Verteidigung ist Pflicht - Deutschlands außen politische Kultur muss strategisch werden

Die Seite wird erstellt Gunnar Schubert
 
WEITER LESEN
Verteidigung ist Pflicht - Deutschlands außen politische Kultur muss strategisch werden
SIRIUS 2021; 5(3): 203–226

Aufsatz

Bastian Giegerich/Maximilian Terhalle*

Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außen­
politische Kultur muss strategisch werden – Teil 1
https://doi.org/10.1515/sirius-2021-3002                                German military capabilities to do so. Years of neglect and
                                                                        structural underfunding, however, have hollowed out Ger-
Kurzfassung: Der Aufstieg oder Wiederaufstieg revisio-
                                                                        many’s armed forces. Much of the political leadership in
nistischer, repressiver und autoritärer Mächte bedroht
                                                                        Berlin has not yet adjusted to new realities or appreciated
die westliche, durch die USA garantierte internationale
                                                                        the urgency with which it needs to do so.
Ordnung, die den Aufstieg und die Sicherheit der Bun-
desrepublik Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg                     Keywords: Germany, defence policy, alliance policy, Chan-
gewährleistet hat. Zu einem Zeitpunkt, wo die USA zuneh-                cellor Angela Merkel, Russia, USA, China
mend durch den Aufstieg Chinas in Asien absorbiert sind
(wobei ein Krieg zwischen China und den USA nicht aus-
geschlossen werden kann), muss Europa in der Lage sein,
sich im Rahmen der NATO gegen eine konventionelle
                                                                        1 E
                                                                           inleitung
Aggression Russlands weitgehend alleine zu verteidigen.
                                                                        Die Sicherheitspolitik Deutschlands ist den strategischen
Dabei sind substantielle Beiträge Deutschlands unersetz-
                                                                        Herausforderungen, denen sich das Land heute gegen-
lich. Jahre der Vernachlässigung und der strukturellen
                                                                        übersieht, nicht länger gewachsen. Der Aufstieg bezie-
Unterfinanzierung haben jedoch die deutschen Streit-
                                                                        hungsweise die Wiederkehr revisionistischer, repressiver
kräfte ausgehöhlt. Die politische Führung in Berlin tut
                                                                        und autoritärer Mächte wie China und Russland bedroht
sich schwer, diese neue Lage und die Dringlichkeit einer
                                                                        in fundamentaler Weise die westliche internationale
Neuausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik zu
                                                                        Ordnung unter Führung der USA, auf der die Sicherheit
akzeptieren.
                                                                        und der Wohlstand Deutschlands seit der Nachkriegszeit
Schlüsselwörter: Deutschland, Verteidigungspolitik,                     beruhen. Viele der traditionellen und bequemen Annah-
Bündnispolitik, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Russ-                    men über Deutschlands Sicherheit und seine Rolle in
land, USA, China                                                        Europa und der Welt gelten daher nicht mehr. Doch ein
                                                                        Großteil der politischen Bühne in Berlin hat sich noch
                                                                        nicht auf diese neue Realität eingestellt oder die Dring-
Abstract: The rise or resurgence of revisionist, repressive             lichkeit erkannt, mit der sie reagieren sollte.
and authoritarian powers threatens the Western, US-led                       Seit vielen Jahrzehnten beklagen Deutschlands Bünd-
international order upon which Germany’s post-war                       nispartner die Tatsache, dass sich Bonn (und später Berlin)
security and prosperity were founded. With Washing-                     für seine eigene Verteidigung allzu sehr auf US-Streit-
ton increasingly absorbed by China’s rise in Asia (and a                kräfte verlasse. Sie erheben den Vorwurf, dass Deutsch-
US-China war not unlikely a possibility), Europe must be                land in sicherheitspolitischer Hinsicht ein Trittbrettfah-
able to defend itself against Russia, and will depend upon              rer sei. Diese Kritik ist einerseits zutreffend, andererseits
                                                                        aber auch unfair. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte für
                                                                        Washington der wirtschaftliche Wiederaufbau Europas
Anmerkung: Dieser Aufsatz ist die gekürzte und übersetzte Fassung       Vorrang, und dabei stand deutsche Wirtschaftskraft im
des im Juni 2021 erschienenen Adelphi Papers des IISS mit dem Titel     Zentrum. Daher sollten die Nachbarn Deutschlands darauf
The Responsibility to Defend: Rethinking German Strategic Culture.
                                                                        vertrauen können, dass ein wiederaufgebautes Deutsch-
Die Veröffentlichung erfolgt mit Erlaubnis des Verlags Taylor & Fran-
cis.                                                                    land ihre Sicherheit nie mehr bedrohen würde. Die Anwe-
                                                                        senheit einer beträchtlichen Anzahl amerikanischer, bri-
*Kontakt: Dr. Bastian Giegerich, Director of Defence and Military       tischer und französischer Truppen auf westdeutschem
Analysis am IISS; E-Mail: Bastian.Giegerich@iiss.org                    Boden diente daher dazu, andere Europäer zu beruhigen
Prof. (a. D.) Dr. Maximilian Terhalle, London School of Economics;
                                                                        und den Wiederaufbau des Kontinents zu unterstützen.
E-Mail: m.terhalle@lse.ac.uk
Verteidigung ist Pflicht - Deutschlands außen politische Kultur muss strategisch werden
204        Bastian Giegerich/Maximilian Terhalle

