EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - Friedenssynode - Dokumentation und Diskurs - Nordkirche
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C 21134 Juli 2022 | 7 EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN UND KIRCHE IN NORDDEUTSCHLAND Friedenssynode – Dokumentation und Diskurs Eine andere Welt Frieden – ständiges Ein Säuseln im oder ein anderer Ringen um den Kriegsgeschrei und Blick? richtigen Weg der Pazifismus
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, Es ist ebenso erstaunlich wie bewundernswert, dass der große Tan- ker Nordkirche mit der Synodentagung Anfang Mai recht rasch auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine reagiert hat. Wohl wissend, dass die einzelnen Beiträge den inhaltlichen Austausch der Synodentagung nur unvollkommen wiedergeben – oft ist gerade das Gespräch in den Arbeitsgruppen oder beim Kaffee viel entscheiden- der als das, was wohlausgewogen vorgetragen wird –, vermitteln sie doch einen guten Einblick in die Impulse, die das Präsidium mit dem Vorbereitungsausschuss geben möchte. Schön, dass es den Mut hatte, das Thema „Zukunft der Nordkirche“ zugunsten des aktuellen Themas „Frieden“ zu verschieben, auch wenn die letzte Tagung zum selben Thema noch gar nicht so lange zurückliegt. Präses Ulrike Hill- mann war dieses aktuelle Thema besonders wichtig, wie sich ihrem Geleitwort gut entnehmen lässt. Aus eigener Pfarramtserfahrung weiß ich, dass die Themen und Dis- FRIEDRICH kussionen der Synode die Gemeinden oder Dienste und Werke oft BRANDI nicht erreichen. Dem wird mit diesem Heft entgegengewirkt. Sie ha- ben die Chance, der Tagung vom 6. und 7. Mai nachzuspüren und zu lesen, was in Travemünde diskutiert wurde. Zum Glück haben sich noch weitere Autoren eingefunden und sich dieses Themas angenommen. So entsteht mit diesem Heft genau das, was die „Evangelischen Stimmen“ sein möchten: Ein Diskursfo- rum über „Zeitfragen und Kirche“ – in diesem Fall nicht nur in Nord- deutschland. Denn der derzeit in der katholischen Kirche heiß um- strittene und bei uns bereits praktizierte „Synodale Weg“ sollte sich nicht allein auf den Diskurs in der Synode selbst beschränken, son- dern eine Einladung sein für Mitsprache und Verantwortung auf allen Ebenen in der Kirche. Ich wünsche Ihnen eine erhellende Lektüre und, natürlich, einen schö- nen Sommer. Und wenn es regnet, freuen Sie sich mit den Bäumen! www.evangelische-stimmen.de EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022 3
EVANGELISCHE STIMMEN INHALT 3 Editorial 6 Geist des Friedens 43 Ulrike Hillmann 8 Andere Welt – anderer 36 Friedensgebet Blick? Bischofsrat der Nordkirche Cornelia Coenen-Marx 39 Abschlusserklärung 16 Frieden. Ringen um den richtigen Weg 41 Nur ein Säuseln im Michael Strunk Kriegsgeschrei? Ulrich Hentschel 20 Prima und ultima Ratio Renke Brahms 44 Pazifismus Theo Christiansen 22 Friedens- und Sicher- heitslogik 48 Wo bleiben Zorn und Michael Haspel Aufschrei? Redlef Neubert-Stegemann 24 Reichtum der Beziehungen 52 Gedankenfetzen Christa D. Hunzinger 54 Ein Martin 28 Bemühungen um Frieden Helga Kamm Frank Lotichius 56 Überwachung und 31 Der gute Kampf des Infiltration Glaubens Matthias Kleiminger Dietrich B. Brauer 58 Ritter des Heiligen 33 Verteidigung und Geistes. Zur Trinität Pazifismus Hans-Jürgen Benedict Friedemann Magaard 61 Das letzte Wort hat 34 Eine Evangelische Heinrich Mann Stimme Julian Sengelmann 62 Vorschau Titelbild: Friedenstaube. EKD / MediaCompany – Agentur für Kommunikation GmbH EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022 5
THEMA Geist des Friedens Geleitwort zu den Texten der Synodentagung 24. Februar 2022: Die 13. Tagung spontan beteiligt haben, und auch der II. Landessynode der Evan- die eingeladenen Gäste, Renke gelisch-Lutherischen Kirche in Brahms, Cornelia Coenen-Marx, Norddeutschland beginnt – und Michael Haspel und Dietrich Russland beginnt einen groß- Borissowitsch Brauer, Erzbischof angelegten Überfall auf die Uk- der Evangelisch-Lutherischen Kir- raine. Selbst im digitalen Raum che in Russland, haben begeistert spüre ich das Entsetzen, die da- zugesagt. So ist es gelungen, das durch ausgelösten Sorgen, Ängs- Thema Frieden mit seinen unter- te und Nöte der teilnehmenden schiedlichen Aspekten wie Radika- Ulrike Synodalen. Zeit für Austausch lisierung in der Gesellschaft, Um- Hillmann und Gebete findet sich, und den- gang mit der Wahrheit in Politik Präses der noch bleibt der Wunsch nach und Medien, Verarmung großer Landessynode mehr. Gesellschaftsteile, Integration der der Nordkirche Flüchtlinge, Psychosoziale Folgen, Klimaschutz und Globale nach F ür den 6. / 7.Mai war eine Son- einem anregenden Input im Aus- dersynode zum Thema „Zu- tausch an runden Tischen zu be- kunft der Nordkirche“ geplant. Angesichts leuchten und die Frage nach der Rechtfertigung dessen, dass die Welt erst durch die Pandemie von Waffengewalt heftig zu diskutieren. Dabei und dann durch den Ausbruch des Krieges mit- war es uns wichtig, dass nicht nur im Hinblick ten in Europa in Unordnung geraten ist, haben auf den derzeitigen Krieg, sondern im Hinblick wir entschieden, uns in der Synode stattdessen auf die von der Politik verkündete Zeitenwende den Raum zu nehmen, zunächst die grundsätz- zu betrachten, intensiv biblisch fundiert und lichen theologischen Fragen, die uns jetzt aufge- mit einem besonderen Schwerpunkt auf die geben sind, zu bedenken. Als Kirche im Herzen Ausrichtung unserer ökumenischen Partner- Europas, als eine Kirche, deren zentrale Bot- schaften bzw. künftige Zusammenarbeit mit schaft vom Leben angesichts des Todes spricht, Kirchen im Ostseeraum und mit osteuropäi- haben wir nämlich nur dann eine Zukunft, schen Kirchen. wenn wir uns auf unser Glaubensfundament besinnen und gerade in diesen Tagen des Krie- #redenüberfrieden ges vom Frieden reden und darüber nachden- Für die Abschlusserklärung konnten wir an ken, wie wir unseren Beitrag für ein friedliches den Beschluss der Landessynode zum Ende des Europa gestalten wollen, unsere Friedensethik Prozesses „#redenüberfrieden“ vom September neu bedenken und beschreiben. 2021 anknüpfen. Wir haben ausgehalten, dass es Aus dem Kreis der Synodalen, dem Landes- in unserer Synode wie auch in der Gesellschaft kirchenamt und dem ZMÖ hat es viele gege- zu den Fragen um Frieden ganz gegensätzliche ben, die sich an der Vorbereitung der Tagung Standpunkte gibt, gleichermaßen das Wissen 6 EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
