue- ich konnte genau bestimmen, wer von den Ver- rin hat zahlreiche Bücher zur Geschichte und zur aktuellen wandten und Freunden unserer Familie im Krieg gewesen war – und das, obwohl die ehemaligen Politik Russlands veröffentlicht – zuletzt „Der Russland- Frontkämpfer meistens kaum etwas über ihre Er- Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise“ (2015). Für die fahrungen erzählten. Aber man konnte einfach fühlen, dass ein existenzielles Erlebnis sie ver- „Frieden“ analysiert die Autorin den deutschen Angriff auf die band und dass es für jeden eine Glückssache war, Sowjetunion 1941 und seine Folgen. aus diesem Krieg lebend zurückzukehren. Das Gefühl, dass der Krieg sie nicht loslassen woll- te, war bei vielen ehemaligen Frontkämpfern so W as bedeutet das Datum 22. Juni 1941 stark, dass sogar wir Kinder es bemerkten. im russischen Massenbewusstsein 80 Jahre danach? Und was bedeutete Als ich noch ein Schulkind war, fuhr mein Va- es in den früheren Jahren, wo es noch viele Men- ter jedes Jahr am 9. Mai nach Kiew, um dort mit schen gab, für die der Tag des Beginns des Großen seinen Freunden (es waren – wie er – Literaten, Vaterländischen Krieges zu einer Zäsur wurde, Publizisten, Journalisten, alles ehemalige Front- nach der nichts mehr so war wie davor? soldaten) zusammen zu sein. Er war in der Uk- raine geboren worden und von da in den Krieg Sicherlich war das ein ganz anderes Datum als der gezogen. Mein Vater hat niemals einen seiner IRINIA SHERBAKOVA 9. Mai. Obwohl der Siegestag nach Kriegsende 20 Frontkameraden nach dem Krieg treffen kön- ist russische Germa Jahre lang kein Feiertag war, wurde er in vielen nen. Auch aus seinem Studienjahr – er war im nistin und Kulturwis- Familien zum Tag des Gedenkens. Der Krieg war Juni 1941 in die Leningrader Militärmarinehoch- senschaftlerin. noch sehr nah und fast in jeder Familie gab es Op- schule immatrikuliert – ist von 300 Kadetten nur Als Mit-Initiatorin fer: Gefallene, Verschollene, Ermordete. ein Dutzend am Leben geblieben. Ähnlich ging von „Memorial“, der es seinen Freunden. Und so tranken sie an dem mittlerweile bedeu- Ich wurde vier Jahre nach Kriegsende geboren, Siegestag, wie sehr viele ehemalige Soldaten, im tendsten Menschen aber mir kam es vor, als sei der Krieg schon sehr Andenken an gefallene Kameraden. Und auch auf rechtsgesellschaft lange vorbei. Und in Moskau, wo ich lebte, sah den so schwer errungenen Sieg. in Russland, setzt sie man (ganz anders als in Leningrad oder Stalin- sich für eine Auseinan- grad) keine sichtbaren Spuren des Krieges. Auf Der 22. Juni 1941 war ein anderes Datum. Dieser dersetzung mit den Ver- der anderen Seite war der Krieg ständig auf diese Tag erinnerte vor allem an den unermesslichen brechen des Stalinis- oder jene Weise im Leben präsent. Im Hof spiel- Preis des Sieges, an die Katastrophe der ersten mus in der ehemaligen ten die Jungs auch noch in den 1960er Jahren Kriegsmonate. Das war der Tag, der schwierige Sowjetunion ein. Krieg: „Russen“ gegen „die Deutschen“. Deutsch, Fragen aufbrachte, die sich viele Menschen schon privat vor dem Krieg die am häufigsten in den Schulen während des Krieges gestellt hatten. 12 FRIEDEN 01•2021
