EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Friedenssynode - Dokumentation und Diskurs - Nordkirche

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EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Friedenssynode - Dokumentation und Diskurs - Nordkirche
C 21134                                           Juli 2022 | 7

EVANGELISCHE
  STIMMEN
                                         ZEITFRAGEN
                                         UND KIRCHE IN
                                         NORDDEUTSCHLAND

Friedenssynode – Dokumentation und Diskurs
Eine andere Welt   Frieden – ständiges   Ein Säuseln im
oder ein anderer   Ringen um den         Kriegsgeschrei und
Blick?             richtigen Weg         der Pazifismus
EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Friedenssynode - Dokumentation und Diskurs - Nordkirche
EDITORIAL

            Liebe Leserin,
            lieber Leser,
            Es ist ebenso erstaunlich wie bewundernswert, dass der große Tan-
            ker Nordkirche mit der Synodentagung Anfang Mai recht rasch auf
            den Krieg zwischen Russland und der Ukraine reagiert hat. Wohl
            wissend, dass die einzelnen Beiträge den inhaltlichen Austausch der
            Synodentagung nur unvollkommen wiedergeben – oft ist gerade das
            Gespräch in den Arbeitsgruppen oder beim Kaffee viel entscheiden-
            der als das, was wohlausgewogen vorgetragen wird –, vermitteln sie
            doch einen guten Einblick in die Impulse, die das Präsidium mit dem
            Vorbereitungsausschuss geben möchte. Schön, dass es den Mut
            hatte, das Thema „Zukunft der Nordkirche“ zugunsten des aktuellen
            Themas „Frieden“ zu verschieben, auch wenn die letzte Tagung zum
            selben Thema noch gar nicht so lange zurückliegt. Präses Ulrike Hill-
            mann war dieses aktuelle Thema besonders wichtig, wie sich ihrem
            Geleitwort gut entnehmen lässt.
            Aus eigener Pfarramtserfahrung weiß ich, dass die Themen und Dis-
FRIEDRICH   kussionen der Synode die Gemeinden oder Dienste und Werke oft
 BRANDI     nicht erreichen. Dem wird mit diesem Heft entgegengewirkt. Sie ha-
            ben die Chance, der Tagung vom 6. und 7. Mai nachzuspüren und zu
            lesen, was in Travemünde diskutiert wurde.
            Zum Glück haben sich noch weitere Autoren eingefunden und sich
            dieses Themas angenommen. So entsteht mit diesem Heft genau
            das, was die „Evangelischen Stimmen“ sein möchten: Ein Diskursfo-
            rum über „Zeitfragen und Kirche“ – in diesem Fall nicht nur in Nord-
            deutschland. Denn der derzeit in der katholischen Kirche heiß um-
            strittene und bei uns bereits praktizierte „Synodale Weg“ sollte sich
            nicht allein auf den Diskurs in der Synode selbst beschränken, son-
            dern eine Einladung sein für Mitsprache und Verantwortung auf allen
            Ebenen in der Kirche.

            Ich wünsche Ihnen eine erhellende Lektüre und, natürlich, einen schö-
            nen Sommer. Und wenn es regnet, freuen Sie sich mit den Bäumen!

            www.evangelische-stimmen.de

                                                    EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022   3
EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Friedenssynode - Dokumentation und Diskurs - Nordkirche
EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Friedenssynode - Dokumentation und Diskurs - Nordkirche
EVANGELISCHE
                      STIMMEN

                    INHALT

                     3        Editorial

                     6        Geist des Friedens                                                          43
                              Ulrike Hillmann

                     8        Andere Welt – anderer               36        Friedensgebet
                              Blick?                                        Bischofsrat der Nordkirche
                              Cornelia Coenen-Marx
                                                                  39        Abschlusserklärung
                    16        Frieden. Ringen um den
                              richtigen Weg                       41        Nur ein Säuseln im
                              Michael Strunk                                Kriegsgeschrei?
                                                                            Ulrich Hentschel
                    20        Prima und ultima Ratio
                              Renke Brahms                        44        Pazifismus
                                                                            Theo Christiansen
                    22        Friedens- und Sicher-
                              heitslogik                          48        Wo bleiben Zorn und
                              Michael Haspel                                Aufschrei?
                                                                            Redlef Neubert-Stegemann
                    24        Reichtum der
                              Beziehungen                         52        Gedankenfetzen
                              Christa D. Hunzinger
                                                                  54        Ein Martin
                    28        Bemühungen um Frieden                         Helga Kamm
                              Frank Lotichius
                                                                  56        Überwachung und
                    31        Der gute Kampf des                            Infiltration
                              Glaubens                                      Matthias Kleiminger
                              Dietrich B. Brauer
                                                                  58        Ritter des Heiligen
                    33        Verteidigung und                              Geistes. Zur Trinität
                              Pazifismus                                     Hans-Jürgen Benedict
                              Friedemann Magaard
                                                                  61        Das letzte Wort hat
                    34        Eine Evangelische                             Heinrich Mann
                              Stimme
                              Julian Sengelmann                   62        Vorschau

Titelbild: Friedenstaube. EKD / MediaCompany – Agentur für Kommunikation GmbH

                                                                                EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022   5
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THEMA

Geist des Friedens
Geleitwort zu den Texten der Synodentagung

24. Februar 2022: Die 13. Tagung                                    spontan beteiligt haben, und auch
der II. Landessynode der Evan-                                      die eingeladenen Gäste, Renke
gelisch-Lutherischen Kirche in                                      Brahms, Cornelia Coenen-Marx,
Norddeutschland beginnt – und                                       Michael Haspel und Dietrich
Russland beginnt einen groß-                                        Borissowitsch Brauer, Erzbischof
angelegten Überfall auf die Uk-                                     der Evangelisch-Lutherischen Kir-
raine. Selbst im digitalen Raum                                     che in Russland, haben begeistert
spüre ich das Entsetzen, die da-                                    zugesagt. So ist es gelungen, das
durch ausgelösten Sorgen, Ängs-                                     Thema Frieden mit seinen unter-
te und Nöte der teilnehmenden                                       schiedlichen Aspekten wie Radika-
                                                 Ulrike
Synodalen. Zeit für Austausch                                       lisierung in der Gesellschaft, Um-
                                               Hillmann
und Gebete findet sich, und den-                                     gang mit der Wahrheit in Politik
                                               Präses der
noch bleibt der Wunsch nach                                         und Medien, Verarmung großer
                                             Landessynode
mehr.                                                               Gesellschaftsteile, Integration der
                                            der Nordkirche
                                                                    Flüchtlinge, Psychosoziale Folgen,
                                                                    Klimaschutz und Globale nach

F
     ür den 6. / 7.Mai war eine Son-                                einem anregenden Input im Aus-
     dersynode zum Thema „Zu-                                       tausch an runden Tischen zu be-
     kunft der Nordkirche“ geplant. Angesichts         leuchten und die Frage nach der Rechtfertigung
dessen, dass die Welt erst durch die Pandemie          von Waffengewalt heftig zu diskutieren. Dabei
und dann durch den Ausbruch des Krieges mit-           war es uns wichtig, dass nicht nur im Hinblick
ten in Europa in Unordnung geraten ist, haben          auf den derzeitigen Krieg, sondern im Hinblick
wir entschieden, uns in der Synode stattdessen         auf die von der Politik verkündete Zeitenwende
den Raum zu nehmen, zunächst die grundsätz-            zu betrachten, intensiv biblisch fundiert und
lichen theologischen Fragen, die uns jetzt aufge-      mit einem besonderen Schwerpunkt auf die
geben sind, zu bedenken. Als Kirche im Herzen          Ausrichtung unserer ökumenischen Partner-
Europas, als eine Kirche, deren zentrale Bot-          schaften bzw. künftige Zusammenarbeit mit
schaft vom Leben angesichts des Todes spricht,         Kirchen im Ostseeraum und mit osteuropäi-
haben wir nämlich nur dann eine Zukunft,               schen Kirchen.
wenn wir uns auf unser Glaubensfundament
besinnen und gerade in diesen Tagen des Krie-          #redenüberfrieden
ges vom Frieden reden und darüber nachden-             Für die Abschlusserklärung konnten wir an
ken, wie wir unseren Beitrag für ein friedliches       den Beschluss der Landessynode zum Ende des
Europa gestalten wollen, unsere Friedensethik          Prozesses „#redenüberfrieden“ vom September
neu bedenken und beschreiben.                          2021 anknüpfen. Wir haben ausgehalten, dass es
   Aus dem Kreis der Synodalen, dem Landes-            in unserer Synode wie auch in der Gesellschaft
kirchenamt und dem ZMÖ hat es viele gege-              zu den Fragen um Frieden ganz gegensätzliche
ben, die sich an der Vorbereitung der Tagung           Standpunkte gibt, gleichermaßen das Wissen