THEMA um unsere Schuld, egal ob wir uns für oder ge- Von all dem ist in diesem Heft zu lesen. Wir gen Waffenlieferungen aussprechen. So konnten danken Dr. Friedrich Brandi für die Idee, unse- wir in der Abschlusserklärung beide Positionen re Tagung in den Evangelischen Stimmen zu nebeneinanderstehen lassen und dennoch an dokumentieren. Wir hoffen, dass der Geist, von der Hoffnung festhalten, dass das Leben siegen dem wir während der Tagung beseelt waren, wird und der Frieden das Ziel der Geschichte ist. auch Sie, die Leserschaft ergreift, auch wenn Ih- Es ist uns als Synode möglich gewesen, trotz aller nen das Erlebnis eines Gottesdienstes auf dem gegensätzlichen Standpunkte zusammen zu blei- Weg durch Travemünde und endend mit dem ben, weil für uns der Grund durch Jesus Christus Abendmahl am Strand, nur schwer in Worten gelegt ist. Damit sind wir Vorbild in unserer Ge- vermittelt werden kann. sellschaft und das ist die „politische“ Erklärung, die wir abgegeben haben. In Repräsentation durch die Synodalen (Präses Ulrike Hillmann und Vizepräses Elke König) machte sich Nordkirche auf den Weg – mit einem Gottesdienst durch den Tagungsort Travemünde bis zum Strand. Foto: Nordkirche/Susanne Hübner EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022 7
THEMA Andere Welt – anderer Blick? Auswirkungen des Zeitenwandels Grenzerfahrungen oder das dem Phänomen des „Ich-Schocks“ Ende der Illusionen beschäftigt, mit tiefgreifenden Kri- „Haben Sie nicht auch manchmal sen und Erschütterungen, die un- das Gefühl, als bewege sich nichts? ser Lebensgefühl verändern kön- Als wachse vor uns eine Mauer des nen. Eine schwere Krankheit, eine Stillstands, die immer höher wird berufliche Katastrophe, ein Todes- – trotz stetiger Beschleunigung? fall in der Familie – und plötzlich Wie bei einer Zugfahrt, wo man wird der Schutzfilter, der uns nor- im Vorbeifahren die Landschaft malerweise von der Wirklichkeit nicht mehr erkennt?“ Das fragt trennt, weggerissen. Illusionen Cornelia Alice, eine junge Philosophin, den platzen, wenn wir spüren, dass wir Coenen-Marx, Bürgermeister von Lyon. In dem nicht so sicher und nicht so unver- Publizistin, ehemals Film „Alice und der Bürgermeis- wundbar sind, dass die Welt nicht Sozialreferentin der EKD; ter“, der 2019 in die Kinos kam so stabil ist, wie wir glaubten. Und jetzt Leitung der Agentur – kurz vor der Pandemie. Diesem was wir individuell erleben, gilt „Seele und Sorge“ Bürgermeister, im Film heißt er auch gesellschaftlich – denken Sie Paul Théraneau, fehlen die Ideen, nur an den Fall der Berliner Mau- wie man in der Stadt Lyon noch er. (Ob wir die Berliner die Mauer mehr Fortschritt erzielen könnte. Trotz der etwa schon vergessen haben, fragte dieser Tage Steuerungsgruppe „Lyon 2500“ die er gerade der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch) ins Leben gerufen hat – ja, tatsächlich 2500, Plötzlich nehmen wir unsere Umgebung ganz so groß ist sein Ehrgeiz, so alt ist Lyon –, trotz anders wahr: direkter, tiefer, unmittelbarer. Diskussionen mit Künstler*innen, World-Ca- Sind wir in einer anderen Welt aufgewacht – fés, Zukunftskonferenzen gelingt es ihm nicht, oder sehen wir die Welt mit anderen Augen? wirklich in Kontakt zu kommen mit dem Leben Campbell vergleicht diese Situation mit einem der Bürgerinnen und Bürger. Alice lebt einfach spirituellen Erweckungserlebnis. Es ist, als öffne im Hier und Jetzt – sie hat keinen Plan für mor- sich ein anderer Horizont – wir hören auf, uns gen, keine Vorstellung von einem zukünftigen um uns selbst zu drehen, lassen uns ein, lassen Beruf. Alles scheint möglich. Der Schlüssel, uns vielleicht auch verstören. meint Alice, sei Bescheidenheit. „Alice oder Die So geht es uns auch jetzt: Seit dem Überfall Bescheidenheit“ ist denn auch der deutsche Ti- Russlands auf die Ukraine ist das Konzept der tel des Films. globalen Lieferketten, ist Handel durch Wandel, Die Geschichte fiel mir wieder ein, weil ich der Neoliberalismus endgültig in Frage gestellt. seit ein paar Wochen das Gefühl habe, als sei die Aber schon die Pandemie konnte uns die Au- Mauer eingerissen, die uns von der Gegenwart gen öffnen für die Abhängigkeiten, auf denen getrennt hat. Manche sprechen vom „Ende der der eigene Wohlstand basiert: Die Energiever- Illusionen“. Keith Campbell, Sozialpsychologe sorgung bis zur Infrastruktur an Russland out- an der Universität von Georgia, hat sich mit gesourct, der Elektronik-, Auto-, Pharmamarkt 8 EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
THEMA nach China, die Verteidigung an die USA. Aber reitet, versucht unsere Regierung, die Einkom- auch die globale Verflechtung scheint keine Si- mensschwächeren zu stützen und Wirtschaft cherheit zu bieten. Das Ende aller Illusionen – und Mobilität am Laufen zu halten. Gelbwes- das könnte auch heißen, endlich erwachsen zu ten wünscht sich keiner. Also subventionieren werden. Zu begreifen, wie wenig selbstverständ- wir Treibstoff für alle. Nur wenige haben jetzt lich, wie angreifbar unser Lebensstil ist. Welche den Mut, von der sozial-ökologischen Transfor- Gnade es war, eine weitgehend sorgenfreie Exis- mation zu sprechen, vom Green Deal, der ge- tenz zu leben – trotz der Ungerechtigkeit und rade erst beschlossen wurde. Der Streit um das des Unrechts, in das auch wir verstrickt sind. Energieembargo hat die Wirtschaftsweisen und Und die eigenen Grenzen zu erkennen. Wirtschaftsinstitute bundesweit in Lager gespal- Kürzlich habe ich eine Edgar-Card in irgend- ten. Und in Lützerath und in der Lausitz wird einem Café mitgenommen; SDG stand darauf: nun noch länger Braunkohle abgebaut. Nur Wie „Spüre Deine Grenzen“. Oder wie Strategic wenige sprechen auch davon, dass wir unseren Development Goals. Gemeint ist die globale Fleischkonsum einschränken könnten – im- Entwicklungsstrategie, die 2015 von der Vollver- merhin werden 60 Prozent der Getreideflächen sammlung der Vereinten Nationen beschlossen für Futtermittel benötigt und 20 Prozent für wurde – auch bekannt unter dem Label Agenda Biotreibstoffe. In Europa werden renaturierte 2030. Bei den 17 Zielen geht es um die Bekämp- Ackerflächen wieder bewirtschaftet. Und nicht fung von Armut und Hunger, um Gesundheit nur Marine Le Pen empfiehlt eine Mehrwert- und Bildung. Jetzt, in Zeiten des Krieges, klingt steuersenkung bei Lebensmitteln des täglichen das wie ein ferner Traum. Zugleich ist ganz Bedarfs. Ein Blick auf die Tafeln hierzulande konkret geworden, worum es geht: Die eige- zeigt, warum: Wenn die Zentralbanken der nen Grenzen erkennen – das heißt auch, nicht Inflation weiter Raum lassen, stehen uns Ver- mehr zu beanspruchen, als mir zusteht. Nicht teilungskämpfe ins Haus. 70 Prozent der Deut- weiter auf Kosten anderer leben. Meine Ab- schen fürchten Preissteigerungen und Inflation hängigkeiten reduzieren – persönlich und poli- – und 62 Prozent haben Sorge um die unbere- tisch. Demut üben. Und endlich erkennen, was chenbare politische Situation in Europa. wir längst hätten sehen können – die Mauern Zurück zu den Tafeln. Während weniger Le- in unseren Köpfen und die Risse, die sich seit bensmittel verteilt werden können, wachsen langem abzeichnen. dort die Schlangen der Bedürftigen – nicht nur, weil eine neue Gruppe von Geflüchteten an- 1. Risse im Sozialgefüge oder steht. Denn auch bei uns nimmt die sozioöko- kein Friede ohne Gerechtigkeit nomische Spreizung seit Jahren zu. Carolin und Mitten in diesen Kriegszeiten ist Frankreich Christoph