Verteidigung ist Pflicht - Deutschlands außen politische Kultur muss strategisch werden
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SIRIUS 2021; 5(3): 203–226 Aufsatz Bastian Giegerich/Maximilian Terhalle* Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außen politische Kultur muss strategisch werden – Teil 1 https://doi.org/10.1515/sirius-2021-3002 German military capabilities to do so. Years of neglect and structural underfunding, however, have hollowed out Ger- Kurzfassung: Der Aufstieg oder Wiederaufstieg revisio- many’s armed forces. Much of the political leadership in nistischer, repressiver und autoritärer Mächte bedroht Berlin has not yet adjusted to new realities or appreciated die westliche, durch die USA garantierte internationale the urgency with which it needs to do so. Ordnung, die den Aufstieg und die Sicherheit der Bun- desrepublik Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg Keywords: Germany, defence policy, alliance policy, Chan- gewährleistet hat. Zu einem Zeitpunkt, wo die USA zuneh- cellor Angela Merkel, Russia, USA, China mend durch den Aufstieg Chinas in Asien absorbiert sind (wobei ein Krieg zwischen China und den USA nicht aus- geschlossen werden kann), muss Europa in der Lage sein, sich im Rahmen der NATO gegen eine konventionelle 1 E inleitung Aggression Russlands weitgehend alleine zu verteidigen. Die Sicherheitspolitik Deutschlands ist den strategischen Dabei sind substantielle Beiträge Deutschlands unersetz- Herausforderungen, denen sich das Land heute gegen- lich. Jahre der Vernachlässigung und der strukturellen übersieht, nicht länger gewachsen. Der Aufstieg bezie- Unterfinanzierung haben jedoch die deutschen Streit- hungsweise die Wiederkehr revisionistischer, repressiver kräfte ausgehöhlt. Die politische Führung in Berlin tut und autoritärer Mächte wie China und Russland bedroht sich schwer, diese neue Lage und die Dringlichkeit einer in fundamentaler Weise die westliche internationale Neuausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik zu Ordnung unter Führung der USA, auf der die Sicherheit akzeptieren. und der Wohlstand Deutschlands seit der Nachkriegszeit Schlüsselwörter: Deutschland, Verteidigungspolitik, beruhen. Viele der traditionellen und bequemen Annah- Bündnispolitik, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Russ- men über Deutschlands Sicherheit und seine Rolle in land, USA, China Europa und der Welt gelten daher nicht mehr. Doch ein Großteil der politischen Bühne in Berlin hat sich noch nicht auf diese neue Realität eingestellt oder die Dring- Abstract: The rise or resurgence of revisionist, repressive lichkeit erkannt, mit der sie reagieren sollte. and authoritarian powers threatens the Western, US-led Seit vielen Jahrzehnten beklagen Deutschlands Bünd- international order upon which Germany’s post-war nispartner die Tatsache, dass sich Bonn (und später Berlin) security and prosperity were founded. With Washing- für seine eigene Verteidigung allzu sehr auf US-Streit- ton increasingly absorbed by China’s rise in Asia (and a kräfte verlasse. Sie erheben den Vorwurf, dass Deutsch- US-China war not unlikely a possibility), Europe must be land in sicherheitspolitischer Hinsicht ein Trittbrettfah- able to defend itself against Russia, and will depend upon rer sei. Diese Kritik ist einerseits zutreffend, andererseits aber auch unfair. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte für Washington der wirtschaftliche Wiederaufbau Europas Anmerkung: Dieser Aufsatz ist die gekürzte und übersetzte Fassung Vorrang, und dabei stand deutsche Wirtschaftskraft im des im Juni 2021 erschienenen Adelphi Papers des IISS mit dem Titel Zentrum. Daher sollten die Nachbarn Deutschlands darauf The Responsibility to Defend: Rethinking German Strategic Culture. vertrauen können, dass ein wiederaufgebautes Deutsch- Die Veröffentlichung erfolgt mit Erlaubnis des Verlags Taylor & Fran- cis. land ihre Sicherheit nie mehr bedrohen würde. Die Anwe- senheit einer beträchtlichen Anzahl amerikanischer, bri- *Kontakt: Dr. Bastian Giegerich, Director of Defence and Military tischer und französischer Truppen auf westdeutschem Analysis am IISS; E-Mail: Bastian.Giegerich@iiss.org Boden diente daher dazu, andere Europäer zu beruhigen Prof. (a. D.) Dr. Maximilian Terhalle, London School of Economics; und den Wiederaufbau des Kontinents zu unterstützen. E-Mail: m.terhalle@lse.ac.uk
204 Bastian Giegerich/Maximilian Terhalle Außerdem lagen die Deutschen lange richtig mit der – deren Produktion ihrerseits vom leichten Zugang zu Roh- etwas zynischen – Annahme, dass die USA weiterhin stoffen abhängt. Die westliche Ordnung hat den Wohl- ein verlässlicher Garant der Sicherheit Deutschlands stand, die Freiheit und Sicherheit Deutschlands gefördert und Europas bleiben würden, auch wenn US-Politiker und geschützt. Sie hat auch maßgeblich zu Deutschlands sich noch so sehr über die unvertretbar hohen Beiträge Fähigkeit beigetragen, eine bedeutende Rolle auf der Washingtons zur Verteidigung Deutschlands echauffieren Weltbühne zu spielen.1 Jede Störung dieser Ordnung stellt mochten. Immerhin lag dies im Eigeninteresse Washing- zwangsläufig eine Bedrohung für deutsche Interessen dar, tons und die USA konnten es sich auch leisten. insbesondere wenn diese Störung von einem autoritären Diese Annahme ist heute nicht mehr so selbstver- Regime ausgeht, für das die politischen, rechtlichen und ständlich, wie sie es früher einmal zu sein schien. Zum bürgerlichen Werte Deutschlands ein rotes Tuch sind. einen hat die Regierung von Donald Trump (2017–2021) Chinas Aufstieg stellt auch wegen einer grundlegen- gezeigt, dass ein US-Präsident eine offen feindselige Ein- den, unvermeidlichen Tatsache eine indirekte, aber unmit- stellung gegenüber nominellen europäischen Verbünde- telbar sicherheitspolitische Herausforderung für Berlin ten an den Tag legen und sogar mit einem Austritt der USA dar: Washington kann es nicht gleichzeitig mit einem aus der Nato drohen kann. Zum anderen verändert der modernen, großen und fähigen militärischen Gegner in Aufstieg Chinas das gesamte internationale Gefüge und Asien – China – aufnehmen und weiterhin den Großteil der stellt indirekt Washingtons Garantien für die Verteidigung Lasten für die Verteidigung Europas schultern.2 Das anhal- Europas in Frage. tende Wachstum der Streitkräfte Chinas wird diesem stra- Chinas spektakuläres Wirtschaftswachstum, seine tegischen Dilemma eine erhöhte Dringlichkeit verleihen politischen und militärischen Ambitionen stellen und damit Washingtons Sicherheitsgarantie für Europa dadurch, dass sie die westliche Ordnung herausfordern, an Glaubwürdigkeit verlieren lassen. Gegenwärtig hätten eine langfristige Bedrohung für deutsche Interessen dar. die europäischen NATO-Mitglieder Mühe, im Falle eines Unter Präsident Xi Jinping ist China darauf aus, eine begrenzten konventionellen Kriegs mit Russland ihre Ost- globale Führungsrolle als Fertigungsstandort für wichtige flanke zu verteidigen, ohne US-Fähigkeiten in Anspruch Hightech-Produkte einzunehmen und ein Kraftzentrum zu nehmen. Das Ersetzen dieser Fähigkeiten durch Euro- der Innovation zu werden, während es zugleich globale päer wäre mit erheblichen Kosten verbunden und würde Normen in einer Vielzahl von Bereichen festzulegen ver- zwischen zehn und 20 Jahren dauern. Im Falle einer mili- sucht. Standardsetzung, Fertigung und Innovation würden tärischen Konfrontation zwischen den USA und China, Peking die Kontrolle über bedeutende Elemente des wirt- insbesondere einer, die zu einem umfassenden Konflikt schaftlichen Austauschs geben. Diese Politik steht auch führte, wäre Europa verwundbar für Bestrebungen Russ- mit einer weiteren Ambition von Xi in Zusammenhang, lands, sich etwa