6   EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Friedenssynode - Dokumentation und Diskurs - Nordkirche
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um unsere Schuld, egal ob wir uns für oder ge-                 Von all dem ist in diesem Heft zu lesen. Wir
gen Waffenlieferungen aussprechen. So konnten               danken Dr. Friedrich Brandi für die Idee, unse-
wir in der Abschlusserklärung beide Positionen              re Tagung in den Evangelischen Stimmen zu
nebeneinanderstehen lassen und dennoch an                   dokumentieren. Wir hoffen, dass der Geist, von
der Hoffnung festhalten, dass das Leben siegen              dem wir während der Tagung beseelt waren,
wird und der Frieden das Ziel der Geschichte ist.           auch Sie, die Leserschaft ergreift, auch wenn Ih-
Es ist uns als Synode möglich gewesen, trotz aller          nen das Erlebnis eines Gottesdienstes auf dem
gegensätzlichen Standpunkte zusammen zu blei-               Weg durch Travemünde und endend mit dem
ben, weil für uns der Grund durch Jesus Christus            Abendmahl am Strand, nur schwer in Worten
gelegt ist. Damit sind wir Vorbild in unserer Ge-           vermittelt werden kann.
sellschaft und das ist die „politische“ Erklärung,
die wir abgegeben haben.

In Repräsentation durch die Synodalen (Präses Ulrike Hillmann und Vizepräses Elke König) machte sich Nordkirche auf
den Weg – mit einem Gottesdienst durch den Tagungsort Travemünde bis zum Strand. Foto: Nordkirche/Susanne Hübner

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EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Friedenssynode - Dokumentation und Diskurs - Nordkirche
THEMA

Andere Welt – anderer Blick?
Auswirkungen des Zeitenwandels

Grenzerfahrungen oder das                                             dem Phänomen des „Ich-Schocks“
Ende der Illusionen                                                   beschäftigt, mit tiefgreifenden Kri-
„Haben Sie nicht auch manchmal                                        sen und Erschütterungen, die un-
das Gefühl, als bewege sich nichts?                                   ser Lebensgefühl verändern kön-
Als wachse vor uns eine Mauer des                                     nen. Eine schwere Krankheit, eine
Stillstands, die immer höher wird                                     berufliche Katastrophe, ein Todes-
– trotz stetiger Beschleunigung?                                      fall in der Familie – und plötzlich
Wie bei einer Zugfahrt, wo man                                        wird der Schutzfilter, der uns nor-
im Vorbeifahren die Landschaft                                        malerweise von der Wirklichkeit
nicht mehr erkennt?“ Das fragt                                         trennt, weggerissen. Illusionen
                                                 Cornelia
Alice, eine junge Philosophin, den                                     platzen, wenn wir spüren, dass wir
                                              Coenen-Marx,
Bürgermeister von Lyon. In dem                                         nicht so sicher und nicht so unver-
                                           Publizistin, ehemals
Film „Alice und der Bürgermeis-                                        wundbar sind, dass die Welt nicht
                                        Sozialreferentin der EKD;
ter“, der 2019 in die Kinos kam                                        so stabil ist, wie wir glaubten. Und
                                        jetzt Leitung der Agentur
– kurz vor der Pandemie. Diesem                                        was wir individuell erleben, gilt
                                            „Seele und Sorge“
Bürgermeister, im Film heißt er                                        auch gesellschaftlich – denken Sie
Paul Théraneau, fehlen die Ideen,                                      nur an den Fall der Berliner Mau-
wie man in der Stadt Lyon noch                                         er. (Ob wir die Berliner die Mauer
mehr Fortschritt erzielen könnte. Trotz der              etwa schon vergessen haben, fragte dieser Tage
Steuerungsgruppe „Lyon 2500“ die er gerade               der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch)
ins Leben gerufen hat – ja, tatsächlich 2500,            Plötzlich nehmen wir unsere Umgebung ganz
so groß ist sein Ehrgeiz, so alt ist Lyon –, trotz       anders wahr: direkter, tiefer, unmittelbarer.
Diskussionen mit Künstler*innen, World-Ca-               Sind wir in einer anderen Welt aufgewacht –
fés, Zukunftskonferenzen gelingt es ihm nicht,           oder sehen wir die Welt mit anderen Augen?
wirklich in Kontakt zu kommen mit dem Leben              Campbell vergleicht diese Situation mit einem
der Bürgerinnen und Bürger. Alice lebt einfach           spirituellen Erweckungserlebnis. Es ist, als öffne
im Hier und Jetzt – sie hat keinen Plan für mor-         sich ein anderer Horizont – wir hören auf, uns
gen, keine Vorstellung von einem zukünftigen             um uns selbst zu drehen, lassen uns ein, lassen
Beruf. Alles scheint möglich. Der Schlüssel,             uns vielleicht auch verstören.
meint Alice, sei Bescheidenheit. „Alice oder Die            So geht es uns auch jetzt: Seit dem Überfall
Bescheidenheit“ ist denn auch der deutsche Ti-           Russlands auf die Ukraine ist das Konzept der
tel des Films.                                           globalen Lieferketten, ist Handel durch Wandel,
   Die Geschichte fiel mir wieder ein, weil ich           der Neoliberalismus endgültig in Frage gestellt.
seit ein paar Wochen das Gefühl habe, als sei die        Aber schon die Pandemie konnte uns die Au-
Mauer eingerissen, die uns von der Gegenwart             gen öffnen für die Abhängigkeiten, auf denen
getrennt hat. Manche sprechen vom „Ende der              der eigene Wohlstand basiert: Die Energiever-
Illusionen“. Keith Campbell, Sozialpsychologe            sorgung bis zur Infrastruktur an Russland out-
an der Universität von Georgia, hat sich mit             gesourct, der Elektronik-, Auto-, Pharmamarkt

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EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Friedenssynode - Dokumentation und Diskurs - Nordkirche
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nach China, die Verteidigung an die USA. Aber       reitet, versucht unsere Regierung, die Einkom-
auch die globale Verflechtung scheint keine Si-      mensschwächeren zu stützen und Wirtschaft
cherheit zu bieten. Das Ende aller Illusionen –     und Mobilität am Laufen zu halten. Gelbwes-
das könnte auch heißen, endlich erwachsen zu        ten wünscht sich keiner. Also subventionieren
werden. Zu begreifen, wie wenig selbstverständ-     wir Treibstoff für alle. Nur wenige haben jetzt
lich, wie angreifbar unser Lebensstil ist. Welche   den Mut, von der sozial-ökologischen Transfor-
Gnade es war, eine weitgehend sorgenfreie Exis-     mation zu sprechen, vom Green Deal, der ge-
tenz zu leben – trotz der Ungerechtigkeit und       rade erst beschlossen wurde. Der Streit um das
des Unrechts, in das auch wir verstrickt sind.      Energieembargo hat die Wirtschaftsweisen und
Und die eigenen Grenzen zu erkennen.                Wirtschaftsinstitute bundesweit in Lager gespal-
    Kürzlich habe ich eine Edgar-Card in irgend-    ten. Und in Lützerath und in der Lausitz wird
einem Café mitgenommen; SDG stand darauf:           nun noch länger Braunkohle abgebaut. Nur
Wie „Spüre Deine Grenzen“. Oder wie Strategic       wenige sprechen auch davon, dass wir unseren
Development Goals. Gemeint ist die globale          Fleischkonsum einschränken könnten – im-
Entwicklungsstrategie, die 2015 von der Vollver-    merhin werden 60 Prozent der Getreideflächen
sammlung der Vereinten Nationen beschlossen         für Futtermittel benötigt und 20 Prozent für
wurde – auch bekannt unter dem Label Agenda         Biotreibstoffe. In Europa werden renaturierte
2030. Bei den 17 Zielen geht es um die Bekämp-      Ackerflächen wieder bewirtschaftet. Und nicht
fung von Armut und Hunger, um Gesundheit            nur Marine Le Pen empfiehlt eine Mehrwert-
und Bildung. Jetzt, in Zeiten des Krieges, klingt   steuersenkung bei Lebensmitteln des täglichen
das wie ein ferner Traum. Zugleich ist ganz         Bedarfs. Ein Blick auf die Tafeln hierzulande
konkret geworden, worum es geht: Die eige-          zeigt, warum: Wenn die Zentralbanken der
nen Grenzen erkennen – das heißt auch, nicht        Inflation weiter Raum lassen, stehen uns Ver-
mehr zu beanspruchen, als mir zusteht. Nicht        teilungskämpfe ins Haus. 70 Prozent der Deut-
weiter auf Kosten anderer leben. Meine Ab-          schen fürchten Preissteigerungen und Inflation
hängigkeiten reduzieren – persönlich und poli-      – und 62 Prozent haben Sorge um die unbere-
tisch. Demut üben. Und endlich erkennen, was        chenbare politische Situation in Europa.
wir längst hätten sehen können – die Mauern            Zurück zu den Tafeln. Während weniger Le-
in unseren Köpfen und die Risse, die sich seit      bensmittel verteilt werden können, wachsen
langem abzeichnen.                                  dort die Schlangen der Bedürftigen – nicht nur,
                                                    weil eine neue Gruppe von Geflüchteten an-
1. Risse im Sozialgefüge oder                       steht. Denn auch bei uns nimmt die sozioöko-
   kein Friede ohne Gerechtigkeit                   nomische Spreizung seit Jahren zu. Carolin und
Mitten in diesen Kriegszeiten ist Frankreich        Christoph Butterwegge haben am Beispiel der
gerade noch einmal an einer faschistischen Re-      ungleichen Bildungs- und Teilhabechancen von
gierung vorbeigeschrammt. Den Bürgerinnen           Kindern gezeigt, was der Neoliberalismus für die
und Bürgern, die Le Pen gewählt haben, ging         Einzelnen bedeutet hat. Auch die Armut und
es nicht um Putin und die Ukraine, auch nicht       Einsamkeit so vieler Pflegender und Gepflegter
um Krieg und Frieden – es ging um Kaufkraft         sind Ausdruck dieser Spreizung. Aber die Kin-
und Energiepreise, um die Migration aus dem         dergrundsicherung wird wohl noch verscho-
Maghreb und aus Afrika, aber auch um natio-         ben werden und Rentnerinnen und Rentner
nale Träume von vergangener Größe. Zwischen         erhielten im jüngsten Osterpaket keine Ener-
Moskau, Budapest und Paris erschien für ei-         gieentlastung. Während viele von uns in der
nen Augenblick ein ganz anderes Europa am           Corona-Krise gespürt haben, wie befreiend es
Horizont. Während Deutschland sich auf die          sein kann, auf überflüssigen Konsum, einen Ur-
Abkoppelung vom russischen Gasnetz vorbe-           laubsflug oder das Auto zu verzichten, können