Butterwegge haben am Beispiel der gerade noch einmal an einer faschistischen Re- ungleichen Bildungs- und Teilhabechancen von gierung vorbeigeschrammt. Den Bürgerinnen Kindern gezeigt, was der Neoliberalismus für die und Bürgern, die Le Pen gewählt haben, ging Einzelnen bedeutet hat. Auch die Armut und es nicht um Putin und die Ukraine, auch nicht Einsamkeit so vieler Pflegender und Gepflegter um Krieg und Frieden – es ging um Kaufkraft sind Ausdruck dieser Spreizung. Aber die Kin- und Energiepreise, um die Migration aus dem dergrundsicherung wird wohl noch verscho- Maghreb und aus Afrika, aber auch um natio- ben werden und Rentnerinnen und Rentner nale Träume von vergangener Größe. Zwischen erhielten im jüngsten Osterpaket keine Ener- Moskau, Budapest und Paris erschien für ei- gieentlastung. Während viele von uns in der nen Augenblick ein ganz anderes Europa am Corona-Krise gespürt haben, wie befreiend es Horizont. Während Deutschland sich auf die sein kann, auf überflüssigen Konsum, einen Ur- Abkoppelung vom russischen Gasnetz vorbe- laubsflug oder das Auto zu verzichten, können EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022 9
THEMA sich andere schon jetzt weder Auto noch Miete es bei ihnen so lange gedauert hat, bis sie eine leisten. Und die Krise auf dem Wohnungsmarkt Arbeit aufnehmen konnten. Und – wie erklärt wird durch die Energie- und Baustoffkrise ver- man jetzt den Journalistinnen, Lehrerinnen, schärft; ob die Zahl von 400.000 Wohnungen, Richterinnen, den Ortskräften aus Afghanistan, die das Bauministerium jährlich plant, trotz dass sie am Ende zurückbleiben mussten, weil Lieferengpässen erreicht werden kann, steht in unsere Kapazitäten oder die Transportmög- den Sternen. Auch wenn die Geflüchteten aus lichkeiten erschöpft waren? Es ist kaum ein der Ukraine Zugang zur Grundsicherung haben Jahr her, dass uns diese Zerreißproben in Atem – das Angebot ist zu knapp, um alle in eigenen gehalten haben und die Beschlüsse Ihrer Syn- Wohnungen unterzubringen. Und nicht wenige ode sprechen von Fehleinschätzungen, Scham, Beobachter*innen haben Sorge, dass sie über- Schuld und Traumata. Heute erleben wir die gangsweise prekäre Beschäftigung annehmen, unterschiedliche Rechtslage der Geflüchteten unter Qualifikation eingestellt werden und so als Zerreißprobe. Kommt da auch ein verdeck- – trotz Mindestlohnerhöhung – den Niedrig- ter Rassismus zum Vorschein? lohnsektor verfestigen. Das Beispiel der Firma Eine Hierarchie der Geflüchteten – und eine Tönnies, die an der polnischen Grenze billige der Helfer*innen und Hilfebedürftigen? Die Arbeitskräfte suchte, hat einige aufgeschreckt. Menschen, die jetzt aus der Ukraine kommen, Dabei käme es darauf an, die Qualifikationen sehen aus wie wir, kleiden sich wie wir, leben aller Geflüchteter anzuerkennen. wie wir. Tragen Sneakers, trinken Cappuccino, Europa erlebt gerade die massivste Flucht- hören unsere Musik – wir könnten es selbst sein, bewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Eini- die fliehen müssen, deren Häuser zerbombt ge Städte sind bereits an ihre Grenzen gesto- werden. Und es fühlt sich manchmal auch so ßen. Ganz in meiner Nähe, in Neustadt, ist in an, als wären wir die nächsten. Das steht alles nur drei Tagen aus einem alten Pfarrhaus ein noch dahin, wie Marie Luise Kaschnitz 1972 ge- blau-gelber Treffpunkt geworden: ein spen- schrieben hat. denfinanziertes Gemeinschaftshaus, in dem Einheimische und Geflüchtete einander begeg- 2. Krisen, Traumata nen. Und in Garbsen, wo ich wohne, sind die und Engagement ersten Schritte der Integration getan: Die meis- In welcher Welt wollen wir leben? Die alte ten Kinder aus der Ukraine haben einen Platz Frage, die uns seit vielen Jahren begleitet, in Schule oder KiTa gefunden, kleine Familien wird drängender, je schneller die Transforma- eine Einliegerwohnung – die riesige Welle der tionskrisen voranschreiten. Im Augenblick Solidarität ist auch ein Friedensdienst. Dazu ha- scheint es, als seien wir noch unentschieden – ben nicht zuletzt die vielen Ukrainerinnen und der Zick-Zack-Kurs ist nicht nur ein politisches Ukrainer beigetragen, die vorher schon hier Phänomen. Wir alle zaudern, wir wägen ab, wir lebten – oft als Pflegende in Krankenhäusern müssen diskutieren: Den Wohlstand erhalten, und Langzeitpflegeeinrichtungen. In kürzester keine Wachstumseinbrüche riskieren, die Mit- Zeit sind in Berlin, Hamburg, München Web- telschicht stützen – oder den Green Deal weiter sites entstanden, auf denen Fahrdienste, Sach- voranbringen, einen Ausgleich für die Ärms- spenden, Unterkünfte, Jobs vermittelt werden. ten schaffen? Den Pflegenden klatschen oder Freunde, die seit langem in der Flüchtlings- das Pflegesystem endlich erneuern? Am besten und Integrationsarbeit engagiert sind, haben beides, würden die meisten sagen – man darf allerdings Probleme, den Geflüchteten aus das nicht gegeneinanderstellen. Aber was wir in Nahost zu vermitteln, warum sie aus den Ge- den gegenwärtigen Transformationen erleben, meinschaftsunterkünften ausziehen müssen, birgt eine Botschaft. Wer nicht systemrelevant damit Ukrainer*innen einziehen. Und warum ist, wird exkludiert. Schon in der Corona-Krise 10 EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
THEMA Ohne das Engagement von Jugendlichen ist so eine Synodentagung mit dem aufwändigen Gottesdienst durch Tra- vemünde und am Strand gar nicht zu bewältigen. Danke allen Mitwirkenden! Foto: Nordkirche/Susanne Hübner haben wir erlebt, dass gerade die Jüngsten und hören. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg die Ältesten zu kurz kamen: die einen, was ihre sind Traumata heute kein Tabu mehr. Zunächst Entwicklung, die anderen, was ihre Kontakte noch hinter verschlossenen Türen und unzurei- anging. „Frauen und Kinder zuletzt“, heißt ein chend ausgestattet, hat sich in den Zentren für aktueller Buchtitel. Die Einsamkeit der Alten, Asylbewerber*innen, bei der psychologischen die Verletzlichkeit von Menschen mit Behinde- Arbeit mit Jesid*innen, bei der Begleitung von rung, die Ängste der Sterbenden fanden wenig Veteran*innen der Bundeswehr eine hohe fach- Raum. Wird es nach dem Krieg anders sein? liche Kompetenz entwickelt. Und das ist bitter Werden die, die zuerst fliehen mussten, am nötig – „denn wir alle tragen kollektive Trau- Ende einbezogen beim Wiederaufbau? mata in uns“, schreibt Benjamin Isaak-Kraus, In diesen Wochen erleben Pflegende die Pastor der Mennonitengemeinde in Frankfurt, Traumata der Älteren; Lehrerinnen und Lehrer im Eule-Magazin. Isaak-Kraus erinnert an das spüren seit 2015, was es bedeutet, wenn die Kin- Trauma des Zuschauens in Srebrenica, das der aus ihrer Welt gerissen wurden, und Men- vor allem die Blauhelmsoldaten dort seelisch schen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die schwer verletzte, an die Soldat*innen, die aus seit vielen Jahren hier integriert sind, zucken Afghanistan zurückkamen – vom Krieg haben noch immer zusammen, wenn sie eine Sirene wir da lange nicht gesprochen –, aber auch an EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022 11