Außerdem lagen die Deutschen lange richtig mit der –           deren Produktion ihrerseits vom leichten Zugang zu Roh-
etwas zynischen – Annahme, dass die USA weiterhin              stoffen abhängt. Die westliche Ordnung hat den Wohl-
ein verlässlicher Garant der Sicherheit Deutschlands           stand, die Freiheit und Sicherheit Deutschlands gefördert
und Europas bleiben würden, auch wenn US-Politiker             und geschützt. Sie hat auch maßgeblich zu Deutschlands
sich noch so sehr über die unvertretbar hohen Beiträge         Fähigkeit beigetragen, eine bedeutende Rolle auf der
Washingtons zur Verteidigung Deutschlands echauffieren         Weltbühne zu spielen.1 Jede Störung dieser Ordnung stellt
mochten. Immerhin lag dies im Eigeninteresse Washing-          zwangsläufig eine Bedrohung für deutsche Interessen dar,
tons und die USA konnten es sich auch leisten.                 insbesondere wenn diese Störung von einem autoritären
     Diese Annahme ist heute nicht mehr so selbstver-          Regime ausgeht, für das die politischen, rechtlichen und
ständlich, wie sie es früher einmal zu sein schien. Zum        bürgerlichen Werte Deutschlands ein rotes Tuch sind.
einen hat die Regierung von Donald Trump (2017–2021)                Chinas Aufstieg stellt auch wegen einer grundlegen-
gezeigt, dass ein US-Präsident eine offen feindselige Ein-     den, unvermeidlichen Tatsache eine indirekte, aber unmit-
stellung gegenüber nominellen europäischen Verbünde-           telbar sicherheitspolitische Herausforderung für Berlin
ten an den Tag legen und sogar mit einem Austritt der USA      dar: Washington kann es nicht gleichzeitig mit einem
aus der Nato drohen kann. Zum anderen verändert der            modernen, großen und fähigen militärischen Gegner in
Aufstieg Chinas das gesamte internationale Gefüge und          Asien – China – aufnehmen und weiterhin den Großteil der
stellt indirekt Washingtons Garantien für die Verteidigung     Lasten für die Verteidigung Europas schultern.2 Das anhal-
Europas in Frage.                                              tende Wachstum der Streitkräfte Chinas wird diesem stra-
     Chinas spektakuläres Wirtschaftswachstum, seine           tegischen Dilemma eine erhöhte Dringlichkeit verleihen
politischen und militärischen Ambitionen stellen               und damit Washingtons Sicherheitsgarantie für Europa
dadurch, dass sie die westliche Ordnung herausfordern,         an Glaubwürdigkeit verlieren lassen. Gegenwärtig hätten
eine langfristige Bedrohung für deutsche Interessen dar.       die europäischen NATO-Mitglieder Mühe, im Falle eines
Unter Präsident Xi Jinping ist China darauf aus, eine          begrenzten konventionellen Kriegs mit Russland ihre Ost-
globale Führungsrolle als Fertigungsstandort für wichtige      flanke zu verteidigen, ohne US-Fähigkeiten in Anspruch
Hightech-Produkte einzunehmen und ein Kraftzentrum             zu nehmen. Das Ersetzen dieser Fähigkeiten durch Euro-
der Innovation zu werden, während es zugleich globale          päer wäre mit erheblichen Kosten verbunden und würde
Normen in einer Vielzahl von Bereichen festzulegen ver-        zwischen zehn und 20 Jahren dauern. Im Falle einer mili-
sucht. Standardsetzung, Fertigung und Innovation würden        tärischen Konfrontation zwischen den USA und China,
Peking die Kontrolle über bedeutende Elemente des wirt-        insbesondere einer, die zu einem umfassenden Konflikt
schaftlichen Austauschs geben. Diese Politik steht auch        führte, wäre Europa verwundbar für Bestrebungen Russ-
mit einer weiteren Ambition von Xi in Zusammenhang,            lands, sich etwa das Baltikum oder andere Gebiete gewalt-
nämlich dem Bestreben, die chinesischen Streitkräfte in        sam einzuverleiben. Wenn es zu einer solchen Landnahme
die Lage zu versetzen, Kriege zu führen und zu gewinnen.       käme und diese nicht sofort rückgängig gemacht würde,
Ziel ist es dabei, die USA als maßgeblichen sicherheitspoli-   könnte sie zum Zerfall der NATO führen.
tischen Akteur im Indo-Pazifik zu verdrängen, die USA und           In Anbetracht von Chinas nicht zu leugnendem Auf-
ihre Verbündeten militärtechnologisch abzuhängen und           stieg als militärischer Rivale der USA muss Europa in der
chinesische Interessen weltweit voranzubringen. Diese          Lage sein, sich weitgehend selbst gegen Russland zu ver-
Herausforderung westlicher Interessen wird zunächst im         teidigen. Aufgrund von Deutschlands Größe, Lage und
Indo-Pazifik am sichtbarsten und am folgenreichsten sein,      Wirtschaftskraft ist es unvermeidlich, dass die deutsche
sie wird sich jedoch zwangsläufig auch auf die übrige Welt     Bundesregierung bei diesen Bemühungen eine zentrale
auswirken. Die westliche Ordnung und die Werte, die sie        Rolle spielt. Gegenwärtig ist Deutschland jedoch ein weit-
verkörpert, beruhen auf der Hegemonie und der Macht des        gehend abwesender und ineffektiver Akteur bei den Bemü-
Westens. Der relative Niedergang westlicher Macht führt        hungen, glaubhafte europäische Selbstverteidigungsfähig-
zwangsläufig dazu, dass diese Ordnung andauernd und            keiten aufzubauen. Wenn sich nichts an dieser Einstellung
möglicherweise erfolgreich angegriffen wird.                   ändert, wird daraus langfristig eine gravierende Bedro-
     Deutschland hat von der Existenz einer westlichen         hung für die Sicherheit Deutschlands erwachsen.
Ordnung unter Führung der USA profitiert, die (größten-
teils) den offenen und friedlichen Austausch von Gütern
und Ideen gefördert hat und es nach wie vor tut. Die deut-     1 Mehr zu diesem Thema findet sich bei Kaim/Stelzenmüller 2013,
sche Wirtschaft ist in besonders hohem Maße abhängig           besonders S. 12–17.
vom sicheren weltweiten Transport ihrer Exportgüter,           2 Siehe auch den Beitrag von Elbridge Colby in diesem Heft.
Verteidigung ist Pflicht - Deutschlands außen politische Kultur muss strategisch werden
Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außen­politische Kultur muss strategisch werden – Teil 1     205

     Bislang gibt es nur wenige Anhaltspunkte dafür, dass             gen herunter, die von illiberalen, autoritären Staaten wie
die politischen Entscheidungsträger Deutschlands oder                 China und Russland für Deutschland ausgehen. Viele dif-
die Bevölkerung im Allgemeinen die tektonische Natur des              famieren dabei auch die militärische Macht der USA. In
Wandels begriffen haben, die durch Chinas Aufstieg ent-               seinen am wenigsten erbaulichen Erscheinungsformen
steht. Das Gleiche gilt für die Bereitschaft, den Wandel der          lässt dieser Diskurs den Wunsch erkennen, die Vorteile
europäischen Verteidigungsrealitäten zu akzeptieren und               einer durch die US-amerikanische Militärmacht abgesi-
die dringende Notwendigkeit anzuerkennen, dass man                    cherten westlichen Weltordnung zu genießen, ohne einen
sich auf eine schnell verändernde Realität einstellen muss.           nennenswerten Beitrag zur Verteidigung dieser Ordnung
Tatsächlich kennzeichnet ein beunruhigendes Ausmaß                    zu leisten. Wie ein roter Faden zieht sich durch den deut-
an Ambivalenz den Diskurs in Deutschland, so als gäbe                 schen sicherheitspolitischen Diskurs die Vorstellung,
es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den USA                   militärische Gewalt und Machtpolitik seien irgendwie
und deren illiberalen, undemokratischen Gegnern. Einige               anachronistische Überreste einer untergegangenen alten
hängen dem Irrglauben an, Deutschland (und seine euro-                Weltordnung oder zumindest einer Welt, aus der sich
päischen Verbündeten) könnten irgendwie einen gedeih-                 Deutschland nach 1945 klugerweise zurückgezogen hat.
lichen und ruhigen Mittelweg zwischen „rivalisierenden                     Es gibt aber auch maßgebliche Stimmen innerhalb
Supermächten“ einschlagen. Diese Einstellung scheint auch             der politischen Führung, die den Wunsch geäußert haben,
Bundeskanzlerin Angela Merkel zu teilen, die im Januar                Deutschland möge seine Trägheit in Strategiefragen über-
2021 im Anschluss an eine Rede Xis, der sie beipflichtete,            winden. Und es solle intensiver darüber nachgedacht
sagte: „Ich würde sehr gern die Bildung von Blöcken ver-              werden, was notwendig wäre, um Sicherheit im Bündnis
meiden … Ich glaube nicht, dass man vielen Gesellschaften             zu gewährleisten. Im Jahr 2020 etwa hat Verteidigungsmi-
damit gerecht würde, wenn wir sagen würden, dies sind die             nisterin Annegret Kramp-Karrenbauer die deutschen Teil-
Vereinigten Staaten und dort ist China und wir scharen uns            nehmer der Münchner Sicherheitskonferenz eindringlich
entweder um das eine oder das andere Land. Dies ist nicht             daran erinnert, dass der damalige deutsche Außenminis-
mein Verständnis dessen, wie es sein sollte.“3                        ter Frank-Walter Steinmeier im Jahr 2014 auf demselben
     Das Wort „Block“ ist ein aufgeladener Begriff, der               Forum erklärt hat, Deutschland müsse bereit sein, „sich
Assoziationen mit dem Kalten Krieg weckt. Im Grunde                   außen- und sicherheitspolitisch früher, entschlossener
genommen sagte Merkel, dass sie sich nicht auf eine Seite             und substantieller einzubringen“.5 Und weil Berlin diesem
stellen wolle, weil dies mit dem Prinzip des Multilatera-             Bekenntnis keine Taten habe folgen gelassen, forderte sie:
lismus unvereinbar sei. Für diese Aussage ist sie wieder-             „Dem Münchner ‚Konsens der Worte‘ muss ein ‚Konsens
holt und zu Recht kritisiert worden. Constanze Stelzen-               der Taten‘ folgen.“6 Wolfgang Schäuble, ein altgedienter
müller etwa hat darauf hingewiesen, dass der Wunsch                   deutscher Politiker und Bundestagspräsident, merkte an,
Deutschlands, eine Balance zu halten zwischen Europa                  Deutschland sei keine „Trauminsel“, die es sich leisten
und den USA einerseits und China und Russland anderer-                könne, den Voraussetzungen seiner „Freiheit und seines
seits, „die europäische Einheit und den transatlantischen             Wohlstands“ gleichgültig gegenüberzustehen.7
Zusammenhalt untergräbt, die Partner und Verbündeten                       Solche Aussagen kommen zwar bei der recht kleinen
Deutschlands verstimmt … [D]ie Regierenden in Deutsch-                Fachgemeinschaft, die sich in Berlin außerhalb der Regie-
land wissen dies, machen aber trotzdem weiter.“4 Das Zitat            rung mit Strategiefragen befasst, gut an und werden hin
von Frau Merkel ist kein Einzelfall. Abgesehen von einigen
bemerkenswerten Ausnahmen ist der gegenwärtige sicher-
heitspolitische Diskurs in Deutschland, vor allem in der              5 Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich
Öffentlichkeit, durch einen grundlegenden Mangel an                   der 50. Münchner Sicherheitskonferenz am 1.2.2014; https://www.
Ehrlichkeit gekennzeichnet, wie gut gemeint es manch-                 auswaertiges-amt.de/de/newsroom/140201-bm-muesiko/259554.
                                                                      6 Rede der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-
mal auch sein mag. Er basiert häufig auf der – ausdrück-
                                                                      Karrenbauer auf der Münchener Sicherheitskonferenz am 15.2.2020;
lichen oder unausgesprochenen – Annahme, Deutschland                  https://www.bmvg.de/de/aktuelles/muenchner-sicherheitskonfe
müsse nicht in der Lage sein, sich selbst oder seine nahen            renz-2020-akk-wir-sind-der-westen-182706.
Bündnispartner zu verteidigen. Er spielt die Bedrohun-                7 David E. Sanger/Steven Erlanger: ‘The West Is Winning,’ Pompeo
                                                                      Said. The West Wasn’t Buying It, New York Times online, 15.2.2020;
                                                                      sowie „Wir können uns nicht wegducken“: Schäuble fordert stärkeres
                                                                      militärisches Engagement Deutschlands, Der Tagesspiegel, 31.1.2020;
3 Stuart Lau/Laurenz Gehrke: Merkel Sides With Xi on Avoiding Cold    s. a. Christoph von Marschall: „Heraushalten ist keine Option“:
War Blocs, Politico.eu, 26.1.2021.                                    Schäuble fordert stärkeres militärisches Engagement Deutschlands,
4 Stelzenmüller 2021.                                                 Der Tagesspiegel, 29.10.2019.
Verteidigung ist Pflicht - Deutschlands außen politische Kultur muss strategisch werden
206         Bastian Giegerich/Maximilian Terhalle