                                                                      EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022   9
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sich andere schon jetzt weder Auto noch Miete       es bei ihnen so lange gedauert hat, bis sie eine
leisten. Und die Krise auf dem Wohnungsmarkt        Arbeit aufnehmen konnten. Und – wie erklärt
wird durch die Energie- und Baustoffkrise ver-      man jetzt den Journalistinnen, Lehrerinnen,
schärft; ob die Zahl von 400.000 Wohnungen,         Richterinnen, den Ortskräften aus Afghanistan,
die das Bauministerium jährlich plant, trotz        dass sie am Ende zurückbleiben mussten, weil
Lieferengpässen erreicht werden kann, steht in      unsere Kapazitäten oder die Transportmög-
den Sternen. Auch wenn die Geflüchteten aus          lichkeiten erschöpft waren? Es ist kaum ein
der Ukraine Zugang zur Grundsicherung haben         Jahr her, dass uns diese Zerreißproben in Atem
– das Angebot ist zu knapp, um alle in eigenen      gehalten haben und die Beschlüsse Ihrer Syn-
Wohnungen unterzubringen. Und nicht wenige          ode sprechen von Fehleinschätzungen, Scham,
Beobachter*innen haben Sorge, dass sie über-        Schuld und Traumata. Heute erleben wir die
gangsweise prekäre Beschäftigung annehmen,          unterschiedliche Rechtslage der Geflüchteten
unter Qualifikation eingestellt werden und so        als Zerreißprobe. Kommt da auch ein verdeck-
– trotz Mindestlohnerhöhung – den Niedrig-          ter Rassismus zum Vorschein?
lohnsektor verfestigen. Das Beispiel der Firma         Eine Hierarchie der Geflüchteten – und eine
Tönnies, die an der polnischen Grenze billige       der Helfer*innen und Hilfebedürftigen? Die
Arbeitskräfte suchte, hat einige aufgeschreckt.     Menschen, die jetzt aus der Ukraine kommen,
Dabei käme es darauf an, die Qualifikationen         sehen aus wie wir, kleiden sich wie wir, leben
aller Geflüchteter anzuerkennen.                     wie wir. Tragen Sneakers, trinken Cappuccino,
    Europa erlebt gerade die massivste Flucht-      hören unsere Musik – wir könnten es selbst sein,
bewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Eini-          die fliehen müssen, deren Häuser zerbombt
ge Städte sind bereits an ihre Grenzen gesto-       werden. Und es fühlt sich manchmal auch so
ßen. Ganz in meiner Nähe, in Neustadt, ist in       an, als wären wir die nächsten. Das steht alles
nur drei Tagen aus einem alten Pfarrhaus ein        noch dahin, wie Marie Luise Kaschnitz 1972 ge-
blau-gelber Treffpunkt geworden: ein spen-          schrieben hat.
denfinanziertes Gemeinschaftshaus, in dem
Einheimische und Geflüchtete einander begeg-         2. Krisen, Traumata
nen. Und in Garbsen, wo ich wohne, sind die            und Engagement
ersten Schritte der Integration getan: Die meis-    In welcher Welt wollen wir leben? Die alte
ten Kinder aus der Ukraine haben einen Platz        Frage, die uns seit vielen Jahren begleitet,
in Schule oder KiTa gefunden, kleine Familien       wird drängender, je schneller die Transforma-
eine Einliegerwohnung – die riesige Welle der       tionskrisen voranschreiten. Im Augenblick
Solidarität ist auch ein Friedensdienst. Dazu ha-   scheint es, als seien wir noch unentschieden –
ben nicht zuletzt die vielen Ukrainerinnen und      der Zick-Zack-Kurs ist nicht nur ein politisches
Ukrainer beigetragen, die vorher schon hier         Phänomen. Wir alle zaudern, wir wägen ab, wir
lebten – oft als Pflegende in Krankenhäusern         müssen diskutieren: Den Wohlstand erhalten,
und Langzeitpflegeeinrichtungen. In kürzester        keine Wachstumseinbrüche riskieren, die Mit-
Zeit sind in Berlin, Hamburg, München Web-          telschicht stützen – oder den Green Deal weiter
sites entstanden, auf denen Fahrdienste, Sach-      voranbringen, einen Ausgleich für die Ärms-
spenden, Unterkünfte, Jobs vermittelt werden.       ten schaffen? Den Pflegenden klatschen oder
    Freunde, die seit langem in der Flüchtlings-    das Pflegesystem endlich erneuern? Am besten
und Integrationsarbeit engagiert sind, haben        beides, würden die meisten sagen – man darf
allerdings Probleme, den Geflüchteten aus            das nicht gegeneinanderstellen. Aber was wir in
Nahost zu vermitteln, warum sie aus den Ge-         den gegenwärtigen Transformationen erleben,
meinschaftsunterkünften ausziehen müssen,           birgt eine Botschaft. Wer nicht systemrelevant
damit Ukrainer*innen einziehen. Und warum           ist, wird exkludiert. Schon in der Corona-Krise

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Ohne das Engagement von Jugendlichen ist so eine Synodentagung mit dem aufwändigen Gottesdienst durch Tra-
vemünde und am Strand gar nicht zu bewältigen. Danke allen Mitwirkenden!         Foto: Nordkirche/Susanne Hübner

haben wir erlebt, dass gerade die Jüngsten und             hören. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg
die Ältesten zu kurz kamen: die einen, was ihre            sind Traumata heute kein Tabu mehr. Zunächst
Entwicklung, die anderen, was ihre Kontakte                noch hinter verschlossenen Türen und unzurei-
anging. „Frauen und Kinder zuletzt“, heißt ein             chend ausgestattet, hat sich in den Zentren für
aktueller Buchtitel. Die Einsamkeit der Alten,             Asylbewerber*innen, bei der psychologischen
die Verletzlichkeit von Menschen mit Behinde-              Arbeit mit Jesid*innen, bei der Begleitung von
rung, die Ängste der Sterbenden fanden wenig               Veteran*innen der Bundeswehr eine hohe fach-
Raum. Wird es nach dem Krieg anders sein?                  liche Kompetenz entwickelt. Und das ist bitter
Werden die, die zuerst fliehen mussten, am                  nötig – „denn wir alle tragen kollektive Trau-
Ende einbezogen beim Wiederaufbau?                         mata in uns“, schreibt Benjamin Isaak-Kraus,
   In diesen Wochen erleben Pflegende die                   Pastor der Mennonitengemeinde in Frankfurt,
Traumata der Älteren; Lehrerinnen und Lehrer               im Eule-Magazin. Isaak-Kraus erinnert an das
spüren seit 2015, was es bedeutet, wenn die Kin-           Trauma des Zuschauens in Srebrenica, das
der aus ihrer Welt gerissen wurden, und Men-               vor allem die Blauhelmsoldaten dort seelisch
schen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die                  schwer verletzte, an die Soldat*innen, die aus
seit vielen Jahren hier integriert sind, zucken            Afghanistan zurückkamen – vom Krieg haben
noch immer zusammen, wenn sie eine Sirene                  wir da lange nicht gesprochen –, aber auch an