THEMA die Traumata der Kriegskinder und -enkel, die Denn neben den „Mütenden“, die wir schon gerade jetzt wieder zum Ausdruck kommen. aus der Corona-Krise kennen, gibt es noch im- Das alles spielt eine Rolle, wenn es in diesen mer die Wütenden, die Krankenwagen und Tagen um Entscheidungen über Krieg und Feuerwehr blockieren und vor den Flüchtlings- Frieden geht. Die russische Propaganda schürt heimen demonstrieren. Die ihre Kommunal- die Angst vor dem dritten Weltkrieg ganz ge- politiker*innen an den Pranger stellen, wenn zielt. Das macht die einen ohnmächtig, andere die sich ehrenamtlich für Integration einsetzen. kampfbereit – und manche einfach hilflos, weil Mit Trommeln und Fackelzügen andere in die die Überzeugungen von gestern in Frage ste- Enge treiben und auf Messenger-Diensten zum hen. Fight, freeze or fly nennt Isaak-Kraus die Mord aufrufen. Dass die Gesellschaft pluraler Traumareaktionen. Und zu den Zerreißproben geworden ist, zeigt sich in großer Toleranz und zwischen Wirtschaft, Klima und Energiesicher- Offenheit. Und in hilflosem Hass. Und die Sozi- heit ist eine weitere dazu gekommen: die zwi- alen Medien tragen zur Polarisierung und Ra- schen äußerer und sozialer Sicherheit. dikalisierung bei. Während der Bundestag fast Was bedeuten uns Frieden, Freiheit und De- einstimmig Waffenlieferungen beschließt, ist mokratie – was die Menschenrechte und das die Zivilgesellschaft gespalten. Nach den hoche- Miteinander der Verschiedenen? Das große En- motionalen Debatten in der Pandemie erleben gagement, das wir in diesen Tagen wieder erle- wir nun, wie Pazifisten und Menschenrechtsak- ben, ist auch eine Antwort. Der Spiegel spricht tivisten einander gegenseitig beleidigen – Pan- von einer Pandemie der Güte. Was 2015 mit der zerfans und Blumenfreunde, Naive und Belli- so genannten Flüchtlingskrise begann, was sich zisten, Besserwisser und Saudumme, twittert in der Flutkatastrophe an der Ahr fortsetzte, Christoph Sieber. Am Ende, sagt er, bleibt eine ist nun überall erkennbar: Das neue Ehrenamt tiefe Traurigkeit über die Welt, wie sie ist. Sie boomt, Caring Communities haben Konjunk- ist nicht friedlich. Und ja, sie macht uns Angst. tur. Menschen setzen sich mit ganzer Seele, mit Zeit und Geld für Notleidende ein: schalten 3. Meinungsfreiheit oder die Websites, räumen Gästezimmer frei, fahren an europäische Verfassung die Grenzen, nehmen ihren Jahresurlaub. En- In diesen Tagen hat Elon Musk sein 44-Mio-Dol- gagement und Selbstwirksamkeit helfen auch, lar-Kaufangebot für Twitter gemacht. Mich hat den Angststress hinter sich zu lassen. Manche das an die Übernahmeschlacht von O2 gegen übernehmen und erschöpfen sich, stoßen an Mannesmann in Duisburg und Düsseldorf erin- Grenzen– und ärgern sich, weil die Institutio- nert. Das war das Ende der alten Röhrenwerke, nen, die Kommunen, Kirchen, Wohlfahrtsver- die wie viele Industrieunternehmen im Ruhr- bände nicht so spontan und schnell sind. Die gebiet die Vereine und Sportstätten in ihren Bürokratie sei ein Alptraum, meinen einige, Quartieren sponsorten. Noch hat Twitter eine schließlich könne es nicht sein, dass Menschen gewisse Bereitschaft, den Ordnungsansprüchen ehrenamtlich neben Job und Familie Integra- der Regierung zu folgen – aber was wird ge- tionsarbeit leisten und dann von den Behör- schehen, wenn sich die totale Meinungsfreiheit den ignoriert, nicht beraten und unterstützt durchsetzt, die Musk propagiert? Was wird aus werden. Dabei gibt es soziale Sicherheit nur der Wahrheit, wenn sie unter emotionsgesteu- gemeinsam, Freiwillige und Organisationen, erten Algorithmen begraben wird? Ich denke Ehrenamtliche und Berufliche werden gleicher- an die Rohingya in Myanmar, die von einer So- maßen gebraucht. Wenn wir als Kirche gute Bei- cial-Media-Kampagne in die Flucht geschlagen spiele setzen, wie in Neustadt mit dem blau-gel- wurden. An die russischen Bots und Kampag- ben Zentrum, können wir Vertrauen schaffen nenteams, die nicht nur Wahlkämpfe beein- – auch nach innen. flussen, sondern auch die Argumente der Pu- 12 EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
THEMA tinversteher*innen in unserem Land. Und an schrift von Thomas Friedman, die die Globa- die Gesetze, die es in Russland verbieten, den lisierung des 21. Jahrhunderts beschrieb – und Ukraine-Feldzug einen Krieg zu nennen. An viele glaubten, dass der Wohlstand der einen Marina Owsjannikowa, die das im russischen am Ende auch die anderen satt macht und dass Fernsehen dennoch tat. Und an Selensky, dem marktwirtschaftliche Mechanismen fast zwangs- es grandios gelingt, mit dem Medium umzuge- läufig zu demokratischen Aushandlungsprozes- hen und virtuelle wie präsentische Auftritte mit sen führen würden. Spätestens seit Chinas Ver- emotionalen Bildern zu verknüpfen. tragsbruch in Hongkong zerfiel die Welt erneut In der Ukraine sind die Handy-Verbindun- in Teile – und vielleicht sind wir auch deswe- gen intakt: So sind wir nahe dran am Leiden gen so erschrocken, weil Putin dabei die alten in den Kellern von Mariupol, in Butscha und Grenzen im Blick hat. Und dabei ist Europa bei Kiew. Wir sehen Gewalt und Bosheit ganz un- der Verteidigung der Schengen-Grenzen längst mittelbar, sehen Nächstenliebe und Güte. Was zur Festung geworden – mit immer schärferen die Welt zusammenhält – und was uns trennt. Asylgesetzen, mit Frontex und Pushbacks. Dass Denn es ist nicht nur eine Frage der Technik, Fabrice Leggerie (von 2015 bis 2022 Chef von wenn sich zwischen Moskau und Dnipro die Fa- Frontex) nun endlich zurücktrat, ist ein später milien nicht mehr verstehen. Teile unserer Welt Schritt. Grenzen seien nichts als Sortiermaschi- verschwinden wieder hinter einem Vorhang aus nen, meint der Philosoph Steffen Mau. Zwi- Propaganda und Lügen. Mit dem Digital Ser- schen Belarus und Polen, zwischen Israel und vice Act ist für die Plattformen in Europa ein Palästina, zwischen USA und Mexiko – überall erster Schritt getan, die Hetze einzuschränken – auf der Welt hat die Zahl der Mauern schlag- aber hinken wir damit nicht hoffnungslos hin- artig zugenommen. Und auch an der Grenze terher? Ferdinand von Schirach hat sechs neue zwischen der Ukraine und Polen wurden in- Grundrechte für die europäische Verfassung in ternationale Studierende, die nur eine Aufent- die Debatte gebracht. Dazu gehört das Recht haltsgenehmigung hatten, eben anders behan- auf die Wahrheit in der Politik. „Jeder Mensch delt als Ukrainerinnen und Ukrainer. Wer sich hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträ- in der Arbeit mit Geflüchteten engagiert, hat gern der Wahrheit entsprechen“, heißt es in Ar- ihre Geschichten gehört. tikel 4. Und in Artikel 2: „Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Aus- 4. Die Welt ist klein – forschung oder Manipulation von Menschen Mauern überwinden ist verboten.