das Baltikum oder andere Gebiete gewalt- nämlich dem Bestreben, die chinesischen Streitkräfte in sam einzuverleiben. Wenn es zu einer solchen Landnahme die Lage zu versetzen, Kriege zu führen und zu gewinnen. käme und diese nicht sofort rückgängig gemacht würde, Ziel ist es dabei, die USA als maßgeblichen sicherheitspoli- könnte sie zum Zerfall der NATO führen. tischen Akteur im Indo-Pazifik zu verdrängen, die USA und In Anbetracht von Chinas nicht zu leugnendem Auf- ihre Verbündeten militärtechnologisch abzuhängen und stieg als militärischer Rivale der USA muss Europa in der chinesische Interessen weltweit voranzubringen. Diese Lage sein, sich weitgehend selbst gegen Russland zu ver- Herausforderung westlicher Interessen wird zunächst im teidigen. Aufgrund von Deutschlands Größe, Lage und Indo-Pazifik am sichtbarsten und am folgenreichsten sein, Wirtschaftskraft ist es unvermeidlich, dass die deutsche sie wird sich jedoch zwangsläufig auch auf die übrige Welt Bundesregierung bei diesen Bemühungen eine zentrale auswirken. Die westliche Ordnung und die Werte, die sie Rolle spielt. Gegenwärtig ist Deutschland jedoch ein weit- verkörpert, beruhen auf der Hegemonie und der Macht des gehend abwesender und ineffektiver Akteur bei den Bemü- Westens. Der relative Niedergang westlicher Macht führt hungen, glaubhafte europäische Selbstverteidigungsfähig- zwangsläufig dazu, dass diese Ordnung andauernd und keiten aufzubauen. Wenn sich nichts an dieser Einstellung möglicherweise erfolgreich angegriffen wird. ändert, wird daraus langfristig eine gravierende Bedro- Deutschland hat von der Existenz einer westlichen hung für die Sicherheit Deutschlands erwachsen. Ordnung unter Führung der USA profitiert, die (größten- teils) den offenen und friedlichen Austausch von Gütern und Ideen gefördert hat und es nach wie vor tut. Die deut- 1 Mehr zu diesem Thema findet sich bei Kaim/Stelzenmüller 2013, sche Wirtschaft ist in besonders hohem Maße abhängig besonders S. 12–17. vom sicheren weltweiten Transport ihrer Exportgüter, 2 Siehe auch den Beitrag von Elbridge Colby in diesem Heft.
Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außenpolitische Kultur muss strategisch werden – Teil 1 205 Bislang gibt es nur wenige Anhaltspunkte dafür, dass gen herunter, die von illiberalen, autoritären Staaten wie die politischen Entscheidungsträger Deutschlands oder China und Russland für Deutschland ausgehen. Viele dif- die Bevölkerung im Allgemeinen die tektonische Natur des famieren dabei auch die militärische Macht der USA. In Wandels begriffen haben, die durch Chinas Aufstieg ent- seinen am wenigsten erbaulichen Erscheinungsformen steht. Das Gleiche gilt für die Bereitschaft, den Wandel der lässt dieser Diskurs den Wunsch erkennen, die Vorteile europäischen Verteidigungsrealitäten zu akzeptieren und einer durch die US-amerikanische Militärmacht abgesi- die dringende Notwendigkeit anzuerkennen, dass man cherten westlichen Weltordnung zu genießen, ohne einen sich auf eine schnell verändernde Realität einstellen muss. nennenswerten Beitrag zur Verteidigung dieser Ordnung Tatsächlich kennzeichnet ein beunruhigendes Ausmaß zu leisten. Wie ein roter Faden zieht sich durch den deut- an Ambivalenz den Diskurs in Deutschland, so als gäbe schen sicherheitspolitischen Diskurs die Vorstellung, es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den USA militärische Gewalt und Machtpolitik seien irgendwie und deren illiberalen, undemokratischen Gegnern. Einige anachronistische Überreste einer untergegangenen alten hängen dem Irrglauben an, Deutschland (und seine euro- Weltordnung oder zumindest einer Welt, aus der sich päischen Verbündeten) könnten irgendwie einen gedeih- Deutschland nach 1945 klugerweise zurückgezogen hat. lichen und ruhigen Mittelweg zwischen „rivalisierenden Es gibt aber auch maßgebliche Stimmen innerhalb Supermächten“ einschlagen. Diese Einstellung scheint auch der politischen Führung, die den Wunsch geäußert haben, Bundeskanzlerin Angela Merkel zu teilen, die im Januar Deutschland möge seine Trägheit in Strategiefragen über- 2021 im Anschluss an eine Rede Xis, der sie beipflichtete, winden. Und es solle intensiver darüber nachgedacht sagte: „Ich würde sehr gern die Bildung von Blöcken ver- werden, was notwendig wäre, um Sicherheit im Bündnis meiden … Ich glaube nicht, dass man vielen Gesellschaften zu gewährleisten. Im Jahr 2020 etwa hat Verteidigungsmi- damit gerecht würde, wenn wir sagen würden, dies sind die nisterin Annegret Kramp-Karrenbauer die deutschen Teil- Vereinigten Staaten und dort ist China und wir scharen uns nehmer der Münchner Sicherheitskonferenz eindringlich entweder um das eine oder das andere Land. Dies ist nicht daran erinnert, dass der damalige deutsche Außenminis- mein Verständnis dessen, wie es sein sollte.“3 ter Frank-Walter Steinmeier im Jahr 2014 auf demselben Das Wort „Block“ ist ein aufgeladener Begriff, der Forum erklärt hat, Deutschland müsse bereit sein, „sich Assoziationen mit dem Kalten Krieg weckt. Im Grunde außen- und sicherheitspolitisch früher, entschlossener genommen sagte Merkel, dass sie sich nicht auf eine Seite und substantieller einzubringen“.5 Und weil Berlin diesem stellen wolle, weil dies mit dem Prinzip des Multilatera- Bekenntnis keine Taten habe folgen gelassen, forderte sie: lismus unvereinbar sei. Für diese Aussage ist sie wieder- „Dem Münchner ‚Konsens der Worte‘ muss ein ‚Konsens holt und zu Recht kritisiert worden. Constanze Stelzen- der Taten‘ folgen.“6 Wolfgang Schäuble, ein altgedienter müller etwa hat darauf hingewiesen, dass der Wunsch deutscher Politiker und Bundestagspräsident, merkte an, Deutschlands, eine Balance zu halten zwischen Europa Deutschland sei keine „Trauminsel“, die es sich leisten und den USA einerseits und China und Russland anderer- könne, den Voraussetzungen seiner „Freiheit und seines seits, „die europäische Einheit und den transatlantischen Wohlstands“ gleichgültig gegenüberzustehen.7 Zusammenhalt untergräbt, die Partner und Verbündeten Solche Aussagen kommen zwar bei der recht kleinen Deutschlands verstimmt … [D]ie Regierenden in Deutsch- Fachgemeinschaft, die sich in Berlin außerhalb der Regie- land wissen dies, machen aber trotzdem weiter.“4 Das Zitat rung mit Strategiefragen befasst, gut an und werden hin von Frau Merkel ist kein Einzelfall. Abgesehen von einigen bemerkenswerten Ausnahmen ist der gegenwärtige sicher- heitspolitische Diskurs in Deutschland, vor allem in der 5 Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich Öffentlichkeit, durch einen grundlegenden Mangel an der 50. Münchner Sicherheitskonferenz am 1.2.2014; https://www. Ehrlichkeit gekennzeichnet, wie gut gemeint es manch- auswaertiges-amt.de/de/newsroom/140201-bm-muesiko/259554. 6 Rede der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp- mal auch sein mag. Er basiert häufig auf der – ausdrück- Karrenbauer auf der Münchener Sicherheitskonferenz am 15.2.2020; lichen oder unausgesprochenen – Annahme, Deutschland https://www.bmvg.de/de/aktuelles/muenchner-sicherheitskonfe müsse nicht in der Lage sein, sich selbst oder seine nahen renz-2020-akk-wir-sind-der-westen-182706. Bündnispartner zu verteidigen. Er spielt die Bedrohun- 7 David E. Sanger/Steven Erlanger: ‘The West Is Winning,’ Pompeo Said. The West Wasn’t Buying It, New York Times online, 15.2.2020; sowie „Wir können uns nicht wegducken“: Schäuble fordert stärkeres militärisches Engagement Deutschlands, Der Tagesspiegel, 31.1.2020; 3 Stuart Lau/Laurenz Gehrke: Merkel Sides With Xi on Avoiding Cold s. a. Christoph von Marschall: „Heraushalten ist keine Option“: War Blocs, Politico.eu, 26.1.2021. Schäuble fordert stärkeres militärisches Engagement Deutschlands, 4 Stelzenmüller 2021. Der Tagesspiegel, 29.10.2019.