                                                                               EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022   11
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die Traumata der Kriegskinder und -enkel, die          Denn neben den „Mütenden“, die wir schon
gerade jetzt wieder zum Ausdruck kommen.           aus der Corona-Krise kennen, gibt es noch im-
Das alles spielt eine Rolle, wenn es in diesen     mer die Wütenden, die Krankenwagen und
Tagen um Entscheidungen über Krieg und             Feuerwehr blockieren und vor den Flüchtlings-
Frieden geht. Die russische Propaganda schürt      heimen demonstrieren. Die ihre Kommunal-
die Angst vor dem dritten Weltkrieg ganz ge-       politiker*innen an den Pranger stellen, wenn
zielt. Das macht die einen ohnmächtig, andere      die sich ehrenamtlich für Integration einsetzen.
kampfbereit – und manche einfach hilflos, weil      Mit Trommeln und Fackelzügen andere in die
die Überzeugungen von gestern in Frage ste-        Enge treiben und auf Messenger-Diensten zum
hen. Fight, freeze or fly nennt Isaak-Kraus die     Mord aufrufen. Dass die Gesellschaft pluraler
Traumareaktionen. Und zu den Zerreißproben         geworden ist, zeigt sich in großer Toleranz und
zwischen Wirtschaft, Klima und Energiesicher-      Offenheit. Und in hilflosem Hass. Und die Sozi-
heit ist eine weitere dazu gekommen: die zwi-      alen Medien tragen zur Polarisierung und Ra-
schen äußerer und sozialer Sicherheit.             dikalisierung bei. Während der Bundestag fast
    Was bedeuten uns Frieden, Freiheit und De-     einstimmig Waffenlieferungen beschließt, ist
mokratie – was die Menschenrechte und das          die Zivilgesellschaft gespalten. Nach den hoche-
Miteinander der Verschiedenen? Das große En-       motionalen Debatten in der Pandemie erleben
gagement, das wir in diesen Tagen wieder erle-     wir nun, wie Pazifisten und Menschenrechtsak-
ben, ist auch eine Antwort. Der Spiegel spricht    tivisten einander gegenseitig beleidigen – Pan-
von einer Pandemie der Güte. Was 2015 mit der      zerfans und Blumenfreunde, Naive und Belli-
so genannten Flüchtlingskrise begann, was sich     zisten, Besserwisser und Saudumme, twittert
in der Flutkatastrophe an der Ahr fortsetzte,      Christoph Sieber. Am Ende, sagt er, bleibt eine
ist nun überall erkennbar: Das neue Ehrenamt       tiefe Traurigkeit über die Welt, wie sie ist. Sie
boomt, Caring Communities haben Konjunk-           ist nicht friedlich. Und ja, sie macht uns Angst.
tur. Menschen setzen sich mit ganzer Seele, mit
Zeit und Geld für Notleidende ein: schalten        3. Meinungsfreiheit oder die
Websites, räumen Gästezimmer frei, fahren an          europäische Verfassung
die Grenzen, nehmen ihren Jahresurlaub. En-        In diesen Tagen hat Elon Musk sein 44-Mio-Dol-
gagement und Selbstwirksamkeit helfen auch,        lar-Kaufangebot für Twitter gemacht. Mich hat
den Angststress hinter sich zu lassen. Manche      das an die Übernahmeschlacht von O2 gegen
übernehmen und erschöpfen sich, stoßen an          Mannesmann in Duisburg und Düsseldorf erin-
Grenzen– und ärgern sich, weil die Institutio-     nert. Das war das Ende der alten Röhrenwerke,
nen, die Kommunen, Kirchen, Wohlfahrtsver-         die wie viele Industrieunternehmen im Ruhr-
bände nicht so spontan und schnell sind. Die       gebiet die Vereine und Sportstätten in ihren
Bürokratie sei ein Alptraum, meinen einige,        Quartieren sponsorten. Noch hat Twitter eine
schließlich könne es nicht sein, dass Menschen     gewisse Bereitschaft, den Ordnungsansprüchen
ehrenamtlich neben Job und Familie Integra-        der Regierung zu folgen – aber was wird ge-
tionsarbeit leisten und dann von den Behör-        schehen, wenn sich die totale Meinungsfreiheit
den ignoriert, nicht beraten und unterstützt       durchsetzt, die Musk propagiert? Was wird aus
werden. Dabei gibt es soziale Sicherheit nur       der Wahrheit, wenn sie unter emotionsgesteu-
gemeinsam, Freiwillige und Organisationen,         erten Algorithmen begraben wird? Ich denke
Ehrenamtliche und Berufliche werden gleicher-       an die Rohingya in Myanmar, die von einer So-
maßen gebraucht. Wenn wir als Kirche gute Bei-     cial-Media-Kampagne in die Flucht geschlagen
spiele setzen, wie in Neustadt mit dem blau-gel-   wurden. An die russischen Bots und Kampag-
ben Zentrum, können wir Vertrauen schaffen         nenteams, die nicht nur Wahlkämpfe beein-
– auch nach innen.                                 flussen, sondern auch die Argumente der Pu-

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tinversteher*innen in unserem Land. Und an         schrift von Thomas Friedman, die die Globa-
die Gesetze, die es in Russland verbieten, den     lisierung des 21. Jahrhunderts beschrieb – und
Ukraine-Feldzug einen Krieg zu nennen. An          viele glaubten, dass der Wohlstand der einen
Marina Owsjannikowa, die das im russischen         am Ende auch die anderen satt macht und dass
Fernsehen dennoch tat. Und an Selensky, dem        marktwirtschaftliche Mechanismen fast zwangs-
es grandios gelingt, mit dem Medium umzuge-        läufig zu demokratischen Aushandlungsprozes-
hen und virtuelle wie präsentische Auftritte mit   sen führen würden. Spätestens seit Chinas Ver-
emotionalen Bildern zu verknüpfen.                 tragsbruch in Hongkong zerfiel die Welt erneut
    In der Ukraine sind die Handy-Verbindun-       in Teile – und vielleicht sind wir auch deswe-
gen intakt: So sind wir nahe dran am Leiden        gen so erschrocken, weil Putin dabei die alten
in den Kellern von Mariupol, in Butscha und        Grenzen im Blick hat. Und dabei ist Europa bei
Kiew. Wir sehen Gewalt und Bosheit ganz un-        der Verteidigung der Schengen-Grenzen längst
mittelbar, sehen Nächstenliebe und Güte. Was       zur Festung geworden – mit immer schärferen
die Welt zusammenhält – und was uns trennt.        Asylgesetzen, mit Frontex und Pushbacks. Dass
Denn es ist nicht nur eine Frage der Technik,      Fabrice Leggerie (von 2015 bis 2022 Chef von
wenn sich zwischen Moskau und Dnipro die Fa-       Frontex) nun endlich zurücktrat, ist ein später
milien nicht mehr verstehen. Teile unserer Welt    Schritt. Grenzen seien nichts als Sortiermaschi-
verschwinden wieder hinter einem Vorhang aus       nen, meint der Philosoph Steffen Mau. Zwi-
Propaganda und Lügen. Mit dem Digital Ser-         schen Belarus und Polen, zwischen Israel und
vice Act ist für die Plattformen in Europa ein     Palästina, zwischen USA und Mexiko – überall
erster Schritt getan, die Hetze einzuschränken –   auf der Welt hat die Zahl der Mauern schlag-
aber hinken wir damit nicht hoffnungslos hin-      artig zugenommen. Und auch an der Grenze
terher? Ferdinand von Schirach hat sechs neue      zwischen der Ukraine und Polen wurden in-
Grundrechte für die europäische Verfassung in      ternationale Studierende, die nur eine Aufent-
die Debatte gebracht. Dazu gehört das Recht        haltsgenehmigung hatten, eben anders behan-
auf die Wahrheit in der Politik. „Jeder Mensch     delt als Ukrainerinnen und Ukrainer. Wer sich
hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträ-        in der Arbeit mit Geflüchteten engagiert, hat
gern der Wahrheit entsprechen“, heißt es in Ar-    ihre Geschichten gehört.
tikel 4. Und in Artikel 2: „Jeder Mensch hat das
Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Aus-      4. Die Welt ist klein –
forschung oder Manipulation von Menschen              Mauern überwinden
ist verboten.“ Es geht um das Recht – aber eben    Und für alle anderen ist die Frage, ob wir noch
auch um die politische Verantwortung, um die       über Mauern hinüberschauen, ob wir durch
Haltung jeder* Einzelnen. Die Wahrheit ist sehr    die Tore hindurchschauen, wenn der Krieg zu
konkret. Vielleicht ist die Durchsetzung der       Problemen bei der Energieversorgung, zu Ar-
neuen Verfassung nur ein ferner Traum. Un-         mut und Hunger führt. Wenn nicht nur Mehl
weigerlich denke ich an die Durchsetzung der       oder Sonnenblumenöl bei uns knapp werden,
Menschenrechte durch die Vereinten Nationen        sondern das Getreide in Afrika und Asien. Und
– und an die desillusionierenden Sitzungen des     wenn der verlängerte Kohleabbau, wenn der
Sicherheitsrats mit dem Vetorecht Russlands.       Krieg die Klimakrise verschärft. The world is
Das Gewaltmonopol des Staates auf der inter-       flat, die Welt ist ein vernetzter Organismus, und
nationalen Ebene auf die UN zu übertragen –        unser kleiner Planet ist gefährdet. Unter allen
das war einmal eine Leitidee der Friedensethik     Grenzen sind die Grenzen des Wachstums viel-
–, ist einstweilen an Partikularinteressen ge-     leicht am wenigsten anschaulich. Zurzeit jeden-
scheitert. Umso mehr sind Bündnisse gefragt.       falls sehen mehr als 50 Prozent der Deutschen
    „The World Is Flat“ hieß die Programm-         in Russlands Krieg gegen die Ukraine den größ-