“ Es geht um das Recht – aber eben Und für alle anderen ist die Frage, ob wir noch auch um die politische Verantwortung, um die über Mauern hinüberschauen, ob wir durch Haltung jeder* Einzelnen. Die Wahrheit ist sehr die Tore hindurchschauen, wenn der Krieg zu konkret. Vielleicht ist die Durchsetzung der Problemen bei der Energieversorgung, zu Ar- neuen Verfassung nur ein ferner Traum. Un- mut und Hunger führt. Wenn nicht nur Mehl weigerlich denke ich an die Durchsetzung der oder Sonnenblumenöl bei uns knapp werden, Menschenrechte durch die Vereinten Nationen sondern das Getreide in Afrika und Asien. Und – und an die desillusionierenden Sitzungen des wenn der verlängerte Kohleabbau, wenn der Sicherheitsrats mit dem Vetorecht Russlands. Krieg die Klimakrise verschärft. The world is Das Gewaltmonopol des Staates auf der inter- flat, die Welt ist ein vernetzter Organismus, und nationalen Ebene auf die UN zu übertragen – unser kleiner Planet ist gefährdet. Unter allen das war einmal eine Leitidee der Friedensethik Grenzen sind die Grenzen des Wachstums viel- –, ist einstweilen an Partikularinteressen ge- leicht am wenigsten anschaulich. Zurzeit jeden- scheitert. Umso mehr sind Bündnisse gefragt. falls sehen mehr als 50 Prozent der Deutschen „The World Is Flat“ hieß die Programm- in Russlands Krieg gegen die Ukraine den größ- EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022 13
THEMA ten Einschnitt in der europäischen Geschichte, ungehört. Krieg sei kein Gespenst der Vergan- im Klimawandel dagegen nur 7 Prozent. Es genheit, er sei zu einer ständigen Bedrohung scheint, als wären die ersten Schritte zur Um- geworden, schreibt Papst Franziskus in „Fratelli kehr schon wieder vergessen. Buße ist tatsäch- tutti“. Vergeblich bemüht er sich seit Wochen lich eine tägliche Aufgabe. um ein Gespräch mit Putin. Er sieht die Politik Mit Schrecken haben viele bemerkt, wie eng der Abschottung als Menetekel für einen neu- der Horizont auch in den Kirchen sein kann. en Weltkrieg. Wir hätten, sagt er, das Ende des Die Partnerschaften, die im Rahmen der Öku- Kalten Krieges nicht ausreichend genutzt, um mene so oft beschworen worden waren, trugen die Reform der UNO voranzutreiben. Auch das kaum, als es um die Orthodoxie in Russland erkennen wir vielleicht erst im Rückblick. Was und der Ukraine ging. Das Schisma zwischen tun wir jetzt, um den Aufbau einer neuen Frie- Moskau und Konstantinopel, das 2015 schon densordnung vorzubereiten? bei der Synode auf dem Athos deutlich gewor- Es war ein großer Schmerz und vielleicht den war, die Trennung der autokephalen und auch ein großes Glück, dass in diese ersten der moskautreuen Kirche in der Ukraine, die Kriegswochen Ostern fiel. Vor den zerstörten viele nur am Rande interessiert hat – spätestens Kirchen gab es Osterkuchen für die Soldaten in jetzt enthüllten sie ihren politischen Charakter. der Ukraine. Und Ostereier für die Kinder in den In den Reden von Kyrill, als Putin sein Kreuz Flüchtlingsunterkünften hier. Kaum jemand in im Ostergottesdienst schlug, wurde die enge Deutschland wird jetzt vergessen, dass es noch Bindung zwischen Kirche und Staat besonders immer zwei Ostertermine gibt – ich hoffe, die sichtbar. Das Spirituelle im Gewand der Politik. Gedanken werden auch in Zukunft nach Osten Die Kirchengüter in der Ukraine – Objekt des gehen, wenn Osterzeit ist. So wie jetzt. Wir spü- territorialen Streits. Ich sehe das und wundere ren die Grenzen, die uns trennen – zwischen mich nicht, wenn Menschen sich angewidert den Ländern, den Wirklichkeiten. Und ahnen abwenden. Wo stehen wir in diesem Streit – zugleich, dass es eine größere Wirklichkeit gibt, wie frei sind wir vom politischen Mainstream die uns verbindet. Der Stein ist weggerollt, der und welche Gespräche haben wir gesucht? Wie Weg ins Leben frei. Ostern schicken die Engel werden wir uns als Kirchen in Deutschland ver- den Jüngerkreis Jesu zurück nach Galiläa. Sie halten, wenn die Vollversammlung des ÖRK in sollen noch einmal neu beginnen. Den Ver- Karlsruhe stadtfindet? Kann es noch gelingen, heißungen nachgehen, die Wunden heilen, die Mauern zu überwinden, wenn aus kritischen Angst überwinden. Und wir, wie nutzen wir die- Gesprächen unter Geschwistern längst schon sen Augenblick, in dem wir hellsichtig gewor- Verleumdungen geworden sind? Mit wem lässt den sind – auch für unser Versagen? sich weiter Partnerschaft pflegen und wo muss Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der man die Freundschaft ruhen lassen? Und wie Schöpfung – das ist der Titel eines Programms, gehen wir mit theologischen Differenzen – etwa der Name eines Ausschusses, eine Zielbestim- zur lettischen Kirche – um, wenn der politische mung, mit der wir seit langem arbeiten. In die- Druck wächst? sen Wochen denke ich mit Trauer und Scham Es tut weh, wahrzunehmen, dass es dem an die russisch-orthodoxen Geschwister, mit ÖRK – dass es auch uns in der EKD – nicht denen ich in den 80er Jahren an diesem The- gelungen ist, so produktiv mit Konflikten um- ma gearbeitet habe. Ich hätte nicht verzichten zugehen, dass daraus Impulse für die Welt er- wollen auf ihre Beiträge, auch wenn ich ahnte, wachsen. Dass andere an unserer Hoffnung dass mehr als einer vom KGB bezahlt wurde. wachsen. Während Regierungschef*innen sich Im Rückblick lasse ich die Suche nach Wahrheit in Kiew die Hand gaben, blieb der Vorschlag, und die jeweiligen Interessen Revue passieren. die religiösen Führer dort zu versammeln, Die Zerreißproben, in denen wir miteinander 14 EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
THEMA lernen. Auch wenn die Angst um unsere Si- cherheit sich breit macht, darf die Sorge um die Schöpfung nicht in den Hintergrund treten. Und gerade wenn wir einen gerechten Frieden wollen, gilt es, auf die soziale Gerechtigkeit zu achten. Könnte nicht die Vision von Justice, Peace and Integrity of Creation gerade jetzt neuen Glanz gewinnen? „Der Baum des Friedens wur- zelt in Gerechtigkeit“, heißt es in der Erklärung der Ökumenischen Versammlung von Vancou- ver. Dass dieser Frieden seine Wurzeln tief ins Erdreich streckt – auch durch Hindernisse hin- durch – und dass er Wurzeln trägt in unserer Zeit, das wünsche ich uns. coenen-marx@seele-und-sorge.de EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022 15