SCHWERPUNKT SOWJETUNION RÜCKBLICK AUS RUSSISCHER SICHT Denn der Hitler-Stalin-Pakt war für viele sowjetische Bürger Nach dem Krieg hat es Jahrzehnte gedauert, bis die bittere kaum erklärbar: Wie konnte es sein, dass nach all den Jahren der Wahrheit über den unermesslichen Preis des Sieges an die Öf- antihitlerischen Propaganda die öffentliche Kritik des deut- fentlichkeit kam. Und es war gerade der katastrophale Anfang schen Faschismus plötzlich verboten war? Anderseits wur- des Krieges, den man aus dem offiziellen Kriegsbild verdrän- de der Pakt propagandistisch als eine „Vernunftehe“ gerecht- gen wollte. Man konnte die Verluste einige Male verringern – fertigt, die der Stärkung der sowjetischen Grenzen dienen offiziell wurde die Zahl von sieben Millionen Opfern genannt. sollte, um sich auf den baldigen Krieg besser vorzubereiten. Das waren ungefähr viermal weniger als in Wirklichkeit. Im Und es wurde stets verkündet, dass die Rote Armee so stark offiziellen sowjetischen Diskurs wurde massiv jenes verschö- sei, dass die Sowjetunion einen Krieg – wenn er begänne – „mit nerte Klischeebild des Krieges geformt, das dazu diente, die wenig Blutvergießen und auf fremdem Territorium“ führen schwierige Wahrheit über den Krieg zu verdrängen und unbe- würde. wältigte Traumata zu verhüllen. Aber mit wem sollte dann der nächste Krieg sein, wenn nicht Erst mit der Perestroika vollzog sich die Loslösung vom offiziel mit Hitlerdeutschland? Europa war schon im Weltkrieg und len Kriegsbild. Mit Glasnost setzten eine intensive Entmythologi die Sowjetunion führte einen „kleinen“ Krieg gegen Finn- sierung und das Ausfüllen von „weißen“ Flecken ein. Es wur- land, – der sich aber als ein blutiger erwies und sehr viele Op- de möglich, über die unermesslichen Verluste (27 Millionen) fer forderte. Der 22. Juni 1941 brachte die tragische Klarheit: Es zu sprechen, über Stalins schwere Fehlentscheidungen zu begann der tödliche Krieg, der als Kriegsbeginn, über die Repressionen Vaterländischer bezeichnet wurde. in der Roten Armee vor und wäh- Und sehr bald brach der großspre- rend des Krieges, über das schwe- cherische Mythos der sowjetischen »Das Gefühl, dass der Krieg re Schicksal der zurückgekehr- Vorkriegspropaganda zusammen. sie nicht loslassen wollte, ten Kriegsgefangenen und Ostarbei- Es war klar, dass es mit einem kur- ter – und vieles andere mehr, was zen, siegreichen Krieg nichts wer- war bei vielen ehemaligen nicht zum Mythos des glorreichen den würde. Sieges passte. Auch die Öffnung der Frontkämpfern so stark, dass Archive und die begonnene gemein- Schon im frühen Herbst 1941 stand sogar wir Kinder es bemerkten.« same Aufarbeitung der Kriegsge- der Feind vor Moskau; mehr als 60 schichte mit deutschen Historikern Millionen sowjetischer Bürger be- IRINA SHERBAKOVA diente der Vertiefung des Kriegsbil- fanden sich auf besetztem Territo- des und brachte neue Erkenntnisse. rium und über drei Millionen Rot- armisten waren in Kriegsgefangenschaft geraten. Das alles ließ Aber seit den Nullerjahren begann man im offiziellen Diskurs auf sich nicht allein durch den „plötzlichen und heimtückischen“ der Suche nach einer nationalen Idee, die auf dem Paternalismus, Angriff der Hitlerarmee erklären, wie es die stalinistische Pro- auf dem nationalen Stolz basieren sollte, die Wiederauferstehung paganda behauptete. Viele stellten sich Fragen über die