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ten Einschnitt in der europäischen Geschichte,      ungehört. Krieg sei kein Gespenst der Vergan-
im Klimawandel dagegen nur 7 Prozent. Es            genheit, er sei zu einer ständigen Bedrohung
scheint, als wären die ersten Schritte zur Um-      geworden, schreibt Papst Franziskus in „Fratelli
kehr schon wieder vergessen. Buße ist tatsäch-      tutti“. Vergeblich bemüht er sich seit Wochen
lich eine tägliche Aufgabe.                         um ein Gespräch mit Putin. Er sieht die Politik
   Mit Schrecken haben viele bemerkt, wie eng       der Abschottung als Menetekel für einen neu-
der Horizont auch in den Kirchen sein kann.         en Weltkrieg. Wir hätten, sagt er, das Ende des
Die Partnerschaften, die im Rahmen der Öku-         Kalten Krieges nicht ausreichend genutzt, um
mene so oft beschworen worden waren, trugen         die Reform der UNO voranzutreiben. Auch das
kaum, als es um die Orthodoxie in Russland          erkennen wir vielleicht erst im Rückblick. Was
und der Ukraine ging. Das Schisma zwischen          tun wir jetzt, um den Aufbau einer neuen Frie-
Moskau und Konstantinopel, das 2015 schon           densordnung vorzubereiten?
bei der Synode auf dem Athos deutlich gewor-           Es war ein großer Schmerz und vielleicht
den war, die Trennung der autokephalen und          auch ein großes Glück, dass in diese ersten
der moskautreuen Kirche in der Ukraine, die         Kriegswochen Ostern fiel. Vor den zerstörten
viele nur am Rande interessiert hat – spätestens    Kirchen gab es Osterkuchen für die Soldaten in
jetzt enthüllten sie ihren politischen Charakter.   der Ukraine. Und Ostereier für die Kinder in den
In den Reden von Kyrill, als Putin sein Kreuz       Flüchtlingsunterkünften hier. Kaum jemand in
im Ostergottesdienst schlug, wurde die enge         Deutschland wird jetzt vergessen, dass es noch
Bindung zwischen Kirche und Staat besonders         immer zwei Ostertermine gibt – ich hoffe, die
sichtbar. Das Spirituelle im Gewand der Politik.    Gedanken werden auch in Zukunft nach Osten
Die Kirchengüter in der Ukraine – Objekt des        gehen, wenn Osterzeit ist. So wie jetzt. Wir spü-
territorialen Streits. Ich sehe das und wundere     ren die Grenzen, die uns trennen – zwischen
mich nicht, wenn Menschen sich angewidert           den Ländern, den Wirklichkeiten. Und ahnen
abwenden. Wo stehen wir in diesem Streit –          zugleich, dass es eine größere Wirklichkeit gibt,
wie frei sind wir vom politischen Mainstream        die uns verbindet. Der Stein ist weggerollt, der
und welche Gespräche haben wir gesucht? Wie         Weg ins Leben frei. Ostern schicken die Engel
werden wir uns als Kirchen in Deutschland ver-      den Jüngerkreis Jesu zurück nach Galiläa. Sie
halten, wenn die Vollversammlung des ÖRK in         sollen noch einmal neu beginnen. Den Ver-
Karlsruhe stadtfindet? Kann es noch gelingen,        heißungen nachgehen, die Wunden heilen, die
Mauern zu überwinden, wenn aus kritischen           Angst überwinden. Und wir, wie nutzen wir die-
Gesprächen unter Geschwistern längst schon          sen Augenblick, in dem wir hellsichtig gewor-
Verleumdungen geworden sind? Mit wem lässt          den sind – auch für unser Versagen?
sich weiter Partnerschaft pflegen und wo muss           Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der
man die Freundschaft ruhen lassen? Und wie          Schöpfung – das ist der Titel eines Programms,
gehen wir mit theologischen Differenzen – etwa      der Name eines Ausschusses, eine Zielbestim-
zur lettischen Kirche – um, wenn der politische     mung, mit der wir seit langem arbeiten. In die-
Druck wächst?                                       sen Wochen denke ich mit Trauer und Scham
   Es tut weh, wahrzunehmen, dass es dem            an die russisch-orthodoxen Geschwister, mit
ÖRK – dass es auch uns in der EKD – nicht           denen ich in den 80er Jahren an diesem The-
gelungen ist, so produktiv mit Konflikten um-        ma gearbeitet habe. Ich hätte nicht verzichten
zugehen, dass daraus Impulse für die Welt er-       wollen auf ihre Beiträge, auch wenn ich ahnte,
wachsen. Dass andere an unserer Hoffnung            dass mehr als einer vom KGB bezahlt wurde.
wachsen. Während Regierungschef*innen sich          Im Rückblick lasse ich die Suche nach Wahrheit
in Kiew die Hand gaben, blieb der Vorschlag,        und die jeweiligen Interessen Revue passieren.
die religiösen Führer dort zu versammeln,           Die Zerreißproben, in denen wir miteinander

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THEMA

lernen. Auch wenn die Angst um unsere Si-
cherheit sich breit macht, darf die Sorge um
die Schöpfung nicht in den Hintergrund treten.
Und gerade wenn wir einen gerechten Frieden
wollen, gilt es, auf die soziale Gerechtigkeit zu
achten.
   Könnte nicht die Vision von Justice, Peace
and Integrity of Creation gerade jetzt neuen
Glanz gewinnen? „Der Baum des Friedens wur-
zelt in Gerechtigkeit“, heißt es in der Erklärung
der Ökumenischen Versammlung von Vancou-
ver. Dass dieser Frieden seine Wurzeln tief ins
Erdreich streckt – auch durch Hindernisse hin-
durch – und dass er Wurzeln trägt in unserer
Zeit, das wünsche ich uns.

coenen-marx@seele-und-sorge.de

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THEMA

Frieden – ständiges Ringen um
den richtigen Weg
Zwischen Sicherheitswahren und Friedensbildung