und wieder sogar in Teilen der Ministerialbürokratie bei-             reichend strategisch durchdacht, ihr fehlt vor allem die
fällig aufgenommen. Sie haben jedoch den sicherheits-                 Anbindung an die strategische Realität einer sich rapide
politischen Kurs der Regierung Merkel nicht wesentlich                verändernden internationalen Umwelt. Deutschland wird
beeinflusst. Kanzlerin Angela Merkel selbst hat weder                 gewiss niemals die gleiche strategische Kultur wie die
eine konzeptionell schlüssige Antwort auf Deutschlands                USA, Frankreich oder Großbritannien besitzen, sollte sich
sicherheitspolitische Herausforderungen formuliert noch               aber bemühen, eine mit den genannten Nationen zumin-
sich verbindlich dazu geäußert, welchen strategischen                 dest kompatible Kultur zu entwickeln. Nur sie wird es
Zwecken die militärische Macht Deutschlands dienen soll.              den Deutschen erlauben, internationale Angelegenheiten
     Stattdessen verweist sie auf die Tatsache, dass ihre             unter strategischen Gesichtspunkten zu betrachten und
Regierungskoalition die Bundeswehr zu nicht weniger als               reale Bedrohungen und Herausforderungen als solche zu
14 Auslandseinsätzen zur militärischen Krisenbewältigung              erkennen. Dieser Anpassungsprozess muss rasch vonstat-
entsandt hat. Deutschland habe damit einen größeren                   tengehen. Die Bedrohungen der Sicherheit Deutschlands
Beitrag zur globalen Sicherheit geleistet als in den Jahren vor       durch ein selbstbewusst auftretendes Russland und ein
ihrer Kanzlerschaft. Diese Einsätze sind zweifellos wichtig,          aufsteigendes China sind akuter, als es viele sich einzu-
doch liefert der Hinweis auf sie keine geeignete Antwort              gestehen bereit sind. Deshalb braucht Deutschland einen
auf die direkten sicherheitspolitischen Herausforderungen,            schnellen Paradigmenwechsel in seinem strategischen
denen sich Deutschland heute gegenübersieht. Obwohl                   Denken, sozusagen eine zeitgenössische Version dessen,
Kanzlerin Merkel während ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft              was Quentin Skinner die „machiavellistische Revolution“
auf unterschiedlichen Gebieten Bedeutendes geleistet hat,             genannt hat.9
waren bei der Ausarbeitung eines sicherheitspolitischen
Konzepts, das auf Basis einer nüchternen Analyse der Her-
ausforderungen eine schlüssige strategische Vision erken-
nen lässt, keine Fortschritte zu verzeichnen.
     In diesem Beitrag wollen wir darlegen, warum es
dringend geboten ist, dass sich die politischen Entschei-
dungsträger in Deutschland einen – wie wir es nennen –
„strategischen Ansatz“ zu eigen machen und diesen auch
in konkretes Handel umsetzen sollten. Mit „strategischem
Ansatz“ (im Original strategic mindset) meinen wir ein
Bewusstsein dafür, dass internationale Angelegenheiten
nach wie vor nicht bloß durch Missverständnisse, sondern
durch Machtpolitik und echte nationale Interessenkon-
flikte geprägt sind; dass Staaten letztlich selbst für ihre
Verteidigung verantwortlich sind und dass militärische
Macht weiterhin eine reale und auch legitime Kompo-
nente der Staatskunst ist. Dies gilt unabhängig davon, ob
militärische Macht (hauptsächlich) als ein glaubwürdiges
Abschreckungsmittel oder (gelegentlich und im geringst-
möglichen Ausmaß) als ein Instrument der Gewaltanwen-
dung eingesetzt wird im Bestreben, nationale Interessen
und die Interessen anderer freiheitlich-demokratischer                Abb. 1: Machiavelli nach einer zeitgenössischen Marmorbüste
Staaten mit ähnlichen Grundüberzeugungen zu wahren.
     Deutschland besitzt zwar bereits eine „strategische
Kultur“ im Sinne der von einer Gesellschaft geteilten Ideen
und Präferenzen bezüglich des Einsatzes von Waffenge-
walt und der als akzeptabel erachteten außenpolitischen               sie basieren aber auf der Beobachtung und Teilnahme des deutschen
Handlungsweisen.8 Leider ist diese Kultur aber nicht hin-             strategischen Diskurses.
                                                                      9 Skinner 1981, 31; siehe auch Pocock 1975. Raymond Aron hat darge-
                                                                      legt, dass der andauernde Wert von Machiavellis „Revolution“ darin
                                                                      liegt, dass das Interesse an seinem Werk ‘always thrives when order is
8 Vgl. Biehl/Giegerich/Jonas 2013, die dort geäußerten Einschätzun-   challenged … [It is] a rise in consciousness coinciding with a period in
gen zur strategischen Kultur Deutschlands sind natürlich subjektiv,   which order … becomes the issue at stake,‘ Aron 1983, 244.
Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außen­politische Kultur muss strategisch werden – Teil 1     207