Folgen des sowjetischen Mythos vom Großen Sieg aufzubauen. Aber der massiven Säuberung in der Roten Armee vor dem Krieg, wenn der Krieg nur als Sieg betrachtet wird, verbietet das jedes deren Opfer fast die ganze Führung geworden war. Nachdenken über den Preis des Sieges und jeden Versuch, noch unbekannte und schwierige Aspekte der Kriegsgeschichte aufzu- Panik, Flucht, Verzweiflung, Kollaboration – so war der Anfang arbeiten. Das führte auch dazu, dass das Bild Stalins – als angeblich des Krieges. Für manche erschien die Lage fast hoffnungslos, eigentlicher Schöpfer des Sieges – wieder präsent wurde. In vie- aber es wuchs auch der Widerstand. len Städten Russlands wurden Stalin-Porträts aufgehängt oder Denkmäler aufgestellt. Alles, was das verschönerte Bild des Sie- Der grausame Charakter der deutschen Besatzung, Massenver- ges trüben kann, wurde aus dem offiziellen Diskurs entfernt. nichtung von Juden, die Ausbeutung der Zivilbevölkerung, De- portation von Millionen zur Zwangsarbeit nach Deutschland Was lässt sich dem entgegensetzen? In Abwesenheit von le- – es war klar, dass es ein Vernichtungskrieg war. Und auf der benden Zeugen spielen die Archive eine große Rolle sowie die sowjetischen Seite verwandelte sich dieser Krieg in den Volks- in den vergangenen Jahren entstandenen Datenbanken, die die krieg. Denn ganz anders als im stalinistischen Massenterror, Namen von Millionen von Gefallenen und Kriegsteilnehmern als der NKWD hunderttausende „Feinde, Verräter und Spione“ erfassen. Jetzt kann man viel leichter vom Schicksal der An- erfand, hatte man einen realen tödlichen Feind, der bekämpft gehörigen erfahren. Für die junge Generation spielt das Auf- werden sollte. Und es waren auch viele junge Leute aus der Vor- finden der namenlosen Gräber, die Umbettung der Überreste kriegsgeneration wie mein Vater, die überzeugt waren, dass von Gefallenen ebenfalls eine große Rolle. Das bedeutet eine der Hitlerfaschismus um jeden Preis besiegt werden musste. reale und lebendige Erinnerung an den Krieg, das familiäre, menschliche Gedächtnis, das dennoch in ganz verschiedenen Die historische Tragik bestand aber darin, dass man zwar unter Formen weiterlebt. Zu gewaltig war die Tragödie der Bevölke- unglaublichen Opfern den Faschismus besiegte, aber Stalins rung, zu groß waren die Verluste. In diesem Sinne wird der Regime den Völkern im sowjetischen Machtbereich keine Frei- 22. Juni 1941, das Datum des Kriegsanfangs, ein Symbol eben heit und keine Demokratie bringen konnte. dieses Gedächtnisses bleiben. FRIEDEN 01•2021 13
SCHWERPUNKT SOWJETUNION KRIEGSGRÄBERSTÄTTEN Ein Band zwischen den Völkern Kriegsgräberstätten in der ehemaligen Sowjetunion VON SIMONE SCHMID „Lebensraum im Osten“ – das war der grausame Plan der „Operation Barbarossa“, die Hitler am 22. Juni 1941 mit dem Angriff auf die Sowjetunion startete. Dass dieser Angriff letztendlich mehr „Raum“ für Tote als für Lebende brachte, zeigen heute die zahlreichen Kriegsgräberstätten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Im Interview stellt Daniela Lehmann, Land- schaftsarchitektin und Leiterin des Volksbund-Referats Bau, eine Auswahl vor. F Foto gegenüberliegende rau Lehmann, 1989 fiel der Eiserne Vorhang. Auf Friedhöfen in Osteuropa sieht man häufig Ste- Seite: Das Wichtigste Seit 1992 konnte der Volksbund jährlich bis zu len und eher selten Grabkreuze. Warum? für viele Angehörige 40.000 Tote in der ehemaligen Sowjetunion Ursprünglich war vorgesehen, dass auch im Os- ist es, den Namen ihrer umbetten. Dadurch entstand in der deutschen Öffent- ten die Namen aller Toten auf Kreuzen gekenn- Familienmitglieder lichkeit eine große Erwartungshaltung, der der Volks- zeichnet werden sollen. Schnell wurde klar, dass zu lesen. 