Die folgenden Thesen waren ein                                        tuellen Ereignisse in Afghanistan,
Auftaktimpuls für die Synoden-                                        der Machtübernahme durch die
tagung.                                                               Taliban und der eskalierten Lage
                                                                      beim Abzug der internationalen
                                                                      Streitkräfte aus Kabul.
(Die kursiven Einschübe sind Zitate                                      Heute stehen wir unter dem be-
aus bzw. Bezüge zum Themenpapier                                      klemmenden Eindruck der damals
„Haltung und Position“ vom Septem-                                    nicht vorhergesehenen Entwick-
ber 2021)                                                             lung in der Ukraine.
                                                                          Seit Februar scheint die Welt
                                                  Michael
Verfasste Kirche und Diakonie wirken                                  eine andere. Der Überfall Russ-
                                                  Strunk
im Handeln und im Wort. Darin wird                                    lands auf die Ukraine macht fas-
                                         ist als Oberst i.G. Lehr-
eine innere Haltung sichtbar, aus der                                 sungslos, er erschüttert uns – dass
                                           gruppenleiter an der
heraus die Synode und die anderen                                     so etwas möglich ist in Europa,
                                         Führungsakademie der
kirchenleitenden Gremien immer neu                                    wirft alle Erwartungen an eine bes-
                                        Bundeswehr in Hamburg
um Positionen ringen. Denn: Positio-                                  sere, friedlichere Welt ein weites
nierungen zu gesellschaftlichen Fra-                                  Stück zurück. Dieser in unserem
gen sind wichtig und gewollt.                                         Verständnis unerklärliche Krieg
                                                         mit seinen grauenvollen Nachrichten und be-
   Mit dieser Maxime haben wir im Themenpa-              stürzenden Bildern berührt uns alle. Wir ken-
pier „Haltung und Position“ in der September-            nen solche Bilder auch aus anderen Kriegen,
synode des vergangenen Jahres unterstrichen,             aber hier wird uns besonders bewusst, dass diese
dass wir uns deutlich zu gesellschaftlichen Fra-         Ereignisse uns unmittelbar und nachhaltig be-
gen positionieren wollen. Gleichzeitig unter-            treffen. So viel an Erwartungen, an überwun-
scheiden wir zwischen Haltung und Position.              den Geglaubtem, an Aufgeschlossenheit und er-
   Etwas, das ist, und etwas, das wird.                  sehnter Friedensperspektive und Partnerschaft
   Das, was uns verbindet und trägt.                     wird mit einem Schlag beiseitegeschoben, er-
   Und das, was uns aus dieser Haltung heraus            scheint plötzlich als Trug oder unerreichbar.
um Antworten zu den drängenden Fragen un-                    Von „Zeitenwende“ ist die Rede, um dieses
serer Zeit ringen lässt, um daraus unsere Positi-        wirkmächtige Ereignis in seiner Bedeutung
onen zu bilden und zu vertreten, die uns leiten,         zu erfassen. Begriffe wie „Dritter Weltkrieg“,
zu handeln und zu wirken.                                „Nuklearschlag“, „Völkermord“, „massive Auf-
   Im September letzten Jahres standen wir un-           rüstung“ mit ungeheuren Summen Geldes, die
ter dem bewegenden Eindruck der damals ak-               eigentlich extreme Ausnahmen beschreiben,

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verstören in ihrer auf einmal gehandhabten           Kirche zusammen und führen diesen Dialog,
Selbstverständlichkeit.                              der durchaus ein Diskurs sein kann, oft sein
   Sind wir an einem Punkt, an dem sich alles        muss, in dieser Lage gewiss einer sein wird.
umkehrt?                                                 Ich trüge nicht diese Uniform, würde ich
   Sind wir von einem Weg abgekommen, der            mich nicht dazu bekennen, unsere Werte not-
nicht gangbar war?                                   falls auch unter Einsatz legitimierter, an Recht
   Haben wir uns unwiederbringlich täuschen          gebundene physische Gewalt zu verteidigen.
lassen von unseren Idealen?                              Ich stünde aber nicht an diesem Ort, wäre
   Gibt es für die friedliche und humane Welt,       ich nicht zugleich der festen Überzeugung, dass
nach der wir uns sehnen und für die wir eintre-      die Stimme, die zum Frieden mahnt, zu jedem
ten, keine Perspektive mehr, jetzt nicht und auf     Zeitpunkt und gerade in der größten Not nicht
lange Zeit?                                          im Gefechtslärm untergehen, sich nicht der Dy-
   Weltbilder, Ideale, Perspektiven, Ziele, Le-      namik von Gewalt ergeben darf.
benssichten geraten durcheinander, mancher-              Ich bin nur eine Stimme in der Vielfalt un-
orts aus den Fugen.                                  serer Synode.
   Ist das Naheliegende das Reale, das Einzige?          Die aktuelle Situation ist auch für mich
   Ist das Ferne das Utopische, das Unerreich-       eine besondere, die grundsätzlichen Fragen
bare?                                                aber sind mir vertraut. Verbindendes und Wi-
   Was rechtfertigt den Schluss „alternativlos“?     dersprüchliches aus dem Verhältnis von Wehr-
   Welche Stimme erheben wir als Kirche?             dienst zu Friedensbildung begleiten mich mehr
                                                     als ein Berufsleben lang, von den hitzigen De-
Eine Fülle von Fragen bewegt uns. Eine Flut          batten in den Jugendkellern der evangelischen
von Überzeugungen und Zweifel strömt auf             Jugend um Wehrdienst und Kriegsdienstverwei-
uns ein. Wir stochern im Nebel des Krieges mit       gerung, um Nachrüstung und Abrüstung, über
seiner Widersprüchlichkeit unbelegter Infor-         die intensiven Diskussionen zur sicherheitspo-
mationen und Undurchsichtigkeit von Analy-           litischen Ausrichtung des wiedervereinigten
sen, Einschätzungen, Spekulationen, Interessen       Deutschlands, und einher dem Abzug der rus-
und Parteinahme.                                     sischen Truppen, der Beteiligung an internatio-
    Es scheint schwer, geradezu aussichtslos, sich   nalen Militäreinsätzen von Kuweit über Balkan
sicher zu orientieren und überzeugende, ein-         und Afghanistan bis Mali, dem „nichts ist gut
deutige Antworten zu finden.                          in Afghanistan“ der Bischöfin Käßmann, der
    Auch zu den friedensethischen Betrachtun-        Bekämpfung internationalen Terrorismus und
gen finden sich viele öffentlich geäußerte Zwei-      des Islamischen Staats bis hin zur Aufgabe Af-
fel, von der Empfehlung, die Friedensethik zu        ghanistans.
überdenken, sie anzupassen bis hin zur Forde-            Stets ging es um ein Wägen und Messen von
rung einer Neuorientierung, vorgebracht im           Sicherheitswahren auf der einen und Friedens-
ganzen Spektrum von sachlich nachdenklicher          bildung auf der anderen Seite, von sicherheits-
Argumentation bis hin zu verletzender und dif-       logischem und friedenslogischem Denken. Das
famierender Auseinandersetzung.                      war allen Phasen gemein, unterschieden hat
    Die Nordkirche, so heben wir es in unserem       sich jeweils die Gewichtung bis hin zur Domi-
Themenpapier hervor, erachtet es als Friedensar-     nanz der einen oder der anderen Kraft, oft auch
beit, in ihrem eigenen Bereich die Verschiedenheit   mit dem Anspruch des Absoluten.
von Positionen aus- und miteinander im Dialog zu         Als Christ in der Uniform des Soldaten einer-
halten.                                              seits und als Soldat im Engagement für unsere
    Als Synodale treten wir in unserer ganzen        Kirche andererseits musste und muss ich erfah-
Vielfalt unter dem gemeinsamen Dach unserer          ren und damit leben, in beiden Institutionen –

                                                                       EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022   17
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        Michael Strunk erläutert seine Thesen. Für ihn ist es Herausforderung und Selbstverständlichkeit zugleich,
        als Oberst für die Verteidigung einzutreten und als Christ den Frieden zu fördern.      Foto: Susanne Hübner

Kirche und Bundeswehr – jeweils immer auch                       Brutalität und Kriegsgräuel entlädt. Mit anzu-
infrage gestellt zu werden. Einen Widerspruch                    sehen, wie so etwas passiert und die Menschen
sah ich darin für mich nicht, ein Spannungsfeld                  aus ihrer akuten Not nicht befreien zu können,
war es stets. Das ist unbequem, jedoch, es hilft                 macht zornig und hilflos.
zu lernen und zu reifen.                                            Der Konflikt spaltet und polarisiert auch
   Wie kommen wir in der Vielfalt unserer                        hier bei uns. Risse gehen durch unsere Gesell-
Erfahrungen, Überzeugungen und Meinun-                           schaft. Flüchtende, die zu uns kommen, brau-
gen zueinander angesichts des komplexen, un-                     chen Unterstützung und Chancen. Gesellschaft-
durchdringlichen und emotional berührenden                       liche Spannungen, gegensätzliche Meinungen,
Kriegsgeschehens mit seinen globalen Auswir-                     Lagerbildung, Parteinahme und Ausgrenzung
kungen und Verästelungen? Und wie werden                         fordern schon jetzt mäßigenden Ausgleich; er-
wir konkret?                                                     fordern es, Toleranz zu fördern, zu differenzie-
   Wir sehen das Entsetzliche dort in der Uk-                    ren und zu versöhnen, mitten unter uns.
raine. Wir wissen um den unheilvollen Zusam-                        Jetzt stehen sich die verfeindeten Parteien
menhang von enthemmtem Krieg und ent-                            im Kampfgeschehen gegenüber, unversöhn-
grenzter Gewalt, die sich in Regel-, Zügel- und                  lich und in scheinbar unüberwindbarem Hass.
Maßlosigkeit bis hin zu menschenverachtender                     Wir wissen nicht, wie sich die Auseinanderset-