206 Bastian Giegerich/Maximilian Terhalle und wieder sogar in Teilen der Ministerialbürokratie bei- reichend strategisch durchdacht, ihr fehlt vor allem die fällig aufgenommen. Sie haben jedoch den sicherheits- Anbindung an die strategische Realität einer sich rapide politischen Kurs der Regierung Merkel nicht wesentlich verändernden internationalen Umwelt. Deutschland wird beeinflusst. Kanzlerin Angela Merkel selbst hat weder gewiss niemals die gleiche strategische Kultur wie die eine konzeptionell schlüssige Antwort auf Deutschlands USA, Frankreich oder Großbritannien besitzen, sollte sich sicherheitspolitische Herausforderungen formuliert noch aber bemühen, eine mit den genannten Nationen zumin- sich verbindlich dazu geäußert, welchen strategischen dest kompatible Kultur zu entwickeln. Nur sie wird es Zwecken die militärische Macht Deutschlands dienen soll. den Deutschen erlauben, internationale Angelegenheiten Stattdessen verweist sie auf die Tatsache, dass ihre unter strategischen Gesichtspunkten zu betrachten und Regierungskoalition die Bundeswehr zu nicht weniger als reale Bedrohungen und Herausforderungen als solche zu 14 Auslandseinsätzen zur militärischen Krisenbewältigung erkennen. Dieser Anpassungsprozess muss rasch vonstat- entsandt hat. Deutschland habe damit einen größeren tengehen. Die Bedrohungen der Sicherheit Deutschlands Beitrag zur globalen Sicherheit geleistet als in den Jahren vor durch ein selbstbewusst auftretendes Russland und ein ihrer Kanzlerschaft. Diese Einsätze sind zweifellos wichtig, aufsteigendes China sind akuter, als es viele sich einzu- doch liefert der Hinweis auf sie keine geeignete Antwort gestehen bereit sind. Deshalb braucht Deutschland einen auf die direkten sicherheitspolitischen Herausforderungen, schnellen Paradigmenwechsel in seinem strategischen denen sich Deutschland heute gegenübersieht. Obwohl Denken, sozusagen eine zeitgenössische Version dessen, Kanzlerin Merkel während ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft was Quentin Skinner die „machiavellistische Revolution“ auf unterschiedlichen Gebieten Bedeutendes geleistet hat, genannt hat.9 waren bei der Ausarbeitung eines sicherheitspolitischen Konzepts, das auf Basis einer nüchternen Analyse der Her- ausforderungen eine schlüssige strategische Vision erken- nen lässt, keine Fortschritte zu verzeichnen. In diesem Beitrag wollen wir darlegen, warum es dringend geboten ist, dass sich die politischen Entschei- dungsträger in Deutschland einen – wie wir es nennen – „strategischen Ansatz“ zu eigen machen und diesen auch in konkretes Handel umsetzen sollten. Mit „strategischem Ansatz“ (im Original strategic mindset) meinen wir ein Bewusstsein dafür, dass internationale Angelegenheiten nach wie vor nicht bloß durch Missverständnisse, sondern durch Machtpolitik und echte nationale Interessenkon- flikte geprägt sind; dass Staaten letztlich selbst für ihre Verteidigung verantwortlich sind und dass militärische Macht weiterhin eine reale und auch legitime Kompo- nente der Staatskunst ist. Dies gilt unabhängig davon, ob militärische Macht (hauptsächlich) als ein glaubwürdiges Abschreckungsmittel oder (gelegentlich und im geringst- möglichen Ausmaß) als ein Instrument der Gewaltanwen- dung eingesetzt wird im Bestreben, nationale Interessen und die Interessen anderer freiheitlich-demokratischer Abb. 1: Machiavelli nach einer zeitgenössischen Marmorbüste Staaten mit ähnlichen Grundüberzeugungen zu wahren. Deutschland besitzt zwar bereits eine „strategische Kultur“ im Sinne der von einer Gesellschaft geteilten Ideen und Präferenzen bezüglich des Einsatzes von Waffenge- walt und der als akzeptabel erachteten außenpolitischen sie basieren aber auf der Beobachtung und Teilnahme des deutschen Handlungsweisen.8 Leider ist diese Kultur aber nicht hin- strategischen Diskurses. 9 Skinner 1981, 31; siehe auch Pocock 1975. Raymond Aron hat darge- legt, dass der andauernde Wert von Machiavellis „Revolution“ darin liegt, dass das Interesse an seinem Werk ‘always thrives when order is 8 Vgl. Biehl/Giegerich/Jonas 2013, die dort geäußerten Einschätzun- challenged … [It is] a rise in consciousness coinciding with a period in gen zur strategischen Kultur Deutschlands sind natürlich subjektiv, which order … becomes the issue at stake,‘ Aron 1983, 244.
Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außenpolitische Kultur muss strategisch werden – Teil 1 207 Niccolò Machiavelli ist vor allem bekannt wegen des Rats, Werten basierenden westlichen Staatengemeinschaft gab den er Herrschern der italienischen Renaissance gab: Sie Deutschland die Chance zum Wiederaufbau und zur Mit- sollten das klassische Ideal des virtus (wonach Mäßigung gliedschaft in dieser Wertegemeinschaft. Diese Staaten- und Gerechtigkeit die Leitprinzipien des Regierungshan- gemeinschaft mit der von ihr getragenen freiheitlichen delns sein sollten) zugunsten des kontextabhängigen Ordnung ist heute abermals bedroht. Die Verteidigung Begriffs virtù aufgeben, der für die Leser Machiavellis dieser Ordnung, die Freiheit und Wohlstand Deutsch- die Praxis amoralischer Machtpolitik beinhaltete. Damit lands gefördert hat, würde eine Verteidigung sowohl der meinte er, zeitgenössische Herrscher sollten ihre veralte- heutigen deutschen Werte als auch der deutschen Interes- ten Methoden aufgeben, die ihnen in gefährlicher Weise sen darstellen. Deutschlands derzeitige Herausforderung Selbstbeschränkungen abverlangten, um ihre Interessen besteht darin, seinen Einsatz für freiheitliche Werte mit und Werte gegen diejenigen zu verteidigen, die sich kei- einem Verständnis für die Rolle von Macht einschließlich nerlei Einschränkungen auferlegen würden. Mit anderen militärischer Macht zu verbinden. Worten, die virtù, wie Machiavelli sie verstand, gab Herr- Im Folgenden gehen wir der Frage nach, warum viele schern Überlebenstechniken für gefährliche politische Deutsche die Rolle ihres Landes in der Welt so sehen, wie Übergangsphasen an die Hand.10 Zwar mögen einige sie es tun, und schlagen andere, konstruktivere Sichtwei- Elemente von Deutschlands Selbstverständnis als Zivil- sen der Geschichte und der Verantwortlichkeiten Deutsch- macht – ein von dem Analytiker Hanns W. Maul geprägter lands vor. Wir analysieren die Ursachen und Folgen der Begriff – weiterhin eine nützliche intellektuelle Grundlage gegenwärtigen Defizite und Unzulänglichkeiten bei den für die allgemeine außenpolitische Praxis bereitstellen,11 Verteidigungsausgaben und im militärischen Beschaf- aber Berlin wird sich mitunter Teile der intellektuellen fungswesen. Wir betrachten die von China und Russland Revolution Machiavellis zum Vorbild nehmen müssen, um ausgehenden Bedrohungen aus einer dezidiert strategi- den heutigen und künftigen Herausforderungen gewach- schen Perspektive, und wir zeigen auf, wie Deutschland zu sen zu sein. Deshalb ist es geboten, die nicht mehr zeit- Europas Selbstverteidigungsfähigkeit einen bedeutenden gemäße sicherheitspolitische Konzeption Deutschlands Beitrag leisten könnte, unter anderem auch dadurch, dass zu revidieren. es sich an der Entwicklung nicht-konventioneller, effekti- Wir fordern nicht, dass Deutschland eine amoralische, verer nuklearer Abschreckungsmittel beteiligt. zynische oder militaristische Außen- und Sicherheitspoli- Die Deutschen haben dabei sowohl die Chance als tik betreiben soll. Vielmehr meinen wir, Berlin muss zur auch die Pflicht, eine einfache Frage zu beantworten: In Kenntnis nehmen, dass andere mächtige Staaten dies Anbetracht der Rückkehr des internationalen Systems zu tun – und diese Staaten stellen freiheitliche Werte und Rivalität und der Möglichkeit von Großmachtkonflikten die westliche Ordnung in Frage. Zur Verteidigung libera- und regionalen Konflikten – ausgelöst durch Großmächte ler Zwecke sind daher auch Mittel, die letztlich von glaub- und infolge des nachlassenden Engagements für die würdiger militärischer Macht gestützt werden, sowohl regelbasierte Ordnung – stellt sich die Frage, wie und für gerechtfertigt als auch notwendig. Deutschland sollte welche Zwecke Deutschland seine Machtressourcen ein- seine Macht mit moralischer Zweckbindung verknüpfen setzen sollte.12 Jetzt, da sich die Amtszeit von Bundeskanz- und lernen, Machtmittel im Sinne dieser Zwecke einzu- lerin Merkel ihrem Ende zuneigt, sollte die neue politische setzen. Die nationale historische Verantwortung Deutsch- Führung Deutschlands in der deutschen Bevölkerung eine lands darf nicht zu einer dogmatischen Ablehnung jegli- ernsthafte, realistische und besonnene Debatte über die cher militärischen Gewaltanwendung werden. Sie sollte Stellung des Landes in der Welt und seine globalen Ver- vielmehr über die kategorische Ablehnung der verderbli- antwortlichkeiten anstoßen. Diese Debatte muss insbe- chen Doktrin des Militarismus hinausgehen und dabei die sondere die aufziehenden Bedrohungen für die Sicherheit Verteidigung der freiheitlichen Werte des Westens und der und den Wohlstand berücksichtigen, die die Deutschen damit verbundenen internationalen politischen Ordnung gegenwärtig als selbstverständlich betrachten. Und sie im Auge behalten. Das Deutsche Reich wollte diese Werte muss auch die Frage beantworten, wie Deutschland einst zerstören, was ihm nicht gelang und zur Niederlage diesen Bedrohungen in der sich abzeichnenden Epoche im Zweiten Weltkrieg führte. Der Sieg der auf ebendiesen entgegentreten sollte. Es gibt keine Zeit mehr zu verlieren. 10 Vgl. Skinner 1981, Kapitel 18; ohne auf Machiavelli einzugehen, hat auch Hans-Peter Schwarz ähnliche Vorstellungen entwickelt, vgl. 12 Wir haben diese Frage bereits im Jahr 2016 angerissen, vgl. Gie- Schwarz 1985, 165. gerich/Terhalle 2016, siehe auch Kundnani 2014 sowie Mangasarian/ 11 Maull 2007. Techau 2017, von Marschall 2018 und von Bredow 2020.
208 Bastian Giegerich/Maximilian Terhalle 2 D ie Ursachen der strategischen erfüllt. Mitunter heißt es, Deutschland habe nur eine Defizite Deutschlands unterentwickelte beziehungsweise überhaupt keine stra- tegische Kultur.16 Diese Sichtweise ist nicht hilfreich, weil sie das Problem unterschätzt. Besäße Deutschland keine Es ist leicht nachzuvollziehen, warum Außenstehende strategische Kultur, ließe sich das Ideenvakuum relativ Deutschland oftmals als ein Musterbeispiel eines moder- leicht füllen. Tatsache aber ist, dass es sehr wohl eine vor- nen Landes mit einer reifen Demokratie ansehen. John herrschende strategische Kultur besitzt – die allerdings Kampfners Buch Why the Germans Do It Better: Notes in Präferenzen für Regierungshandeln mündet, die den from a Grown-Up Country ist ein typisches Beispiel einer Anforderungen an eine moderne Sicherheits- und Vertei- solchen Bewunderung „von außen“. Der Autor behauptet, digungspolitik nicht gerecht werden. Dies bedeutet, dass die Erfolge Deutschlands verdankten sich traditioneller es mühsamer sein wird, sie zu ersetzen oder zu korrigie- „deutscher Tüchtigkeit“ in Verbindung mit Bescheidenheit ren, als bloß eine Lücke zu schließen. und dezenter Kompetenz.13 Die ausländischen Bewunde- Nach Auffassung von Ellis S. Krauss und Hanns W. rer Berlins haben nicht ganz unrecht: in innenpoliti- Maull lassen sich die strategischen Präferenzen Deutsch- schen Angelegenheiten macht Deutschland tatsächlich lands mit drei Schlagwörtern charakterisieren: „nie vieles richtig. Es zeichnet sich durch eine große Reife des wieder“, womit die Ablehnung jedweden militärischen Urteilsvermögens aus, und seine Bündnispartner könnten Expansionismus und Totalitarismus gemeint ist, „nie viel von ihm lernen. Hinsichtlich der Fähigkeit jedoch, alleine“, was heißen soll, jede Aktion müsse in multi- strategischen Herausforderungen auf der internationalen laterale Strukturen eingebettet sein; und „Politik vor Bühne auf ehrliche und realistische Weise entgegenzu- Gewalt.“17 Während sich diese Maximen in der Theorie treten, würden nur wenige ausländische Beobachter der wunderbar anhören, haben sie in der Praxis dazu geführt, Aussage zustimmen, die Deutschen „machen es besser.