2018 hat der bund gerecht werden wollte. Ein Konzept für Friedhofs- das finanziell nicht leistbar war: Friedhöfe in Volksbund die Inschrif- anlagen in Osteuropa musste her. Wie ging man vor? der Russischen Föderation haben Kapazitäten ten auf 125 Würfeln für von bis zu 75.000 Grablagen. So entschied man die Vermissten in Ross- Der Volksbund stand vor einer großen, pragmati- sich, Stelen einzusetzen, die auch in der Ukraine oschka instandgesetzt. schen Frage: Wie gehen wir mit den hohen Opfer- und Polen aufgrund der hohen Opferzahlen zum Daniela Lehmann zahlen um? Für die Gestaltungsrichtlinien in Ost- Standard geworden sind. Bis zu 250 Namen pas- europa hat man Konzepte der 1950er und 1960er sen auf eine Stele – je nachdem, ob die Nennung Jahre für Kriegsgräberstätten in Westeuropa von Dienstgraden in den Ländern erlaubt wurde zugrunde gelegt, eine Kommission eingerichtet oder nicht. und Experten für Landschaftsplanung und Archi- tektur hinzugezogen – wie Professor Jürgen von Die ehemalige Sowjetunion hatte rund 27 Millio- Reuß aus Kassel, der den Entwurf für Rossoschka nen Opfer zu beklagen. Gab es Widerstände, als die entwickelte. Ziel war es, schlichte, aber zugleich Deutschen Soldatenfriedhöfe anlegten – etwa in würdevolle Orte des Gedenkens zu schaffen. Rossoschka bei Wolgograd? Die Schlacht von Stalingrad, heute Wolgograd, ist Was zeichnet einen würdevollen jedem ein Begriff. Die starken Veteranenverbän- Soldatenfriedhof aus? de in Russland wollten den Bau deutscher „Hel- Die landschaftliche Einbindung, die Nutzung ein- denfriedhöfe“ vermeiden. Wir wollen völker- DANIELA LEHMANN heimischer Materialien und eine zurückhaltende verbindend arbeiten. Der Entwurf eines Kasseler ist Landschafts- Gestaltung waren immer bedeutsam. Aber auch Architekturbüros wurde von den Behörden als architektin und Leiterin den Pflegeaufwand durften wir aufgrund der zurückhaltend interpretiert – dennoch erhielten des Referates Bau. Vielzahl der zu planenden Anlagen nicht außer wir zunächst keine Baugenehmigung. Verständli- Vladimir Pismenski acht lassen. cherweise war es aus russischer Sicht nur schwer 14 FRIEDEN 01•2021
SCHWERPUNKT SOWJETUNION KRIEGSGRÄBERSTÄTTEN Daniela Lehmann im Feld der Namenwürfel in Rossoschka. Vladimir Pismenski zu ertragen, dass die Deutschen einen Friedhof errichten, die eigenen Behörden hingegen nicht. So kam es schließlich dazu, dass der Bau eines russischen Friedhofes unmittelbar neben dem deutschen als Versöhnungsprojekt von deutscher Seite finanziert wurde. In Rossoschka liegen Deutsche und Russen in unmittelbarer Nähe begraben. Spiegelt sich das in der Architektur der Anlagen wie- der? Beide Teile unterscheiden sich stark. Das Zentrum der russi- schen Anlage ist ein Glockenturm mit der originalen Glocke des zerstörten Dorfes Rossoschka. Hierum sind Grabzeichen