18   EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
THEMA

zung entwickeln wird. Vielleicht wird sie auch         Wie wird eine erneuerte Friedensordnung
uns noch unmittelbarer treffen und uns vieles       aussehen und wie wird Frieden aufs Neue zu
mehr abverlangen. Irgendwann, irgendwann            bilden sein? Und für den richtigen Weg zum
aber wird sich die Lage verändern, die Intensi-     Frieden wird zu beurteilen sein, wo Bewähr-
tät abnehmen, und sich Wege für Diplomatie          tes fortgeführt werden kann und aufgrund der
und Vermittlung weiten. Dann wird es darum          neuen Erfahrungen zu Hinterfragendes ange-
gehen, für Waffenruhe, für Beendigung der           passt werden sollte.
Kampfhandlungen und um einen Frieden zu                „Wenn Du den Frieden willst, bereite den
verhandeln, hoffentlich einen, der Freiheit,        Frieden vor“ – so lautet die Leitlinie der Frie-
Recht und Leben in Würde ermöglicht.                densdenkschrift der EKD zum gerechten Frie-
   Dann wird es dort wie hier darum gehen,          den; eine immerwährende Maxime, ein Auftrag
der Wut den Hass zu entziehen und dem Zorn          mit einem weiten Spektrum vielfältiger Hand-
die Bitternis zu nehmen. Dann wird zu dif-          lungsmöglichkeiten. Wir werden diese – auch
ferenzieren sein zwischen denen, die Schuld         kontrovers – erörtern müssen. Wir werden um
auf sich geladen haben und denen, die Opfer         den richtigen Weg zum Frieden zu ringen ha-
menschenverachtender Gewalttaten wurden,            ben.
beides oft unter demselben Banner. Auch un-            Das zu können und zu wollen – wie wir es
ter den Soldaten in russischer Uniform werden       in unseren Grundsätzen im September 2021
wir Geschichten des missbrauchten Menschen          formuliert haben – dass wir Menschen mit unter-
erfahren.                                           schiedlicher Anschauung einander aushalten, bei-
   Um zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu        einander bleiben und voneinander lernen wollen,
wirken, dort präsent zu sein, wo Handeln jetzt      haben wir als friedenspolitisch wertvolles Modell
Wirkung zeigen kann, und den Einstieg dort ab-      herausgestellt und mit der Erwartung an unsere
zupassen, wo wir jetzt noch unsere Ohnmacht         Kirche als eine lernende Kirche verbunden. Nun
ertragen müssen, fordert uns, vielschichtig, dif-   sind wir gefordert, unserem eigenen Anspruch
ferenziert und ganzheitlich zu betrachten, zu       gerecht zu werden.
bewerten und zu urteilen.

                                                                      EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022   19
THEMA

Prima und ultima ratio
Wenn Zeitenwende, dann nur eine gesamtpolitische

Die folgenden Thesen hat der                                         2. In der Ukraine herrscht ein bru-
Autor auf der Synode vorgetra-                                       taler Angriffskrieg, gegen den sich
gen und erläutert.                                                   die Ukraine mit militärischen und
                                                                     zivilen Mitteln zur Wehr setzt. Al-
                                                                     lein auf den Weg der Gewaltfrei-
1. Die friedensethischen Positio-                                    heit zu setzen, erscheint unter
nen eines Vorrangs für Gewalt-                                       den gegebenen Umständen keine
freiheit als prima ratio unter Ein-                                  Aussicht auf Erfolg zu haben. Aber
schluss einer rechtserhaltenden                                      auch eine militärische Unterstüt-
Gewalt als ultima ratio und einer                                    zung hat Grenzen.
                                                 Renke
Position der prinzipiellen Gewalt-                                       Friedensethik muss sich in der
                                                Brahms
freiheit sind als politische Optio-                                  jeweiligen konkreten Situation
                                         war 13 Jahre (bis zum
nen anzuerkennen und ernst zu                                        bewähren. In der Ukraine fin-
                                            November 2021)
nehmen.                                                              det ein Angriffskrieg Russlands
                                          Friedensbeauftragter
    Der weitgehende friedensethi-                                    statt, der einen eklatanten Bruch
                                                der EKD.
sche Konsens in der EKD orien-                                       des Völkerrechts darstellt und
tiert sich an der Denkschrift von                                    mit äußerster Brutalität geführt
      (1)
2007 , die vom Vorrang der Ge-                                       wird. Nehmen wir den russischen
waltfreiheit und ziviler Mittel der Konflikttrans-      Präsidenten ernst, so geht es um einen impe-
formation ausgeht. Das ist auch weiterhin als          rialistischen Krieg, der auch vor anderen Län-
Normalfall und „prima ratio“ anzusehen. Ins-           dern nicht Halt machen würde (z.B. Georgien,
trumente der „rechtserhaltenden Gewalt“, zu            Moldawien). Das Selbstverteidigungsrecht der
denen auch Sanktionen und Waffenlieferungen            Ukraine nach Artikel 51 der Charta der Verein-
gehören, sind nachrangig und müssen die Aus-           ten Nationen steht außer Frage. Auch frieden-
nahme bleiben. Andere Positionen in der EKD            sethisch ist entscheidend, dass die Ukraine mit
vertreten einen prinzipiellen Pazifismus, der           großer Unterstützung in der Bevölkerung be-
nicht nur als individuelle Entscheidung, son-          schlossen hat, militärisch und zivil Widerstand
dern auch als politische Option anzuerkennen           zu leisten. Eine Unterstützung der Ukraine im
ist. Erfahrungen auch kirchlicher Organisati-          Rahmen der rechtserhaltenden Gewalt hat ihre
onen und Studien zur Wirksamkeit(2) gewalt-            Grenze in der Vermeidung einer Eskalation,
freier Bewegungen zeigen, dass gewaltfreie Be-         die zu einer Ausweitung des Krieges auf weite-
wegungen in der Überwindung von Konflikten              re Länder oder zum Atomkrieg führt. Der Weg
erfolgreicher sind als gewaltförmige. Beide Posi-      der Gewaltfreiheit erfährt seine Begrenzung in
tionen müssen jeweils zu Ende denken, was sie          der konsequenten und brutalen Ausschaltung
voraussetzen und vertreten, beide müssen ihre          der Zivilgesellschaft in Russland und ihrer dro-
Dilemmata offenlegen. Beide Wege können                henden Unterdrückung in der Ukraine im Falle
scheitern. Beide Wege bleiben nicht ohne Leid          einer russischen Okkupation.
und Schuld.

20   EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
THEMA

Auf der Synode wurde nicht nur diskutiert und um den rechten Weg der Kirche gerungen, sondern auch für den Frie-
den gebetet.                                                                             Foto: Nordkirche, Susanne Hübner

3. Eine „Zeitenwende“, die sich nur auf mili-                  leuchten im Angesicht der Ausgaben für Vertei-
tärische Aus- und Aufrüstung konzentriert, ist                 digung allein der europäischen NATO-Staaten
abzulehnen, bedarf vielmehr eines gesamtpo-                    und der Notwendigkeit der Investition in ande-
litischen Ansatzes, der Klima-, Energie-, Wirt-                re Bereiche nicht ein.
schafts-, Entwicklungs- und Gerechtigkeitsfra-
gen einbezieht.                                                 Q    Quellenangaben:
    Der Krieg in der Ukraine macht in besonde-                 (1)   Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen,
                                                                     Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in
rer Weise darauf aufmerksam, dass wirtschafts-                       Deutschland, 2007
politische, entwicklungspolitische, energiepoli-               (2)   Erica Chenoweth and Maria J. Stephan „Why Civil Resistan-
tische und klimapolitische Fragen auch Fragen                        ce Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict“, Co-
der Sicherheit und des Friedens sind. Um den                         lumbia University Press 2012; Erica Chenoweth, Civil Re-
                                                                     sistance, What everyone needs to know, Oxford University
Hungertod von Millionen zu verhindern, das                           Press, 2021
Klima zu retten, gerechtes Wirtschaften und
Unabhängigkeit in Energiefragen zu erreichen,
bedarf es großer Investitionen. Deshalb führt
eine „Zeitenwende“, die sich allein auf die mili-              renkebrahms@gmx.de
tärische Sicherheit konzentriert, in die Irre. Eine
Bundeswehr muss in der Lage sein, ihren Auf-
trag der Landes- und Bündnisverteidigung zu
erfüllen. Die gegenwärtig genannten Summen