“ dass es laut dem maßgeblichen Narrativ der deutschen Während viele Deutsche den sicherheitspolitischen Kurs Sicherheitspolitik grundsätzlich keine militärischen ihres Landes – geprägt durch eine reflexartige Abnei- Lösungen gibt.18 Jedes Mal, wenn dieses Dogma in Wider- gung gegen jeglichen vermeintlichen Bellizismus – für spruch zur Realität gerät, passt sich die sicherheitspoli- fortschrittlicher halten als den ihrer Verbündeten, wäre tische Debatte in Deutschland ein wenig an und ermög- „unreif“ wohl eine zutreffendere Beschreibung. licht parlamentarische Mandate für die Entsendung von Militärische Gewalt ist eng mit der Ausübung nationa- Bundeswehrangehörigen oder militärische Unterstützung ler Macht verbunden und ein Schlüsselaspekt der natio- für bedrängte Partner. Aber wirklich in Frage gestellt wird nalen Strategie. Auch wenn Waffengewalt nur für eine es nicht. begrenzte Gruppe von Problemen direkt relevant ist, ist Ein reaktives Durchwursteln, wenn frühere Ent- sie unter bestimmten Umständen Teil der Lösung, oftmals scheidungen nicht länger funktionieren, mag akzeptabel in Verbindung mit anderen Hebeln staatlicher Macht. sein, wenn keine strategisch relevanten Bedrohungen Diese grundlegende Tatsache wird in London, Paris und vorhanden sind. Aber diese Vorgehensweise reicht nicht Warschau, aber auch in Peking, Moskau und Washington, aus, wenn Deutschland mit grundlegenden Bedrohungen D.C., gut verstanden. Der sicherheitspolitische Diskurs seiner Sicherheit konfrontiert ist. Die bisherige Strategie- in Deutschland hingegen bleibt ein Sonderfall, weil der debatte ist unter anderem deshalb weitgehend unpro- wesensmäßige Zusammenhang zwischen Diplomatie und duktiv geblieben, weil allzu viele Deutsche ein unzu- der Anwendung von Waffengewalt, der eine der Grundla- treffendes und nicht hilfreiches Verständnis der Lehren gen der Staatskunst bildet, nicht erkannt oder sogar offen aus der Geschichte ihres Landes teilen. So wird allzu oft abgelehnt wird.14 Schon 1961 hat Sir Michael Howard in aus einer lobenswerten Ablehnung des Militarismus ein einer Besprechung von Helmut Schmidts Buch Verteidi- stillschweigender oder ausdrücklicher Pazifismus, der gung oder Vergeltung: Ein deutscher Beitrag zum strategi- sich als verantwortungsvolle und moralische Alternative schen Problem der NATO für die vom IISS veröffentlichte zum Einsatz militärischer Gewalt allgemein präsentiert Zeitschrift Survival behauptet, dass eine „Renaissance der strategischen Studien in Deutschland überfällig ist“.15 Leider, so muss man sagen, hat sich seine Hoffnung nicht 16 So konnte man im Economist lesen, dass die USA und andere westliche Staaten die Abwesenheit jeglicher strategischen Denkkul- tur in Deutschland bemängeln, vgl. ‘Germany Is Not About to Invigo- 13 Kampfner 2020, Kapitel 1–4. rate Europe’, The Economist, 7.12.2017. 14 Vgl. Schlie 2020. 17 Vgl. Krauss/Maull 2020, 161–164. 15 Howard 2020, 44. 18 Vgl. Techau 2019.
Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außenpolitische Kultur muss strategisch werden – Teil 1 209 und die Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Deutschland und die meisten ihrer Partner legten größten Macht begründet. So erklärte ein bekannter deutscher Wert auf Kontinuität, nicht zuletzt weil sie das gewachsene Kommentator Ende 2020, der Pazifismus sei die „Keule“, Gewicht eines vereinten Deutschlands in Europa anderen mit der jede nuancierte und substanzielle Debatte über schmackhaft machen wollten. Das Ende des Kalten Krieges Fragen der internationalen Sicherheit unterdrückt werde. mag nicht wie das Ende der Geschichte angemutet haben, Dadurch werde eine Dichotomie zwischen Gut (Friede) aber es sah nach einer Befreiung aus, noch dazu einer, und Böse (Krieg) konstruiert, die alles andere als hilf- die in den zeitgenössischen Worten von Josef Joffe „die reich sei.19 Um zu verstehen, warum es vielen Deutschen besonderen Quellen der Stärke Deutschlands vergrößern schwerfällt, Außen- und Sicherheitspolitik strategisch zu würde“. Damals herrschte die Meinung vor, Deutschland denken (oder, wie wir es ausdrücken würden, sich einen habe seine wichtigsten Ziele erreicht – es sei nun vereint strategischen Ansatz zu eigen zu machen), ist es hilfreich, und sicher, weil umgeben von europäischen Partnern und die historischen Faktoren zu analysieren, die die Deut- Verbündeten. Die Welt erschien damals weniger bedroh- schen von strategischer Vernunft abhalten. Dabei muss lich, der Nutzen von Streitkräften geringer, und die tief- man auch konstruktive Umdeutungen der Folgerungen greifenden Umwälzungen der internationalen Bezie- erwägen, die das zeitgenössische Deutschland aus seinem hungen waren offenkundig ein Sicherheitsgewinn für historischen Vermächtnis gezogen hat. Nur so lassen sich Deutschland. Zudem hatten die Erfahrungen während der bessere Antworten auf die strategischen Herausforderun- Verhandlungen über die Wiedervereinigung die Überzeu- gen finden, vor denen Deutschland heute steht. Ebenso ist gung gefestigt, immer tiefere und stärkere multilaterale es in diesem Zusammenhang wichtig, eingefahrene politi- Beziehungen würden Deutschland mehr statt weniger sche, institutionelle, verfassungsrechtliche und bildungs- außenpolitischen Handlungsspielraum verschaffen.22 Die bezogene Strukturen zu betrachten, die Deutschlands friedliche Wiedervereinigung wäre ohne das Einverständ- bisherige strategische Kultur geprägt haben und jegliche nis und das Wohlwollen der Sowjetunion nicht möglich Bemühung der Veränderung erschweren. gewesen. Es war verständlich, dass die Deutschen nach der Wiedervereinigung davon ausgingen, Moskaus Ver- trauen in die (guten) Absichten Westdeutschlands sei 2.1 D ie „Lehren“ der Geschichte gestärkt worden durch Bonns frühere Bemühungen, mit Gegnern zusammenzuarbeiten (etwa Willy Brandts Ost- Obwohl Westdeutschland ein Schlüsselmitglied der west- politik), sowie durch wiederholte und aufrichtige Gesten lichen Ordnung unter Führung der USA war und in erheb- der Versöhnung und Wiedergutmachung für frühere deut- lichem Umfang davon profitierte, war es im Hinblick auf sche Aggressionen. die Staatskunst für Deutschland akzeptabel, eine „Zivil- Während sich der Diskurs über den Stellenwert von macht“ zu sein – um einen später von Hanns Maull gepräg- Waffengewalt in der deutschen Sicherheitspolitik seit ten Begriff zu verwenden. Während des Kalten Krieges war 1991 ein wenig gewandelt hat, gingen manche Autoren „die deutsche Außen- und Militärpolitik von Abhängigkeit (wie etwa Krauss und Maull) davon aus, dass das Konzept und Unterordnung gekennzeichnet“, ein willkommener der Zivilmacht Deutschland weiterhin gute Dienste leiste. Gegensatz zum einstigen „Möchtegern-Hegemon in Euro- Die Umsetzung dieses Konzepts habe sich vor allem in den pa.“20 tiefgreifenden Veränderungen von Deutschlands sicher- Dieses zivile Selbstbild überlebte das Ende des Kalten heitspolitischem Umfeld nach Ende des Kalten Kriegs Krieges und die deutsche Wiedervereinigung. Im Jahr 1991 bewährt.23 Jene Deutschen, die rundweg die Anwendung stellte der IISS Strategic Survey die Frage: „Was werden die militärischer Gewalt verdammen, fühlten sich zudem Deutschen jetzt, da Deutschland mit seiner wiederher- durch die Ergebnisse der Kriege bestätigt, die unter gestellten Nationalstaatlichkeit seine Einheit und volle Führung der USA in den ersten beiden Jahrzehnten des Souveränität zurückerlangt hat, damit anfangen?“21 Die 21. Jahrhunderts stattfanden. Bekämpfung des Terroris- unmittelbare Antwort lautete, die Zukunft würde genauso mus oder ein demokratischer Regimewechsel waren die sein wie die jüngste Vergangenheit, nur in einem ver- erklärten Ziele dieser Kriege, die sich weitgehend als stra- stärkten Maße – zeitgenössische Entscheidungsträger in tegische Fehlschläge erwiesen. Die Kriege erreichten nicht ihre Ziele, dienten weder amerikanischen noch westlichen 19 Stefan Kornelius: Pazifismus mit der Keule, Süddeutsche Zeitung, 18.12.2020. 20 Joffe 1990, 130. 22 Direktes und indirektes Zitat bei Joffe 1990, 136. 21 International Institute for Strategic Studies 1991, 173. 23 Krauss/Maull 2020.