THEMA Frieden – ständiges Ringen um den richtigen Weg Zwischen Sicherheitswahren und Friedensbildung Die folgenden Thesen waren ein tuellen Ereignisse in Afghanistan, Auftaktimpuls für die Synoden- der Machtübernahme durch die tagung. Taliban und der eskalierten Lage beim Abzug der internationalen Streitkräfte aus Kabul. (Die kursiven Einschübe sind Zitate Heute stehen wir unter dem be- aus bzw. Bezüge zum Themenpapier klemmenden Eindruck der damals „Haltung und Position“ vom Septem- nicht vorhergesehenen Entwick- ber 2021) lung in der Ukraine. Seit Februar scheint die Welt Michael Verfasste Kirche und Diakonie wirken eine andere. Der Überfall Russ- Strunk im Handeln und im Wort. Darin wird lands auf die Ukraine macht fas- ist als Oberst i.G. Lehr- eine innere Haltung sichtbar, aus der sungslos, er erschüttert uns – dass gruppenleiter an der heraus die Synode und die anderen so etwas möglich ist in Europa, Führungsakademie der kirchenleitenden Gremien immer neu wirft alle Erwartungen an eine bes- Bundeswehr in Hamburg um Positionen ringen. Denn: Positio- sere, friedlichere Welt ein weites nierungen zu gesellschaftlichen Fra- Stück zurück. Dieser in unserem gen sind wichtig und gewollt. Verständnis unerklärliche Krieg mit seinen grauenvollen Nachrichten und be- Mit dieser Maxime haben wir im Themenpa- stürzenden Bildern berührt uns alle. Wir ken- pier „Haltung und Position“ in der September- nen solche Bilder auch aus anderen Kriegen, synode des vergangenen Jahres unterstrichen, aber hier wird uns besonders bewusst, dass diese dass wir uns deutlich zu gesellschaftlichen Fra- Ereignisse uns unmittelbar und nachhaltig be- gen positionieren wollen. Gleichzeitig unter- treffen. So viel an Erwartungen, an überwun- scheiden wir zwischen Haltung und Position. den Geglaubtem, an Aufgeschlossenheit und er- Etwas, das ist, und etwas, das wird. sehnter Friedensperspektive und Partnerschaft Das, was uns verbindet und trägt. wird mit einem Schlag beiseitegeschoben, er- Und das, was uns aus dieser Haltung heraus scheint plötzlich als Trug oder unerreichbar. um Antworten zu den drängenden Fragen un- Von „Zeitenwende“ ist die Rede, um dieses serer Zeit ringen lässt, um daraus unsere Positi- wirkmächtige Ereignis in seiner Bedeutung onen zu bilden und zu vertreten, die uns leiten, zu erfassen. Begriffe wie „Dritter Weltkrieg“, zu handeln und zu wirken. „Nuklearschlag“, „Völkermord“, „massive Auf- Im September letzten Jahres standen wir un- rüstung“ mit ungeheuren Summen Geldes, die ter dem bewegenden Eindruck der damals ak- eigentlich extreme Ausnahmen beschreiben, 16 EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
THEMA verstören in ihrer auf einmal gehandhabten Kirche zusammen und führen diesen Dialog, Selbstverständlichkeit. der durchaus ein Diskurs sein kann, oft sein Sind wir an einem Punkt, an dem sich alles muss, in dieser Lage gewiss einer sein wird. umkehrt? Ich trüge nicht diese Uniform, würde ich Sind wir von einem Weg abgekommen, der mich nicht dazu bekennen, unsere Werte not- nicht gangbar war? falls auch unter Einsatz legitimierter, an Recht Haben wir uns unwiederbringlich täuschen gebundene physische Gewalt zu verteidigen. lassen von unseren Idealen? Ich stünde aber nicht an diesem Ort, wäre Gibt es für die friedliche und humane Welt, ich nicht zugleich der festen Überzeugung, dass nach der wir uns sehnen und für die wir eintre- die Stimme, die zum Frieden mahnt, zu jedem ten, keine Perspektive mehr, jetzt nicht und auf Zeitpunkt und gerade in der größten Not nicht lange Zeit? im Gefechtslärm untergehen, sich nicht der Dy- Weltbilder, Ideale, Perspektiven, Ziele, Le- namik von Gewalt ergeben darf. benssichten geraten durcheinander, mancher- Ich bin nur eine Stimme in der Vielfalt un- orts aus den Fugen. serer Synode. Ist das Naheliegende das Reale, das Einzige? Die aktuelle Situation ist auch für mich Ist das Ferne das Utopische, das Unerreich- eine besondere, die grundsätzlichen Fragen bare? aber sind mir vertraut. Verbindendes und Wi- Was rechtfertigt den Schluss „alternativlos“? dersprüchliches aus dem Verhältnis von Wehr- Welche Stimme erheben wir als Kirche? dienst zu Friedensbildung begleiten mich mehr als ein Berufsleben lang, von den hitzigen De- Eine Fülle von Fragen bewegt uns. Eine Flut batten in den Jugendkellern der evangelischen von Überzeugungen und Zweifel strömt auf Jugend um Wehrdienst und Kriegsdienstverwei- uns ein. Wir stochern im Nebel des Krieges mit gerung, um Nachrüstung und Abrüstung, über seiner Widersprüchlichkeit unbelegter Infor- die intensiven Diskussionen zur sicherheitspo- mationen und Undurchsichtigkeit von Analy- litischen Ausrichtung des wiedervereinigten sen, Einschätzungen, Spekulationen, Interessen Deutschlands, und einher dem Abzug der rus- und Parteinahme. sischen Truppen, der Beteiligung an internatio- Es scheint schwer, geradezu aussichtslos, sich nalen Militäreinsätzen von Kuweit über Balkan sicher zu orientieren und überzeugende, ein- und Afghanistan bis Mali, dem „nichts ist gut deutige Antworten zu finden. in Afghanistan“ der Bischöfin Käßmann, der Auch zu den friedensethischen Betrachtun- Bekämpfung internationalen Terrorismus und gen finden sich viele öffentlich geäußerte Zwei- des Islamischen Staats bis hin zur Aufgabe Af- fel, von der Empfehlung, die Friedensethik zu ghanistans. überdenken, sie anzupassen bis hin zur Forde- Stets ging es um ein Wägen und Messen von rung einer Neuorientierung, vorgebracht im Sicherheitswahren auf der einen und Friedens- ganzen Spektrum von sachlich nachdenklicher bildung auf der anderen Seite, von sicherheits- Argumentation bis hin zu verletzender und dif- logischem und friedenslogischem Denken. Das famierender Auseinandersetzung. war allen Phasen gemein, unterschieden hat Die Nordkirche, so heben wir es in unserem sich jeweils die Gewichtung bis hin zur Domi- Themenpapier hervor, erachtet es als Friedensar- nanz der einen oder der anderen Kraft, oft auch beit, in ihrem eigenen Bereich die Verschiedenheit mit dem Anspruch des Absoluten. von Positionen aus- und miteinander im Dialog zu Als Christ in der Uniform des Soldaten einer- halten. seits und als Soldat im Engagement für unsere Als Synodale treten wir in unserer ganzen Kirche andererseits musste und muss ich erfah- Vielfalt unter dem gemeinsamen Dach unserer ren und damit leben, in beiden Institutionen – EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022 17
THEMA Michael Strunk erläutert seine Thesen. Für ihn ist es Herausforderung und Selbstverständlichkeit zugleich, als Oberst für die Verteidigung einzutreten und als Christ den Frieden zu fördern. Foto: Susanne Hübner Kirche und Bundeswehr – jeweils immer auch Brutalität und Kriegsgräuel entlädt. Mit anzu- infrage gestellt zu werden. Einen Widerspruch sehen, wie so etwas passiert und die Menschen sah ich darin für mich nicht, ein Spannungsfeld aus ihrer akuten Not nicht befreien zu können, war es stets. Das ist unbequem, jedoch, es hilft macht zornig und hilflos. zu lernen und zu reifen. Der Konflikt spaltet und polarisiert auch Wie kommen wir in der Vielfalt unserer hier bei uns. Risse gehen durch unsere Gesell- Erfahrungen, Überzeugungen und Meinun- schaft. Flüchtende, die zu uns kommen, brau- gen zueinander angesichts des komplexen, un- chen Unterstützung und Chancen. Gesellschaft- durchdringlichen und emotional berührenden liche Spannungen, gegensätzliche Meinungen, Kriegsgeschehens mit seinen globalen Auswir- Lagerbildung, Parteinahme und Ausgrenzung kungen und Verästelungen? Und wie werden fordern schon jetzt mäßigenden Ausgleich; er- wir konkret? fordern es, Toleranz zu fördern, zu differenzie- Wir sehen das Entsetzliche dort in der Uk- ren und zu versöhnen, mitten unter uns. raine. Wir wissen um den unheilvollen Zusam- Jetzt stehen sich die verfeindeten Parteien menhang von enthemmtem Krieg und ent- im Kampfgeschehen gegenüber, unversöhn- grenzter Gewalt, die sich in Regel-, Zügel- und lich und in scheinbar unüberwindbarem Hass. Maßlosigkeit bis hin zu menschenverachtender Wir wissen nicht, wie sich die Auseinanderset- 18 EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