Niccolò Machiavelli ist vor allem bekannt wegen des Rats,             Werten basierenden westlichen Staatengemeinschaft gab
den er Herrschern der italienischen Renaissance gab: Sie              Deutschland die Chance zum Wiederaufbau und zur Mit-
sollten das klassische Ideal des virtus (wonach Mäßigung              gliedschaft in dieser Wertegemeinschaft. Diese Staaten-
und Gerechtigkeit die Leitprinzipien des Regierungshan-               gemeinschaft mit der von ihr getragenen freiheitlichen
delns sein sollten) zugunsten des kontextabhängigen                   Ordnung ist heute abermals bedroht. Die Verteidigung
Begriffs virtù aufgeben, der für die Leser Machiavellis               dieser Ordnung, die Freiheit und Wohlstand Deutsch-
die Praxis amoralischer Machtpolitik beinhaltete. Damit               lands gefördert hat, würde eine Verteidigung sowohl der
meinte er, zeitgenössische Herrscher sollten ihre veralte-            heutigen deutschen Werte als auch der deutschen Interes-
ten Methoden aufgeben, die ihnen in gefährlicher Weise                sen darstellen. Deutschlands derzeitige Herausforderung
Selbstbeschränkungen abverlangten, um ihre Interessen                 besteht darin, seinen Einsatz für freiheitliche Werte mit
und Werte gegen diejenigen zu verteidigen, die sich kei-              einem Verständnis für die Rolle von Macht einschließlich
nerlei Einschränkungen auferlegen würden. Mit anderen                 militärischer Macht zu verbinden.
Worten, die virtù, wie Machiavelli sie verstand, gab Herr-                 Im Folgenden gehen wir der Frage nach, warum viele
schern Überlebenstechniken für gefährliche politische                 Deutsche die Rolle ihres Landes in der Welt so sehen, wie
Übergangsphasen an die Hand.10 Zwar mögen einige                      sie es tun, und schlagen andere, konstruktivere Sichtwei-
Elemente von Deutschlands Selbstverständnis als Zivil-                sen der Geschichte und der Verantwortlichkeiten Deutsch-
macht – ein von dem Analytiker Hanns W. Maul geprägter                lands vor. Wir analysieren die Ursachen und Folgen der
Begriff – weiterhin eine nützliche intellektuelle Grundlage           gegenwärtigen Defizite und Unzulänglichkeiten bei den
für die allgemeine außenpolitische Praxis bereitstellen,11            Verteidigungsausgaben und im militärischen Beschaf-
aber Berlin wird sich mitunter Teile der intellektuellen              fungswesen. Wir betrachten die von China und Russland
Revolution Machiavellis zum Vorbild nehmen müssen, um                 ausgehenden Bedrohungen aus einer dezidiert strategi-
den heutigen und künftigen Herausforderungen gewach-                  schen Perspektive, und wir zeigen auf, wie Deutschland zu
sen zu sein. Deshalb ist es geboten, die nicht mehr zeit-             Europas Selbstverteidigungsfähigkeit einen bedeutenden
gemäße sicherheitspolitische Konzeption Deutschlands                  Beitrag leisten könnte, unter anderem auch dadurch, dass
zu revidieren.                                                        es sich an der Entwicklung nicht-konventioneller, effekti-
     Wir fordern nicht, dass Deutschland eine amoralische,            verer nuklearer Abschreckungsmittel beteiligt.
zynische oder militaristische Außen- und Sicherheitspoli-                  Die Deutschen haben dabei sowohl die Chance als
tik betreiben soll. Vielmehr meinen wir, Berlin muss zur              auch die Pflicht, eine einfache Frage zu beantworten: In
Kenntnis nehmen, dass andere mächtige Staaten dies                    Anbetracht der Rückkehr des internationalen Systems zu
tun – und diese Staaten stellen freiheitliche Werte und               Rivalität und der Möglichkeit von Großmachtkonflikten
die westliche Ordnung in Frage. Zur Verteidigung libera-              und regionalen Konflikten – ausgelöst durch Großmächte
ler Zwecke sind daher auch Mittel, die letztlich von glaub-           und infolge des nachlassenden Engagements für die
würdiger militärischer Macht gestützt werden, sowohl                  regelbasierte Ordnung – stellt sich die Frage, wie und für
gerechtfertigt als auch notwendig. Deutschland sollte                 welche Zwecke Deutschland seine Machtressourcen ein-
seine Macht mit moralischer Zweckbindung verknüpfen                   setzen sollte.12 Jetzt, da sich die Amtszeit von Bundeskanz-
und lernen, Machtmittel im Sinne dieser Zwecke einzu-                 lerin Merkel ihrem Ende zuneigt, sollte die neue politische
setzen. Die nationale historische Verantwortung Deutsch-              Führung Deutschlands in der deutschen Bevölkerung eine
lands darf nicht zu einer dogmatischen Ablehnung jegli-               ernsthafte, realistische und besonnene Debatte über die
cher militärischen Gewaltanwendung werden. Sie sollte                 Stellung des Landes in der Welt und seine globalen Ver-
vielmehr über die kategorische Ablehnung der verderbli-               antwortlichkeiten anstoßen. Diese Debatte muss insbe-
chen Doktrin des Militarismus hinausgehen und dabei die               sondere die aufziehenden Bedrohungen für die Sicherheit
Verteidigung der freiheitlichen Werte des Westens und der             und den Wohlstand berücksichtigen, die die Deutschen
damit verbundenen internationalen politischen Ordnung                 gegenwärtig als selbstverständlich betrachten. Und sie
im Auge behalten. Das Deutsche Reich wollte diese Werte               muss auch die Frage beantworten, wie Deutschland
einst zerstören, was ihm nicht gelang und zur Niederlage              diesen Bedrohungen in der sich abzeichnenden Epoche
im Zweiten Weltkrieg führte. Der Sieg der auf ebendiesen              entgegentreten sollte. Es gibt keine Zeit mehr zu verlieren.

10 Vgl. Skinner 1981, Kapitel 18; ohne auf Machiavelli einzugehen,
hat auch Hans-Peter Schwarz ähnliche Vorstellungen entwickelt, vgl.   12 Wir haben diese Frage bereits im Jahr 2016 angerissen, vgl. Gie-
Schwarz 1985, 165.                                                    gerich/Terhalle 2016, siehe auch Kundnani 2014 sowie Mangasarian/
11 Maull 2007.                                                        Techau 2017, von Marschall 2018 und von Bredow 2020.
208         Bastian Giegerich/Maximilian Terhalle