210 Bastian Giegerich/Maximilian Terhalle Interessen, forderten eine große Anzahl ziviler Todesopfer r elative Mehrheit ist dagegen, den Handel und die Wirt- und gingen mit der Misshandlung, Folterung und Ermor- schaftsbeziehungen mit Russland einzuschränken, eine dung von Gefangenen einher.24 relative Mehrheit der Bürger ist indes dagegen, die Positio- Es ist wichtig, die Vorteile der gesellschaftlichen und nen Russlands stärker zu unterstützen.25 Diese Spaltung politischen Präferenzen anzuerkennen, die nach dem der öffentlichen Meinung – mit Ansichten, die von Furcht Zweiten Weltkrieg die Wiederaufnahme Deutschlands in bis zu großer Sympathie reichen – gilt auch für die Eliten den Kreis der zivilisierten Nationen ermöglichten, seine in Politik, Wirtschaft und Kultur.26 Oftmals werden diese wirtschaftliche Erneuerung förderten und die Chancen Spaltungen durch Formelkompromisse überspielt, die auf eine friedliche Wiedervereinigung erhöhten. Zu den suggerieren sollen, Deutschland habe eine besondere Ver- Grundvoraussetzungen gehört die Absage an Militaris- antwortung zur Versöhnung. Die durchaus zu begrüßende mus und Nationalismus. Zugleich gilt es anzuerkennen, pragmatische Bereitschaft der Bundesregierung, diploma- dass diese Präferenzen und die strategische Kultur, für tische Initiativen zu ergreifen und Möglichkeiten zu erkun- die sie stehen, nicht länger eine tragfähige Grundlage für den, auf Feldern gemeinsamer Interessen mit Russland die strategischen Entscheidungen bilden, vor denen das zusammenzuarbeiten, wird in diesem Zusammenhang oft Land heute steht und wahrscheinlich in Zukunft stehen irreführend instrumentalisiert. Aus einer derartigen Dip- wird. Insbesondere die Vorstellung, Deutschland könne lomatie wird im deutschen Selbstverständnis gerne die oder solle sich zu einem De-facto-Pazifismus bekennen, Metapher einer „Brücke“ konstruiert, die zwischen dem der die Anwendung von Gewalt grundsätzlich als unmo- Westen und Russland zu bauen sei. Dabei unterschlägt ralisch verurteilt, ist Ausdruck eines Wunschdenkens, das man, dass es die freiheitlich-demokratischen Verbünde- sich mit der Realität nicht mehr vereinbaren lässt und von ten waren, die seinerzeit Westdeutschland halfen, in die dem man sich endgültig verabschieden sollte. Gemeinschaft freier und wohlhabender Nationen zurück- Überdies ist der Pazifismus nicht bloß eine praxisun- zukehren, während Sowjetrussland eine Autokratie war, taugliche, sondern unter den heutigen Bedingungen auch die in Ostdeutschland einen Polizeistaat installierte. Zur zutiefst unverantwortliche Position. Er beruht entweder Begründung dieser Brückenfunktion beruft man sich auf der Annahme, es gäbe keine äußeren Aggressoren, die gerne auf das unendliche Leid, welches das Dritte Reich gewillt und fähig sind, andere mit Waffengewalt zu unter- vor acht Jahrzehnten an den Bürgern dieser Autokratie werfen. Oder er hält es für besser, sich Versuchen externer begangen hat.27 Sich selbst für alle Zeiten als Täter und ein Mächte zu fügen, die die hart erkämpften Rechte und Frei- anderes Volk als Opfer anzusehen, gleich wie sich dieses heiten untergraben oder beseitigen wollen. Er kann aber vermeintliche Opfer heute verhält oder ob es die eigene auch bedeuten, sich darauf zu verlassen, dass ein anderer Sicherheit bedroht, mündet aber ab einem gewissen Punkt Akteur die Last, diese Rechte zu verteidigen, schultern in einen maßlosen Masochismus. wird, während man sich weiterhin der Illusion moralischer Die Geschichte hat Deutschland viele Verantwortlich- Makellosigkeit hingibt. Der deutsche Pazifismus umfasst keiten zugewiesen. Aber die Verantwortung, die Lehren alle drei Aspekte und war als politische Leitlinie möglich, der Vergangenheit zu beherzigen, spricht die Deutschen weil es nur wenige offensichtliche gravierende Bedrohun- nicht von ihren Verantwortungen gegenüber der Gegen- gen für die Sicherheit Deutschlands und Europas gab und wart und der Zukunft frei. Mehrere Generationen nach weil die USA gewillt und fähig waren, die Last der Verteidi- dem Ende des Zweiten Weltkriegs und angesichts neuer gung Deutschlands gegen reale Bedrohungen zu tragen. In Bedrohungen am Horizont kann man mit guten Gründen Anbetracht der sich wandelnden internationalen Politik die Behauptung wagen, dass ein zusätzliches, ergänzen- wird dieser Pazifismus nicht nur unmoralisch, sondern des Verständnis der nationalen Verantwortung ange- auch gefährlich. bracht ist. Es gibt darüber hinaus weitere historische Fehl- schlüsse und Begriffsverwirrungen, die derzeit die Ent- wicklung einer zeitgenössischen Staatskunst in Deutsch- 25 Graf 2020. land erschweren. So ist die öffentliche Meinung in Bezug 26 Vgl. Thies 2008, siehe auch Melanie Amann et al.: Der Riss, Der auf Russland weiterhin tief gespalten. Ungefähr gleich Spiegel, 4.5.2018. große Teile der Bevölkerung fühlen sich von Russland 27 Typische Argumentationsformeln des Brückenbauens findet man bei Wolfgang Büchele: Begrüßung des Vorsitzenden des Ost-Aus- stark, ein wenig oder überhaupt nicht bedroht. Eine schusses-Osteuropavereins der Deutschen Wirtschaft: Unternehmer- gespräch mit Staatspräsident Vladimir Putin, 1.11.2018; https://www. ost-aus-schuss.de/sites/default/files/pm_pdf/WB_Statement%20 24 Barry 2020. Putin%20in%20Moskau-final.pdf; oder bei Platzeck 2020.
Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außenpolitische Kultur muss strategisch werden – Teil 1 211 Dieses Verständnis ist die „Pflicht zur Verteidigung“: viel von der persönlichen Weltsicht und den politischen Das meint die Pflicht, jene freiheitlichen Werte und die Prioritäten eines amtierenden Bundeskanzlers ab. Deut- auf diesen Werten basierende westliche Ordnung zu ver- sche Bundeskanzler können im Vergleich zu ihren west- teidigen, die es Nachkriegsdeutschland ermöglicht hatten, lichen Pendants sehr lange Zeit im Amt bleiben. Konrad sich wieder aus den Trümmern zu erheben und ein inte- Adenauer (1949–63) und Helmut Kohl (1982–98) waren grales Mitglied einer westlichen Staatengemeinschaft die offensichtlichsten Beispiele für dieses Phänomen vor zu werden, in der Deutschland seinen geregelten Platz Angela Merkel, die bei ihrem Abtritt 16 Jahre an der Macht finden konnte.28 Die Deutschen haben nicht nur die Ver- gewesen sein wird. Aufgrund dieser langen Amtszeiten pflichtung, sich von Militarismus und Aggressionspolitik kann eine Kanzlerin oder ein Kanzler die Regierung mit fernzuhalten, sondern auch, sich daran zu erinnern, dass ihrer/seiner Weltsicht nachhaltig prägen. es Diktatoren gibt, die sich nicht besänftigen lassen und ihre Ziele mit militärischen Mitteln durchsetzen wollen. Daher sollten sie ihren Verbündeten helfen, solche Dik- taturen davon abzuhalten, die Zukunft der Freiheit und einer regelbasierten internationalen Ordnung zu gefähr- den. Deutschland kommt dabei tatsächlich eine beson- dere Rolle zu. Diese Rolle besteht nicht darin, sich der Phantasievorstellung hinzugeben, Deutschland könne unbegrenzt als eine historische Anomalie existieren, als pazifistische Großmacht, der es freisteht, die Funktion von Waffengewalt in der Staatskunst zu ignorieren. Der strategische Ansatz, den sich Deutschland unserer Über- zeugung nach zu eigen machen sollte, müsste anders aus- sehen. Dabei unterschätzen wir keineswegs die beträcht- lichen damit verbundenen politischen und strukturellen Abb. 2: Bundeskanzlerin Angela Merkel Herausforderungen. Was Kanzlerin Merkel betrifft, so wird häufig die Ansicht 2.2 S trukturelle Hindernisse vertreten, sie habe ein Weltbild, das die Entwicklung einer realistischen strategischen Einstellung hemmen würde. Die Weiterentwicklung der strategischen Kultur in Als Russland im Jahr 2014 die Krim annektierte, inter- Deutschland wird nicht allein durch die Instrumentali- pretierte Merkel Russlands Vorgehen als eine tragische sierung der Geschichte erschwert, sondern auch durch Abweichung von historischen Trends – einen Rückfall gewichtige politische, verfassungsrechtliche, bildungs- ins 19. und 20. Jahrhundert, als Konflikte über Einfluss- bezogene und institutionelle Faktoren, wenngleich diese sphären und Territorien gang und gäbe waren. Solch ein sie nicht unmöglich machen. Ein signifikanter Faktor ist Zustand sei mittlerweile doch eigentlich „überwunden“ die Stellung und Position des Bundeskanzlers oder der worden. Merkel behauptete damals, „gelebte Globalisie- Bundeskanzlerin. Im politischen Bereich hängt mitunter rung“ bedeute im 21. Jahrhundert, dass Staaten – wobei sie Russland ausdrücklich einschloss – große Heraus- 28 Die Schriftstellerin Nora Krug sprach sich 2019 in einem Inter- forderungen gemeinsam bewältigen müssten und dass view mit der Deutschen Welle dafür aus, dass die Deutschen an- alle mehr von Kooperation als von einer Strategie des stelle der Schuld über die Vergangenheit die Verantwortung für die Alleingangs profitierten. Ein Staat, der gegen diese Logik Erhaltung von Freiheit und Demokratie in den Mittelpunkt stellen der Harmonie handele, werde „sich selbst schaden“, wie sollten; vgl. Elizabeth Grenier: Nora Krug: Replacing German ‘Guilt’ Kanzlerin Merkel in einer Rede dreimal betonte.29 Ihre With ‘Responsibility to Defend Democracy’, Deutsche Welle, 9 Au- gesamte Amtszeit hindurch hat sie Russland immer wieder gust 2019, https://www.dw.com/en/nora-krug-replacing-german- guilt-with-responsibility-to-defend-democracy/a-49960409. In der einen „Partner“ genannt, auch nach der Invasion der deutschsprachigen Wiedergabe des Interviews ist diese Stelle inter- essanterweise herausgekürzt worden; https://www.dw.com/de/nora- krug-leben-mit-kriegserfahrung-f%C3%BCr-deutsche-immer-noch- 29 Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom ein-trauma/a-49961913. Siehe auch die kürzlich erschienene Analyse 13.3.2014; https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/regie zur strategischen Kultur der Deutschen bei Seppo 2021. rungserklaerung-von-bundeskanzlerin-merkel-443682.
212 Bastian Giegerich/Maximilian Terhalle Krim und nach dem Mordversuch an dem russischen Dis- verteidigungspolitischen Fragen mehr Übereinstimmung sidenten Alexei Nawalny im Jahr 2020. Dies ließe sich als aufwiese als die Koalition aus CDU/CSU einerseits und Naivität bezeichnen; ihre Verteidiger entgegnen jedoch, SPD andererseits, könnte sich die Koordinierung auf Merkels allgemeine und gut gemeinte Ermahnungen an diesem Gebiet einfacher gestalten. die Adresse Russlands seien weniger naiv als vielmehr Diese Überlegungen zeigen, dass der Spielraum für eine diplomatische Strategie mit der Absicht, Russland zu eine strategische Neuausrichtung Deutschlands poli- isolieren und zu verurteilen, wenn klar ist, dass militäri- tisch sehr eng werden kann. Den mangelnden politischen sche Maßnahmen gegen das Land weder machbar noch Konsens innerhalb vieler deutscher Regierungen verstärkt wünschenswert sind. Und sie weisen darauf hin, dass ein institutionelles Manko: Zwischen den verschiedenen Deutschland seit 2014 eine führende Rolle bei Europas zuständigen Ministerien findet keine nennenswerte Koor- diplomatischen Bemühungen gespielt hat, die Ukraine zu dinierung im Bereich der nationalen Sicherheitspolitik unterstützen.30 statt. Zudem gibt es kein Regierungsforum, das sich aus- Ein weiteres Argument ihrer Verteidiger lautet, dass schließlich mit diesem Thema befasst. Kanzlerin Merkel zwar (gemäß Artikel 65 des Grund- Ein weiterer, oft genannter struktureller Faktor, der gesetzes) über die sogenannte Richtlinienkompetenz eine strategische Neuausrichtung der deutschen Politik verfüge und sie also die allgemeine politisch-strategische behindert, ist die öffentliche Meinung. Denn sie schränke Richtung des Landes vorgeben könne, derselbe Artikel die praktischen Alternativen ein, die der Politik zur Verfü- jedoch ihre Entscheidungsfreiheit in Führungsfragen gung stehen. So wurde in einer 2020 erschienenen Analyse erheblich einschränke. Und tatsächlich schwächt der behauptet, Diskussionen über eine aktivere sicherheits- zweite Satz dieses Artikels, der das Ressortprinzip ein- politische Rolle Deutschlands stellten weitgehend einen führt, laut dem ein das jeweilige Ministerium leitendes elitären Diskurs dar. Dieser sei abgekoppelt von den Präfe- Kabinettsmitglied seinen Aufgabenbereich eigenverant- renzen der breiteren Öffentlichkeit, die einen verstärkten wortlich steuert, die Machtstellung der Kanzlerin oder Aktivismus ablehne.33 Während es zweifellos zutrifft, dass des Kanzlers ganz erheblich. Andere wiederum haben demokratische Regierungen einer nachhaltigen Unterstüt- argumentiert, die achtjährige Koalitionsregierung (mit zung durch die Mehrheit der Bevölkerung bedürfen, ist der SPD) habe es Kanzlerin Merkel nicht erlaubt, mili- nicht ersichtlich, weshalb politische Entscheidungsträger