THEMA zung entwickeln wird. Vielleicht wird sie auch Wie wird eine erneuerte Friedensordnung uns noch unmittelbarer treffen und uns vieles aussehen und wie wird Frieden aufs Neue zu mehr abverlangen. Irgendwann, irgendwann bilden sein? Und für den richtigen Weg zum aber wird sich die Lage verändern, die Intensi- Frieden wird zu beurteilen sein, wo Bewähr- tät abnehmen, und sich Wege für Diplomatie tes fortgeführt werden kann und aufgrund der und Vermittlung weiten. Dann wird es darum neuen Erfahrungen zu Hinterfragendes ange- gehen, für Waffenruhe, für Beendigung der passt werden sollte. Kampfhandlungen und um einen Frieden zu „Wenn Du den Frieden willst, bereite den verhandeln, hoffentlich einen, der Freiheit, Frieden vor“ – so lautet die Leitlinie der Frie- Recht und Leben in Würde ermöglicht. densdenkschrift der EKD zum gerechten Frie- Dann wird es dort wie hier darum gehen, den; eine immerwährende Maxime, ein Auftrag der Wut den Hass zu entziehen und dem Zorn mit einem weiten Spektrum vielfältiger Hand- die Bitternis zu nehmen. Dann wird zu dif- lungsmöglichkeiten. Wir werden diese – auch ferenzieren sein zwischen denen, die Schuld kontrovers – erörtern müssen. Wir werden um auf sich geladen haben und denen, die Opfer den richtigen Weg zum Frieden zu ringen ha- menschenverachtender Gewalttaten wurden, ben. beides oft unter demselben Banner. Auch un- Das zu können und zu wollen – wie wir es ter den Soldaten in russischer Uniform werden in unseren Grundsätzen im September 2021 wir Geschichten des missbrauchten Menschen formuliert haben – dass wir Menschen mit unter- erfahren. schiedlicher Anschauung einander aushalten, bei- Um zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu einander bleiben und voneinander lernen wollen, wirken, dort präsent zu sein, wo Handeln jetzt haben wir als friedenspolitisch wertvolles Modell Wirkung zeigen kann, und den Einstieg dort ab- herausgestellt und mit der Erwartung an unsere zupassen, wo wir jetzt noch unsere Ohnmacht Kirche als eine lernende Kirche verbunden. Nun ertragen müssen, fordert uns, vielschichtig, dif- sind wir gefordert, unserem eigenen Anspruch ferenziert und ganzheitlich zu betrachten, zu gerecht zu werden. bewerten und zu urteilen. EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022 19
THEMA Prima und ultima ratio Wenn Zeitenwende, dann nur eine gesamtpolitische Die folgenden Thesen hat der 2. In der Ukraine herrscht ein bru- Autor auf der Synode vorgetra- taler Angriffskrieg, gegen den sich gen und erläutert. die Ukraine mit militärischen und zivilen Mitteln zur Wehr setzt. Al- lein auf den Weg der Gewaltfrei- 1. Die friedensethischen Positio- heit zu setzen, erscheint unter nen eines Vorrangs für Gewalt- den gegebenen Umständen keine freiheit als prima ratio unter Ein- Aussicht auf Erfolg zu haben. Aber schluss einer rechtserhaltenden auch eine militärische Unterstüt- Gewalt als ultima ratio und einer zung hat Grenzen. Renke Position der prinzipiellen Gewalt- Friedensethik muss sich in der Brahms freiheit sind als politische Optio- jeweiligen konkreten Situation war 13 Jahre (bis zum nen anzuerkennen und ernst zu bewähren. In der Ukraine fin- November 2021) nehmen. det ein Angriffskrieg Russlands Friedensbeauftragter Der weitgehende friedensethi- statt, der einen eklatanten Bruch der EKD. sche Konsens in der EKD orien- des Völkerrechts darstellt und tiert sich an der Denkschrift von mit äußerster Brutalität geführt (1) 2007 , die vom Vorrang der Ge- wird. Nehmen wir den russischen waltfreiheit und ziviler Mittel der Konflikttrans- Präsidenten ernst, so geht es um einen impe- formation ausgeht. Das ist auch weiterhin als rialistischen Krieg, der auch vor anderen Län- Normalfall und „prima ratio“ anzusehen. Ins- dern nicht Halt machen würde (z.B. Georgien, trumente der „rechtserhaltenden Gewalt“, zu Moldawien). Das Selbstverteidigungsrecht der denen auch Sanktionen und Waffenlieferungen Ukraine nach Artikel 51 der Charta der Verein- gehören, sind nachrangig und müssen die Aus- ten Nationen steht außer Frage. Auch frieden- nahme bleiben. Andere Positionen in der EKD sethisch ist entscheidend, dass die Ukraine mit vertreten einen prinzipiellen Pazifismus, der großer Unterstützung in der Bevölkerung be- nicht nur als individuelle Entscheidung, son- schlossen hat, militärisch und zivil Widerstand dern auch als politische Option anzuerkennen zu leisten. Eine Unterstützung der Ukraine im ist. Erfahrungen auch kirchlicher Organisati- Rahmen der rechtserhaltenden Gewalt hat ihre onen und Studien zur Wirksamkeit(2) gewalt- Grenze in der Vermeidung einer Eskalation, freier Bewegungen zeigen, dass gewaltfreie Be- die zu einer Ausweitung des Krieges auf weite- wegungen in der Überwindung von Konflikten re Länder oder zum Atomkrieg führt. Der Weg erfolgreicher sind als gewaltförmige. Beide Posi- der Gewaltfreiheit erfährt seine Begrenzung in tionen müssen jeweils zu Ende denken, was sie der konsequenten und brutalen Ausschaltung voraussetzen und vertreten, beide müssen ihre der Zivilgesellschaft in Russland und ihrer dro- Dilemmata offenlegen. Beide Wege können henden Unterdrückung in der Ukraine im Falle scheitern. Beide Wege bleiben nicht ohne Leid einer russischen Okkupation. und Schuld. 20 EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
THEMA Auf der Synode wurde nicht nur diskutiert und um den rechten Weg der Kirche gerungen, sondern auch für den Frie- den gebetet. Foto: Nordkirche, Susanne Hübner 3. Eine „Zeitenwende“, die sich nur auf mili- leuchten im Angesicht der Ausgaben für Vertei- tärische Aus- und Aufrüstung konzentriert, ist digung allein der europäischen NATO-Staaten abzulehnen, bedarf vielmehr eines gesamtpo- und der Notwendigkeit der Investition in ande- litischen Ansatzes, der Klima-, Energie-, Wirt- re Bereiche nicht ein. schafts-, Entwicklungs- und Gerechtigkeitsfra- gen einbezieht. Q Quellenangaben: Der Krieg in der Ukraine macht in besonde- (1) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in rer Weise darauf aufmerksam, dass wirtschafts- Deutschland, 2007 politische, entwicklungspolitische, energiepoli- (2) Erica Chenoweth and Maria J. Stephan „Why Civil Resistan- tische und klimapolitische Fragen auch Fragen ce Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict“, Co- der Sicherheit und des Friedens sind. Um den lumbia University Press 2012; Erica Chenoweth, Civil Re- sistance, What everyone needs to know, Oxford University Hungertod von Millionen zu verhindern, das Press, 2021 Klima zu retten, gerechtes Wirtschaften und Unabhängigkeit in Energiefragen zu erreichen, bedarf es großer Investitionen. Deshalb führt eine „Zeitenwende“, die sich allein auf die mili- renkebrahms@gmx.de tärische Sicherheit konzentriert, in die Irre. Eine Bundeswehr muss in der Lage sein, ihren Auf- trag der Landes- und Bündnisverteidigung zu erfüllen. Die gegenwärtig genannten Summen EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022 21