2 D
   ie Ursachen der strategischen                             erfüllt. Mitunter heißt es, Deutschland habe nur eine

  Defizite Deutschlands                                       unterentwickelte beziehungsweise überhaupt keine stra-
                                                              tegische Kultur.16 Diese Sichtweise ist nicht hilfreich, weil
                                                              sie das Problem unterschätzt. Besäße Deutschland keine
Es ist leicht nachzuvollziehen, warum Außenstehende
                                                              strategische Kultur, ließe sich das Ideenvakuum relativ
Deutschland oftmals als ein Musterbeispiel eines moder-
                                                              leicht füllen. Tatsache aber ist, dass es sehr wohl eine vor-
nen Landes mit einer reifen Demokratie ansehen. John
                                                              herrschende strategische Kultur besitzt – die allerdings
Kampfners Buch Why the Germans Do It Better: Notes
                                                              in Präferenzen für Regierungshandeln mündet, die den
from a Grown-Up Country ist ein typisches Beispiel einer
                                                              Anforderungen an eine moderne Sicherheits- und Vertei-
solchen Bewunderung „von außen“. Der Autor behauptet,
                                                              digungspolitik nicht gerecht werden. Dies bedeutet, dass
die Erfolge Deutschlands verdankten sich traditioneller
                                                              es mühsamer sein wird, sie zu ersetzen oder zu korrigie-
„deutscher Tüchtigkeit“ in Verbindung mit Bescheidenheit
                                                              ren, als bloß eine Lücke zu schließen.
und dezenter Kompetenz.13 Die ausländischen Bewunde-
                                                                   Nach Auffassung von Ellis S. Krauss und Hanns W.
rer Berlins haben nicht ganz unrecht: in innenpoliti-
                                                              Maull lassen sich die strategischen Präferenzen Deutsch-
schen Angelegenheiten macht Deutschland tatsächlich
                                                              lands mit drei Schlagwörtern charakterisieren: „nie
vieles richtig. Es zeichnet sich durch eine große Reife des
                                                              wieder“, womit die Ablehnung jedweden militärischen
Urteilsvermögens aus, und seine Bündnispartner könnten
                                                              Expansionismus und Totalitarismus gemeint ist, „nie
viel von ihm lernen. Hinsichtlich der Fähigkeit jedoch,
                                                              alleine“, was heißen soll, jede Aktion müsse in multi-
strategischen Herausforderungen auf der internationalen
                                                              laterale Strukturen eingebettet sein; und „Politik vor
Bühne auf ehrliche und realistische Weise entgegenzu-
                                                              Gewalt.“17 Während sich diese Maximen in der Theorie
treten, würden nur wenige ausländische Beobachter der
                                                              wunderbar anhören, haben sie in der Praxis dazu geführt,
Aussage zustimmen, die Deutschen „machen es besser.“
                                                              dass es laut dem maßgeblichen Narrativ der deutschen
Während viele Deutsche den sicherheitspolitischen Kurs
                                                              Sicherheitspolitik grundsätzlich keine militärischen
ihres Landes – geprägt durch eine reflexartige Abnei-
                                                              Lösungen gibt.18 Jedes Mal, wenn dieses Dogma in Wider-
gung gegen jeglichen vermeintlichen Bellizismus – für
                                                              spruch zur Realität gerät, passt sich die sicherheitspoli-
fortschrittlicher halten als den ihrer Verbündeten, wäre
                                                              tische Debatte in Deutschland ein wenig an und ermög-
„unreif“ wohl eine zutreffendere Beschreibung.
                                                              licht parlamentarische Mandate für die Entsendung von
     Militärische Gewalt ist eng mit der Ausübung nationa-
                                                              Bundeswehrangehörigen oder militärische Unterstützung
ler Macht verbunden und ein Schlüsselaspekt der natio-
                                                              für bedrängte Partner. Aber wirklich in Frage gestellt wird
nalen Strategie. Auch wenn Waffengewalt nur für eine
                                                              es nicht.
begrenzte Gruppe von Problemen direkt relevant ist, ist
                                                                   Ein reaktives Durchwursteln, wenn frühere Ent-
sie unter bestimmten Umständen Teil der Lösung, oftmals
                                                              scheidungen nicht länger funktionieren, mag akzeptabel
in Verbindung mit anderen Hebeln staatlicher Macht.
                                                              sein, wenn keine strategisch relevanten Bedrohungen
Diese grundlegende Tatsache wird in London, Paris und
                                                              vorhanden sind. Aber diese Vorgehensweise reicht nicht
Warschau, aber auch in Peking, Moskau und Washington,
                                                              aus, wenn Deutschland mit grundlegenden Bedrohungen
D.C., gut verstanden. Der sicherheitspolitische Diskurs
                                                              seiner Sicherheit konfrontiert ist. Die bisherige Strategie-
in Deutschland hingegen bleibt ein Sonderfall, weil der
                                                              debatte ist unter anderem deshalb weitgehend unpro-
wesensmäßige Zusammenhang zwischen Diplomatie und
                                                              duktiv geblieben, weil allzu viele Deutsche ein unzu-
der Anwendung von Waffengewalt, der eine der Grundla-
                                                              treffendes und nicht hilfreiches Verständnis der Lehren
gen der Staatskunst bildet, nicht erkannt oder sogar offen
                                                              aus der Geschichte ihres Landes teilen. So wird allzu oft
abgelehnt wird.14 Schon 1961 hat Sir Michael Howard in
                                                              aus einer lobenswerten Ablehnung des Militarismus ein
einer Besprechung von Helmut Schmidts Buch Verteidi-
                                                              stillschweigender oder ausdrücklicher Pazifismus, der
gung oder Vergeltung: Ein deutscher Beitrag zum strategi-
                                                              sich als verantwortungsvolle und moralische Alternative
schen Problem der NATO für die vom IISS veröffentlichte
                                                              zum Einsatz militärischer Gewalt allgemein präsentiert
Zeitschrift Survival behauptet, dass eine „Renaissance der
strategischen Studien in Deutschland überfällig ist“.15
Leider, so muss man sagen, hat sich seine Hoffnung nicht      16 So konnte man im Economist lesen, dass die USA und andere
                                                              westliche Staaten die Abwesenheit jeglicher strategischen Denkkul-
                                                              tur in Deutschland bemängeln, vgl. ‘Germany Is Not About to Invigo-
13 Kampfner 2020, Kapitel 1–4.                                rate Europe’, The Economist, 7.12.2017.
14 Vgl. Schlie 2020.                                          17 Vgl. Krauss/Maull 2020, 161–164.
15 Howard 2020, 44.                                           18 Vgl. Techau 2019.
Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außen­politische Kultur muss strategisch werden – Teil 1   209

und die Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer                    Deutschland und die meisten ihrer Partner legten größten
Macht begründet. So erklärte ein bekannter deutscher                   Wert auf Kontinuität, nicht zuletzt weil sie das gewachsene
Kommentator Ende 2020, der Pazifismus sei die „Keule“,                 Gewicht eines vereinten Deutschlands in Europa anderen
mit der jede nuancierte und substanzielle Debatte über                 schmackhaft machen wollten. Das Ende des Kalten Krieges
Fragen der internationalen Sicherheit unterdrückt werde.               mag nicht wie das Ende der Geschichte angemutet haben,
Dadurch werde eine Dichotomie zwischen Gut (Friede)                    aber es sah nach einer Befreiung aus, noch dazu einer,
und Böse (Krieg) konstruiert, die alles andere als hilf-               die in den zeitgenössischen Worten von Josef Joffe „die
reich sei.19 Um zu verstehen, warum es vielen Deutschen                besonderen Quellen der Stärke Deutschlands vergrößern
schwerfällt, Außen- und Sicherheitspolitik strategisch zu              würde“. Damals herrschte die Meinung vor, Deutschland
denken (oder, wie wir es ausdrücken würden, sich einen                 habe seine wichtigsten Ziele erreicht – es sei nun vereint
strategischen Ansatz zu eigen zu machen), ist es hilfreich,            und sicher, weil umgeben von europäischen Partnern und
die historischen Faktoren zu analysieren, die die Deut-                Verbündeten. Die Welt erschien damals weniger bedroh-
schen von strategischer Vernunft abhalten. Dabei muss                  lich, der Nutzen von Streitkräften geringer, und die tief-
man auch konstruktive Umdeutungen der Folgerungen                      greifenden Umwälzungen der internationalen Bezie-
erwägen, die das zeitgenössische Deutschland aus seinem                hungen waren offenkundig ein Sicherheitsgewinn für
historischen Vermächtnis gezogen hat. Nur so lassen sich               Deutschland. Zudem hatten die Erfahrungen während der
bessere Antworten auf die strategischen Herausforderun-                Verhandlungen über die Wiedervereinigung die Überzeu-
gen finden, vor denen Deutschland heute steht. Ebenso ist              gung gefestigt, immer tiefere und stärkere multilaterale
es in diesem Zusammenhang wichtig, eingefahrene politi-                Beziehungen würden Deutschland mehr statt weniger
sche, institutionelle, verfassungsrechtliche und bildungs-             außenpolitischen Handlungsspielraum verschaffen.22 Die
bezogene Strukturen zu betrachten, die Deutschlands                    friedliche Wiedervereinigung wäre ohne das Einverständ-
bisherige strategische Kultur geprägt haben und jegliche               nis und das Wohlwollen der Sowjetunion nicht möglich
Bemühung der Veränderung erschweren.                                   gewesen. Es war verständlich, dass die Deutschen nach
                                                                       der Wiedervereinigung davon ausgingen, Moskaus Ver-
                                                                       trauen in die (guten) Absichten Westdeutschlands sei
2.1 D
     ie „Lehren“ der Geschichte                                       gestärkt worden durch Bonns frühere Bemühungen, mit
                                                                       Gegnern zusammenzuarbeiten (etwa Willy Brandts Ost-
Obwohl Westdeutschland ein Schlüsselmitglied der west-                 politik), sowie durch wiederholte und aufrichtige Gesten
lichen Ordnung unter Führung der USA war und in erheb-                 der Versöhnung und Wiedergutmachung für frühere deut-
lichem Umfang davon profitierte, war es im Hinblick auf                sche Aggressionen.
die Staatskunst für Deutschland akzeptabel, eine „Zivil-                    Während sich der Diskurs über den Stellenwert von
macht“ zu sein – um einen später von Hanns Maull gepräg-               Waffengewalt in der deutschen Sicherheitspolitik seit
ten Begriff zu verwenden. Während des Kalten Krieges war               1991 ein wenig gewandelt hat, gingen manche Autoren
„die deutsche Außen- und Militärpolitik von Abhängigkeit               (wie etwa Krauss und Maull) davon aus, dass das Konzept
und Unterordnung gekennzeichnet“, ein willkommener                     der Zivilmacht Deutschland weiterhin gute Dienste leiste.
Gegensatz zum einstigen „Möchtegern-Hegemon in Euro-                   Die Umsetzung dieses Konzepts habe sich vor allem in den
pa.“20                                                                 tiefgreifenden Veränderungen von Deutschlands sicher-
     Dieses zivile Selbstbild überlebte das Ende des Kalten            heitspolitischem Umfeld nach Ende des Kalten Kriegs
Krieges und die deutsche Wiedervereinigung. Im Jahr 1991               bewährt.23 Jene Deutschen, die rundweg die Anwendung
stellte der IISS Strategic Survey die Frage: „Was werden die           militärischer Gewalt verdammen, fühlten sich zudem
Deutschen jetzt, da Deutschland mit seiner wiederher-                  durch die Ergebnisse der Kriege bestätigt, die unter
gestellten Nationalstaatlichkeit seine Einheit und volle               Führung der USA in den ersten beiden Jahrzehnten des
Souveränität zurückerlangt hat, damit anfangen?“21 Die                 21. Jahrhunderts stattfanden. Bekämpfung des Terroris-
unmittelbare Antwort lautete, die Zukunft würde genauso                mus oder ein demokratischer Regimewechsel waren die
sein wie die jüngste Vergangenheit, nur in einem ver-                  erklärten Ziele dieser Kriege, die sich weitgehend als stra-
stärkten Maße – zeitgenössische Entscheidungsträger in                 tegische Fehlschläge erwiesen. Die Kriege erreichten nicht
                                                                       ihre Ziele, dienten weder amerikanischen noch westlichen