tärische Gewalt als legitimes Instrument der Staats- der öffentlichen Meinung folgen sollten statt sie anzufüh- kunst anzuerkennen, weil die SPD immer pazifistischer ren. Wichtiger aber ist: Auch wenn man akzeptiert, dass geworden sei.31 Trotz der formalen Befugnisse eines die öffentliche Meinung politisches Handeln manchmal deutschen Kanzlers könne selbst ein schwächerer politi- hemmt und manchmal fördert, stützen die vorhande- scher Partner mit der Drohung, die Koalition platzen zu nen Daten keinesfalls die Behauptung, die öffentliche lassen, seinen Willen durchsetzen. Da die Kanzlerin oder Meinung stehe einer realistischen strategischen Debatte der Kanzler gegenüber einem Ministerium keine direkte im Wege. Bei diversen Meinungsumfragen, die in den rechtliche Weisungsbefugnis besitzt, sondern nur die all- letzten Jahren durchgeführt wurden, hat sich insbeson- gemeine politische Ausrichtung vorgeben kann, hänge dere bei der jüngeren Generation eine größere Toleranz er beziehungsweise sie in hohem Maße von einer ein- für eine aktivere deutsche Außen- und Sicherheitspolitik vernehmlichen Entscheidungsfindung ab.32 Sollten die einschließlich einer stärkeren Rolle bei der Beilegung Bundestagswahlen im September 2021 die Bildung einer internationaler Konflikte abgezeichnet.34 Ganz gleich wer Regierungskoalition ermöglichen, die in sicherheits- und ins Berliner Kanzleramt einziehen wird, eine konsequente und nachhaltige Kommunikation über Sicherheits- und Verteidigungspolitik bleibt ein Defizit. Diese Kommuni 30 George Packer: The Quiet German, The New Yorker, 1.12.2014. kation muss anstreben, die Bürgerinnen und Bürger in 31 Kate Brady: Außenpolitik könnte 2020 die deutsche Regierung einen Diskurs über die internationalen Bedrohungen spalten, Deutsche Welle, 24.12.2019; https://www.dw.com/de/au%C3 %9Fenpoli-tik-k%C3%B6nnte-2020-die-deutsche-regierung-spalten/ deutscher Sicherheit und die gegenwärtige Weltlage ein- a-51619062. zubeziehen. 32 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2018. Jene, die Kanzlerin Merkel weniger Sympathie entgegenbringen könnten argumentieren, dass sie mehr Spielraum in der Verteidi- gungspolitik hätte bekommen können, wenn sie der SPD Zugeständ- nisse in anderen innenpolitischen Bereichen gemacht hätte. Die Tat- 33 Dieter 2020. sache, dass sie das nicht tat, könne man so interpretieren, dass sie so 34 Vgl. Rotmann/Bressan/Brockmeier 2020, siehe auch den Kom- etwas gar nicht wollte. mentar von Ulrike Franke in diesem Heft.
Verteidigung ist Pflicht – Deutschlands außenpolitische Kultur muss strategisch werden – Teil 1 213 wehr München angeboten werden. Darüber hinaus findet man neun Studiengänge, die in der Tradition der Friedens- forschung stehen.36 Umso bemerkenswerter ist es, dass in den USA und in Israel zwei Gastprofessuren für Strategi- sche Studien angesiedelt sind, die vom Deutschen Aka- demischen Austauschdienst (DAAD) finanziert werden, einer gemeinnützigen Institution, die deutsche Akade- miker bei Forschungsprojekten im Ausland unterstützt (und nichtdeutsche Gastwissenschaftler bei Deutschland- aufenthalten). Mithin unterstützt Deutschland deutsche Professuren für Strategische Studien, allerdings haupt- sächlich außerhalb Deutschlands, in Ländern mit starken Traditionen in dieser Disziplin.37 Die Henry-Kissinger-Pro- Abb. 3: Bundespräsident Gauck auf der Münchener Sicherheits fessur für Sicherheits- und Strategieforschung an der Uni- konferenz 2014 versität Bonn, die aus Mitteln des Auswärtigen Amts und des Bundesverteidigungsministeriums finanziert wird, und das assoziierte Center for Advanced Security, Strategic Im Kontext der Öffentlichkeitsdebatte ist zu verzeichnen, and Integration Studies (CASSIS), das auch mit der DAAD- dass Deutschland derzeit ein relativ gleichförmiges akade- Position in Israel verbunden ist, könnten ein vielverspre- misches und institutionelles Umfeld aufweist, welches den chender erster Schritt sein. Eine weitere bemerkenswerte Diskurs über Alternativen zur gegenwärtigen Sicherheits- Ausnahme ist das Institut für Sicherheitspolitik an der und Verteidigungspolitik außerordentlich einschränkt. In Universität Kiel, an dem in jüngster Zeit mehrere Disser- seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz im tationen mit sicherheitspolitischem Schwerpunkt verfasst Jahr 2014, die vor allem wegen der Forderung, Deutsch- wurden und dessen Direktor zugleich als Herausgeber von land müsse „mehr Verantwortung“ übernehmen, für SIRIUS fungiert, der wichtigsten deutschsprachigen Zeit- Furore sorgte, behauptete der damalige Bundespräsident schrift für strategische Analysen. Joachim Gauck, Deutschland brauche, „um seinen Weg Die Forschungsarbeiten vieler einflussreicher deut- in schwierigen Zeiten zu finden, vor allem geistige Res- scher Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf dem sourcen – Köpfe, Institutionen, Foren“. Er sprach damit Gebiet der internationalen Beziehungen basieren auf dem ausdrücklich die deutschen Hochschulen an, die eine Konzept der Globalen Ordnungsgestaltung (Global Gover- regelrechte Abneigung gegen die Beschäftigung mit stra- nance).38 Unter diesem Paradigma werden politische tegischen und sicherheitspolitischen Themen entwickelt Prozesse aus der Perspektive globaler Probleme und der haben. Er führte genauer aus: „Ich frage mich: Ist es nicht daraus folgenden vermeintlichen Interessengleichheit der an der Zeit, dass die Universitäten mehr anbieten als Staatenwelt betrachtet. Aus diesem Blickwinkel dreht es nur eine Handvoll Lehrstühle für die Analyse deutscher sich beim Studium der internationalen Beziehungen vor Außenpolitik?“35 allem darum, rationale Problemlösungen für transna- Mehr als sieben Jahre nach Gaucks Bemerkungen tionale Herausforderungen wie Klima, Gesundheit oder gibt es noch immer keinen einzigen Fachbereich an einer deutschen Universität, der systematisch Lehrveranstal- tungen auf dem Gebiet „Strategische Studien“ anbietet. 36 Vgl. Deutscher Akademischer Austauschdienst: Hochschulkom- Eine Anfang 2021 durchgeführte Datenbanksuche zu pass; https://www2.daad.de/deutschland/studienangebote/studien 12.500 Studiengängen an Volluniversitäten in Deutsch- gang/de/. 37 Der DAAD finanziert eine Professur für Strategische Studien an land erbrachte, dass es lediglich einen Studiengang War der Johns-Hopkins-Universität in Washington, D.C. und eine Professur Studies (an der Universität Potsdam) sowie zwei weitere zu Strategie, Diplomatie und internationaler Sicherheitspolitik am Studiengänge gibt, die ausdrücklich Abschlüsse in Secu- Interdisciplinary Centre (IDC) der Universität Herzliya, Israel. rity Studies vorsehen und von der Universität der Bundes- 38 Damit soll natürlich nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass die Global-Governance-Richtung innerhalb der Wissenschaftsdiszi- plin „Internationale Beziehungen“ in der Essenz eine deutsche Do- 35 Vgl. die Rede von Bundespräsident Joachim Gauck aus Anlass der mäne sei. Das ist keinesfalls der Fall, denn die Beiträge aus der angel- Eröffnung der Münchener Sicherheitskonferenz am 21.1.2014; https:// sächsischen Welt sind hier sehr umfangreich. Der Punkt ist nur der, www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/ dass diese Schule in der deutschen akademischen Diskussion einen Reden/2014/01/140131-Muenchner-Sicherheitskonferenz.html. geradezu hegemonialen Charakter hat.
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