vorwiegend unbekannter russischer Soldaten angeordnet. Warum? Für uns etwas makaber wirken die darauf liegenden zer- Salla ist eine „bestehend bleibende“ Anlage. Das heißt: Sie wur- störten russischen Stahlhelme. Die deutsche Anlage fügt sich de bereits von der Wehrmacht angelegt. Sie liegt in einem mi- in die Steppe ein. Das Grab von tausenden Soldaten ist nur litärischen Sperrgebiet auf der russischen Seite der Grenze zu durch ein Namenband an einer Rundmauer mit 150 Metern Finnland, in Lappland, mitten im Wald. Der Friedhof kann mit Durchmesser und darauf stehenden Symbolkreuzgruppen zu einer Zutrittsgenehmigung durch den Inlandsgeheimdienst erkennen. der russischen Föderation (FSB) besucht werden. Wer aber nicht rechtzeitig zur abgesprochenen Uhrzeit zurück ist, wird Als Mitarbeiterin des Baureferats haben Sie schon viele Kriegs- vom Militärposten „abgeholt“. Interessant sind ebenfalls die gräberstätten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gese- lang gezogenen Gräben, in denen die Toten bis zum nächsten hen. Welche haben Sie besonders beeindruckt? Frühjahr abgelegt werden mussten. Salla ist auch ein gutes Jeder Friedhof ist trotz allgemeiner Gestaltungsrichtlinie indi- Beispiel dafür, dass wir bei unserer Arbeit immer wieder Über- viduell. Aber wenn ich die unterschiedlichen Charakteristiken raschungen erleben. Wir sind hier inmitten der Taiga. Vor ei- betrachte, fallen mir spontan Saldus in Lettland, Salla in der nigen Jahren hat ein Elch beim Versuch, sein Geweih abzusto- Russischen Föderation, Mingetschaur in Aserbaidschan und ßen, unsere Abdeckplatten verschoben. Für die Reparaturen Mattischkemen in der Kaliningrader Oblast ein. mussten wir von weit her einen Kran kommen lassen. FRIEDEN 01•2021 15
SCHWERPUNKT SOWJETUNION KRIEGSGRÄBERSTÄTTEN Saldus liegt im ehemaligen Kurlandkessel – warum ist das Bei- spiel besonders? Eine Kulisse, die nahegeht: der russische Saldus in Lettland ist der größte Sammelfriedhof in den bal- Friedhof als Teil des Erinnerungskomplexes tischen Ländern. Vor allem Gefallene aus den Kämpfen in Rossoschka. Volksbund Kurland Ende 1944 bis Anfang 1945 liegen hier. Vom zentra- len Platz mit Hochkreuz auf dem Hügel hat man einen Rund- blick auf tausende Granitkreuze. Ähnlich wie in Lommel oder Ysselsteyn ist der Besucher überwältigt von dem Kontrast der lieblichen Landschaft und dem Meer aus Kreuzen, auf dem je- weils die Namen von sechs Toten aufgeführt sind. Ich kenne niemanden, der davon nicht berührt ist. Die Bilder von Mingetschaur zeigen eher eine apokalyptische Kulisse. Auf dieser Kriegsgräberstätte in Aserbaidschan gibt es keine Stelen oder Granitkreuze. Der Friedhof wurde von deutschen Kriegsgefangenen für verstorbene Kameraden gebaut und liegt am größten Stausee des Kaukasus. Die einzelnen Gräber sind mit Kieselsteinen bedeckt und mit den originalen, selbst- geschweißten Steckschildern aus Metall versehen. Man spürt hier die Mühe, die sich die Lebenden für andere Menschen ge- macht haben, die in derselben schrecklichen Lage gewesen wa- ren. Die apokalyptische Kulisse entsteht aber erst durch das be- nachbarte aufgeschüttete Material des Stausees ohne jegliches Leben, während auf der Anlage selbst Granatäpfel wachsen. Im Osten existieren auch Anlagen des Ersten Weltkrieges. Wie