19 Stefan Kornelius: Pazifismus mit der Keule, Süddeutsche Zeitung,
18.12.2020.
20 Joffe 1990, 130.                                                    22 Direktes und indirektes Zitat bei Joffe 1990, 136.
21 International Institute for Strategic Studies 1991, 173.            23 Krauss/Maull 2020.
210        Bastian Giegerich/Maximilian Terhalle

Interessen, forderten eine große Anzahl ziviler Todesopfer     r­ elative Mehrheit ist dagegen, den Handel und die Wirt-
und gingen mit der Misshandlung, Folterung und Ermor-           schaftsbeziehungen mit Russland einzuschränken, eine
dung von Gefangenen einher.24                                   relative Mehrheit der Bürger ist indes dagegen, die Positio-
     Es ist wichtig, die Vorteile der gesellschaftlichen und    nen Russlands stärker zu unterstützen.25 Diese Spaltung
politischen Präferenzen anzuerkennen, die nach dem              der öffentlichen Meinung – mit Ansichten, die von Furcht
Zweiten Weltkrieg die Wiederaufnahme Deutschlands in            bis zu großer Sympathie reichen – gilt auch für die Eliten
den Kreis der zivilisierten Nationen ermöglichten, seine        in Politik, Wirtschaft und Kultur.26 Oftmals werden diese
wirtschaftliche Erneuerung förderten und die Chancen            Spaltungen durch Formelkompromisse überspielt, die
auf eine friedliche Wiedervereinigung erhöhten. Zu den          suggerieren sollen, Deutschland habe eine besondere Ver-
Grundvoraussetzungen gehört die Absage an Militaris-            antwortung zur Versöhnung. Die durchaus zu begrüßende
mus und Nationalismus. Zugleich gilt es anzuerkennen,           pragmatische Bereitschaft der Bundesregierung, diploma-
dass diese Präferenzen und die strategische Kultur, für         tische Initiativen zu ergreifen und Möglichkeiten zu erkun-
die sie stehen, nicht länger eine tragfähige Grundlage für      den, auf Feldern gemeinsamer Interessen mit Russland
die strategischen Entscheidungen bilden, vor denen das          zusammenzuarbeiten, wird in diesem Zusammenhang oft
Land heute steht und wahrscheinlich in Zukunft stehen           irreführend instrumentalisiert. Aus einer derartigen Dip-
wird. Insbesondere die Vorstellung, Deutschland könne           lomatie wird im deutschen Selbstverständnis gerne die
oder solle sich zu einem De-facto-Pazifismus bekennen,          Metapher einer „Brücke“ konstruiert, die zwischen dem
der die Anwendung von Gewalt grundsätzlich als unmo-            Westen und Russland zu bauen sei. Dabei unterschlägt
ralisch verurteilt, ist Ausdruck eines Wunschdenkens, das       man, dass es die freiheitlich-demokratischen Verbünde-
sich mit der Realität nicht mehr vereinbaren lässt und von      ten waren, die seinerzeit Westdeutschland halfen, in die
dem man sich endgültig verabschieden sollte.                    Gemeinschaft freier und wohlhabender Nationen zurück-
     Überdies ist der Pazifismus nicht bloß eine praxisun-      zukehren, während Sowjetrussland eine Autokratie war,
taugliche, sondern unter den heutigen Bedingungen auch          die in Ostdeutschland einen Polizeistaat installierte. Zur
zutiefst unverantwortliche Position. Er beruht entweder         Begründung dieser Brückenfunktion beruft man sich
auf der Annahme, es gäbe keine äußeren Aggressoren, die         gerne auf das unendliche Leid, welches das Dritte Reich
gewillt und fähig sind, andere mit Waffengewalt zu unter-       vor acht Jahrzehnten an den Bürgern dieser Autokratie
werfen. Oder er hält es für besser, sich Versuchen externer     begangen hat.27 Sich selbst für alle Zeiten als Täter und ein
Mächte zu fügen, die die hart erkämpften Rechte und Frei-       anderes Volk als Opfer anzusehen, gleich wie sich dieses
heiten untergraben oder beseitigen wollen. Er kann aber         vermeintliche Opfer heute verhält oder ob es die eigene
auch bedeuten, sich darauf zu verlassen, dass ein anderer       Sicherheit bedroht, mündet aber ab einem gewissen Punkt
Akteur die Last, diese Rechte zu verteidigen, schultern         in einen maßlosen Masochismus.
wird, während man sich weiterhin der Illusion moralischer            Die Geschichte hat Deutschland viele Verantwortlich-
Makellosigkeit hingibt. Der deutsche Pazifismus umfasst         keiten zugewiesen. Aber die Verantwortung, die Lehren
alle drei Aspekte und war als politische Leitlinie möglich,     der Vergangenheit zu beherzigen, spricht die Deutschen
weil es nur wenige offensichtliche gravierende Bedrohun-        nicht von ihren Verantwortungen gegenüber der Gegen-
gen für die Sicherheit Deutschlands und Europas gab und         wart und der Zukunft frei. Mehrere Generationen nach
weil die USA gewillt und fähig waren, die Last der Verteidi-    dem Ende des Zweiten Weltkriegs und angesichts neuer
gung Deutschlands gegen reale Bedrohungen zu tragen. In         Bedrohungen am Horizont kann man mit guten Gründen
Anbetracht der sich wandelnden internationalen Politik          die Behauptung wagen, dass ein zusätzliches, ergänzen-
wird dieser Pazifismus nicht nur unmoralisch, sondern           des Verständnis der nationalen Verantwortung ange-
auch gefährlich.                                                bracht ist.
     Es gibt darüber hinaus weitere historische Fehl-
schlüsse und Begriffsverwirrungen, die derzeit die Ent-
wicklung einer zeitgenössischen Staatskunst in Deutsch-        25 Graf 2020.
land erschweren. So ist die öffentliche Meinung in Bezug       26 Vgl. Thies 2008, siehe auch Melanie Amann et al.: Der Riss, Der
auf Russland weiterhin tief gespalten. Ungefähr gleich         Spiegel, 4.5.2018.
große Teile der Bevölkerung fühlen sich von Russland           27 Typische Argumentationsformeln des Brückenbauens findet man
                                                               bei Wolfgang Büchele: Begrüßung des Vorsitzenden des Ost-Aus-
stark, ein wenig oder überhaupt nicht bedroht. Eine
                                                               schusses-Osteuropavereins der Deutschen Wirtschaft: Unternehmer-
                                                               gespräch mit Staatspräsident Vladimir Putin, 1.11.2018; https://www.
                                                               ost-aus-schuss.de/sites/default/files/pm_pdf/WB_Statement%20
24 Barry 2020.                                                 Putin%20in%20Moskau-final.pdf; oder bei Platzeck 2020.
Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außen­politische Kultur muss strategisch werden – Teil 1    211