                                                                                       EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022       21
THEMA

Friedens- und Sicherheitslogik
Thesen für die Synode

Die folgenden Thesen hat der
Autor auf der Synode vorgetra-
gen und erläutert.                                                     Der ungerechtfertigte Eroberungs-
                                                                       krieg der russischen Föderation
                                                                       gegen die Ukraine seit 2014 und
1. Die „vorrangige Option für                                          insbesondere die gegenwärtige
die Gewaltfreiheit“ (EKD 2007,                                         militärische Offensive stellen ein-
Ziff. 99) schließt in der nicht er-                                    deutig den Tatbestand eines An-
lösten Welt die Notwendigkeit                                          griffskrieges dar. Da die Vereinten
„rechtserhaltender Gewalt“ ein                                         Nationen nicht in der Lage sind,
                                               Dr. Michael
(Ziff. 102).                                                           die Ukraine wirksam zu schüt-
                                                  Haspel
                                                                       zen, ist die Selbstverteidigung der
                                          ist apl. Professor für
Der Schalom ist ein zentraler bi-                                      Ukraine rechtlich und ethisch ge-
                                              Systematische
blischer Heilsbegriff. Auf ihn hin                                     rechtfertigt. Es besteht für andere
                                            Theologie an der
orientiert sich christliche Frie-                                      Staaten nicht nur das Recht, son-
                                            Universität Erfurt
densethik. Daraus ergibt sich in                                       dern auch die Pflicht, die Ukraine
der Perspektive einer christlichen                                     zu unterstützten und den Angriff
Ethik des Politischen das Ziel der                                     nicht nur auf die Ukraine, sondern
Gewaltminimierung und der „vorrangigen Op-               auch das internationale Recht und insbesonde-
tion für die Gewaltfreiheit“ (EKD 2007, Ziff.            re den Bruch des Budapester Memorandums
99). In der nicht erlösten Welt schließt dies            von 1994 abzuwehren. Das schließt die Liefe-
die Notwendigkeit „rechterhaltender Gewalt“              rung von Waffen unter Wahrung des Kriteri-
ein: „Bei schwersten, menschliches Leben und             ums der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich ein.
gemeinsam anerkanntes Recht bedrohenden
Übergriffen eines Gewalttäters kann die An-              3. Gemeinsam mit den ökumenischen Part-
wendung von Gegengewalt erlaubt sein, denn               ner:innen in der Region, in Europa und im
der Schutz des Lebens und die Stärke des ge-             globalen Süden könnte ein ökumenischer
meinsamen Rechts darf gegenüber dem ‚Recht               Friedensdiskurs initiiert werden, der Pers-
des Stärkeren‘ nicht wehrlos bleiben“ (Ziff. 102).       pektiven für eine zukünftige Friedens- und
Dies schließt individuelle Ablehnung jeglicher           Sicherheitsordnung in Europa entwickelt.
Gewaltanwendung nicht aus, ist aber davon zu
unterscheiden.                                           Neben dem Gebet für den Frieden und konkre-
                                                         ter Hilfeleistung ist es auch Aufgabe der evange-
2. Da die Selbstverteidigung der Ukraine ge-             lischen Kirche, auf Grundlage der christlichen
gen die russische Aggression rechtlich und               Friedensethik qualifiziert an der gesellschaftli-
ethisch gerechtfertigt ist, sind (verhältnismä-          chen Urteilsbildung mitzuwirken. Darüber hin-
ßige) Waffenlieferungen nicht nur erlaubt,               aus sind alle Kräfte, einschließlich der Friedens-
sondern geboten.                                         fachkräfte, die auf Versöhnung und Frieden

22   EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
THEMA

2015 wurde W. Putin noch in Ehren vom Papst empfangen – das Bild ging um die Welt. Ob man damals auch über
eine gerechte Weltordnung in Frieden gesprochen hat?                          Foto: epd-bild/ Stefano Dal Pozzolo

hinwirken, zu unterstützen. Gemeinsam mit
den ökumenischen Partner:innen in der Regi-
on, in Europa und im globalen Süden könnte
ein ökumenischer Friedensdiskurs initiiert wer-
den, der Perspektiven für eine zukünftige Frie-
dens- und Sicherheitsordnung in Europa ent-
wickelt, in der Friedens- und Sicherheitslogik
zusammengedacht werden. Es werden sowohl
militärische Abschreckung als auch die Stär-
kung von ziviler Konfliktbearbeitung, Dialog,
Kooperation und Versöhnung notwendig sein.

michael.haspel@uni-erfurt.de

                                                                                EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022   23
THEMA

Reichtum der Beziehungen
Partnerkirchen im Ostseeraum und Osteuropa

Die Landessynode hat einen                                       grad, dazu kamen Beziehungen
Blick auf die ökumenischen Part-                                 nach St. Petersburg durch die Städ-
nerbeziehungen der Nordkirche                                    tepartnerschaft Hamburg – St. Pe-
im Ostseeraum und in Osteuro-                                    tersburg. Partner der Lutherischen
pa geworden.                                                     Kirche in der Ukraine ist die Baye-
                                                                 rische Landeskirche.

Unsere Nordkirche hat einen gro-                                 Polen
ßen Reichtum von Beziehungen                                     Die Partnerschaft mit den Diö-
zu Kirchen in zehn verschiedenen                                 zesen Wrocławska (Breslau) und
                                             Christa
europäischen Ländern. Partner-                                   Pomorsko-Wielkopolska        (Pom-
                                            Hunzinger
schaftliche Beziehungen bestehen                                 mern-Großpolen) der Evange-
                                       Europareferentin im
zu drei Diözesen der Kirche von                                  lisch-Augsburgischen Kirche in
                                     Zentrum für Mission und
England, zur Protestantischen                                    Polen besteht in der Pommer-
                                      Ökumene - Nordkirche
Kirche in den Niederlanden, zur                                  schen Kirche seit den 1970er Jah-
                                         weltweit (ZMÖ)
Diözese Växjö der Kirche von                                     ren, einen Partnerschaftsvertrag
Schweden, zu zwei Diözesen der                                   gibt es seit 1999. Beide sind mit
Evangelisch-Augsburgischen Kir-                                  jeweils etwa 3.000 Mitglieder sehr
che in Polen, zur Evangelisch-Lutherischen          kleine Diözesen. Insgesamt hat die Kirche
Kirche in Rumänien, zu den lutherischen Kir-        ca. 62.000 Mitglieder. Besonders wichtig sind
che in Litauen, Lettland und Estland, zu den        Beziehungen zu Gemeinden im ehemaligen
lutherischen Propsteien Kaliningrad und St.         Hinterpommern. Inhaltlich verbindet sehr das
Petersburg sowie zur Russisch-Orthodoxen            gemeinsame Erinnern an Dietrich Bonhoeffer -
Metropolie St. Petersburg und Ladoga und zur        das Predigerseminar von Finkenwalde liegt bei
Evangelisch-Lutherischen Kirche in Kasachstan.      Stettin/Szczecin. Die Diakonie in Polen setzt
   Die Nordkirche hat keine Partnerbeziehung        sich intensiv für Geflüchtete ein, bereits seit
in die Ukraine. Bereits Ende der 1970er Jahre       Herbst 2021 an der belarussischen Grenze, nun
wurde vom Lutherischen Weltbund über die            in ganz Polen.
VELKD (Vereinigte Evangelisch-Lutherische
Kirche Deutschlands) angeregt, die Zuständig-       Baltische Länder
keiten für die Beziehungen zu den regionalen        Bei den Baltischen Ländern gibt es partner-
lutherischen Kirchen auf dem Gebiet der da-         schaftliche Kontakte zu allen Lutherischen
maligen Sowjetunion zwischen den Gliedkir-          Kirchen: In Litauen zur Evangelisch-Lutheri-
chen der (damaligen) EKD in Westdeutschland         schen Kirche Litauens. Es ist eine kleine Kirche
aufzuteilen. Die Nordelbische Kirche war als        mit etwa 18.000 Mitgliedern, aber einer sehr
Kirche im Ostseeraum für die Kontakte ins Bal-      aktiven diakonischen Arbeit. Bereits jetzt wer-
tikum zuständig und, als es Anfang der 1990er       den in fünf Diakoniezentren ukrainische Ge-
Jahre möglich wurde, für die Propstei Kalinin-      flüchtete aufgenommen. Allein im gerade erst

24   EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
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