unterscheiden sie sich von den Sammelanlagen des Zweiten Welt- krieges? wenn man weiß, dass ein ziviles Grab in Russland üblicherwei- Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion existieren hun- se Bänke und einen Tisch hat, an dem gegessen und getrunken derte Friedhöfe des Ersten Weltkrieges. Leider konnten der wird – auch dem Toten wird ein Wodka auf das Grab gestellt –, Volksbund, die Bundeswehr und die russische Seite nur einen dann versteht man das eher. Die Toten sind näher am Leben. Bruchteil instandsetzen. Die Grabzeichen sind, wenn vor- handen, original. Auf diesen Friedhöfen liegen Soldaten aller Welche Friedhöfe werden am meisten besucht und warum? damals am Krieg beteiligten Nationen – Deutsche, Russen, Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion haben Rossosch- Soldaten der österreich-ungarischen Armee. In Mattischke- ka und Sologubowka die meisten Besucher. Rossoschka be- men in der Kaliningrader Oblast ruhen Russen und Deutsche rührt ungemein durch seine Lage in der Steppe. Während in gemeinsam Seite an Seite. Das ist für mich besonders, weil die der Stadt die 85 Meter hohe Statue „Mutter Heimat ruft!“ und Kreuze erhalten worden sind. Wenn das gleißende Licht durch zahlreiche Museen die Erinnerung wachhalten, ist hier drau- die Bäume auf die Grabzeichen fällt, entsteht hier eine ganz be- ßen ein Ort für das stille Gedenken entstanden. Hunderttau- sondere Stimmung. sende Namen von Vermissten und Gefallenen sind auf Namen- tafeln oder Würfel geschrieben. Es ist ein extremer Ort – man Wie gehen die Einheimischen heute mit den Kriegsgräberstätten um? kann das Leid bei Kälte oder Hitze förmlich spüren. Gerade die Anlagen des Ersten Weltkrieges sind – wo immer sie gebaut wurden – ein Teil des dortigen Lebens geworden. Sie Sologubowka liegt nahe St. Petersburg. Hier ist dank der Spen- werden respektiert. Aber der Umgang ist teilweise nicht mit derinnen und Spender des Volksbundes die im Krieg zerstörte Westeuropa zu vergleichen. Wir beobachten, dass andere Na- Kirche instand gesetzt worden. Im Keller liegt das Gesamtna- tionen einen anderen Umgang mit dem Tod pflegen. menbuch für die Russische Föderation aus. Und eine Ausstel- lung informiert die Besucher. Wie äußert sich das? Unsere Friedhöfe sind aus russischer Sicht sehr gut unterhalten, Der Erhalt der Kriegsgräberstätten als Mahnmale ist wichtig. Vor strahlen Ruhe und Würde aus. Auf den Sammelanlagen in Russ- welchen Herausforderungen stehen Sie dabei? land gehen die Menschen mit der ganzen Familie spazieren. Unsere Mitarbeiter der Referate Bau und Pflege sind extrem Es ist Tradition in Russland, dass man am Hochzeitstag auch motiviert, können aber nur umsetzen, wofür finanzielle Mittel Fotos an einem Kriegerdenkmal macht. In Anbetracht unserer und Personal vorhanden sind. Wir müssen daher Prioritäten schwierigen Geschichte empfinde ich es als eine sehr versöh- setzen. Unter anderem gehört dazu auch die Sicherheit der Be- nende Geste, dass die Menschen hierfür auch unsere Anlagen sucher. Daher haben wir im vergangenen Jahr einige Wegebau- besuchen. Für viele erscheint das sicher despektierlich, aber projekte wie in Russkoje, ehemals Germau, Baltijsk, ehemals 16 FRIEDEN 01•2021
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