     Dieses Verständnis ist die „Pflicht zur Verteidigung“:            viel von der persönlichen Weltsicht und den politischen
Das meint die Pflicht, jene freiheitlichen Werte und die               Prioritäten eines amtierenden Bundeskanzlers ab. Deut-
auf diesen Werten basierende westliche Ordnung zu ver-                 sche Bundeskanzler können im Vergleich zu ihren west-
teidigen, die es Nachkriegsdeutschland ermöglicht hatten,              lichen Pendants sehr lange Zeit im Amt bleiben. Konrad
sich wieder aus den Trümmern zu erheben und ein inte-                  Adenauer (1949–63) und Helmut Kohl (1982–98) waren
grales Mitglied einer westlichen Staatengemeinschaft                   die offensichtlichsten Beispiele für dieses Phänomen vor
zu werden, in der Deutschland seinen geregelten Platz                  Angela Merkel, die bei ihrem Abtritt 16 Jahre an der Macht
finden konnte.28 Die Deutschen haben nicht nur die Ver-                gewesen sein wird. Aufgrund dieser langen Amtszeiten
pflichtung, sich von Militarismus und Aggressionspolitik               kann eine Kanzlerin oder ein Kanzler die Regierung mit
fernzuhalten, sondern auch, sich daran zu erinnern, dass               ihrer/seiner Weltsicht nachhaltig prägen.
es Diktatoren gibt, die sich nicht besänftigen lassen und
ihre Ziele mit militärischen Mitteln durchsetzen wollen.
Daher sollten sie ihren Verbündeten helfen, solche Dik-
taturen davon abzuhalten, die Zukunft der Freiheit und
einer regelbasierten internationalen Ordnung zu gefähr-
den. Deutschland kommt dabei tatsächlich eine beson-
dere Rolle zu. Diese Rolle besteht nicht darin, sich der
Phantasievorstellung hinzugeben, Deutschland könne
unbegrenzt als eine historische Anomalie existieren, als
pazifistische Großmacht, der es freisteht, die Funktion
von Waffengewalt in der Staatskunst zu ignorieren. Der
strategische Ansatz, den sich Deutschland unserer Über-
zeugung nach zu eigen machen sollte, müsste anders aus-
sehen. Dabei unterschätzen wir keineswegs die beträcht-
lichen damit verbundenen politischen und strukturellen
                                                                       Abb. 2: Bundeskanzlerin Angela Merkel
Herausforderungen.

                                                                       Was Kanzlerin Merkel betrifft, so wird häufig die Ansicht
2.2 S
     trukturelle Hindernisse
                                                                       vertreten, sie habe ein Weltbild, das die Entwicklung einer
                                                                       realistischen strategischen Einstellung hemmen würde.
Die Weiterentwicklung der strategischen Kultur in
                                                                       Als Russland im Jahr 2014 die Krim annektierte, inter-
Deutschland wird nicht allein durch die Instrumentali-
                                                                       pretierte Merkel Russlands Vorgehen als eine tragische
sierung der Geschichte erschwert, sondern auch durch
                                                                       Abweichung von historischen Trends – einen Rückfall
gewichtige politische, verfassungsrechtliche, bildungs-
                                                                       ins 19. und 20. Jahrhundert, als Konflikte über Einfluss-
bezogene und institutionelle Faktoren, wenngleich diese
                                                                       sphären und Territorien gang und gäbe waren. Solch ein
sie nicht unmöglich machen. Ein signifikanter Faktor ist
                                                                       Zustand sei mittlerweile doch eigentlich „überwunden“
die Stellung und Position des Bundeskanzlers oder der
                                                                       worden. Merkel behauptete damals, „gelebte Globalisie-
Bundeskanzlerin. Im politischen Bereich hängt mitunter
                                                                       rung“ bedeute im 21. Jahrhundert, dass Staaten – wobei
                                                                       sie Russland ausdrücklich einschloss – große Heraus-
28 Die Schriftstellerin Nora Krug sprach sich 2019 in einem Inter-
                                                                       forderungen gemeinsam bewältigen müssten und dass
view mit der Deutschen Welle dafür aus, dass die Deutschen an-         alle mehr von Kooperation als von einer Strategie des
stelle der Schuld über die Vergangenheit die Verantwortung für die     Alleingangs profitierten. Ein Staat, der gegen diese Logik
Erhaltung von Freiheit und Demokratie in den Mittelpunkt stellen       der Harmonie handele, werde „sich selbst schaden“, wie
sollten; vgl. Elizabeth Grenier: Nora Krug: Replacing German ‘Guilt’   Kanzlerin Merkel in einer Rede dreimal betonte.29 Ihre
With ‘Responsibility to Defend Democracy’, Deutsche Welle, 9 Au-
                                                                       gesamte Amtszeit hindurch hat sie Russland immer wieder
gust 2019, https://www.dw.com/en/nora-krug-replacing-german-
guilt-with-responsibility-to-defend-democracy/a-49960409. In der       einen „Partner“ genannt, auch nach der Invasion der
deutschsprachigen Wiedergabe des Interviews ist diese Stelle inter-
essanterweise herausgekürzt worden; https://www.dw.com/de/nora-
krug-leben-mit-kriegserfahrung-f%C3%BCr-deutsche-immer-noch-           29 Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom
ein-trauma/a-49961913. Siehe auch die kürzlich erschienene Analyse     13.3.2014; https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/regie
zur strategischen Kultur der Deutschen bei Seppo 2021.                 rungserklaerung-von-bundeskanzlerin-merkel-443682.
212         Bastian Giegerich/Maximilian Terhalle

Krim und nach dem Mordversuch an dem russischen Dis-                      verteidigungspolitischen Fragen mehr Übereinstimmung
sidenten Alexei Nawalny im Jahr 2020. Dies ließe sich als                 aufwiese als die Koalition aus CDU/CSU einerseits und
Naivität bezeichnen; ihre Verteidiger entgegnen jedoch,                   SPD andererseits, könnte sich die Koordinierung auf
Merkels allgemeine und gut gemeinte Ermahnungen an                        diesem Gebiet einfacher gestalten.
die Adresse Russlands seien weniger naiv als vielmehr                          Diese Überlegungen zeigen, dass der Spielraum für
eine diplomatische Strategie mit der Absicht, Russland zu                 eine strategische Neuausrichtung Deutschlands poli-
isolieren und zu verurteilen, wenn klar ist, dass militäri-               tisch sehr eng werden kann. Den mangelnden politischen
sche Maßnahmen gegen das Land weder machbar noch                          Konsens innerhalb vieler deutscher Regierungen verstärkt
wünschenswert sind. Und sie weisen darauf hin, dass                       ein institutionelles Manko: Zwischen den verschiedenen
Deutschland seit 2014 eine führende Rolle bei Europas                     zuständigen Ministerien findet keine nennenswerte Koor-
diplomatischen Bemühungen gespielt hat, die Ukraine zu                    dinierung im Bereich der nationalen Sicherheitspolitik
unterstützen.30                                                           statt. Zudem gibt es kein Regierungsforum, das sich aus-
     Ein weiteres Argument ihrer Verteidiger lautet, dass                 schließlich mit diesem Thema befasst.
Kanzlerin Merkel zwar (gemäß Artikel 65 des Grund-                             Ein weiterer, oft genannter struktureller Faktor, der
gesetzes) über die sogenannte Richtlinienkompetenz                        eine strategische Neuausrichtung der deutschen Politik
verfüge und sie also die allgemeine politisch-strategische                behindert, ist die öffentliche Meinung. Denn sie schränke
Richtung des Landes vorgeben könne, derselbe Artikel                      die praktischen Alternativen ein, die der Politik zur Verfü-
jedoch ihre Entscheidungsfreiheit in Führungsfragen                       gung stehen. So wurde in einer 2020 erschienenen Analyse
erheblich einschränke. Und tatsächlich schwächt der                       behauptet, Diskussionen über eine aktivere sicherheits-
zweite Satz dieses Artikels, der das Ressortprinzip ein-                  politische Rolle Deutschlands stellten weitgehend einen
führt, laut dem ein das jeweilige Ministerium leitendes                   elitären Diskurs dar. Dieser sei abgekoppelt von den Präfe-
Kabinettsmitglied seinen Aufgabenbereich eigenverant-                     renzen der breiteren Öffentlichkeit, die einen verstärkten
wortlich steuert, die Machtstellung der Kanzlerin oder                    Aktivismus ablehne.33 Während es zweifellos zutrifft, dass
des Kanzlers ganz erheblich. Andere wiederum haben                        demokratische Regierungen einer nachhaltigen Unterstüt-
argumentiert, die achtjährige Koalitionsregierung (mit                    zung durch die Mehrheit der Bevölkerung bedürfen, ist
der SPD) habe es Kanzlerin Merkel nicht erlaubt, mili-                    nicht ersichtlich, weshalb politische Entscheidungsträger
tärische Gewalt als legitimes Instrument der Staats-                      der öffentlichen Meinung folgen sollten statt sie anzufüh-
kunst anzuerkennen, weil die SPD immer pazifistischer                     ren. Wichtiger aber ist: Auch wenn man akzeptiert, dass
geworden sei.31 Trotz der formalen Befugnisse eines                       die öffentliche Meinung politisches Handeln manchmal
deutschen Kanzlers könne selbst ein schwächerer politi-                   hemmt und manchmal fördert, stützen die vorhande-
scher Partner mit der Drohung, die Koalition platzen zu                   nen Daten keinesfalls die Behauptung, die öffentliche
lassen, seinen Willen durchsetzen. Da die Kanzlerin oder                  Meinung stehe einer realistischen strategischen Debatte
der Kanzler gegenüber einem Ministerium keine direkte                     im Wege. Bei diversen Meinungsumfragen, die in den
rechtliche Weisungsbefugnis besitzt, sondern nur die all-                 letzten Jahren durchgeführt wurden, hat sich insbeson-
gemeine politische Ausrichtung vorgeben kann, hänge                       dere bei der jüngeren Generation eine größere Toleranz
er beziehungsweise sie in hohem Maße von einer ein-                       für eine aktivere deutsche Außen- und Sicherheitspolitik
vernehmlichen Entscheidungsfindung ab.32 Sollten die                      einschließlich einer stärkeren Rolle bei der Beilegung
Bundestagswahlen im September 2021 die Bildung einer                      internationaler Konflikte abgezeichnet.34 Ganz gleich wer
Regierungskoalition ermöglichen, die in sicherheits- und                  ins Berliner Kanzleramt einziehen wird, eine konsequente
                                                                          und nachhaltige Kommunikation über Sicherheits- und
                                                                          Verteidigungspolitik bleibt ein Defizit. Diese Kommuni­
30 George Packer: The Quiet German, The New Yorker, 1.12.2014.            kation muss anstreben, die Bürgerinnen und Bürger in
31 Kate Brady: Außenpolitik könnte 2020 die deutsche Regierung
                                                                          einen Diskurs über die internationalen Bedrohungen
spalten, Deutsche Welle, 24.12.2019; https://www.dw.com/de/au%C3
%9Fenpoli-tik-k%C3%B6nnte-2020-die-deutsche-regierung-spalten/            deutscher Sicherheit und die gegenwärtige Weltlage ein-
a-51619062.                                                               zubeziehen.
32 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2018.
Jene, die Kanzlerin Merkel weniger Sympathie entgegenbringen
könnten argumentieren, dass sie mehr Spielraum in der Verteidi-
gungspolitik hätte bekommen können, wenn sie der SPD Zugeständ-
nisse in anderen innenpolitischen Bereichen gemacht hätte. Die Tat-       33 Dieter 2020.
sache, dass sie das nicht tat, könne man so interpretieren, dass sie so   34 Vgl. Rotmann/Bressan/Brockmeier 2020, siehe auch den Kom-
etwas gar nicht wollte.                                                   mentar von Ulrike Franke in diesem Heft.
Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außen­politische Kultur muss strategisch werden – Teil 1          213