THEMA Friedens- und Sicherheitslogik Thesen für die Synode Die folgenden Thesen hat der Autor auf der Synode vorgetra- gen und erläutert. Der ungerechtfertigte Eroberungs- krieg der russischen Föderation gegen die Ukraine seit 2014 und 1. Die „vorrangige Option für insbesondere die gegenwärtige die Gewaltfreiheit“ (EKD 2007, militärische Offensive stellen ein- Ziff. 99) schließt in der nicht er- deutig den Tatbestand eines An- lösten Welt die Notwendigkeit griffskrieges dar. Da die Vereinten „rechtserhaltender Gewalt“ ein Nationen nicht in der Lage sind, Dr. Michael (Ziff. 102). die Ukraine wirksam zu schüt- Haspel zen, ist die Selbstverteidigung der ist apl. Professor für Der Schalom ist ein zentraler bi- Ukraine rechtlich und ethisch ge- Systematische blischer Heilsbegriff. Auf ihn hin rechtfertigt. Es besteht für andere Theologie an der orientiert sich christliche Frie- Staaten nicht nur das Recht, son- Universität Erfurt densethik. Daraus ergibt sich in dern auch die Pflicht, die Ukraine der Perspektive einer christlichen zu unterstützten und den Angriff Ethik des Politischen das Ziel der nicht nur auf die Ukraine, sondern Gewaltminimierung und der „vorrangigen Op- auch das internationale Recht und insbesonde- tion für die Gewaltfreiheit“ (EKD 2007, Ziff. re den Bruch des Budapester Memorandums 99). In der nicht erlösten Welt schließt dies von 1994 abzuwehren. Das schließt die Liefe- die Notwendigkeit „rechterhaltender Gewalt“ rung von Waffen unter Wahrung des Kriteri- ein: „Bei schwersten, menschliches Leben und ums der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich ein. gemeinsam anerkanntes Recht bedrohenden Übergriffen eines Gewalttäters kann die An- 3. Gemeinsam mit den ökumenischen Part- wendung von Gegengewalt erlaubt sein, denn ner:innen in der Region, in Europa und im der Schutz des Lebens und die Stärke des ge- globalen Süden könnte ein ökumenischer meinsamen Rechts darf gegenüber dem ‚Recht Friedensdiskurs initiiert werden, der Pers- des Stärkeren‘ nicht wehrlos bleiben“ (Ziff. 102). pektiven für eine zukünftige Friedens- und Dies schließt individuelle Ablehnung jeglicher Sicherheitsordnung in Europa entwickelt. Gewaltanwendung nicht aus, ist aber davon zu unterscheiden. Neben dem Gebet für den Frieden und konkre- ter Hilfeleistung ist es auch Aufgabe der evange- 2. Da die Selbstverteidigung der Ukraine ge- lischen Kirche, auf Grundlage der christlichen gen die russische Aggression rechtlich und Friedensethik qualifiziert an der gesellschaftli- ethisch gerechtfertigt ist, sind (verhältnismä- chen Urteilsbildung mitzuwirken. Darüber hin- ßige) Waffenlieferungen nicht nur erlaubt, aus sind alle Kräfte, einschließlich der Friedens- sondern geboten. fachkräfte, die auf Versöhnung und Frieden 22 EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
THEMA 2015 wurde W. Putin noch in Ehren vom Papst empfangen – das Bild ging um die Welt. Ob man damals auch über eine gerechte Weltordnung in Frieden gesprochen hat? Foto: epd-bild/ Stefano Dal Pozzolo hinwirken, zu unterstützen. Gemeinsam mit den ökumenischen Partner:innen in der Regi- on, in Europa und im globalen Süden könnte ein ökumenischer Friedensdiskurs initiiert wer- den, der Perspektiven für eine zukünftige Frie- dens- und Sicherheitsordnung in Europa ent- wickelt, in der Friedens- und Sicherheitslogik zusammengedacht werden. Es werden sowohl militärische Abschreckung als auch die Stär- kung von ziviler Konfliktbearbeitung, Dialog, Kooperation und Versöhnung notwendig sein. michael.haspel@uni-erfurt.de EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022 23
THEMA Reichtum der Beziehungen Partnerkirchen im Ostseeraum und Osteuropa Die Landessynode hat einen grad, dazu kamen Beziehungen Blick auf die ökumenischen Part- nach St. Petersburg durch die Städ- nerbeziehungen der Nordkirche tepartnerschaft Hamburg – St. Pe- im Ostseeraum und in Osteuro- tersburg. Partner der Lutherischen pa geworden. Kirche in der Ukraine ist die Baye- rische Landeskirche. Unsere Nordkirche hat einen gro- Polen ßen Reichtum von Beziehungen Die Partnerschaft mit den Diö- zu Kirchen in zehn verschiedenen zesen Wrocławska (Breslau) und Christa europäischen Ländern. Partner- Pomorsko-Wielkopolska (Pom- Hunzinger schaftliche Beziehungen bestehen mern-Großpolen) der Evange- Europareferentin im zu drei Diözesen der Kirche von lisch-Augsburgischen Kirche in Zentrum für Mission und England, zur Protestantischen Polen besteht in der Pommer- Ökumene - Nordkirche Kirche in den Niederlanden, zur schen Kirche seit den 1970er Jah- weltweit (ZMÖ) Diözese Växjö der Kirche von ren, einen Partnerschaftsvertrag Schweden, zu zwei Diözesen der gibt es seit 1999. Beide sind mit Evangelisch-Augsburgischen Kir- jeweils etwa 3.000 Mitglieder sehr che in Polen, zur Evangelisch-Lutherischen kleine Diözesen. Insgesamt hat die Kirche Kirche in Rumänien, zu den lutherischen Kir- ca. 62.000 Mitglieder. Besonders wichtig sind che in Litauen, Lettland und Estland, zu den Beziehungen zu Gemeinden im ehemaligen lutherischen Propsteien Kaliningrad und St. Hinterpommern. Inhaltlich verbindet sehr das Petersburg sowie zur Russisch-Orthodoxen gemeinsame Erinnern an Dietrich Bonhoeffer - Metropolie St. Petersburg und Ladoga und zur das Predigerseminar von Finkenwalde liegt bei Evangelisch-Lutherischen Kirche in Kasachstan. Stettin/Szczecin. Die Diakonie in Polen setzt Die Nordkirche hat keine Partnerbeziehung sich intensiv für Geflüchtete ein, bereits seit in die Ukraine. Bereits Ende der 1970er Jahre Herbst 2021 an der belarussischen Grenze, nun wurde vom Lutherischen Weltbund über die in ganz Polen. VELKD (Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands) angeregt, die Zuständig- Baltische Länder keiten für die Beziehungen zu den regionalen Bei den Baltischen Ländern gibt es partner- lutherischen Kirchen auf dem Gebiet der da- schaftliche Kontakte zu allen Lutherischen maligen Sowjetunion zwischen den Gliedkir- Kirchen: In Litauen zur Evangelisch-Lutheri- chen der (damaligen) EKD in Westdeutschland schen Kirche Litauens. Es ist eine kleine Kirche aufzuteilen. Die Nordelbische Kirche war als mit etwa 18.000 Mitgliedern, aber einer sehr Kirche im Ostseeraum für die Kontakte ins Bal- aktiven diakonischen Arbeit. Bereits jetzt wer- tikum zuständig und, als es Anfang der 1990er den in fünf Diakoniezentren ukrainische Ge- Jahre möglich wurde, für die Propstei Kalinin- flüchtete aufgenommen. Allein im gerade erst 24 EVANGELISCHE STIMMEN 7 | 2022
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