                                                                      wehr München angeboten werden. Darüber hinaus findet
                                                                      man neun Studiengänge, die in der Tradition der Friedens-
                                                                      forschung stehen.36 Umso bemerkenswerter ist es, dass in
                                                                      den USA und in Israel zwei Gastprofessuren für Strategi-
                                                                      sche Studien angesiedelt sind, die vom Deutschen Aka-
                                                                      demischen Austauschdienst (DAAD) finanziert werden,
                                                                      einer gemeinnützigen Institution, die deutsche Akade-
                                                                      miker bei Forschungsprojekten im Ausland unterstützt
                                                                      (und nichtdeutsche Gastwissenschaftler bei Deutschland-
                                                                      aufenthalten). Mithin unterstützt Deutschland deutsche
                                                                      Professuren für Strategische Studien, allerdings haupt-
                                                                      sächlich außerhalb Deutschlands, in Ländern mit starken
                                                                      Traditionen in dieser Disziplin.37 Die Henry-Kissinger-Pro-
Abb. 3: Bundespräsident Gauck auf der Münchener Sicherheits­          fessur für Sicherheits- und Strategieforschung an der Uni-
konferenz 2014                                                        versität Bonn, die aus Mitteln des Auswärtigen Amts und
                                                                      des Bundesverteidigungsministeriums finanziert wird,
                                                                      und das assoziierte Center for Advanced Security, Strategic
Im Kontext der Öffentlichkeitsdebatte ist zu verzeichnen,             and Integration Studies (CASSIS), das auch mit der DAAD-
dass Deutschland derzeit ein relativ gleichförmiges akade-            Position in Israel verbunden ist, könnten ein vielverspre-
misches und institutionelles Umfeld aufweist, welches den             chender erster Schritt sein. Eine weitere bemerkenswerte
Diskurs über Alternativen zur gegenwärtigen Sicherheits-              Ausnahme ist das Institut für Sicherheitspolitik an der
und Verteidigungspolitik außerordentlich einschränkt. In              Universität Kiel, an dem in jüngster Zeit mehrere Disser-
seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz im                  tationen mit sicherheitspolitischem Schwerpunkt verfasst
Jahr 2014, die vor allem wegen der Forderung, Deutsch-                wurden und dessen Direktor zugleich als Herausgeber von
land müsse „mehr Verantwortung“ übernehmen, für                       SIRIUS fungiert, der wichtigsten deutschsprachigen Zeit-
Furore sorgte, behauptete der damalige Bundespräsident                schrift für strategische Analysen.
Joachim Gauck, Deutschland brauche, „um seinen Weg                         Die Forschungsarbeiten vieler einflussreicher deut-
in schwierigen Zeiten zu finden, vor allem geistige Res-              scher Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf dem
sourcen – Köpfe, Institutionen, Foren“. Er sprach damit               Gebiet der internationalen Beziehungen basieren auf dem
ausdrücklich die deutschen Hochschulen an, die eine                   Konzept der Globalen Ordnungsgestaltung (Global Gover-
regelrechte Abneigung gegen die Beschäftigung mit stra-               nance).38 Unter diesem Paradigma werden politische
tegischen und sicherheitspolitischen Themen entwickelt                Prozesse aus der Perspektive globaler Probleme und der
haben. Er führte genauer aus: „Ich frage mich: Ist es nicht           daraus folgenden vermeintlichen Interessengleichheit der
an der Zeit, dass die Universitäten mehr anbieten als                 Staatenwelt betrachtet. Aus diesem Blickwinkel dreht es
nur eine Handvoll Lehrstühle für die Analyse deutscher                sich beim Studium der internationalen Beziehungen vor
Außenpolitik?“35                                                      allem darum, rationale Problemlösungen für transna-
     Mehr als sieben Jahre nach Gaucks Bemerkungen                    tionale Herausforderungen wie Klima, Gesundheit oder
gibt es noch immer keinen einzigen Fachbereich an einer
deutschen Universität, der systematisch Lehrveranstal-
tungen auf dem Gebiet „Strategische Studien“ anbietet.                36 Vgl. Deutscher Akademischer Austauschdienst: Hochschulkom-
Eine Anfang 2021 durchgeführte Datenbanksuche zu                      pass; https://www2.daad.de/deutschland/studienangebote/studien
12.500 Studiengängen an Volluniversitäten in Deutsch-                 gang/de/.
                                                                      37 Der DAAD finanziert eine Professur für Strategische Studien an
land erbrachte, dass es lediglich einen Studiengang War
                                                                      der Johns-Hopkins-Universität in Washington, D.C. und eine Professur
Studies (an der Universität Potsdam) sowie zwei weitere               zu Strategie, Diplomatie und internationaler Sicherheitspolitik am
Studiengänge gibt, die ausdrücklich Abschlüsse in Secu-               Interdisciplinary Centre (IDC) der Universität Herzliya, Israel.
rity Studies vorsehen und von der Universität der Bundes-             38 Damit soll natürlich nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass
                                                                      die Global-Governance-Richtung innerhalb der Wissenschaftsdiszi-
                                                                      plin „Internationale Beziehungen“ in der Essenz eine deutsche Do-
35 Vgl. die Rede von Bundespräsident Joachim Gauck aus Anlass der     mäne sei. Das ist keinesfalls der Fall, denn die Beiträge aus der angel-
Eröffnung der Münchener Sicherheitskonferenz am 21.1.2014; https://   sächsischen Welt sind hier sehr umfangreich. Der Punkt ist nur der,
www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/            dass diese Schule in der deutschen akademischen Diskussion einen
Reden/2014/01/140131-Muenchner-Sicherheitskonferenz.html.             geradezu hegemonialen Charakter hat.
Sie können auch lesen